Fr. 7.50 11/November 2017
Hemmzwerg
Wie schüchternen
Kindern geholfen
werden kann
Downsyndrom
Mein Leben mit
Maél, 8 – eine
Mutter erzählt
Fleisch,
Milch, Ei
Was ist gut für mein Kind – und was nicht?
Illustration von Björn Berg © Bildmakarna Berg AB
Originaltitel: «Winter in Lönneberga», Text bearbeitet von Tristan Berger
TICKETS GEWINNEN!
www.oekk.ch/kimu
Unsere Krankenversicherung unterstützt
«Neues von Michel aus Lönneberga» und «Die kleine Hexe».
Zwei Kindermusicals, die der ganzen Familie Spass machen.
Editorial
Bild: Geri Born
Nik Niethammer
Chefredaktor
«Wenn Sie uns versprechen,
dass Sie nicht alles glauben,
was Ihr Kind von der
Schule erzählt, versprechen
wir Ihnen, dass wir nicht
alles glauben, was Ihr Kind
von zu Hause erzählt.»
Notiz an der Wandtafel in einer österreichischen
Grundschule, aufgeschrieben anlässlich eines
Elternabends.
Liebe Leserin, lieber Leser
Am 4. September erreichte mich eine E-Mail von Miriam Bettschen aus Frutigen BE: «Mit
grossem Interesse habe ich Ihren Bericht über Autismus gelesen. Sie haben den Nagel auf
den Kopf getroffen! Ich bin selber mit einem Autisten verheiratet und zwei unserer drei Kinder
leiden unter Autismus. Für unseren siebenjährigen Sohn Joel wünschen wir uns sehnlichst
einen Autismusbegleithund. In der Schweiz wartet man Jahre auf so einen Hund. Für
Joel wäre der Hund aber jetzt wichtig und nötig. Bitte helfen Sie uns.»
Dem Schreiben war ein Spendenaufruf beigelegt, mit dem Frau Bettschen bei Freunden,
Verwandten und Stiftungen Geld gesammelt hatte – wenig erfolgreich: Statt der benötigten
34 500 Franken für die Ausbildung und Anschaffung eines Autismusbegleithundes waren
lediglich 4000 Franken zusammengekommen.
«Für Joel ist es schwierig, mit Emotionen umzugehen und angemessen zu reagieren», erzählt
die dreifache Mutter. «Unser Sohn ist schnell reizüberflutet. Kleinste Veränderungen werfen
ihn aus der Bahn. Dann schreit er, wirft mit Gegenständen um sich, schlägt sich selbst.»
Fachleute schätzen, dass ein Begleithund die Anfälle von Autisten um die Hälfte reduzieren
kann. «Hat Joel einen Anfall und verkriecht sich unter der Bettdecke,
würde sich der Hund auf mein Kommando sachte auf Joel legen; zuerst
nur auf seine Beine, dann auf seinen ganzen Körper», sagt Miriam Bettschen.
«Es ist bekannt, dass Autisten bei Anfällen nichts mehr spüren. Sie
brauchen Widerstand. Der Druck des Hundes beruhigt sie.»
Die Stiftung Elternsein, Herausgeberin des Schweizer ElternMagazins
Fritz+Fränzi, unterstützt Miriam Bettschen bei der Finanzierung ihres
grossen Wunsches. Wie die Familie zu ihrem Begleithund kommt und
wie Sie helfen können, hat unsere Autorin Sarah King aufgeschrieben.
Ein Hund nach Mass für Joel – ab Seite 46.
In eigener Sache: Zweimal im Jahr veröffentlicht die WEMF AG die
Leserschaftsstudie MACH-Basic; sie gibt Aufschluss darüber, welche Zeitungen
und Zeitschriften Leser verlieren. Und welche zulegen. Die Zahlen
für unser Magazin in der Übersicht:
• 21 Prozent mehr Leserinnen und Leser innerhalb eines Jahres
(MACH-Basic 2017-2: 178 000 vs. MACH-Basic 2016-2: 147 000)
• Zunahme der verkauften Auflage gegenüber dem Vorjahr um 34 Prozent
(WEMF-Auflagenbulletin 2017: 24 846 Exemplare vs. 2016: 18 572 Exemplare)
• Zunahme der verkauften Auflage gegenüber 2015 um satte 143 Prozent
(Basis 2015: 10 224 Exemplare)
Ihr Zuspruch macht uns stolz. Und motiviert uns, Ihnen auch in Zukunft ein treuer Wegbegleiter
zu sein. Für Ihr Vertrauen danke ich Ihnen sehr herzlich.
Ihr Nik Niethammer
850 Lehrstellen in 25 Berufen | www.login.org
Fr. 7.50 11/November 2017
Inhalt
Ausgabe 11 / November 2017
Viele nützliche Informationen finden Sie auch auf
fritzundfraenzi.ch und
facebook.com/fritzundfraenzi.
Psychologie & Gesellschaft
40 Typisch Mädchen, typisch Buben?
Buben lernen anders als Mädchen.
Warum es wichtig ist, die Unterschiede
zu kennen, und wie Sie damit umgehen
können.
Augmented Reality
Dieses Zeichen im Heft bedeutet, dass Sie digitalen Mehrwert
erhalten. Hinter dem ar-Logo verbergen sich Videos und
Zusatzinformationen zu den Artikeln.
10
Bild: Filipa Peixeiro / 13 Photo
Dossier: Ernährung
10 Zu Tisch, bitte!
Essen ist mehr als Nahrungsaufnahme:
Es ist Wissenschaft und Glaubensfrage,
Geschmackssache und Kulturgut, es
verbindet Familien oder spaltet sie.
Wir haben sieben Ernährungsmythen auf
den Prüfstand gestellt – mit teilweise
überraschenden Erkenntnissen.
32 Schön entspannt bleiben
Die Ernährungspsychologin Katja Kröller
plädiert für Gelassenheit, wenn Kinder
plötzlich zu Früchte- und Gemüsemuffeln
werden.
Hemmzwerg
Wie schüchternen
Kindern geholfen
werden kann
Downsyndrom
Mein Leben mit
Maél, 8 – eine
Mutter erzählt
Fleisch,
Milch, Ei
Was ist gut für unsere Kinder – und was nicht?
Cover
Viele Kinder greifen
gerne nach Fleisch,
Milch und Ei – doch
ist das auch gesund?
Bilder: Filipa Peixeiro / 13 Photo, Daniel Winkler / 13 Photo, Samuel Trümpy / 13 Photo, Daniel Auf der Mauer / 13 Photo
4
36
46
70
Georg Stöckli, warum sind gewisse Kinder
übermässig schüchtern?
Joel, 7, hat Asperger. Ein Begleithund würde
ihm und seiner Mutter den Alltag erleichtern.
«Wenn ich mit Maél zusammen bin, zählt
nur der Moment», sagt Barbara Stotz.
Erziehung & Schule
46 Ein Begleithund für Joel
Joel hat das Asperger-Syndrom,
eine Variante des Autismus. Ein
Begleithund könnte ihm helfen, sich
im Leben beser zurechtzufinden.
Die Stiftung Elternsein startet eine
grosse Spendenaktion.
54 Eine Frage der Sicht
Für das Verständnis von Kindern ist
ein Perspektivenwechsel nötig.
56 Freude an der Rechtschreibung
Drei Praxistipps.
60 Schlagen, treten, beissen
Was Eltern bei extremer Aggression
ihres Kindes tun können.
64 Freude am Rechnen
Die «befreiende Pädagogik» kann
Kinder fürs Lernen begeistern.
70 Leben mit Downsyndrom
Eine Mutter erzählt, wie die
genetische Veranlagung ihres Kindes
die Familie verändert und prägt.
Digital & Medial
82 Anderen beim Spielen zuschauen
Let’s Player sind Jugendliche, die sich
während des Gamens filmen. Deren
Youtube-Filme sind bei Teenagern
äusserst beliebt.
86 Sind Gesundheits-Apps
sinnvoll?
Drei Tipps, worauf es ankommt.
Ernährung & Gesundheit
78 Generation kurzsichtig
Die Zahl der Schulkinder, die eine
Brille brauchen, steigt weltweit.
Warum? Und kann Kurzsichtigkeit
verhindert werden?
Rubriken
03 Editorial
06 Entdecken
34 Monatsinterview
Der Erziehungswissenschaftler Georg
Stöckli ist Experte für Schüchternheit.
42 Jesper Juul
Wie kommen Eltern zu Schlaf, wenn
Kinder das Familienbett belagern?
44 Michèle Binswanger
Unsere Kolumnistin ist irritiert, dass
eine Teenie-Girlband mit sehr
explizitem Wortschatz sie fasziniert.
57 Stiftung Elternsein
Ellen Ringier über ihre Mutter, die sie
auch im Winter in Kniesocken zur
Schule schickte, und warum sie
Verständnis hat für die Modemacken
ihrer Töchter.
58 Fabian Grolimund
Wer aufhört, sich gegenseitig
kennenzulernen, wird sich fremd –
das gilt auch für unsere engsten
Beziehungen.
68 Leserbriefe
90 Eine Frage – drei Meinungen
Was tun, wenn der jüngere Bruder
besser Fussball spielt als der ältere?
Service
85 Verlosung
88 Sponsoren/Impressum
89 Buchtipps
91 Abo
Die nächste Ausgabe erscheint
am 1. Dezember 2017.
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
November 20175
Entdecken
So entspannt ist Bern
3 FRAGEN
Wo wollen Sie wohnen? Dort, wo das Leben
möglichst entspannt ist? Dann sollten Sie nach
Bern ziehen. Laut einer Studie im Auftrag der
mobilen Wäscherei und Reinigung Zipjet in
Berlin ist Bern die stressfreiste Stadt der
Schweiz. Untersucht wurden rund 500 Städte
nach Kriterien wie psychische Gesundheit der
Bewohner, Arbeitslosigkeit, Schulden pro Kopf,
Anzahl Sonnenstunden,
Anzahl Grünflächen,
Gleichstellung,
Sicherheit, Umweltbelastung
und Bevölkerungsdichte.
Bern
schaffte es auf Platz
vier. Der erste Platz
ging an Stuttgart.
an Daniel Hess, Co-Leiter des Vereins Glücksschule
«Schüler sollen an sich glauben können»
Der Verein «Glücksschule» setzt sich für eine öffentliche Schule ein,
in der Kinder mit Freude lernen und in die sie gerne gehen. Wie diese
aussehen soll, erklärt Vereinsleiter Daniel Hess.
Interview: Evelin Hartmann
Daniel Hess, im Januar 2015 kam Ihr Buch «Glücksschule» auf den
Markt. Wie kamen Sie auf die Idee zu diesem Buch?
Ich habe in dieser Zeit als Berufsschullehrer gearbeitet und war entsetzt,
wie viele Schüler bereits mit der Schule innerlich abgeschlossen hatten.
Zu dieser Zeit kam auch mein ältester Sohn in die Schule und wollte schon
nach wenigen Wochen nicht mehr hingehen. «Ich werde dort krank», waren
seine Worte. Mir wurde bewusst, wie viele schulische und gesellschaftliche
Strukturen nicht dem Glück aller Menschen dienen. Ich wollte ein Buch
schreiben, welches das Glück jedes Menschen ins Zentrum stellt.
2015 wurde der gleichnamige Verein gegründet. Mit welchem Ziel?
Der Verein setzt sich für einen Wandel an der öffentlichen Schule ein:
Es müssen am Ende der Schulzeit nicht alle das Gleiche können, sondern
jeder Schüler sollte vor allem an die eigenen Fähigkeiten glauben.
Das ist doch die wichtigste Ressource jedes Menschen!
Wie sieht heute Ihre Arbeit konkret aus?
In der gesamten Schweiz gibt es inzwischen mehrere Regionalgruppen.
Wir wollen die Menschen für eine andere Schulkultur sensibilisieren,
bieten aber auch für Lehrpersonen oder Eltern konkrete erste Schritte an.
Ausserdem beraten wir Schulen, die unser Programm im Schulalltag
umsetzen wollen, und führen Kongresse, Vorträge und Kurse durch. Auch
möchten wir eine Beratungsstelle aufbauen, die Eltern unterstützt,
deren Kinder in der Schule Probleme haben, sowie Schulen und Lehrpersonen,
die Probleme mit Lernenden oder Schulklassen haben.
www.gluecksschule.ch
71 Prozent der Familien
mit Kindern unter 15 Jahren sorgen
privat für das Alter vor.
(Quelle: Umfrage der AXA Winterthur,
bei der 500 Familien in der Schweiz befragt wurden)
Auf Jobsuche? Eine neue
Hotline soll helfen
40 000 Jugendliche in der Schweiz sind ohne Job. Um diesen
jungen Menschen eine Anlaufstelle zu bieten, startet «Check
Your Chance», der Dachverein gegen Jugendarbeitslosigkeit,
nun die Helpline GO4JOB, unter der sich ein Team aus
Jugendpsychologen den Fragen und Nöten junger Arbeitssuchender
annimmt. Und das rund
um die Uhr. GO4JOB wurde in
Zusammenarbeit zwischen «Check
Your Chance» und dem Arbeitgeberverband
entwickelt und wird von Pro
Juventute betrieben.
Beratung per Helpline 0800464562
oder E-Mail: beratung@go4job.ch
www.check-your-chance.ch
Starten Sie
die aktuelle
Fritz+Fränzi-App,
scannen Sie diese Seite
und sehen Sie einen
Film über
«Check Your Chance».
Bilder: ZVG, Bern Tourismus
6 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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- Das Bestellen Schweizer ElternMagazin und Fritz+Fränzi kostenlos November 20177
in die gewünschte Filiale liefern lassen
Entdecken
«Elterntaxis sind nicht nur
ein grosses Ärgernis,
sondern auch für Erziehungsdefizite
verantwortlich.
Man nimmt den Kindern so die
Möglichkeit, den Umgang
mit Gefahren zu lernen.»
(Beat W. Zemp in einem Interview auf www.aargauerzeitung.ch)
Beat W. Zemp ist Präsident
des Dachverbands der
Lehrerinnen und Lehrer
Schweiz (LCH)
Kinder und Lernen
Entdecken, staunen und viel Neues ausprobieren –
die «Kinder und Lernen»-Messe geht in die nächste
Runde und lockt mit einer Ausstellung rund um Baby-,
Kinder- und Jugendthemen. So informiert beispielsweise
der Sprachreisenanbieter fRilingue über sein
Angebot für Schüler und Studenten in den USA,
England oder Frankreich oder
der Club Chess4Kids über
Schachkurse für junge Spieler.
Dabei gilt es natürlich viel
auszuprobieren und zu testen.
Die nächsten Messen «Kinder
und Lernen» finden am 19.
November in Aarau und am
26. November in Zürich statt.
www.kinderundlernen.ch
Wie die Mutter, so das Kind ...
... zumindest, wenn es ums Schlafverhalten geht. Ein Forscherteam um
Natalie Urfer-Maurer von der Universität Basel hat untersucht, wie
Ein- und Durchschlafprobleme der Eltern mit der Schlafqualität der Kinder
zusammenhängen. Dafür analysierten die Forscher den Schlaf von
knapp 200 Kindern im Primarschulalter und befragten ihre Eltern zur
eigenen Schlafqualität und der ihres Nachwuchses.Dabei stiessen die
Forschenden auf einen Zusammenhang zwischen der Schlafqualität der
Mütter und jener ihrer Kinder: Die Kinder von Müttern, die von Schlaf -
problemen berichteten, schliefen später ein, schliefen weniger lang und
befanden sich weniger lang im Tiefschlaf. Der Nachwuchs könnte sich das
Schlafverhalten von den Eltern abschauen, oder abendlicher Streit in der
Familie könnte das Einschlafen erschweren, so die Forscher. Zwischen der
Schlafqualität von Vätern und jener ihrer Kinder wurde übrigens kein
Zusammenhang gefunden.
«Doktor, was fehlt ihm?»
Bei einem Arztbesuch mit ihren Kindern sind
Eltern oft überbehütend und «managen» das
gesamte Prozedere, von der Anmeldung über die
Untersuchung bis zur Besprechung der Befunde.
Das mag bei kleinen Kindern angebracht sein,
doch selbst bei Jugendlichen lassen zumindest
amerikanische Eltern diesen kaum Freiräume. Eine
für die USA repräsentative Befragung der University
of Michigan von 1517 Müttern und Vätern 13-
bis 18-jähriger Teenager ergab, dass fast 40 Prozent
der Eltern den Medizinern alle Fragen selbst stellen.
Nur 15 Prozent gaben an, dass ihre Tochter
oder ihr Sohn körperliche oder emotionale Probleme
mit seinem Arzt unter vier Augen bespricht.
Um ein Bewusstsein für seine eigene Gesundheitsvorsorge
zu entwickeln, wäre aber genau dies wichtig,
erklären die Forscher.
Bilder: Glowimages RM / Alamy Stock Photo, Hero Images / Plainpicture, ZVG
8 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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10 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier
Du bist, was du isst
Essen ist mehr als Nahrungsaufnahme: Es ist Wissenschaft und
Glaubensfrage, Geschmacks sache und Kulturgut, es verbindet Familien
oder spaltet sie. Was zu essen, ist gesund? Und womit schaden wir
unseren Kindern? Eine Einordnung. Text: Virginia Nolan Bilder: Filipa Peixeiro / 13 Photo
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
November 201711
Dossier
12
November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier
Die Forschung zeigt:
Jugendliche mit hohem
Milchkonsum haben
ein höheres Risiko für
Knochenbrüche.
Macht Milch wirklich
stark? Ist
Fleisch gut für
mein Kind? Gilt
es, Zucker um
jeden Preis zu vermeiden?
Alte, tief in unserer Gesellschaft
verankerte Weisheiten darüber, was
gesund ist und was nicht, sind ins
Wanken geraten. Dies macht uns
bisweilen ratlos: Was dürfen wir
überhaupt noch essen? Und vor
allem: Was sollen wir unseren Kindern
zu essen geben?
Als Autorin, die oft über Ernährung
schreibt, gelangte ich mit der
Zeit zur Erkenntnis: Der goldene
Mittelweg ist der richtige, auch beim
Essen. Doch was heisst das genau?
Und stimmt das überhaupt? Ich
machte mich auf Spurensuche – und
stellte sieben Mythen auf den Prüfstand
der Wissenschaft.
1. «Milch macht stark»
Kaum ein Lebensmittel spielt in der
Kinderernährung eine so zentrale
Rolle wie Milch. «Milch macht
stark» ist fest in den Köpfen verankert.
Erst recht, wenn es um die
Ernährung von Kindern und
Jugendlichen geht. Milch gilt als
wichtige Kalziumlieferantin, die
Knochen und Zähne stärkt. Die
Milchempfehlungen der Schweizerischen
Gesellschaft für Ernährung
(SGE) variieren nach Alter des Kindes.
Demgemäss sollten Zehn- bis
Zwölfjährige drei Portionen verschiedener
Milchprodukte pro Tag
zu sich nehmen. Als eine Portion
gelten 2 Deziliter Milch, 150 bis 200
Gramm Joghurt, Quark oder Hüttenkäse,
30 Gramm Halbhart- oder
Hartkäse oder 60 Gramm Weichkäse.
Daraus resultiert eine Tagesmenge
von bis zu 460 Gramm.
Milchtrinker werden grösser
«Ein so hoher Milchkonsum wird
oft mit der Kalziumversorgung
gerechtfertigt. Demnach soll Milch
die Knochen stärken und Brüchen
vorbeugen», sagt Walter Willett,
Professor für Ernährungswissenschaft
und Epidemiologie an der
Harvard School of Public Health in
Boston. «Dafür gibt es aber keine
wissenschaftlichen Beweise.» Der
72-jährige Willett ist der meistzi -
tierte Ernährungswissenschaftler
und er forscht, wie Ernährung und
Krankheit zusammenhängen.
«Der Mythos, wonach Kinder
viele Milchprodukte konsumieren
sollten, um ihre Knochen zu stärken,
scheint der Realität definitiv
nicht standzuhalten», sagt Willett.
«Wir wissen heute, dass Jugendliche
mit einem hohen Milchkonsum ein
höheres Risiko für Knochenbrüche
im Erwachsenenalter haben.» Ein
wahrscheinlicher Grund dafür sei,
dass ein hoher Milchkonsum in der
Kindheit zu längeren Knochen führe
– die damit anfälliger seien für
Brüche.
Dass Milchtrinker grösser werden,
gilt als unumstritten. Grösser
bedeutet aber nicht unbedingt
gesünder. «Gross gewachsene Menschen
haben ein erhöhtes Risiko für
bestimmte Krebsarten», sagt Susannah
Brown vom World Cancer
Research Fund. «Der Risikofaktor
ist nicht die Körpergrösse selbst,
sondern der Wachstumsprozess, den
wir bis ins Erwachsenenalter durchlaufen.»
Wie gross ein Mensch werde,
hänge auch von der Ernährung
in Kindheit und Jugend ab. So
begünstige eine stark proteinreiche
Kost ein rasanteres Wachstum und
eine höhere Körpergrösse, auch
übergewichtige Kinder wüchsen
tendenziell schneller. Zudem setzt
die Pubertät früher ein.
Keinen Bedarf mehr für Milch
nach der Stillzeit
«Solche Entwicklungen sind eine
unmittelbare oder indirekte Folge
unserer Ernährung als Kind», sagt
Brown. «Dabei spielen erhöhte Spiegel
von Wachstums- und Sexualhormonen
eine Schlüsselrolle.» Diese
Hormone beeinflussten Körpergrösse
und Geschlechtsmerkmale,
aber auch das Verhalten unserer
Zellen – und so das Risiko für Krebs.
Was hat das mit der Milch zu tun?
«Wir wissen, dass ein hoher Konsum
von Milchprodukten die Konzentration
von Wachstums faktoren
im Blut erhöht», sagt Ernährungswissenschaftler
Walter Willett. Im
Fokus steht dabei der Wachstumsfaktor
IGF-1, der die Zellteilung
beschleunigt. Ein erhöhter Spiegel
von IGF-1 geht nachweislich mit
einem gesteigerten Risiko für gewisse
Krebsarten einher. Warum mehr
von diesem Botenstoff im Blut hat,
wer ausgiebig Milchprodukte konsumiert,
ist gemäss Willett noch
nicht geklärt. Im Verdacht stünden
jedoch Wachstumshormone in der
Kuhmilch.
Auch Muttermilch enthält
Wachstumshormone. Nach der Stillzeit
jedoch, etwa ab dem dritten
Lebensjahr, habe der Mensch keinen
Bedarf mehr für Milch: «Dann ist
rasantes Wachstum nicht >>>
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
November 201713
Dossier
>>> mehr wünschenswert, sondern
mit gesundheitlichen Risiken
verbunden.»
Steigender Östrogenspiegel
in der Milch
Als solche bezeichnet die Harvard-
Forscherin Ganmaa Davaasambuu
auch die in der Kuhmilch enthaltenen
Sexualhormone, vor allem
Ös trogene. Problematisch ist gemäss
Davaasambuu nicht Milch per se,
sondern das Produkt einer hochmodernen
Milchwirtschaft, die Kühe
dauerträchtig hält und fast ununterbrochen
melkt. «Mit fortschreitender
Trächtigkeit», sagt Davaasambuu,
«steigt der Östrogenspiegel in
der Milch.»
Die Forscherin analysierte nebst
westlicher Hochleistungsmilch auch
Rohmilch aus der Mongolei: Diese
hatte eine bis zu 33 Mal tiefere Konzentration
an weiblichen >>>
Problematisch ist Milch als
Produkt einer hochmodernen
Milchwirtschaft, die Kühe
dauerträchtig hält und fast
ununterbrochen melkt.
Dem Zucker auf
der Spur
Anita und Martin haben das Leben ohne Zucker auf
Probe gewagt. Die Mutter des 6-jährigen Noah* und
des 3-jährigen Nico und ihr Partner befanden den
Versuch als wohltuend, aber alltagsuntauglich. Jetzt
praktiziert die Patchworkfamilie einen Mittelweg.
Anita: Ich habe kein Problem damit, zwischendurch ein
Stück Kuchen zu essen. Da weiss ich wenigstens auf
Anhieb, dass Zucker drin ist. Problematisch finde ich, dass
wir Zucker auch da finden, wo ihn keiner vermutet. Martin:
Hüttenkäse, Brot, Würzmischungen, Trockenfleisch – überall
ist versteckter Zucker drin. Wollen wir den weglassen, wirds
schnell kompliziert. Da komme ich beim Einkaufen nicht
ohne Anitas Hilfe zurecht, ganz ehrlich. Anita: Fruktose,
Gerstenmalz, Saccharose, Raffinose – Zucker hat viele
Namen, dies sind nur ein paar davon. Es muss sich gut
informieren, wer zuckerfrei leben will. Martin: Wir haben
es 40 Tage lang durchgezogen, einfach als Versuch. Für
mich war das Neuland. Anita: Ich beschäftige mich schon
länger mit dem Thema und verdanke der Zuckerreduktion
ein besseres, gesünderes Körpergefühl. Martin: Ich habe
in den 40 Tagen gut sieben Kilo abgenommen, aber darum
ging es mir nicht: Vor allem war ich wacher, konzentrierter,
fitter. Anita: Wir begannen, viele Nahrungsmittel selbst herzustellen:
Brot, Joghurt, Würzmischungen oder Aufstriche
etwa. Als berufstätige Mutter war mir das auf Dauer jedoch
zu anstrengend. Die optimale Ernährungsweise soll auch
familientauglich sein. Diese Herausforderung thematisiere
ich auch auf meinem Blog runningmami.ch. Martin: Gelohnt
hat sich unser Versuch aber trotzdem. Da hat ein Umdenken
stattgefunden. Anita: Auf jeden Fall. Wir haben vieles daraus
in unseren Alltag integriert. So habe ich zum Beispiel ein
zuckerfreies Brot gefunden, das auch die Kinder mögen, und
Fruchtjoghurts kaufe ich nicht mehr. Ich möchte nicht, dass
meine Kinder ihren täglichen Zuckerbedarf schon nach dem
Frühstück gedeckt haben. Noah: Mein Lieblingsessen sind
Gummibärchen. Anita: Mein Sohn liefert die Antwort gleich
selbst: Nein, die Kinder mussten unseren Versuch nicht
mitmachen. Die Naschbox stand ihnen weiterhin offen. Da
dürfen sie ab und zu was Süsses rausnehmen. Martin: Anita
und ich werden unsere zuckerfreien 40 Tage aber definitiv
wiederholen. Ich bin leider rückfällig geworden und merke es
auch – die verflixte Schokolade …
* Namen der Kinder von der Redaktion geändert
14 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier
Anita und Martin
lebten 40 Tage
zuckerfrei. Das
bedeutete auch
Verzichten auf
Trockenfleisch
und Hüttenkäse.
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi November 201715
Dossier
Das
Lieblings essen
von David
(rechts hinten)
und Anna (vorne)
ist Durian – eine
Stinkfrucht.
16
November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier
Forscher bezeichnen zwei
Portionen Milchprodukte
pro Tag – egal welcher Art –
als massvoll.
>>> Geschlechtshormonen. Kühe
in der Mongolei werden nicht künstlich
besamt und nur in den ersten
drei Monaten einer Trächtigkeit
gemolken. «Die Milch, die wir heute
konsumieren, hat kaum noch
etwas mit der Milch zu tun, die
unsere Vorfahren tranken», sagt
Davaasambuu.
Milch ist gesund – für
mangelernährte Kinder
«Uns fehlen viele Antworten auf die
Frage, wie der Konsum von Milchprodukten
in der Kindheit die
Gesundheit beeinflusst», sagt Willett.
«Bis weitere Informationen vorliegen,
ist Masshalten ein guter Mittelweg.»
Als massvoll bezeichnet der Forscher
Mengen von täglich höchstens
zwei Portionen Milchprodukten,
egal welcher Art. «Milch enthält
wichtige Nährstoffe wie Protein oder
Kalzium», schreiben die Forscher
Willett und David Ludwig im Fachmagazin
JAMA. Kindern, die von
Mangelernährung betroffen seien,
könne Milch gesundheitliche Vorteile
bieten. «Bei Kindern aber, die
bereits eine hochwertige Er >>>
Roh und natürlich: Essen
wie unsere Vorfahren
Die Patchworkfamilie von Sandra und Tanja ernährt
sich von Rohkost. Wenn Luca*, 12, David, 9, oder
die 6-jährigen Mia und Anna Geburtstag feiern, ist
sogar der Kuchen roh.
Tanja: Ich ernähre mich nun schon so lange von Rohkost,
dass ich kaum mehr weiss, wie es vorher war. Sandra:
Auch ich fing in späten Teenagerjahren damit an, nachdem
diese Ernährungsweise meinem Vater zu einer besseren
Gesundheit verholfen hatte. Ich könnte mir nicht mehr vorstellen,
anders zu leben. Tanja: Unsere Kinder kennen seit
Geburt nichts anderes. Im Sommer sind wir dank unserem
Garten fast selbstversorgend. Sandra: Je nach Lust der
Kinder kaufen wir aber auch mal etwas dazu, Melonen oder
exotische Früchte zum Beispiel. David: Mein Lieblingsessen
ist Durian. Anna: Meines auch! Tanja: Die Stinkfrucht ist der
ungeschlagene Favorit der Kinder. Wahrscheinlich, weil wir
sie so selten essen. Mia: Ich esse am liebsten Geburtstagskuchen.
Sandra: Der Kuchen ist ein Highlight für die Kinder.
Ich mache einen Boden aus Datteln und Nüssen und eine
Füllung aus frischen Früchten und Nüssen. Tanja: Als Rohkost
gelten Naturprodukte, die nicht über 40 Grad erwärmt
wurden. Wir essen auch Trockenfleisch, rohe Eier von unseren
Hühnern und Rohmilch, die Sandra zu Quark verarbeitet.
Sandra: Wir essen alles in natürlicher Form, so, wie unsere
Vorfahren gegessen haben und es Wildtiere noch heute tun.
Dadurch bleiben unserer Nahrung wichtige Enzyme und
Nährstoffe erhalten. Tanja: Die Milch kann ich eigentlich
nicht mit mir vereinbaren, weil es unnatürlich ist, Muttermilch
einer anderen Art zu trinken. Sandra: Bisher haben
die Kinder noch nie den Wunsch geäussert, etwas zu essen,
das sie zu Hause nicht bekommen. Ich wüsste nicht, wie
ich darauf reagieren würde. Luca: Bei Oma habe ich früher
einmal heimlich Brot und Teigwaren gegessen. Tanja: Dass
es heimlich war, fand ich nicht so toll. Da gabs Diskussionen
mit meiner Mutter. Luca: Heute esse ich aus Überzeugung
roh. Meine Freunde haben das schnell begriffen. Ich kann
problemlos bei denen essen: Ein paar Äpfel und Bananen hat
jeder daheim. Sandra: Drei unserer Kinder werden zu Hause
unterrichtet, David besucht die Schule. Wenn dort ein Kind
Geburtstag feiert, nimmt die Lehrerin Nüsse für ihn mit. Mir
wäre es lieb, könnten wir unsere Kinder noch lange von der
industriellen Nahrung fernhalten. Tanja: Klar könnten wir
sagen: Jetzt kochen wir das Gemüse halt einmal. Aber wir
haben bei Freunden gesehen, dass die Hemmschwelle, auch
andere Sachen zu probieren, dann abnimmt. Rohkost gibt
klar vor, was drinliegt – dass Süsskram und Industrienahrung
da nicht dazugehören, finden wir als Mütter prima.
*Namen der Kinder von der Redaktion geändert
17
Dossier
>>>
«Bio-Qualität garantiert uns
ein hohes Mass an Sicherheit,
dass Fleisch nicht mit
Antibiotika belastet ist», sagt
Kinderarzt Josef Laimbacher.
nährung mit grünblättrigen
Früchten, Gemüsen, Nüssen und
Samen sowie guten Proteinquellen
geniessen, können die Vorzüge der
Milch ihre etwaigen gesundheitlichen
Risiken möglicherweise nicht
aufwiegen.»
2. «Fleisch muss sein»
Wer heutzutage kein Fleisch isst,
erweckt damit kaum mehr Aufsehen.
Wo immer wir speisen, sind
vegetarische Optionen gang und
gäbe. Es wird auch kaum mehr angezweifelt,
dass eine fleischlose Ernährung
nicht zwangsläufig zu Mangelerscheinungen
führt.
Nicht ganz so entspannt sind wir
jedoch, wenn es um Kinder geht. Es
bleibt die Frage im Raum: Braucht
unser Nachwuchs Fleisch, um
gesund zu wachsen?
«Fleisch ist ein hochwertiges Nahrungsmittel,
reich an Protein, Eisen
und anderen Vitalstoffen», sagt Josef
Laimbacher, Chefarzt für Kinderund
Jugendmedizin am Ostschweizer
Kinderspital und Mitglied der
Eidgenössischen Ernährungskommission.
$
Um Fleischkonsum propagieren
zu können, müsste aber eine wichtige
Voraussetzung stimmen. Für
Laimbacher ist das Bio-Qualität:
«Sie garantiert uns ein hohes Mass
an Sicherheit, dass das Fleisch nicht
mit Antibiotika oder Rückständen
aus kontaminiertem Tierfutter be -
lastet ist.»
Seien diese Bedingungen erfüllt,
stelle Fleisch in der Kinderernährung
eine wertvolle Quelle für
essenzielle Aminosäuren dar. Das
sind Proteinbausteine, die im >>>
Allergie oder
Intoleranz?
Blähungen, Hautausschläge oder
Atemnot: Manche Menschen
reagieren empfindlich bis sehr
heftig auf bestimmte Lebensmittel.
Dann kann eine Allergie vorliegen
oder eine Intoleranz. Die beiden
Formen der Reaktion auf
Inhaltsstoffe unterscheiden sich
grundlegend voneinander.
Eine Nahrungsmittelallergie beruht
auf einer Abwehrreaktion des Körpers
gegenüber harmlosen pflanzlichen oder
tierischen Eiweissen (Allergenen). Die
von unserem Organismus gebildeten
Antikörper lösen bei jeglichem Kontakt
mit den Allergenen – oft reichen nur
Spuren davon – eine allergische Reaktion
aus. Sie variiert je nach Schweregrad der
Allergie von Juckreiz über Hautekzeme
oder Verdauungsbeschwerden bis hin
zum sogenannten anaphylaktischen
Schock, der schwersten Form einer allergischen
Reaktion, die im schlimmsten Fall
zu Atem- und Kreislaufstillstand führt.
Im Fall der Nahrungsmittelallergien ist
die gefühlte Betroffenheit weit höher als
die tatsächliche, wie Zahlen des Allergiezentrums
Schweiz zeigen: So geben bei
Umfragen jeweils 20 Prozent der Bevölkerung
an, auf bestimmte Nahrungsmittel
allergisch zu sein, nachweislich
davon betroffen sind allerdings lediglich
2 bis 8 Prozent.
Nahrungsmittelintoleranz ist ein Sammelbegriff
für verschiedene, nicht
allergisch bedingte Reaktionen auf
Nahrungsmittel. Dabei bildet der Körper
keine Antikörper, sondern ihm fehlt stattdessen
die Fähigkeit, einen bestimmten
Stoff zu verdauen, beziehungsweise er
hat diese Fähigkeit ganz oder teilweise
verloren. Ein bekanntes Beispiel für eine
Nahrungsmittelintoleranz ist die Zöliakie
oder Glutenintoleranz. Dabei können
Betroffene das Klebereiweiss in verschiedenen
Getreidesorten nicht verdauen,
was zu einer Schädigung der Dünndarmschleimhaut
führt. Bei der Laktoseintoleranz,
einer weiteren bekannten Störung,
fehlt Betroffenen ein Verdauungsenzym,
um Milchzucker zu spalten. Anstatt ins
Blut gelangt der Milchzucker unverdaut
in den Dickdarm und wird dort von
Bakterien vergoren, was zu Blähungen,
Bauchkrämpfen, Durchfall, Verstopfung
oder Erbrechen führen kann.
Eine Nahrungsmittelintoleranz führt
nicht zu einer lebensbedrohlichen
Situation, kann für Betroffene aber
sehr einschränkend und unangenehm
sein. Die Symptome sind vielfältig, zu
den häufigsten gehören Verdauungsbeschwerden
wie Bauchschmerzen, Blähungen,
Durchfall oder Verstopfung sowie
Unwohlsein. Je nach Form der Intoleranz
sind in der Schweiz bis zu 20 Prozent der
Bevölkerung betroffen.
Mehr Informationen: www.aha.ch
18 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi August November 201719
Dossier
Einer für alle:
Obwohl Mutter
Sandra
«Ella-konform»
kocht, essen alle
aus demselben
Topf.
20 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier
Familiensolidarität mit
der Allergikerin
Ella Macher, 16, aus Bäretswil ZH leidet an schweren
Lebensmittelallergien. Ihre Eltern Sandra und
Andreas sowie Bruder Flynn, 12, stellten deshalb
auch den eigenen Speiseplan auf den Kopf.
Sandra: Ihr erster Griessbrei kostete Ella fast das Leben.
Sie bekam einen Ausschlag, ihr Hals schwoll zu, sie verlor das
Bewusstsein. Ella hatte als Baby einen allergischen Schock.
Es stellte sich heraus, dass sie hochallergisch auf Weizen
war – sowie auf Nüsse, Eier und Milch. Ella: Heute sind
meine Reaktionen nicht mehr lebensbedrohlich. Ich hatte
neulich sogar Brot probiert – und nachher nur Bauchweh.
Experimentieren läuft nicht immer gleich gut. Andreas: Als
du Milchschaum probiert hattest, warst du zwei Tage ausser
Gefecht. Sandra: Solche Reaktionen waren früher gang und
gäbe. Nur schon, wenn ein anderes Kind Glace gegessen
hatte und Ella mit ungewaschenen Fingern berührte,
reagierte sie mit Nesselfieber. Ella: Daran erinnere ich mich
kaum mehr. Sandra: Mich dagegen prägt die Angst, dass Ella
etwas Falsches erwischen könnte, bis heute. Ich schärfte der
Kindergärtnerin ein, dass Ella nicht einmal die Blockflöte mit
anderen teilen darf, Lehrer und Eltern von Schulfreunden
wurden informiert, Spezialessen fürs Klassenlager organisiert.
Ich war jahrelang wie auf Nadeln. Ella: Dass Mama
nicht aus der Rolle meiner Beschützerin herauskann, ist ein
grosses Thema zwischen uns. Andreas: Es führt auch zu
Konflikten zwischen uns Eltern, weil ich es unterstütze, wenn
Ella experimentieren will. Als Arzt interessieren mich ihre
Reaktionen eher, als dass sie mich ängstigen. Gleichzeitig
verstehe ich Sandra, weil der Umgang mit Ellas Allergien
im Alltag vor allem an ihr hängt. Sandra: Früher kochte ich
zu jeder Mahlzeit zwei verschiedene Gerichte. Irgendwann
wuchs mir das über den Kopf, mittlerweile pflegt auch
Andreas als Vegetarier eine spezielle Ernährung. Flynn:
Wir essen meist alle «Ella-konform» – das ist bei uns ein
fester Begriff. Manchmal gibts für mich und Papa etwas
Käse dazu. Sandra: Flynn hat in den vergangenen Jahren oft
zurückstecken müssen, ich hatte keine Kapazität, auf seine
Essenswünsche einzugehen. Flynn: Manchmal motze ich
auch. Meist sehe ich es positiv: Ellas Allergien machten uns
erfinderisch – und Kochen spannender. Sandra: Der vegane
Trend hat uns viele neue Produkte beschert. Ella: Es gibt aber
leider auch den Trend, Pseudo-Allergien an die grosse Glocke
zu hängen. Ich kann nicht verstehen, wie Leute sich damit
interessant machen möchten, wo ich stets nur eines wollte:
ja nicht auffallen mit meinen Allergien.
Vegan lebende Kinder sollten
täglich etwa einen Viertel
mehr Pflanzenprodukte essen
als traditionell ernährte
Altersgenossen.
>>> Körper unter anderem am
Muskelaufbau sowie an der Produktion
von Enzymen, Hormonen und
Antikörpern beteiligt sind.
Es geht auch ohne
Geht es auch ohne? «Grundsätzlich
ja», sagt Laimbacher. Ein Kind vegetarisch
zu ernähren, bedeute allerdings
nicht nur, Fleischprodukte
vom Speiseplan zu streichen, sondern
diese durch eine ausgewogene
Mischkost zu ersetzen. So seien
Milchprodukte, Eier, Hülsenfrüchte,
Getreide und Nüsse gute Proteinlieferanten
und deckten dabei auch
essenzielle Aminosäuren ab. «Proteinmangel
ist in unseren Breitengraden
kein Thema mehr», sagt Laimbacher.
Daran ändere auch die
zunehmende Beliebtheit der fleischlosen
Kost nichts.
Ihren Bedarf an Vitamin B12,
zentral für die Blutbildung und die
Funktion des Nervensystems, müssten
vegetarisch lebende Kinder über
Milchprodukte und Eier decken.
«Eine ausgewogene Ernährung, die
ohne Fleisch auskommt, aber andere
Tierprodukte miteinschliesst», so
Laimbacher, «deckt die Nährstoffbedürfnisse
des wachsenden Kindes
gut ab.»
3. «Veganer sind
Rabeneltern»
Aber was ist mit der veganen Ernährung,
die sämtliche Nahrungsmittel
tierischen Ursprungs ausschliesst?
In den Medien lesen wir von Müttern
und Vätern, die ihre Kinder mit
Trockenobst fütterten, bis diese spitalreif
waren, von einem Baby, das
durch Pflanzenkost verhungerte,
weil ihm die Eltern keine >>>
21
Dossier
Vegane Ernährung kann bei
fehlendem Fachwissen zu
Hirnschädigungen führen.
>>> Säuglingsmilch anboten, nachdem
das Stillen nicht funktioniert
hatte.
Auch am Ostschweizer Kinderspital
mussten schon Kinder behandelt
werden, bei denen die vegane
Ernährung zu schweren Entwicklungsdefiziten
geführt hatte: «Die
meisten davon waren Babys und
Kleinkinder mit irreversiblen Hirnschädigungen,
ausgelöst durch einen
Mangel an Vitamin B12 der Mutter
während Schwangerschaft und Stillzeit.»
Laimbacher betont allerdings,
dass diese Patienten Einzelfälle darstellten,
von denen er in den letzten
Jahren keine mehr gesehen habe:
«Dies ist vermutlich einer intensiveren
Aufklärung zu verdanken.» Das
Bild der veganen Rabeneltern, das
von den Medien kolportiert werde,
sei überzogen.
Seitan und Bohnen haben mehr
Proteine als Fleisch
Eine rein pflanzliche Kost, sagt
Laimbacher, biete durchaus gewisse
gesundheitliche Vorteile, gerade in
Bezug auf Zivilisationskrankheiten
wie Übergewicht. Trotzdem rät der
Jugendmediziner nicht dazu, Kinder
entsprechend zu ernähren: «Weil die
vegane Ernährung schlicht keine
massentaugliche Empfehlung ist. Sie
setzt ein gutes Fachwissen der Eltern
voraus und die Bereitschaft, dafür
einen höheren zeitlichen Aufwand
zu betreiben.» Dazu gehörten die
Beratung durch eine qualifizierte
Ernährungsfachkraft sowie regelmäs
sige Kontrollen beim Kinderarzt
– inklusive Laboruntersuchungen.
Eltern, die auf Pflanzenkost setzen,
müssen die Ernährung ihrer
Kinder sorgfältig zusammenstellen,
damit diese alle wichtigen Nährstoffe
in der richtigen Menge bekommen.
Nüsse, Samen, Hülsenfrüchte
und daraus hergestellte Produkte
wie Tofu liefern Eiweiss und Kalzium
und je nach Sorte auch pflanzliches
Eisen. Auch Vollkorngetreide
sind gute Proteinlieferanten. Manche
Bohnen oder das aus Weizenprotein
hergestellte Fleischersatzprodukt
Seitan übertrumpfen mit
ihrem Proteingehalt sogar Fleisch.
In der Kalziumversorgung spielen
zudem etwa grünes Blattgemüse
und kalziumreiches Mineralwasser
eine wichtige Rolle.
Eisen können Veganer über Ge
treideprodukte, Nüsse und Samen,
Trockenobst, Spinat oder Rucola zu
sich nehmen. Bestimmte Säuren wie
Vitamin C helfen unserem Körper
dabei, das Eisen aus Pflanzen besser
absorbieren zu können. Die Bioverfügbarkeit
von Nährstoffen – das,
was der menschliche Körper davon
effektiv aufnehmen kann – ist in
pflanzlichen Quellen geringer als in
tierischen. «Darum sollten vegan
lebende Kinder täglich etwa einen
Viertel mehr Pflanzenprodukte
essen als traditionell ernährte
Altersgenossen», sagt Laimbacher.
B12 aus Tabletten
Das für unsere Gesundheit zentrale
Vitamin B12 kommt fast ausschliesslich
in tierischen Produkten
vor. Veganer kommen nicht umhin,
es in künstlicher Form zu sich zu
nehmen, beispielsweise in Tablettenform.
«Diese Supplemente sind
zwingend notwendig, um gesund zu
bleiben», sagt Laimbacher. «Gut
informierte Eltern wissen das.» Je
nach Versorgungslage seien zudem
weitere Supplemente nötig. «Ich verteufle
den Veganismus nicht», sagt
Kinderarzt Laimbacher. «Fachpersonen
sollten dazu Stellung >>>
Fleischlos glücklich
Die vegetarische Ernährung hat
viele Facetten – eine Übersicht:
Ovo-Lacto-Vegetarier essen Eier
und Milchprodukte, aber nichts,
was aus dem getöteten Tier hergestellt
wird – also weder Fleisch
und Fisch noch tierische Fette und
Gelatine.
Lacto-Vegetarier essen Michprodukte,
aber keine Eier.
Ovo-Vegetarier essen Eier, aber
keine Milchprodukte.
Veganer meiden von Fleisch
über Milchprodukte bis hin zu
Honig jegliche Nahrung tierischen
Ursprungs. Viele verzichten auch
auf tierische Produkte in Textilien
oder Kosmetika.
Frutarier essen nur Früchte,
Gemüse, Nüsse und Samen, deren
Ernte die Pflanze, von der sie
stammen, nicht beschädigt. Dazu
gehören Lebensmittel wie Beeren
oder Bohnen, die gepflückt werden
können, ohne die Pflanze zu zerstören.
Tabu sind dagegen Karotten
oder Kohl, weil beim Ernten die
Wurzeln der Pflanzen ausgerissen
werden.
22 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi November 201723
Dossier
«Enkeltauglicher
Umgang mit den
Ressourcen»:
Die Familie
Heiligtag/
Klingler isst
vegan.
24
November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier
Gemäss WHO rangiert
verarbeitetes Fleisch auf
derselben Gefahrenstufe
wie Zigaretten und Asbest.
>>> nehmen, und zwar auf differenzierte
Art und Weise. Schliesslich
geht es darum, eine wachsende
Gruppe von Eltern, die ihre Kinder
so ernähren, mit den nötigen Informationen
auszustatten.»
4. «Würste sind böse»
Von Gammelfleisch bis zu Antibiotikarückständen
– Fleisch stand
schon oft in den Negativschlagzeilen,
viele Konsumenten sind verunsichert.
Für Aufruhr sorgte auch die
WHO, als sie verarbeitetes Fleisch
vor knapp zwei Jahren in die Gefahrenkategorie
1 der krebserregenden
Substanzen einstufte. Gemäss WHO
stehen Wurst und Co. damit auf der
gleichen Stufe mit krebserregenden
Stoffen wie Tabakrauch, Asbest, Plutonium
oder Röntgenstrahlen.
Die WHO schickte ihrem Expertenbericht
Erläuterungen für den
Normalbürger hinterher. Darin präzisiert
sie, was mit der Gefahrenstufe
1 gemeint ist: «Diese Kategorie
kommt zum Zug, wenn genügend
und überzeugende wissenschaftliche
Beweise vorliegen, dass die betreffende
Substanz beim Menschen
Krebs erzeugt.»
Kein Fall für die Znünibox
Wurst, Aufschnitt, Pastete, Trockenfleisch
oder Fleischkonserven
werden oft mit nitrit- oder >>>
Vegan leben für eine
bessere Welt
Sarah Heiligtag und Georg Klingler aus Hinteregg
ZH führen mit dem vierjährigen Nils und der
zweijährigen Indra einen Bauernhof der anderen
Art: Der «Hof Narr» will zu Tierschutz und einem
schonenden Umgang mit der Umwelt inspirieren.
Dazu gehört auch die vegane Ernährungsweise.
Sarah: Ich bin in einem vegetarischen Haushalt aufgewachsen.
Mein Vater beschäftigte sich als Onkologe früh mit
den gesundheitlichen Risiken von Fleischkonsum. Schon
als Kind habe ich mich für Tiere eingesetzt. Dass man dazu
nicht nur auf Fleisch, sondern auf sämtliche Tierprodukte
verzichten sollte, wurde mir erst später klar. Prägend war in
diesem Zusammenhang mein Philosophiestudium.
Georg: Ich habe Umweltnaturwissenschaften studiert. Seit
ich denken kann, wollte ich etwas tun für den Schutz unserer
Lebensgrundlage und ein friedliches Zusammensein.
Sarah: Bei mir war es Tierliebe, bei Georg die Sorge um die
Umwelt, die uns zur veganen Lebensweise führte. Beides
prägt unser Lebensprojekt «Hof Narr». Hier leben ehemalige
Nutztiere, die vor dem Tod gerettet wurden. Georg: Die Auseinandersetzung
mit den ethischen, gesundheitlichen und
ökologischen Dimensionen der Landwirtschaftsindustrie
sowie die Produktion von bio-veganen Lebensmitteln stehen
auf dem Hof im Zentrum. Ganz im Bewusstsein, dass uns
viele deshalb für Narren halten, wollen wir zu einem enkeltauglichen
Umgang mit unseren Lebensgrundlagen inspirieren.
Sarah: Die vegane Ernährung ist eine wichtige Voraussetzung
dafür. Wir interpretieren sie auf sehr genussvolle
Art und Weise: An unseren Buffets sind die Leute überrascht
ob der Vielfalt, die ohne Tierprodukte möglich ist. Georg: Wir
hoffen, dass wir damit positive Impulse geben können. Es
braucht nämlich gar nicht so viel, um unseren Enkeln eine
bessere Welt zu hinterlassen. Sarah: Wir finden nicht, dass
jeder vegan leben muss. Aber ein zukunftstauglicher Trend
sollte wohl in die Richtung gehen, dass wir uns überwiegend
pflanzlich ernähren. Georg: Wer seine Kinder vegan ernährt,
gerät gerne unter Generalverdacht. Aber vegan lebende
Eltern aus unserem Umfeld informieren sich sehr gut, was
die Gesundheit ihrer Kinder angeht. Sarah: Mir wäre lieber,
Nils würde die anderen Kinder nicht so oft fragen, was sie
essen. Ich möchte nicht, dass er durch unsere Ernährungsweise
als anders wahrgenommen wird. Wobei, was heisst
schon anders? Es gibt doch zig Eigenschaften, die den einen
vom anderen unterscheiden. Wir zwingen unseren Kindern
nichts auf: Wenn sie an ein Geburtstagsfest gehen, sollen sie
vom Kuchen essen dürfen – ganz egal, was dieser enthält.
25
Salamibrötchen und
Würstchen haben in der
Znünibox nichts verloren.
>>> nitrathaltigem Pökelsalz konserviert.
Diese Verbindungen wandelt
unser Körper in Nitrosamine
um, die als höchst krebserregend
gelten.
Dass verarbeitetes Fleisch auf
gleicher Gefahrenstufe rangiert wie
Zigaretten, heisst laut WHO, dass in
beiden Fällen ein klarer statistischer
Zusammenhang zwischen dem Risikofaktor
und dem Auftreten von
Krebserkrankungen besteht – aber
nicht, dass von Wurst das gleiche
Risiko ausgeht wie von Zigaretten.
So gehen laut WHO jedes Jahr
34 000 Krebstodesfälle – dabei steht
Dickdarmkrebs im Vordergrund –
weltweit auf verarbeitetes Fleisch
zurück. Im gleichen Zeitraum sterben
eine Million Menschen weltweit
infolge Rauchens an Krebs.
Forscher der Universität Zürich
untersuchten bereits vor der WHO
den Zusammenhang zwischen dem
Konsum von verarbeitetem Fleisch
und dem Risiko für Krebs und Herz-
Kreislauf-Erkrankungen. Ihr Fazit:
Die kritische Grenze liegt bei 40
Gramm. Diese Menge ist rasch
erreicht, mahnt Studien-Mitautorin
Sabine Rohrmann: «Eine durchschnittliche
Scheibe Schinken oder
Salami wiegt schon 20 bis 30
Gramm.»
Was bedeuten diese Befunde für
Eltern? In Panik sollten sie uns nicht
versetzen – wohl aber zur Mässigung
anhalten: Wir können weiterhin
bräteln gehen – in der kindlichen
Znünibox haben Würstchen
und Salamibrötchen aber nichts
verloren.
26 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier
5. «Rotes Fleisch ist
ungesund»
Auch rotes Fleisch hat einen ramponierten
Ruf, nachdem es die WHO
zum gleichen Zeitpunkt, wie sie vor
Würsten warnte, auf Gefahrenstufe
2a setzte. Konkret bedeutet dies,
dass rotes Fleisch aufgrund der
aktuellen Datenlage «wahrscheinlich
krebserregend» ist, möglicherweise
aber weitere Faktoren hineinspielen.
Im Vordergrund steht
wieder das Darmkrebsrisiko, das
durch verschiedene Faktoren be
stimmt wird.
Im Verdacht stehen hohe Mengen
an Eisen und schädliche Substanzen,
die beim Braten, Kochen
und besonders beim Grillieren und
Räuchern von Fleisch entstehen.
Laut WHO könnte pro 100 Gramm
roten Fleischs, die jemand täglich
verzehrt, das Darmkrebs risiko um
18 Prozent steigen – falls sich rotes
Fleisch tatsächlich als krebserregend
erweist. Die WHO betont, dass das
Risiko für den Einzelnen klein sei
– der Befund aber relevant für eine
Gesellschaft, in der viele Menschen
grosse Mengen an Fleisch ässen.
Weniger ist mehr
Die Eidgenössische Ernährungskommission
reagierte auf die Forschungslage
und spricht sich generell
für eine Reduktion des Fleischkonsums
aus, besonders von rotem und
vor allem von verarbeitetem Fleisch.
Die SGE empfiehlt Erwachsenen,
nicht mehr als zwei- bis dreimal pro
Woche Fleisch zu essen, für Kinder
von zehn bis zwölf Jahren sollen es
höchstens fünfmal pro Woche sein.
Jugendmediziner Josef Laimbacher
sagt, auch Kinder seien mit >>>
Publireportage: Swisscom Prepaid Kids
Die Gesellschaft für
Ernährung empfiehlt Kindern
im Alter von fünf bis zwölf
Jahren, höchstens fünfmal pro
Woche Fleisch zu essen.
Endformat: 210x141 mm / Satzspiegel 190x123 mm
Kinder: Das sind die wichtigsten Handy-Regeln, die man kennen muss
«Die Vorbildrolle der Eltern ist eminent wichtig»
Herr In Albon, ist ein Handy für
Primarschüler sinnvoll?
Dient es lediglich zur Unterhaltung,
empfiehlt es sich nicht. Wenn das Kind
erreichbar sein soll, etwa nach dem
Fussballtraining, oder wenn es einen
langen Schulweg hat, hingegen schon.
Denn es gibt dem Kind die Möglichkeit,
seine Umgebung selbstständig
zu erkunden.
Jeder zweite Primarschüler in der Schweiz besitzt ein
eigenes Handy. Wie regelt man den digitalen Konsum bei
Kindern? Medienkompetenz-Experte Michael In Albon
beantwortet die wichtigsten Fragen.
Michael In Albon ist Jugendmedienschutz-Beauftragter bei Swisscom und Experte für
Medienkompetenz.
Wie behalten Eltern die Kosten im
Griff?
Am einfachsten sind sicherlich Prepaid-Lösungen.
Das Kind kann nur so
viele Dienste nutzen, wie es der Betrag
erlaubt. Mit einem Prepaid-Abo kann
man sich nicht verschulden.
Wie wichtig ist ein «Handy-
Aufklärungsgespräch»?
Sehr wichtig. Kinder sollten verstehen,
zu welchem Zweck sie ein Handy bekommen
und dass es ungeeignete Inhalte
im Netz gibt. Vor allem brauchen
sie Begleitung und Regeln.
nur Geschichten hören oder auch Videos
anschauen? Wenn ja, zuerst um
Erlaubnis fragen. Das Festlegen der
Regeln signalisiert dem Kind von Anfang
an, dass es nicht alles mit diesem
Gerät anstellen darf.
Darf das Handy am Abend mit ins
Kinderzimmer?
Das Handy sollte nicht die ganze Zeit
in Reichweite des Kindes sein. Ausserdem
haben digitale Geräte, wie Tageslicht,
einen hohen Anteil an «Blaulicht»,
das die Produktion des Schlafhormons
Melatonin hemmt. Als Faustregel
gilt: Eine Stunde vor dem Schlafengehen
keine Handys oder Fernseher,
im Idealfall zwei Stunden.
fragt. Eltern haben teilweise selber
Mühe, das Handy wegzulegen. Dabei
ist die Vorbildrolle der Eltern eminent
wichtig! Es ist erstaunlich, wie wenig
Eltern bereit sind, ihr eigenes Konsumverhalten
zu Gunsten des Kindes
zu ändern.
Welche Vorteile hat es für Eltern,
wenn ihr Kind ein Handy hat?
Der Alltag ist einfacher zu organisieren.
Das Kind kann anrufen, wenn es
abgeholt werden soll oder wenn es
sich verspätet. Dass das Kind erreichbar
ist, wenn es allein unterwegs ist,
gibt Eltern eine gewisse Ruhe.
inOne mobile prepaid kids:
Kann man ein Handy kindergerecht
Das beruhigende Gefühl, nur
einstellen?
einen Anruf entfernt zu sein
Das Internet lässt sich grundsätzlich
sperren. Allerdings funktionieren dann
Mit inOne mobile prepaid kids
auch Apps wie etwa der SBB-Fahrplan,
kann Ihr Kind bis zu 5 Swisscomsation
WhatsApp oder die Synchroni- Welche?
Nummern im Inland kostenlos
des Familienkalenders nicht. Ganz wichtig: Die Zeit limitieren. Das
anrufen und sich so jederzeit bei
Je nach Anbieter gibt es spezielle Handy soll nicht den ganzen Tag zur
Ihnen melden. Mehr Infos zum
Kindersicherungen oder Kindermodi. Verfügung stehen. Apps ebenfalls limitieren.
Besteht die Gefahr, dass sich
Angebot und zum Engagement
Dort können Eltern einstellen, worauf
Und: Auch wenn es sich um ein Kind nur noch für sein Handy von Swisscom im Bereich Medien-
die Kinder Zugriff haben oder wie kostenlose handelt, keine Apps ohne interessiert?
kompetenz:
lange sie surfen dürfen. Auf Youtube Erlaubnis herunterladen. Regeln Sie Ja. Wenn ein Kind immer häufiger zum www.swisscom.ch/prepaidkids
findet Das Schweizer man viele ElternMagazin Video-Tutorials. Fritz+Fränzi den November Youtube-Umgang: 201727
Darf mein Kind Gerät greift, sind Alternativen ge-
Dossier
«Das
Familienmodell,
mit dem ich
aufwuchs, ist mir
ein Vorbild», sagt
Tochter Silva (l.).
Enger Zusammenhalt
dank Selbstversorgung
Als junge Eltern realisierten Sabine und Markus
Lanfranchi in Verdabbio GR ihren Traum vom Leben
als Selbstversorger. Silva, 26, Lüzza, 13, und ihre
Eltern erzählen, wie dieses Lebensmodell die
Familie eng zusammenschweisste.
Markus: Selbstversorger zu sein, ist für mich eine politische
Entscheidung. Einkaufen ist wie abstimmen: Mit jedem
Franken, den ich ausgebe, erhält irgendein Unternehmen
meine Stimme. Sabine: Wir bewirtschaften acht Hektaren
Land, die sich übers ganze Dorf verteilen. Wir halten 35
Schafe, 2 Esel, 2 Schweine, Hühner und Enten sowie 5 bis
10 Bienenvölker. Unseren Lebensunterhalt verdienen wir
mit Schafmilchprodukten, Lammfleisch, Honig und Grappa.
Markus: Sabine und ich lernten uns mit 19 kennen. Sie
arbeitete in der Werbung, ich als Metallkonstrukteur. Wir
wollten mehr vom Leben. Sabine: Unsere ersten bäuerlichen
Versuche starteten wir 1986 im Engadin, drei Jahre später
gingen wir als frischgebackene Eltern von Dylan nach Neuseeland.
Dort kam 1991 Silva zur Welt. Später machte ein
Erdbeben unsere ganze Aufbauarbeit zunichte. Wir zogen
zurück in die Schweiz. Markus: 1993, gerade war Selina
geboren, kauften wir an diesem Steilhügel einen ersten
kleinen Landstreifen. Sabine: Wir nahmen unser Leben als
Selbstversorger und Biobauern in Angriff.
Markus: Im Dorf begegnete man unserem Ansinnen nicht
gerade freundlich. Die meisten Bauern hatten ihren Beruf
an den Nagel gehängt, weil sie von der Landwirtschaft
nicht leben konnten. Und da kamen wir, zwei naive Junge,
die meinten, es besser zu können. Aber wir hatten Narrenfreiheit,
und die geniessen wir bis heute. Was wir auch
machen, es ist da: dieses Vertrauen, dass alles gut kommt.
Sabine: Für unsere Kinder – als viertes kam 1997 Rubina
dazu – war unser Familienleben nicht immer leicht. Damit
etwas auf den Tisch kam, mussten sie täglich mitanpacken.
Silva: Mir hat das nicht geschadet. Ich wusste früh, was
Arbeiten bedeutet, das hat mir nur Vorteile gebracht. Lüzza:
Ich habe es heute viel einfacher: Im Sommer muss ich beim
Heuen helfen, sonst hält sich der Aufwand in Grenzen. Ich
kümmere mich um die Enten und die Hühner. Ich finde es
super, dass in unserem Garten leckeres Essen wächst: Man
gibt die Pasta in den Topf und holt den Rest vor der Haustür.
Trotzdem möchte ich später nicht als Selbstversorger leben.
Silva: Mich freut es, dass Lüzza so beliebt ist in der Schule.
Wir waren damals Aussenseiter und mussten uns immer
beweisen. Lüzza: Ich bin kein Underdog, ich habe mich
schnell mit Älteren angefreundet. Und ich zeige mit guten
Schulnoten, dass ich etwas draufhabe. Silva: Wir Älteren
sagen manchmal: Werd bloss kein Bully, Lüzza! Wir wissen
nur zu gut, wie sich Mobbing anfühlt. Markus: Die Ablehnung
durch die anderen hat uns aber auch zu einer verschworenen
Gemeinschaft gemacht. Silva: Das stimmt, wir haben ein
starkes Familiengefühl. Ich möchte zwar nicht als Selbstversorgerin
leben, aber das Familienmodell, mit dem ich aufwuchs,
ist mir ein Vorbild. Und meinem Mann übrigens auch.
28 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier
Junge Frauen, die täglich mehr
als einmal rotes Fleisch essen,
haben ein 22 Prozent höheres
Brustkrebsrisiko.
>>> zwei bis drei Fleischportionen
pro Woche gut bedient: «Sie brauchen
nicht mehr.» Er resümiert:
«Fleisch als Nährstoffquelle richtig
zu nutzen, bedeutet vor allem, die
Menge im Auge zu behalten.»
6. «Weisses Fleisch ist
besser»
Junge Menschen seien besonders
gefährdet durch etwaige Schadstoffe
in ihrer Nahrung, sagt Ernährungswissenschaftler
Walter Willett: «Dies
zeigt sich eindrücklich in Bezug auf
weibliche Jugendliche und ihr späteres
Risiko für Brustkrebs.» In der
Langzeitstudie «Nurses’ Health Study»
analysierten Willett und seine
Kollegen unter anderem den Zusammenhang
von Ernährung und Brustkrebs.
Dabei habe man sich lange auf
die Ernährungsgewohnheiten von
Frauen mittleren und älteren Alters
konzentriert. Entsprechende Studien,
so Willett, hätten keinen Zusammenhang
zwischen Brustkrebs und
dem Konsum von rotem Fleisch
nahegelegt.
Ein anderes Bild präsentierte sich
den Forschern, als sie mithilfe alter
Fragebögen die Ernährungsgewohnheiten
von über 44 000 Frauen
zum Zeitpunkt ihrer Adoleszenz
rekonstruierten: Junge Frauen, die
während Pubertät und Adoleszenz
täglich mehr als einmal rotes Fleisch
essen, haben ein 22 Prozent höheres
Risiko, an Brustkrebs zu erkranken.
Aus den Daten leiteten die Forscher
eine interessante Prognose ab:
Würden junge Frauen eine tägliche
Portion rotes Fleisch durch Hülsenfrüchte,
Nüsse, Geflügel oder Fisch
ersetzen, würde ihr Brustkrebsrisiko
um 14 Prozent sinken.
Trotzdem bleibt offen, ob weisses
Fleisch tatsächlich gesünder ist als
rotes. Aber gebe es auch keine epidemiologische
Studie, die einen
Zusammenhang von weissem
Fleisch und Krebs festgestellt hätte,
so Ernährungswissenschaftler Willett.
Derweil rät er den Eltern, auf
Poulet und Fisch als tierische Proteinlieferanten
zu setzen.
7. «Alles bio, alles gut»
Lebensmittel mit dem Knospen-Siegel
sind keine Nischenpro- >>>
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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
November 201729
Dossier
>>> dukte mehr. Tierfreunde setzen
auf Bio, weil das Label für
bessere Bedingungen für Nutztiere
sorgt. Auch ein anderes Argument
fällt bei Konsumenten ins Gewicht:
Sie kaufen Bioprodukte, weil sie sich
davon gesundheitliche Vorteile versprechen.
Schliesslich dürfen Biobauern
weder synthetische Pestizide
verwenden noch Tiere mit hormonbelastetem
Leistungsfutter pushen,
um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Sind Bioprodukte also gesünder
als Lebensmittel aus konventioneller
Landwirtschaft? Von gesunden Produkten
zu sprechen, sei wenig sinnvoll,
sagt Urs Niggli, Direktor des
Forschungsinstituts für biologischen
Landbau in Frick: «Für unseren Ge
sundheitszustand sind nicht einzelne
Lebensmittel ausschlaggebend:
Es ist die Art und Weise, wie wir uns
ernähren.» Wer sich an die gängigen
Empfehlungen halte, wenig Zucker,
Fett und Fleisch sowie viel Früchte
und Gemüse konsumiere, könne
seinen Speiseplan als gesund
betrachten, sagt der Agrarwissenschaftler.
Bioprodukte seien also
keine Gesundheitsgaranten, ebenso
wenig könnten sie Auswirkungen
einer schlechten Ernährung kompensieren.
«Aber die Forschung
zeigt», sagt Niggli, «dass sie einen
Zusatznutzen bieten.»
Das Tüpfelchen auf dem i
Dazu gehört ein «massiv höherer»
Gehalt an sekundären Pflanzenstoffen,
wie Niggli sagt. Pflanzen bilden
diese bioaktiven Stoffe, um sich vor
schädlichen Umwelteinflüssen zu
schützen. Biopflanzen produzieren
naturgemäss mehr davon, weil sie
keine Schützenhilfe von Pflanzenschutzmitteln
erhalten. Die meisten
sekundären Pflanzenstoffe wirken als
sogenannte Antioxidantien, von
denen die Forschung annimmt, dass
sie helfen, Alterserscheinungen oder
gewissen Krankheiten vorzubeugen.
«Ein Bioapfel enthält die Antioxidantien
von anderthalb konventionellen
Äpfeln», sagt Niggli.
Auch Biofleisch und -milch punkten
mit solchen Extras. «Im Vergleich zu
Produkten aus konventioneller
Landwirtschaft haben sie einen
höheren Anteil an günstigen Fettsäuren»,
sagt Niggli. Biokühe ernähren
sich zu mindestens 90 Prozent
von Gras oder Heu. Aus dem langfaserigen
Raufutter bilden sie andere
Moleküle als aus Kraftfutter. Weil
Biolandwirten der vorbeugende
Einsatz von Antibiotika oder Hormonen
verboten ist, entfällt für den
Konsumenten zudem das Risiko von
solcherlei Überbleibseln in Fleisch
und Milch.
Bei Gemüse und Früchte zeigt
sich zudem, dass Produkte mit Biolabel
einen bis zu viermal niedrigeren
Gehalt an Pestizidrückständen
aufweisen. Auch die Konzentration
von anderen Umweltgiften ist in
Biogewächsen deutlich niedriger.
Niggli betont aber, dass die gesetzlichen
Grenzwerte für solche Sub
stanzen in der Schweiz so gewählt
seien, dass konventionell produzierte
Früchte und Gemüse bedenkenlos
gegessen werden könnten. Forscher
der ETH hätten Hochrechnungen in
Bezug auf Umweltgifte in konventionell
produzierten Feldfrüchten
angestellt – und seien der Auffassung,
dass das von ihnen ausgehende
Risiko ein Menschenleben um
höchstens eine Woche verkürze.
«Bio ist für eine gesunde Ernährung
also kein Muss», sagt Urs Niggli,
«aber sozusagen das Tüpfelchen auf
dem i. Ich möchte deshalb nicht darauf
verzichten.»
Alles, aber mit Mass?
Die Frage, was eine gesunde Ernährung
ausmacht, lässt sich nie abschliessend
beantworten. Ständig
kommen neue Erkenntnisse dazu;
für den Normalverbraucher sind sie
nicht immer ein Segen. Den Überblick
zu behalten, kann kaum unser
Anspruch sein. Aber mir scheint, es
wäre sinnvoll, dem Thema Ernährung
zumindest ohne Scheuklappen
zu begegnen. Das fängt damit an,
Bio ist für eine gesunde
Ernährung kein Muss,
aber sozusagen das
Tüpfelchen auf dem i.
Wissenschaft nicht als Bevormundung
zu sehen, sondern sie als das
zu betrachten, was sie ist: ein Versuch,
den menschlichen Körper und
das, was wir ihm zuführen, besser zu
verstehen.
Mit ihren Erkenntnissen habe ich
mich nun wochenlang beschäftigt
– um nicht zu sagen: herumgeschlagen.
Die Lektüre war zäh. Mich persönlich
hat sie dennoch motiviert,
Allgemeinplätze infrage zu stellen,
selbst wenn Antworten fehlen. Darum
schliesse ich hier auch nicht mit
dem beliebten Credo, dass wir alles
essen sollten, bloss mit Mass. Vielmehr
glaube ich, dass wir da und
dort ruhig umdenken dürfen, auch
wenn es uns etwas geistige Flexibilität
abverlangt. Schliesslich geht es
um die Wurst: um unsere Gesundheit
und die unserer Kinder.
Virginia Nolan
ist freie Autorin und Mutter einer 3-jährigen
Tochter. Sie war ein Milch-Kind, wie es im
Buche steht. Nach dieser Recherche war
sie baff, wie sehr wir die gesundheitlichen
Vorteile des Lebensmittels überschätzen.
>>>
30 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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10/2017
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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
November 201731
Dossier
«Essen sollte frei von Druck sein»
Wir können Kindern beibringen, gesundes Essen zu mögen, meint Ernährungspsychologin
Katja Kröller. Das funktioniert aber nicht mit Brechstange und Gemüsequoten, sondern durch
sinnliches Experimentieren – und mit der Macht der Gewohnheit. Text: Virginia Nolan
Frau Kröller, was ist der schlimmste
Fehler beim Versuch, Kinder für eine
gesunde Ernährung zu begeistern?
Vermutlich die Betonung des Gesunden.
Essen sollte frei von Druck sein.
Es hilft, wenn gerade heikle Esser es
als zwanglose, eher nebensächliche
Angelegenheit wahrnehmen. Eltern
sollten ihre Bemühungen darauf lenken,
Kindern vielfältige Geschmackswelten
zu eröffnen, statt sich mit der
Frage herumzuplagen, wie sie ihnen
Gemüse unterjubeln können.
Was prägt den Geschmack unserer
Kinder?
Seine ersten Geschmackserfahrungen
macht das Kind während
Schwangerschaft und Stillzeit. Wir
wissen, dass Kinder, die möglichst
früh eine Vielzahl von Geschmäckern
kennenlernen, aufgeschlossenere
Esser werden. Das gilt ganz
besonders für die Zeit, in der wir sie
ans Essen gewöhnen. In weiten Teilen
der Welt essen bereits die Kleinsten,
was die Grossen mögen.
Wir können Kindern also beibringen,
gesundes Essen zu mögen?
Wenn wir Kindern Geschmackserlebnisse
vorenthalten, ist es nicht
erstaunlich, dass sie schwierige Esser
werden. Geschmackspräferenzen
lassen sich trainieren. Dies zeigt eindrücklich
ein Forschungsprojekt, das
ich begleitet habe. Dabei erhoben wir
regelmässig die Gemüsevorlieben
von 300 Kindergartenkindern und
leiteten daraus eine Art Ranking ab.
Wir untersuchten, ob sich diese Präferenzen
durch sensorisches Training
verändern liessen. Kohlrabi
zum Beispiel erwies sich als eher
unbeliebt. Die Kinder bekamen sie
nun vier bis acht Wochen lang dreimal
die Woche zu essen.
Was passierte?
Kohlrabi kletterte im Ranking nach
oben, und zwar deutlich. Die Präferenz
für ein Lebensmittel hängt also
stark davon ab, wie gut wir es kennen.
Wir mögen, was wir uns gewohnt
sind. Wenn ich täglich angeboten
bekomme, was ich nicht mag,
werde ich irgendwann anfangen, es
zu akzeptieren.
Kein besonders motivierender Ansatz.
So soll ja auch nicht die Ansage ans
Kind lauten. Wenn unser Kind etwas
verschmäht, sollte uns das als Eltern
aber nicht daran hindern, das
Lebensmittel weiterhin regelmässig
auf den Tisch zu bringen, ganz ohne
Aufheben. Das Kind muss es nicht
essen, bleibt aber in Kontakt damit.
«Studien zeigen, dass allein schon
das Reden über den Geschmack
eines Lebensmittels die Akzeptanz
beim Kind fördert.»
Allein damit brachten Sie Kinder dazu,
Kohlrabi zu mögen?
Nicht nur. Auch der sinnliche und
haptische Kontakt zu Gemüse – Riechen,
Schmecken, Anfassen – beeinflusst
das Geschmacksempfinden.
Wir bereiteten gemeinsam Gemüsesnacks
zu, dachten uns Geschichten
zu den lustigen Knollen aus,
liessen die Kinder Gemüse malen
oder mit verbundenen Aromen probieren.
Diese Ratespiele offenbarten,
dass Kinder unglaublich kreativ darin
sind, Geschmäcker zu benennen.
Das könnten sich Eltern zunutze
machen.
Inwiefern?
Wir wollen von den Kindern nur
wissen, ob es schmeckt. Wir könnten
sie stattdessen einmal fragen, wie es
schmeckt. Unsere Studie zeigte, dass
allein schon Reden über den Geschmack
eines Lebensmittels dessen
Akzeptanz beim Kind fördert. Interessanterweise
hatte selbst der Austausch
über die geschmacklichen
Nachteile eines Gemüses dazu beigetragen,
dass die Kinder es am Ende
lieber mochten als vorher. Dass
Gemüse etwas Gesundes mit vielen
Vitaminen ist, war in unserem Projekt
übrigens mehr eine beiläufige
Information, aber nicht die zentrale
Botschaft.
Was machen Eltern, wenn Teenager
Gemüse und Salat verweigern?
Auch hier gilt: geduldig bleiben,
abwarten, gemeinsame Mahlzeiten
anbieten. Die müssen je nach Alter
nicht mehr täglich stattfinden, da
lohnen sich Absprachen. Es kann
32 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
wiederum helfen, gesundes Essen so
anzubieten, dass Jugendliche es als
beiläufig wahrnehmen. Ich denke da
an Früchte oder Snackgemüse, von
dem sich alle bedienen dürfen, während
der Mahlzeit oder zwischendurch.
Gelegentlich sind auch aufgepeppte
Sandwiches oder das
Lieblingsessen des Jugendlichen ein
guter Kompromiss für die Familienmahlzeit.
Es lohnt sich, wenn der
Wochenspeiseplan von allen Familienmitgliedern
mitbestimmt werden
darf. Starre Vorgaben führen nur
dazu, dass Jugendliche ihren Essensbedarf
am Kiosk decken.
Der Hang zu ungesundem Essen ist
bei Jugendlichen meist ausgeprägt.
Wächst sich das aus?
Das tut es. Studien zeigen, dass die
Ernährungsweise, die Eltern zu Hause
vorleben, ihre Kinder im Erwachsenenalter
massgeblich prägt. Also
keine Sorge: Da bleibt was hängen.
Bloss dauert es eben, bis dieser Effekt
greift. Bis dahin mögen Jugendliche
Gemüse komplett ablehnen – sie
nehmen dadurch keinen Schaden.
«Fünf am Tag» heisst die Botschaft
der Schweizerischen Gesellschaft für
Ernährung, wenn es um Gemüse und
Früchte geht. Wie ist das mit Kindern
zu schaffen?
Gar nicht, vermutlich. Ich halte nicht
viel davon, weil sie Eltern unter
Druck setzt. Sehen sich Eltern aufgefordert,
Quoten einzuhalten,
erschwert ihnen das einen lustvollen
Zugang zum Gemüse. Für Kinder ist
der aber ausschlaggebend. Es ist
schon viel getan, wenn wir versuchen,
einmal am Tag Obst und einmal
Gemüse zu essen. Es kann auch
Tage geben, an denen das gerade
nicht passt oder das Kind sich wehrt.
Das ist nicht schlimm.
Probieren ist Pflicht – wie halten Sie
es damit?
Zum Probieren kann man ein Kind
höchstens ermuntern. Druck ist
unangebracht. Kinder legen in ihren
verschiedenen Entwicklungsstufen
grossen Wert auf eigenständige Entscheidungen,
und sie wissen auch,
dass sie beim Essen die stärksten
Einflussmöglichkeiten haben: Wir
können Kinder zu vielem zwingen,
aber wenn sie das Essen verweigern,
sind wir machtlos. Wenn ein Kind
nicht probieren will, sollten Eltern
das akzeptieren. Wir können ihm
aber gleichzeitig erklären, dass sich
Geschmäcker durchaus ändern und
ein weiterer Anlauf sich lohnen
kann.
Sollten wir Essen als Belohnung einsetzen?
Es kommt darauf an. Wir tun uns
keinen Gefallen, wenn wir dem Kind
einen Nachtisch in Aussicht stellen,
falls es den Broccoli aufisst. Durch
die Belohnung bestätigen wir ihm,
«Wenn ein Kind nicht
probieren will, sollten
Eltern das akzeptieren.»
dass Broccoli-Essen eine ganz schön
harte Angelegenheit ist, die nach
Entschädigung verlangt. Belohnung
mit Essen kann funktionieren, wenn
die Handlung, die wir damit loben
wollen, tatsächlich negativ besetzt ist
– denken Sie etwa an die Glace nach
überstandenem Arzttermin. Wir
sollten aber auch diese Art der
Belohnung sehr sparsam einsetzen.
Essen soll nicht zum Trostpflaster
werden.
Zur Person
Katja Kröller ist Professorin für
Ernährungspsychologie an der Hochschule
Anhalt in Bernburg (D). Der Fokus ihrer
Forschung liegt auf psychologischen
Ansätzen für individuelle
Verhaltensänderungen und der dazu
geeigneten Gesprächsführung.
Im nächsten Heft:
Generation Sandwich
Bild: iStockphoto
Sie sind eingeklemmt zwischen der Verantwortung
für die eigenen Kinder und jener für ihre Eltern:
Immer mehr Menschen müssen neben Familie und
Beruf noch die Angehörigenpflege unter einen Hut
bekommen. Unser Dossier im Dezember.
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
November 201733
Monatsinterview
34 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
«Eltern sollten die
Mutmacher ihrer
Kinder werden»
Acht Prozent der Schulkinder sind übermässig schüchtern, und das
über eine lange Zeit. Aus der ständigen Angst heraus, schlecht beurteilt
zu werden, verhalten sie sich im Unterricht meist passiv – mit fatalen
Folgen, sagt Georg Stöckli. Der Erziehungswissenschaftler über stumme
Beobachter, überbehütende Eltern und besonders hartnäckige
Hemmzwerge. Interview: Evelin Hartmann Bilder: Daniel Winkler / 13 Photo
Alte
Wirkungsstätte:
Georg Stöckli
war Leiter der
Forschungsstelle
Kind und Schule
an der Uni Zürich.
Ein ständiges Wispern und Klappern
erfüllt den grossen Saal, Studenten
unterhalten sich, bestellen Kaffee und
Gipfeli. «Oh, das habe ich mir anders
vorgestellt», sagt Georg Stöckli, der
den Lichthof der Universität Zürich als
Ort für dieses Interview vorgeschlagen
hatte. «Ansonsten stehen hier immer
Tische und Stühle.» Heute jedoch wird
hier für einen Stehapèro aufgetischt.
Erziehungswissenschaftler und
Journalistin wissen sich zu helfen,
belegen einen der herumstehenden
Bistro-Stehtische und führen das
Gespräch im Stehen.
Herr Stöckli, viele Kinder sind schüchtern.
Stellt dieses Persönlichkeitsmerkmal
überhaupt ein Problem dar?
Es kommt darauf an, wie ausgeprägt
das schüchterne Verhalten ist. Unter
Schüchternheit versteht man grundsätzlich
die Ängstlichkeit eines Menschen
beim Knüpfen zwischenmensch
licher Beziehungen.
Schüch ternheit ist, solange sie kein
Leiden verursacht, keine psychische
Störung, sondern ein Ausdruck des
Temperaments eines Menschen. Viele,
besonders jüngere Kinder verhal
ten sich in unbekannten Situationen
zurückhaltend, insbesondere, wenn
ein Kind in den Kindergarten oder
die Schule kommt. Das geht meist
vorüber, wenn es sich an die zunächst
neue Lehrerin und den Klassenraum
gewöhnt hat.
Wann ist ein Kind zu schüchtern?
Wenn der Erstklässler, um bei diesem
Beispiel zu bleiben, obwohl er
gerne Freundschaften schliessen
«Solange sie kein
Leiden verursacht,
ist Schüchternheit
keine Störung.»
würde, sich auch nach Wochen
zurückhält und selten den Kontakt
zu seinen Mitschülern sucht und sich
im Unterricht kaum bis gar nicht
mündlich beteiligt. Wissenschaftlich
ausgedrückt: Wenn sein Vermeidungsverhalten
ausgeprägter ist als
sein Annäherungsverhalten. >>>
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
November 201735
Monatsinterview
>>> Warum verhalten sich Kinder
denn auf diese Art und Weise?
Übermässig schüchterne Buben und
Mädchen haben Angst, negativ be
wertet, ausgelacht und lächerlich
gemacht zu werden. Sie haben Angst,
nicht zu genügen und den Erwartungen
anderer nicht gerecht zu werden.
«Ich genüge nicht als Person.»
Diese Angst führt dazu, dass sich
schüchterne Kinder in Gegenwart
anderer unbehaglich fühlen, angespannt
sind und Hemmungen
haben, sich beispielsweise in ein
Spiel einzubringen. Sie bleiben in der
Rolle des stummen Beobachters.
Was steckt hinter dieser Angst?
Ein stark angeschlagenes Selbstvertrauen.
Die Vermeidung von sozialen
Kontakten ist die Folge, ebenso
wie eine mangelhafte Unterrichtsbeteiligung.
Diese Kinder machen sich
klein, sprechen, wenn überhaupt,
nur ganz leise, haben keinen wirklich
spürbaren Händedruck, meiden den
Blickkontakt, und auf Fragen antworten
sie schulterzuckend mit «ich
weiss nicht». Was von Aussenstehenden
oft negativ bewertet wird.
Nach dem Motto: «Wo nichts rauskommt,
ist auch nichts drin.»
Schüchternen fehlt aber nicht einfach
nur das richtige Skript für die
sozialen Auftritte; das Problem liegt
im Grunde tiefer. Oft kennen sie die
passenden Dialoge und das, was man
sagen könnte, sehr wohl, aber sie
verzichten darauf, die Sätze und
Bemerkungen auszusprechen, weil
sie sich nicht dazu berechtigt und zu
unbedeutend fühlen, ihre Meinung
in eine Situation einzubringen. Oder
sie fürchten, dass man ihnen widerspricht,
was sie sofort beschämen
würde.
Aber gibt es nicht auch schüchterne
Menschen, die ihre Hemmungen
gekonnt überspielen?
Das ist richtig. Viele Schauspieler
sind eigentlich extrem schüchterne
Menschen, obwohl sie täglich vor
Publikum auf der Bühne stehen.
Aber dort spielen sie lediglich ihre
Rolle. Extravertiertes Verhalten können
sich Schüchterne mit zunehmendem
Alter aneignen. Auch der
Klassenclown hat letztlich nur eine
Möglichkeit gefunden, sich vor
anderen zu präsentieren. Er geht
damit aber keine ernsthaften Kontakte
ein.
Können diese Kinder keine Freundschaften
schliessen?
Sagen wir, es fällt ihnen sehr schwer,
da ihr soziales Misstrauen so stark
ausgeprägt ist. Das kleinste Anzeichen
von Abneigung oder Zurückweisung
von dem oder der Auserwählten
wird als Ablehnung ge deutet
und führt zum Rückzug. Deshalb
haben schüchterne Kinder meist
wenige Freunde, die ihnen sehr
wichtig sind und von denen sie
extrem viel erwarten.
«Wer im
Jugendalter den
Anschluss nicht
findet, bleibt auch
als Erwachsener
isoliert.»
Von wie vielen Kindern, denen es so
ergeht, sprechen wir?
Im Kindergarten ist anfänglich ein
Drittel der Buben und Mädchen auffällig
schüchtern. In der Primarschule
werden dann etwa 16 Prozent der
Schülerinnen und Schüler eines
Jahrgangs als schüchtern wahrgenommen.
Mädchen und Buben sind
dabei übrigens gleich oft betroffen.
Diese Schüchternheit nimmt bei vielen
Betroffenen mit der Zeit ab. Bei
rund 8 Prozent bleiben die Hemmungen
und die Angst vor Zurückweisung
allerdings erhalten. Wenn
diese Kinder im Jugendalter den
Anschluss immer noch nicht finden,
isoliert bleiben, dann stabilisiert sich
ihre Schüchternheit. Dann bleibt
man mit grosser Wahrscheinlichkeit
auch als Erwachsener isoliert.
Wird Schüchternheit vererbt?
Während meiner Forschungstätigkeit
habe ich beobachtet, dass in den
meisten Fällen schon die Eltern
schüchtern waren. Das war auch die
Aussage der Mütter und Väter in
unseren Kursen: «Ich war früher
genauso.» Lassen Sie mich den
Zusammenhang so erklären: Es gibt
ein Hemmungs- und ein Annäherungssystem,
und je nachdem, wie
die Einschätzungen sind, wird entweder
das eine oder das andere aktiviert.
Bei Schüchternen ist die
Schwelle tiefer und die Hemmungen
werden früher aktiviert.
Wie muss man das verstehen?
Der Amerikaner und Entwicklungspsychologe
Jerome Kagan hat in den
80er-Jahren Babys Mobiles vorgehalten.
Die einen waren interessiert,
haben mit Greifen und Glucksen
freudig reagiert, während sich andere
weinend weggedreht haben. Für
sie waren diese Reize zu viel. Diese
Kinder haben eine so niedrige Reizschwelle,
dass sie von Reizen, die von
aussen kommen, recht schnell überfordert
werden.
Und diese niedrige Reizschwelle ist die
genetische Komponente?
Ja, sie wird von den Eltern vererbt.
Wie sich gezeigt hat, neigen besonders
Kinder, die gegenüber fremden
Personen eine tiefere Reizschwelle
haben, zu späterer Schüchternheit.
Ob es so weit kommt, hängt stark
von der Erziehungsumgebung ab.
Eltern, die früher selber schüchtern
waren, reagieren häufig ängstlich
und überbehütend und verstärken
so die Hemmungstendenzen beim
Kind. Schüchternheit kann gleichzeitig
vererbt und anerzogen sein.
Was gelingt Kindern mit einer höheren
Reizschwelle besser?
Es muss viel mehr passieren, um
diese Kinder aus der Ruhe zu bringen.
Sie können ihr Handeln besser
strukturieren und ausrichten auf das,
was wirklich passiert, während Kinder
mit einer niedrigen Reizschwelle
(vorschnell) auf Signale reagieren.
Für Schüchterne ist es so, dass der
36 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
«Schüchterne
Kinder bleiben
hinter ihren
Möglichkeiten
zurück», sagt
Georg Stöckli.
«Blick des anderen» primär Beurteilung
und damit Bedrohung signalisiert
– nicht etwa Interesse und
Wohlwollen.
Haben Schüchterne auch Stärken –
die weniger schüchternen Menschen
fehlen?
Schüchterne Menschen werden oft
als sehr empathisch beschrieben, sie
sind gute Zuhörer und Beobachter.
Und verstehen Sie mich nicht falsch,
auch Hemmungen sind nicht nur
negativ zu bewerten. Wenn es mehr
Hemmungen gäbe, wäre unsere Welt
sicher um einige Konflikte ärmer.
Das Problem ist nur, dass diese Hemmungen
in Situationen auftreten, die
für das persönliche «Vorankommen»
der schüchternen Person entscheidend
wären.
So bleiben schüchterne Menschen
hinter ihren Möglichkeiten zurück. Im
Hinblick auf die Schule ist ein solches
Verhalten fatal.
Leider. Diese Kinder bleiben im
Unterricht passiv, machen nicht mit
und können somit nicht zeigen, was
sie eigentlich im Stande sind zu leisten.
Ihre Noten sind schlechter, als
sie ohne dieses schüchterne Verhalten
wären. Viele Lehrpersonen re
agieren genervt auf diese Kinder, die
sich nicht äussern. Andere Kinder
und Jugendliche haben feine Antennen
für eine solche Stimmung: «Er
oder sie ist anders als wir.» In einem
ungünstigen Umfeld kann dies bis
zu Mobbing führen.
Sie sprechen in Ihren Büchern von den
«vergessenen Kindern».
Damit Unterricht stattfinden kann,
müssen erst einmal diejenigen Schüler
ruhiggestellt werden, die stören.
Dabei gehen die stillen, zurückhaltenden
Kinder unter – oder sind
sogar in ihrem passiven Verhalten
erwünscht. Sie machen keinen Klamauk,
sind ruhig. Das führt dazu,
dass die Probleme dieser Kinder
nicht gesehen werden. Was Schüchterne
brauchen, ist eine Umgebung
der Vertrautheit. Anders als zu Hause
ist diese Vertrautheit in der Schule
nicht gegeben, und durch die
Klassengrösse sind die Lehrerinnen
und Lehrer nicht in der Lage, eine
Vertrautheit zu schaffen.
Dabei wäre es gerade in der Schule
wichtig, dass es den Lehrpersonen
gelingt, eine vertrauensvolle Beziehung
aufzubauen.
Leider hören diese Kinder schon im
Kindergarten von Lehrpersonen,
dass sie sich besser beteiligen sollen,
was nicht gerade zu einer Verbesserung
führt. Wenn die Eltern >>>
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
November 201737
Monatsinterview
>>> dann auch noch solche Signale
aussenden, wird es ganz schlimm:
«Mach doch, sei doch, tu doch.» Das
heisst für das Kind: «So, wie du bist,
bist du nicht gut». Und das ist natürlich
eine fatale Botschaft.
Was könnten Lehrpersonen stattdessen
tun?
Es wäre wichtig, dass Lehrerinnen
und Lehrer mit den Kindern besprechen,
wie sie sich im Unterricht besser
beteiligen können, und einen
Weg finden, wie sie das Kind unterstützen.
So könnten beispielsweise
anstehende Vorträge gemeinsam
vorbesprochen werden. Man sollte
dem Kind zu verstehen geben, dass
auch andere Ängste haben, vor der
Klasse zu sprechen, und dass das
ganz normal ist. Man sollte ihm vermitteln,
dass man es in seinem
Wesen akzeptiert, aber es Schritt für
Schritt weiterbringen möchte.
Eine zeitaufwendige Sache.
So zeitaufwendig ist das nicht. Zwei
bis drei Mal pro Woche am Ende des
Unterrichts kurz mit einem schüchternen
Kind Aufträge durchsprechen,
das können Lehrpersonen
leisten.
In Ihrer Funktion als Leiter der Forschungsstelle
Kind und Schule an der
Universität Zürich haben Sie das
«Soziale Fitness-Training» entwickelt.
Ein Programm, das schüchternen Kin-
dern helfen soll, sich in der Schule zu
öffnen und ihre Hemmungen hinter
sich zu lassen.
Während meiner Forschungszeit zu
diesem Thema sind immer wieder
Eltern mit der Frage auf mich zugekommen:
«Was können wir nun
gegen die Schüchternheit unseres
«Mein Wunsch ist,
dass Fachpersonen
regelmässig mit
diesen Kindern an
ihren Schulen
arbeiten.»
Sohnes, unserer Tochter tun?» Da
habe ich gemerkt, dass es mit der
reinen Forschung nicht getan ist –
und dieses Programm entwickelt, in
dem wir mit den Kindern bei uns an
der Universität gearbeitet haben,
damit sie den Erwartungen, die an
sie gestellt werden, gerecht werden
können. Es braucht ja eigentlich
nicht viel: sich gelegentlich melden,
sich einbringen, mitmachen, in der
Pause nicht abseitsstehen, sondern
mit anderen etwas gemeinsam
machen. Für diese Kurse sind Familien
aus der gesamten Deutschschweiz
zu uns gekommen. Leider
werden Sie heute nicht mehr angeboten.
Unter anderem aus diesem Grund
haben Sie in diesem Frühjahr das
Buch «Sozial fit – SoFiT! Mutmacher
gegen Hemmzwerg. Sozialarbeit an
Schulen: Ein Trainingsprogramm für
sozial ängstliche Schülerinnen und
Schüler» herausgegeben ...
... um es an Sozialarbeiter und Heilpädagogen
an Schulen abzugeben.
Mein Wunsch wäre es, dass diese
Fachpersonen regelmässig mit
schüchternen Kindern an ihrer
Schule arbeiten.
Was kann ich als Vater oder Mutter eines
schüchternen Kindes tun?
Erst einmal sollten Sie Ihrem Kind
zuhören. Aussagen wie «alle anderen
in der Klasse sind blöd» deuten
schon darauf hin, dass etwas nicht
stimmt. Denn das kann nicht sein.
Eine Schulklasse ist im Grunde der
beste Ort, um Freunde zu finden, da
man über einen längeren Zeitraum
immer wieder mit denselben Menschen
Zeit verbringt.
Sollte man sein Kind ermutigen, auf
andere zuzugehen?
Es lohnt sich, als Mutter oder Vater
eines betroffenen Kindes die Frage
zu stellen: Wie distanziert bin ich
Die stellvertretende
Chefredaktorin
Evelin Hartmann im
Gespräch mit Georg
Stöckli.
Zur Person
Prof. Dr. Georg Stöckli war von
2009 bis 2015 Leiter der
Forschungsstelle Kind und Schule am
Institut für Erziehungswissenschaft
der Universität Zürich.
38 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
eigentlich selbst anderen Menschen
gegenüber? Wenn man seinem Kind
sagt, dass es doch eigentlich ganz
einfach ist, es aber selbst nicht praktiziert,
dann ist das ein Widerspruch,
den das Kind durchschaut. Natürlich
gehört es dazu, hin und wieder ein
anderes Kind zu sich nach Hause
einzuladen, gemeinsam zu essen und
dem eigenen Kind zu zeigen, dass
man in diesen Situationen auch entspannt
sein kann. Solche Tischsituationen
eignen sich dafür sehr gut:
Das Kind ist anwesend, muss aber
nicht aktiv handeln. Das ist ein guter
Anfang.
Für Ihr Programm haben Sie den Mutmacher
entwickelt, der dem schüchternen
Kind hilft, gegen den sogenannten
Hemmzwerg zu kämpfen.
Dieser Hemmzwerg ist ein sehr hartnäckiger
Zwerg (lacht). Es ging mir
darum, die Schüchternheit von der
Person des Kindes zu trennen. Es ist
der Hemmzwerg, der dem schüchternen
Kind das Leben schwermacht.
Doch mithilfe des Mutmachers kann
der Hemmzwerg be kämpft werden.
Eltern rate ich, die Mutmacher ihrer
Kinder zu werden und mit ihnen
Situationen zu erleben, nach denen
sie sagen können: «Da warst du jetzt
aber richtig mutig!» Und: «Du bist
viel mutiger, als du denkst!» Und das
kann dann ein Anschlusspunkt an
die eigene Mutmacherei sein.
>>>
«Mutmacher gegen Hemmzwerg»
Georg Stöckli entwickelte ein Trainingsprogramm, das
schüchterne Kinder darin unterstützt, ihre Hemmungen
und Ängste zu überwinden. Das Programm wurde mit
Schülerinnen und Schülern der vierten bis sechsten
Klassen erprobt. Die abschliessende Auswertung zeigte,
dass sich diese Kinder nach dem Training mutiger
fühlten als zuvor.
In zehn Trainingseinheiten werden Übungen
angeboten, die den Kindern zum einen ermöglichen,
ihre eigenen Hemmungen zu erkennen. Mithilfe der
Figur des Hemmzwergs können Kinder über die
Ursachen ihrer Probleme nachdenken. Zum anderen
werden die Kinder aufgefordert, ihre Passivität zu
überwinden und Eigeninitiative zu zeigen. Ein
persönlicher Mutmacher hilft den Kindern dabei.
Georg Stöckli: Sozial fit – SoFiT! Mutmacher gegen
Hemmzwerg. Sozialarbeit an Schulen: Ein
Trainingsprogramm für sozial ängstliche Schülerinnen
und Schüler. Lehrmittelverlag Zürich, 2016.
www.lmz.ch
tel.Dr.
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Medizinische Beratung am Telefon durch eine Fachperson,
jeden Tag rund um die Uhr. Im Akutfall oder bei Unsicherheit.
Das ist Service.
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
November 201739
Psychologie & Gesellschaft
Buben lernen anders als Mädchen
Damit beide Geschlechter in der Familie und in der Schule auf die
Rechnung kommen, braucht es ein Bewusstsein dafür, dass es
Unterschiede zwischen Mädchen und Buben gibt. Text: Susan Edthofer
Schule als Institution und Buben harmonieren
nicht immer miteinander. Mädchen scheinen
besser in dieses Konzept zu passen. Buben und
Mädchen entwickeln sich unterschiedlich, und
auch ihre Bedürfnisse, Vorlieben und Befindlichkeiten
sind anders. Dies bedeutet, dass beim Thema
Chancengleichheit nicht nur die soziale Herkunft, sondern
auch das Geschlecht eine Rolle spielt.
Mädchen sind eine Nasenlänge voraus
Bereits beim Schuleintritt haben die Mädchen die Nase
vorn. Bei der Einschulung beträgt der Entwicklungsvorsprung
etwa ein bis drei Jahre, ein Unterschied, der sich
erst im Laufe der Schulzeit ausgleicht. Nicht verwunderlich
also, dass der Unterricht für die Buben womöglich
zum Stressfaktor wird. In einem Artikel von «Focus
Schule» aus dem Jahr 2009 steht: «Mädchen sind nicht
schlauer, aber ‹schulklüger›.» Diese Aussage bringt es
auf den Punkt. Beispielsweise entwickeln sich Feinmotorik
und Grobmotorik bei Mädchen und Buben in
unterschiedlichen Zeitfenstern. Das erklärt, warum
Buben oft Mühe haben, still zu sitzen, schön zu schreiben
und geduldig auszumalen. Hinzu kommt, dass die
Art und Weise, wie Inhalte vermittelt werden, Buben
eher langweilt. Auch wenn bei Mädchen der Bewegungsdrang
ebenfalls hoch ist, können sie besser damit umgehen,
dass Wissen oft durch Reden weitergegeben wird.
Beiden Geschlechtern gerecht werden
Immer wieder ist die Frage zu hören, ob getrennte Klassen
beiden Geschlechtern mehr entsprechen würden.
Mittlerweile sprechen sich viele Fachleute für eine zeitweilige
Trennung aus. Schulen, die diese Lösung praktizieren,
stellen fest, dass den Bedürfnissen von Buben
und Mädchen besser entsprochen werden kann. Entgegen
der gängigen Meinung schneiden Mädchen beispielsweise
in Mathematik bis zehn Jahre ungefähr gleich
gut ab. Erst nachher überholen die Jungs sie. Scheinbar
liegt es also nicht an den Fähigkeiten, dass sich Mädchen
in naturwissenschaftlichen und technischen Fächern in
gemischten Klassen eher zurückhalten. Auch Buben
könnten ihre kommunikativen Stärken besser zeigen,
wenn die Klassen im Sprachunterricht
teilweise getrennt wären.
Deutliche Unterschiede bestehen im
Denken und Handeln: Mädchen macht
es keine Mühe, Vorgaben zu folgen.
Buben hingegen möchten Dinge ausprobieren
und erst nachher ihre Schlüsse
ziehen. Auch das Selbstwertgefühl der beiden Geschlechter
entwickelt sich unterschiedlich: Mädchen versuchen
sich vor allem über die Leistung zu definieren und
dadurch ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Für Buben
hängt die Stellung in der Gruppe stark mit ihrem Selbstwertgefühl
zusammen. Eltern und Lehrpersonen, die
Kinder mit diesem Wissen unterrichten und erziehen,
tragen dazu bei, das Lernen zu vereinfachen.
Was Eltern tun können – vier Tipps
«Mädchen scheinen
besser ins Konzept
Schule zu passen.»
Susan Edthofer ist Redaktorin
im Bereich Kommunikation
von Pro Juventute.
• Um beiden Geschlechtern gerecht zu werden, hilft es, sich der
Unterschiede im Verhalten von Mädchen und Buben zu
vergewissern. Wenn Sie die Stärken Ihres Kindes kennen, fällt es
Ihnen leichter, seine schwächeren Seiten zu fördern.
• Geben Sie Ihrem Sohn Gelegenheit, das Lernen durch Bewegung
aufzulockern. Kopfrechnen kann man beispielsweise beim
Treppensteigen, und Wörter lassen sich hüpfend lernen.
• Fördern Sie im Gespräch mit Ihrem Sohn und anhand von Bildern
und Situationen gezielt seine emotionalen Kompetenzen.
• Mädchen fühlen sich schnell minderwertig. Stärken Sie das
Selbstvertrauen Ihrer Tochter und achten Sie beispielsweise darauf,
dass nicht bloss die Männer für handwerkliche Belange zuständig
sind. Ermuntern Sie Ihre Tochter, in sogenannte Männerdomänen
vorzustossen.
Pro Juventute Elternberatung
Bei Pro Juventute Elternberatung können Eltern und Bezugspersonen von
Kindern und Jugendlichen jederzeit telefonisch (058 261 61 61) oder online
(www.projuventute-elternberatung.ch) Fragen zum Familienalltag, zu
Erziehung und Schule stellen. Ausser den normalen Telefongebühren fallen
keine Kosten an. In den Elternbriefen und Extrabriefen finden Eltern
Informationen für den Erziehungsalltag. Mehr Infos: www.projuventute.ch
40 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Kolumne
Wenn Kinder das Familienbett belagern
Was tun, wenn Kinder nachts auf Wanderschaft gehen, Betten getauscht werden
und Eltern nicht zur Ruhe kommen? Dann braucht es eine klare Botschaft und
elterliche Führung, sagt Jesper Juul.
Jesper Juul
ist Familientherapeut und Autor
zahlreicher internationaler Bestseller
zum Thema Erziehung und Familien.
1948 in Dänemark geboren, fuhr er
nach dem Schulabschluss zur See, war
später Betonarbeiter, Tellerwäscher
und Barkeeper. Nach der
Lehrerausbildung arbeitete er als
Heimerzieher und Sozialarbeiter
und bildete sich in den Niederlanden
und den USA bei Walter Kempler zum
Familientherapeuten weiter. Seit 2012
leidet Juul an einer Entzündung der
Rückenmarksflüssigkeit und sitzt
im Rollstuhl.
Jesper Juul hat einen erwachsenen
Sohn aus erster Ehe und ist in zweiter
Ehe geschieden.
Eine Leserin schreibt: Ich
finde mich immer wieder
in Situationen, in
denen es mir schwerfällt,
herauszufinden, was für
die Kinder gut ist und was nicht. Im
Dschungel der vielen Ratgeber und
der mehr oder weniger schlauen
Bücher über Kinder fühle ich mich
verloren. Sie helfen mir nicht.
Hier unser Problem: Die Nächte
sind für uns Erwachsene sehr unangenehm,
aber ich weiss wirklich
nicht, wie wir das ändern sollen. Wir
sind eine Patchworkfamilie: mein
Mann, mein fünfjähriger Sohn und
unsere gemeinsame, zehn Monate
alte Tochter und ich. Jedes zweite
Wochenende ist mein Sohn bei seinem
Vater. An manchen Wochenenden
sind auch die älteren Kinder
meines Mannes bei uns. Die eigentlichen
Schwierigkeiten erleben wir
aber in den Nächten unter der
Woche.
Die beiden Kinder schlafen dann
bei mir im Doppelbett, mein Mann
schläft auf einer Matratze im Kin
Wir wollen nicht, dass unser
Sohn sich fürchtet, möchten
aber auch nicht nachts ständig
geweckt werden – was tun?
derzimmer. Oder er schläft zusammen
mit unserer gemeinsamen
Tochter im Doppelbett und ich mit
meinem Sohn auf der Matratze im
Kinderzimmer. Die Kinder lieben
diese Aufteilung. Mein Mann und
ich nicht. Wir sind sogar ziemlich
frustriert davon.
Da der Grössere früher Angst
hatte, alleine zu schlafen, kam er
immer zu uns ins Bett. Mit der Zeit
wurde dies zu einem Platzproblem.
Aus diesem Grund fanden wir die
beschriebene Lösung. Nun wacht
unsere Kleine in der Nacht aber
immer wieder auf, und mein Sohn
wird dadurch in seinem Schlaf
gestört. Mittlerweile sind wir alle
sehr müde.
Wir wollen nicht, dass unser
Gros ser sich fürchtet, aber auch
nicht, dass wir ständig in der Nacht
von einem Fünfjährigen aufgeweckt
werden. Ich habe einfach nicht mehr
die Kraft für dieses Chaos.
Antwort von Jesper Juul
Was für ein Durcheinander! Ich
kann sehr gut verstehen, dass Sie und
Ihr Mann frustriert sind. Sie müssen
die unterschiedlichsten Bedürfnisse
und Wünsche vieler Familienmitglieder
unter einen Hut bringen –
auch Ihre eigenen.
So wie Sie die Entwicklung
beschreiben, müssen Sie das Gefühl
haben, dass Sie mit Ihren Bestrebungen
gescheitert sind, vor allem
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren
42 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
nachts. Dabei sind Ihre Kinder auf
sich selbst gestellt, weil es ihren
Eltern nicht gelingt, die eigenen
Bedürfnisse zu stillen, weil Sie sich
mehr oder weniger für die Bedürfnisse
Ihrer Kinder aufgeben.
Ihre Kinder haben offensichtlich
unterschiedliche Schlafwünsche.
Doch was sie brauchen, ist nicht die
Erfüllung ihrer Wünsche, sondern
eine klare Botschaft von Ihnen als
Eltern. Jetzt braucht es sozusagen
die elterliche Führung. Konzentrieren
Sie sich dabei auf Ihr Wissen
über die Bedürfnisse Ihrer Kinder
und Ihre Fähigkeit, ihnen Ihre Grenzen
zu zeigen.
In Ihrer speziellen Situation als
Patchworkfamilie sollte keines der
Kinder bis auf Ihre gemeinsame
kleine Tochter bei Ihnen im Bett
schlafen. Der fünfjährige Sohn hat
vermutlich keine Angst, er ist es einfach
nicht gewohnt, alleine zu schlafen.
Es wird schon einige abendliche
«Besuche» an seinem Bett brauchen,
bis er tatsächlich alleine ein- und
auch durchschläft.
Zuerst müssen Sie und Ihr Mann
sich gemeinsam klar darüber werden,
was Sie wollen. Sobald Sie das
wissen, berufen Sie ein Familientreffen
ein, an dem alle Mitglieder teilnehmen.
Zuerst erzählen Sie, wie
frustriert und erschöpft Sie sind und
dass Sie die Verantwortung dafür
übernehmen. Dann teilen Sie den
Kindern Ihre Entscheidung mit und
erlauben Ihnen, darauf zu reagieren.
Aber diskutieren Sie nicht zu lange
darüber! Die Entscheidung ist gefallen,
und dabei bleibt es.
Falls Sie jetzt denken, dass das ein
zu hartes Vorgehen ist – keine Sorge.
Sie haben schon sehr lange jeden
möglichen Respekt für die Bedürfnisse
der Kinder gezeigt. Sie haben
eine wunderbare Komfortzone für
alle geschaffen und die Beteiligten
liebevoll umsorgt.
Nun ist es an Ihnen, Prioritäten
zu setzen. Fast die Hälfte aller einbis
fünfjährigen Kinder dieser Welt
schläft in der Nacht unruhig und
unregelmässig. Auch viele Ratgeber
und Bücher zum Thema können das
nicht ändern. Selbst jene nicht, die
sich ausschliesslich auf die Bedürfnisse
der Kinder, deren Eigenarten
und schlechten Gewohnheiten konzentrieren.
Der Grund ist einfach: In diesem
turbulenten Alter können die besten
Eltern der Welt keine Ordnung und
Harmonie in die inneren Zustände
ihrer Sprösslinge bringen. Was Sie
aber machen können, ist, verlässliche
und sichere Rahmenbedingungen
zu schaffen.
Es wird einige abendliche
Besuche neben dem Bett Ihres
Sohnes brauchen, bis er alleine
ein- und durchschläft.
Haben auch Sie eine Frage an Jesper Juul,
die er persönlich beantworten soll?
Dann schreiben Sie uns eine E-Mail an
redaktion@fritzundfraenzi.ch oder
einen Brief an: Schweizer ElternMagazin
Fritz+Fränzi, Dufourstrasse 97,
8008 Zürich
Die Kolumnen von Jesper Juul entstehen
in Zusammenarbeit mit
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
November 201743
Kolumne
F***** im Club
Michèle Binswanger
Die studierte Philosophin ist Journalistin
und Buchautorin. Sie schreibt zu
Gesellschaftsthemen, ist Mutter zweier Kinder
und lebt in Basel.
Spotify ist eine segensreiche Erfindung. Sich für Musik zu interessieren
war nie so einfach wie heute. Als Teenager in den Achtzigerjahren
war dies eine weitaus kompliziertere Angelegenheit,
denn um überhaupt an neue Musik heranzukommen, brauchte
man zunächst weniger musikalische als soziale Fähigkeiten.
Man musste an die Menschen herankommen, die einem neue Musik zeigen
konnten, und das waren allesamt Nerds. Oder Kerle, die ich nicht
verstand, wie der Wizard vom einzig coolen Plattenladen in der Kleinstadt,
in der ich aufwuchs. An Samstagnachmittagen lungerte ich vor
dem Plattenladen herum und kaum je wagte ich es, den Wizard persönlich
anzusprechen, der mich vielleicht in die Geheimnisse neuer Musik
eingeweiht hätte.
Heute ist das anders. Dank Spotify brauche ich nicht mehr bis am
Samstagnachmittag zu warten und ich brauche auch keine Nerds mehr.
Alles, was ich wissen muss, sagt mir der Algorithmus, der immer neue
Empfehlungen macht und auch immer wieder für Überraschungen sorgt.
So war das neulich, als plötzlich dieser Track durch meine Boxen bretterte.
Er hatte ordentlich Druck und eine interessante Story: Ein paar
Mädels erzählen, wie sie sich für den Ausgang aufbrezeln und dann grölend
durch die Strassen ziehen. Ich hörte interessiert und angetan zu, bis
der Refrain kam, mit süssen Stimmchen über wummerndem Bass:
«Ich geh heut mit meinen Fotzen in’ Club
Wir kommen rein und jedes Opfer hier kuckt
Dieser Scheiss fickt deine Boxen kaputt
denn ich bin heut mit meinen Fotzen im Club»
Hm. Als Erstes sah ich mich um, ob meine Kinder mithörten. Sie wissen
nämlich, dass ich aggressiven und vulgären Deutschrap nicht ausstehen
kann. Weil ich das Glück habe, mit einer Tochter gesegnet zu sein, die
Musik ebenfalls liebt und deren Musikgeschmack sich mit meinem überschneidet,
war dies noch nie ein Problem. Nun war mir klar, was hier aus
den Boxen kam, war einigermassen prekär. F***** – in keinem anderen
Kontext würde ich den Ausdruck in meinem Haushalt dulden. Aber ich
konnte mir nicht helfen, ich mochte den Song. Irgendwie war das Punk
oder eine vulgärfeministische Variante davon. Und wenn es sexistisch
war, warum gefiel es mir dann irgendwie? War das jetzt vielleicht Zeichen
einer Midlife-Crisis? Dann hörte ich den Track noch einmal an – laut.
Meine Tochter ist 16 Jahre alt, und das Letzte, was man sich in diesem
Alter wünscht, ist eine vulgäre Mutter. Deshalb bemühe ich mich, mit
allem diskret zu sein, was sie in Verlegenheit bringen könnte. Deshalb
zeigte ich meiner Tochter den Track nicht. Bis wir eines Abends miteinander
in Streit gerieten. Sie zog sich beleidigt ins Zimmer zurück – und
wenig später bretterte «F***** im Club» aus ihrem Zimmer. Offensichtlich
versuchte sie, mich zu provozieren. Aber ich fand es nur lustig.
Ich habe keine Ahnung, ob das richtig ist. Ob ich mir Sorgen machen
soll, dass sie solche Musik hört, oder darüber, dass sie mich damit nicht
einmal provozieren kann. Weil ich es selbst höre. Aber eines ist klar:
Spotify ist wirklich eine segensreiche Erfindung.
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren
44 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Öpfelfarm Honig,
Steinbrunn
Dass dieser Honig besonders
raffiniert schmeckt, liegt nicht
zuletzt auch daran, dass ganze
24 Bienenvölker daran arbeiten.
Bündner Honig, Brusio
Die Blütenpracht der Bündner
Wiesen kann man bei einem
Spaziergang geniessen. Oder als
Honig auf dem Brot.
Miel du Jura Suisse
Ein Honig aus einer wilden
Region, der auf dem Brot
aber ganz sanft und ausgewogen
schmeckt.
Don Mario, Camignolo
Fast noch besser fürs Gemüt
als die Tessiner Sonne ist dieses
süsse Meisterwerk der Tessiner
Bienen.
Waldhonig Region
Wasserschloss, Rüfenach
Anders als das Wasserschloss ist
der Honig dieser Region
vor allem eine Attraktion für
den Gaumen.
Miel genevois
Im eigentlich so diplomatischen
Genf gibt es – ganz undiplomatisch
ausgedrückt – einen der
besten Honige überhaupt.
Kündig Waldhonig, Matzwil
Nicht nur auf sportliche
Wanderer, sondern auch
auf aktive Bienen stösst man
am Frienisberg.
Blütenhonig aus dem
ZH-Oberland, Grüt
Besonders schnelle Zürcher Bienen
machen diesen Honig, dem
eine besonders entschleunigende
Wirkung nachgesagt wird.
Ein Hund
nach Mass
für Joel
Joel ist 7 Jahre alt. Er hat das Asperger-Syndrom, eine Variante des Autismus –
auf Abweichungen vom Gewohnten reagiert er mit Wut und Angst. Sein
grösster Wunsch ist es, einen Hund zu bekommen, der ihm Sicherheit gibt.
Joels Mutter ist alleinerziehend, vor fünf Jahren erkrankte sie an Krebs.
Hier erzählt sie ihre Geschichte und bittet Sie, liebe Leserin, lieber Leser,
um Ihre Unterstützung. Aufgezeichnet: Sarah King Bilder: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo
Erziehung & Schule
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
November 201747
Erziehung & Schule
Autisten sind oft unfähig, sich
auf eine veränderte Situation
einzulassen.
Joel sitzt auf
dem Boden. Ein
Flugzeug am
Himmel hat ihn
«gereizt».
Er reagiert mit
einem Wutanfall.
Jetzt ist es so. Ich bettle. Inzwischen
kümmert es mich nicht
mehr, was andere denken. Ich
bin einfach nur froh, wenn
ich Hilfe erhalte. Für Joel. Er
ist inzwischen 7-jährig. Als er
vor eineinhalb Jahren die Diagnose
Asperger-Autismus erhielt, wusste
ich, was auf mich zukommt.
Krebs ist heilbar, Autismus nicht
Auch Joels 14-jähriger Bruder ist
autistisch. Mit ihm habe ich alles
durchlebt, was Eltern autistischer
Kinder durchleben können: die
anfängliche Ratlosigkeit, die Abklärungen
und vor allem die verzweifelte
Suche nach Unterstützung. Sie
führte uns durch einen Dschungel
aus stationärer Psychiatrie, Pflegefamilie,
Psychiatriespitex, aufsuchendem
Psychiater und Sonderschule.
Autismus wurde zu meinem
Hauptfach in dieser Lebensschule:
Ich suchte Hilfe in etlichen Weiterbildungen
und Büchern. Daneben
wollte ich aber auch meiner Tochter
eine gute Mutter sein. Sie ist heute
zwölf.
Mitten in diesem Prozess steckte
ich also, als Joel zweijährig ähnliche
Anzeichen zu zeigen begann wie
sein Bruder. Er wurde zunehmend
überaktiver, eigensinniger und liess
sich nicht mehr lenken. Zu viele Reize
führten zu Ausrastern. Dann
schrie er, hielt sich die Ohren zu,
warf Dinge um sich, verkroch sich
verzweifelt im Zimmer unter seiner
Bettdecke und liess niemanden
mehr an sich heran. Eine Abklärung
zögerte ich hinaus. Vor fünf Jahren
erkrankte ich an Krebs. Zusätzlich
waren mein Mann und ich in Trennung.
Das erschöpfte mich. Eine
weitere Autismus-Diagnose hätte
ich zu diesem Zeitpunkt nicht verkraftet.
Inzwischen hat sich manches eingependelt:
Die Krebsbehandlung ist
abgeschlossen. Für meinen älteren
Sohn habe ich eine tolle Pflegefamilie
in der Nachbarschaft gefunden.
Drei Tage die Woche verbringt er
dort. Inzwischen geht er auch wieder
in die öffentliche Schule. Mein
Ex-Mann unterstützt mich an einem
Abend unter der Woche und an den
Wochenenden in der Kinderbetreuung.
So auch meine Eltern. Sie leben
im selben Haus. Mittags essen wir
48 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
meist gemeinsam. Darüber bin ich
froh, denn es kommt immer wieder
zu Zwischenfällen. Es braucht nur
wenig – zum Beispiel ein Salatblatt,
das den Reis berührt. Schon fliegt
der Teller. Ich versuche alles, um
Joels Leid klein zu halten: immer
dieselben Tagesabläufe, klare Strukturen,
visuelle Anleitungen, wo
immer möglich die Reize reduzieren.
Und doch kann ich ihn nur
beschränkt vor den Anfällen schützen.
In den eigenen vier Wänden fällt die
Fassade zusammen
Seit Joel in die Schule geht, ist es
noch schwieriger. Im Moment besucht
er die Regelschule mit vier
Stunden integrativer Förderung. Das
ist für ihn eine grosse Herausforderung,
oft eine Überforderung. Es
kommt mir vor, als habe er ein gewisses
Kontingent an Reizen, die er täglich
verarbeiten kann. Viele davon
begegnen ihm schon auf dem Schulweg.
Ein Flugzeug am Himmel, ein
Auto, das er noch nie gesehen hat,
die Geräusche der Klassenkameraden
– das alles strengt ihn sehr an.
In der Schule sucht er Kontakt zu
seinen Gspändli und stösst doch
immer wieder an seine Grenzen,
weil er Emotionen nicht lesen kann,
Aussagen wortwörtlich versteht und
nicht adäquat reagiert. Die Heilpädagogin
hat die Eltern und somit die
Klasse über Autismus aufgeklärt.
Das war mir wichtig: Ich will, dass
die Leute wissen: Es ist angeboren.
Es ist nicht heilbar. Es ist kein Erziehungsfehler.
Manchmal gelingt es Joel gut,
sich in der Schule anzupassen. Darin
ist er ein Spezialist – wie sein Bruder.
Aber das kostet ihn unglaublich
viel Energie. Zu Hause fällt die Fassade
zusammen. Er verliert die Kontrolle
und erträgt nichts mehr. Zu
erst ist da der Tunnelblick, die
Verzweiflung, und dann rennt er
da von. Folge ich ihm, wird es nur
schlimmer. Es kam schon vor, dass
er in solchen Situationen Autos zer
kratzte und Pfosten umschlug. Das
erschöpft ihn. Und mich ebenso.
Autismus ist eine ständige Ausein
andersetzung mit sich und anderen.
Manchmal mag ich nichts mehr
davon hören. Lasst mich in Ruhe
damit, möchte ich dann am liebsten
rufen. An anderen Tagen geht es gut.
Aber Zeit für mich selbst habe ich
kaum mehr. Oft holt mich Joel schon
morgens um halb sechs aus dem
Bett. Bis zum Abend bin ich pausenlos
mit den Kindern beschäftigt.
Sind alle drei anwesend, ist es nur
noch ein Chaos. Manchmal würde
ich gerne wieder meinen Hobbys
oder meinem Beruf als Pflegefachfrau
nachgehen. Im Moment arbeite
ich drei Stunden die Woche im Büro
meines Vaters. Immer am Dienstagabend,
wenn mein Ex-Mann die
Kinder ins Bett bringt.
Das Angebot reicht nicht für alle
Dass ein Hund eine beruhigende
Wirkung auf Joel hat, merkte ich
erstmals dank Sweetie – unserem
kleinen Mops. Joel schläft besser,
wenn Sweetie bei ihm im Zimmer
ist. Das ist verständlich: Hunde sind
leichter zu verstehen. Sie erwarten
nichts. Dass aber Hunde bei Autisten
tatsächlich therapeutisch eingesetzt
werden, erfuhr ich erst vor Kurzem
am Welt-Autismus-Tag. Da waren
Familien mit Autismusbegleithunden
dabei. Mir wurde bewusst:
Genau das würde uns entlasten. Wir
gehen alle drei Wochen zu einer Kinder-
und Jugendpsychiaterin, erhalten
zwei Stunden die Woche Hilfe
von einer Familienbegleiterin und
Joel besucht seit einem Jahr die Figurenspieltherapie.
Der Hund könnte
das unterstützende Angebot ergänzen
und Joel im Alltag Sicherheit
bieten.
So ging das Rösslispiel von vorne
los: suchen, reden, abklären. Eigentlich
versuchte ich, Joel vorerst aus
dem Hundethema rauszuhalten, um
keine Hoffnungen zu schüren. Aber
wie Autisten sind: Sie merken alles.
Wir fassten zuerst eine An >>>
So können Sie helfen:
Die Stiftung Elternsein, Herausgeberin
des Schweizer ElternMagazins,
will der Familie Bettschen bei der
Beschaffung und Finanzierung
eines Autismusbegleithundes für
Joel helfen. Die Kosten betragen
rund 30 000 Euro; 4000 Euro hat die
Familie selber zusammengetragen.
Es fehlen 26 000 Euro – rund
30 000 Franken.
Jede Spende ist willkommen:
Stiftung Elternsein
Seehofstrasse 6
8008 Zürich
Postkonto 88-508005-9
IBAN: CH96 0900 0000 8850 8005 9
Vermerk: Joel
Oder:
www.elternsein.ch
Button «Jetzt spenden» anklicken
Bemerkungen: Joel
Die Stiftung Elternsein hofft auf Ihre
Unterstützung. Wir informieren in
der Dezember-Ausgabe, auf unserer
Website www.fritzundfraenzi.ch
und via Facebook und Twitter über
den Spendenstand.
Herzlichen Dank!
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
November 201749
Erziehung & Schule
>>> bieterin in Allschwil bei Basel
ins Auge. Die Stiftung Schweizerische
Schule für Blindenführhunde.
Seit 2012 bildet sie Autismusbegleithunde
aus. Sie war mir sofort sympathisch.
Joel durfte mit einem
Hund spazieren gehen und war hell
begeistert. Das Problem ist: Die Stiftung
wird überrannt von Anfragen,
kann aber nur etwa acht Hunde pro
Jahr anbieten. Einmal pro Halbjahr
darf man an einer Auslosung teilnehmen.
Vier bis fünf maximal
zehnjährige Kinder werden gewählt
und kommen auf die Warteliste. Von
da an dauert es ungefähr zwei Jahre,
bis man den Hund erhält. So lange
kann ich nicht warten. Wir brauchen
die Entlastung jetzt.
Ich erweiterte die Suche über die
Landesgrenze hinaus und stiess auf
den deutschen Verein Patronus-
Assistenzhunde. Er führt keine Wartelisten,
sondern trifft die Auswahl
seiner Kunden nach einer sorgfältigen
Prüfung der Bewerbung und
einem persönlichen Kennenlernen.
Ausserdem hat er keine Altersbe-
grenzung. So ergab das eine das
andere. Im Frühling lernte ich Thomas
Gross an einer Messe in Karlsruhe
kennen. Er ist Vorsitzender des
Vereins Patronus-Assistenzhunde.
Im Sommer lud er uns für drei Tage
nach Rostock ein, damit er Joel kennenlernen
und sich ein Bild von
seinen Anfällen machen konnte.
Herr Gross entschied sich, mit uns
zu arbeiten. Ende Jahr könnte Joel
seinen Hund kriegen – sofern ich bis
dahin die Finanzierung sichern
kann.
>>>
«Ein Hund für
alle Fälle»
Autismusbegleithunde bieten
autistischen Kindern Sicherheit und
ihren Eltern Entlastung. Die grosse
Nachfrage verlängert jedoch die
Wartezeit. Mit Unterstützung des
deutschen gemeinnützigen Vereins
Patronus-Assistenzhunde kommen
Familien schneller zu ihrem Hund.
Interview: Sarah King
Herr Gross, der Verein Patronus-Assistenzhunde
will mit der Ausbildung von Assistenzhunden
Herzenswünsche erfüllen. Was
unterscheidet Sie von anderen Anbietern?
Wir können auf einen grossen Pool von Hundezüchtern
und -trainern zurückgreifen. Das
macht uns unabhängig und hat Vorteile für
Familien. Zum einen können wir individuell den
besten Trainer für ihr Kind aussuchen. Darauf
legen wir grossen Wert. Zum anderen erlaubt
uns der Pool, mehr Hunde auszubilden – im
Moment etwa 20 bis 25 pro Jahr, ab nächstem
Jahr dank zusätzlichen Trainern gar 50. Das
verringert die Wartezeit. Etwa neun Monate
nach dem Erstkontakt kann die Familie den
Hund in Empfang nehmen.
Wie sieht die Ausbildung eines Autismusbegleithundes
aus?
Die Ausbildung beginnt mit der Welpenauswahl:
Die Trainer erkennen schon nach einer
Woche anhand der Rudelstellung das Potenzial
der Welpen. Nach neun Monaten Sozialisierung
in einer Patenfamilie beginnt die einjährige
Grundausbildung beim Assistenz -
hundetrainer. Die ist für alle Hunde dieselbe.
Die anschliessende Spezialausbildung richtet
sich nach den Bedürfnissen der künftigen
Besitzer. Gemeinsam legen wir fest, welche
speziellen Fähigkeiten dem Hund antrainiert
werden sollen. Die Dauer dieser Ausbildung
variiert je nach Hund zwischen zehn und zwölf
Monaten.
Werden die Hunde «trocken» ausgebildet
oder am Autisten selbst?
Während der Grundausbildung verbringen die
Hunde drei Tage die Woche in Psychiatrien,
Altersheimen und Sonderschulen. Kommen
die Hunde zur Familie, gibt es keine Krankheit,
die sie noch nicht kennen. Am Ende der Grundausbildung
kommt es zum ersten Kontakt mit
dem autistischen Kind. Meist trifft der Hundetrainer
anhand von zugeschickten Videos eine
Vorauswahl und stellt dem Kind mögliche
Hunde vor. Die Harmonie ist uns wichtig: Der
Hund muss das Kind lieben und das Kind den
Hund. Schliesslich gehen die beiden eine gut
dreizehnjährige Beziehung ein.
Betreuen Sie die Familien nach der Übergabe
des Hundes weiter?
Die Betreuung setzen wir ein Hundeleben lang
fort. In den ersten drei Monaten nach der
Übergabe findet zwei Mal eine Woche Schulung
vor Ort statt. Reicht das nicht aus, setzen
wir die Schulung fort: Wir müssen die Eltern
und die betroffenen Kinder befähigen, mit
dem Hund zu leben und mit ihm zu arbeiten.
Danach können die Familien einmal im Jahr
eine Nachschulung bei uns machen.
Wie muss ein Autismusbegleithund
beschaffen sein? Was für eine Rasse hat
er? Was für einen Charakter?
Wir arbeiten in der Regel mit den Rassen
La brador und Golden Retriever. Wichtiger als
die Rasse ist der Charakter des Hundes:
Autismus begleithunde sollten ruhig, ausgeglichen,
wachsam, wendig und leicht führbar
sein. Sie müssen aber auch die Kraft haben,
sich einem Kind in den Weg zu stellen oder in
der Lage sein, ein Kind zu suchen.
Wie geht eine Familie vor, die über den Verein
Patronus-Assistenzhunde einen Hund
erwerben möchte?
Die Familie bewirbt sich mit einem Bewerbungsschreiben
und einem Anamnesebogen.
Nach einem persönlichen Kennenlernen entscheiden
wir, ob wir mit dieser Familie arbeiten
wollen. Fotos und Videos des autistischen Kindes
geben Aufschluss darüber, mit welchem
Hundetrainer wir in Kontakt treten. Dieser
trifft die Auswahl der Hunde. Danach suchen
wir gemeinsam nach Wegen der Finanzierung.
Ein Autismusbegleithund kostet bis zu 30 000
Euro. Der Betrag umfasst neben der Anschaffung
des Hundes die Tierarztkosten und 350
Stunden Ausbildung. Einberechnet sind weiter
das Geschirr, die vierzehn Tage Zusammenschulung,
Reise- und Übernachtungskosten
sowie die Vor- und Nachbereitungszeit. Wir
50 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Erziehung & Schule
«In der Schweiz dauert es zwei Jahre, bis
man einen Begleithund erhält», sagt Miriam
Bettschen. «So lange kann ich nicht warten.
Wir brauchen die Entlastung jetzt.»
Alleinerziehend, an
Krebs erkrankt,
Mutter von zwei
autistischen
Kindern: Miriam
Bettschen ist
erschöpft.
finanzieren uns durch Spenden und sind
den Familien auch behilflich bei der
Suche nach Stiftungen und Sponsoren.
Gibt es Studien, welche die Wirksamkeit
eines Autismusbegleithundes
nachweisen?
Studien wurden vor allem in den USA
durchgeführt. In Deutschland gibt es
zum Beispiel eine Studie, die zeigt, dass
sich 76 Prozent der Kinder mehr zu
einem Hund als zu einem Therapeuten
oder einem Spielzeug hingezogen fühlen.
Nach dem Spielen mit dem Hund
senken sich die Vitalfunktionen wie Puls
und Blutdruck. Die Kinder werden ruhiger,
ausgeglichener und die Anzahl der
Anfälle geht zurück. Das entspricht auch
unserer Erfahrung.
Zur Person
Thomas Gross ist zweiter Vorsitzender des
gemeinnützigen Vereins Patronus-
Assistenzhunde mit Sitz im deutschen
Mönchhagen. Er ist verantwortlich für
Marketing, Sponsoring und Fundraising und
koordiniert den Prozess vom ersten
Kennenlernen über die Hundeübergabe bis
hin zur Nachbetreuung.
www.patronus-assistenzhunde.de
52 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Erziehung & Schule
Fussball mag
ich! Oder nicht?
>>> 30 000 Euro kostet der
Hund. 2000 kann ich selbst beisteuern.
Für den Rest brauche ich Unterstützung.
Lion-Clubs, Rotary-Clubs,
Bekannte, Verwandte und über
zwanzig Stiftungen habe ich bisher
angeschrieben – mit mässigem Er -
folg. Es fehlen immer noch 26 000
Euro. Dann las ich im ElternMagazin
den Artikel über Autismus und
fasste mir ein Herz.
Darum stehe ich nun da und bitte
um Ihre Unterstützung.
Eine individuell angepasste
Ausbildung
Die letzten Jahre befreiten mich von
Illusionen. Autismus ist nicht heilbar.
Auch ein Hund wird nicht alle
Probleme lösen. Aber ein Hund hilft
mir da, wo ich alleine nicht klarkomme:
Er sucht Joel, wenn er wegrennt,
verlangsamt ihn im Strassenverkehr
oder spurt ihm den Weg durch Menschenansammlungen.
Es wird zwar
Joels Hund sein, aber die Befehle
gebe ich. Einen wichtigen kenne ich
schon: «Ponte». Wenn sich Joel in
einem Anfall unter die Bettdecke
verkriecht und niemanden an sich
heranlässt, wird sich der Hund auf
diesen Befehl hin sachte auf Joel
legen. Zuerst nur auf seine Beine,
dann auf seinen ganzen Körper.
Es ist bekannt, dass sich Autisten
in solchen Anfällen nicht mehr spüren.
Sie brauchen Widerstand. Der
sanfte Druck des Hundes kann sie
beruhigen. Der Hund sucht im Alltag
immer wieder Kontakt zum
Kind und holt es so aus seiner Welt
raus. Wofür wir den Hund alles
brauchen und welche Fähigkeiten er
haben muss, bestimmen Joel und ich
gemeinsam. Der Hundetrainer bil-
Joel besucht die
Regelschule mit
vier Stunden
integrativer
Förderung.
«Ein Autismusbegleithund
wird nicht alle Probleme
lösen. Aber er hilft mir,
wo ich mit Joel allein
nicht mehr klarkomme»,
sagt die Mutter.
det ihn dann nach unseren Bedürfnissen
aus.
Nach der Übergabe erhalten wir
eine einwöchige Schulung bei uns zu
Hause. Der Hundetrainer begleitet
uns durch die verschiedenen Alltagssituationen
und zeigt uns, wie
wir mit dem Hund arbeiten müssen.
Da Autismusbegleithunde in Le -
bensmittelgeschäften erlaubt sind,
redet der Trainer mit den Geschäftsführenden
und trainiert mit dem
Hund die einzelnen Wege. Vielleicht
kann Joel den Hund an speziellen
Tagen auch in die Schule mitnehmen.
Zum Beispiel bei Prüfungen
oder ausserordentlichen Veranstaltungen.
Was ich mir erhoffe?
Nach Erfahrung der Fachleute
kann ein Autismusbegleithund die
Anfälle des Autisten um 50 Prozent
reduzieren. Schon mit 10 Prozent
weniger wäre ich erleichtert. Vielleicht
können sogar die Geschwister
vom Hund profitieren. Und ich. Ein
Hund, der einem ab und zu seine
Schnauze auf das Bein legt – tut das
nicht jedem gut?
>>>
Sarah King
arbeitet in einer psychiatrischen Klinik in
Bern. Sie ist freie Journalistin und Autorin
des Autismus-Dossiers der August-Ausgabe
von Fritz+Fränzi.
Irgendwann kommt in fast jedem
Kinderleben der Wunsch auf,
den Gspänli in einen Verein zu
folgen. Sei es ein Fussballclub,
Ballettstunden oder die Pfadi.
Doch was, wenn es dem Kind da
nicht gefällt? Damit ein Kind
herausfinden kann, welche Sport -
arten ihm gefallen, geht es nicht
ohne ausprobieren. Einerseits tun
die Kleinen das im Sportunterricht
in der Schule. In der Freizeit
jedoch sind auch die Eltern
gefragt: Diese können viel Unterstützung
bieten, wenn es um
die liebste Freizeitbeschäftigung
ihrer Söhne und Töchter geht.
Im Ratgeber «Bewegung, Spiel
und Spass in der ganzen Familie»
erfahren Sie, wie Sie Ihr Kind
durch eine bewegte Kindheit begleiten
können – und dabei
auch selber davon profitieren!
Den Ratgeber «Bewegung, Spiel
und Spass in der ganzen
Familie» der EGK-Gesundheitskasse
erhalten Sie unter:
www.egk.ch/spiel-und-spass
Lukas Zahner
Departement für Sport,
Bewegung und Gesundheit
der Universität Basel
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
November 2017
Erziehung & Schule
Eine Frage der Perspektive
Erwachsene sollten öfter mal den Blickwinkel wechseln und die Dinge aus der Sicht von Kindern und
Jugendlichen betrachten. Insbesondere, wenn es um Schule und Beruf geht. Text: Bruno Rupp
«Auch ich habe mich immer
wieder zur Aussage ‹Das
ist doch nicht normal!›
verleiten lassen.»
Bruno Rupp ist Primarlehrer, Schulleiter,
Mitglied der Leitungskonferenz Bildung Bern
und Mitglied der LCH-Geschäftsleitung.
Er ist Vater von drei erwachsenen Kindern.
Es lohnt sich, die Perspektive
zu wechseln, Dinge mit einer
anderen Brille anzuschauen –
mit der des Kindes.
selbe Brille zu schauen. Beide kommunizieren
auf derselben Ebene
miteinander.
Wie oft hören Kinder oder
Jugendliche von den Eltern Sätze
wie «Das sehe ich aber anders»,
«Wie kannst du nur!», «Das ist doch
nicht normal!». In solchen Momenten
und Situationen sehen beide
«die Welt» mit verschiedenen
Augen.
Erwachsene müssen Wege in die
Selbständigkeit aufzeigen
Als Vater von drei heute erwachsenen
Kindern habe auch ich mich
immer wieder zur Aussage «Das ist
doch nicht normal!» verleiten lassen.
Eine Aussage, die jungen Menschen
die Botschaft vermittelt, dass ich als
Erwachsener und Vater selbstredend
weiss, was «normal» ist. Aus meiner
Sicht eben.
Wie sieht es aber aus Sicht des
Jugendlichen aus? Kenne ich seine
Sichtweise und Begründung für sein
«abnormales» Verhalten? Könnte es
sein, dass sein Verhalten aus seiner
Sicht vielleicht gar nicht so abnormal
ist? Sollte es mich nicht interessieren,
aus welchen Gründen, Erfahrungen
oder mit welcher Absicht
der Jugendliche eine andere Vorstellung
von «normal» und «abnormal»,
von «richtig» oder «falsch» hat?
Als Eltern und Lehrpersonen ist
es unsere Pflicht, Kindern und
Jugendlichen Wege in die Selbständigkeit
zu zeigen, sie auf dem Weg
zur Mündigkeit zu unterstützen und
Sie kennen doch bestimmt
das Spiel «Ich sehe was,
was du nicht siehst», das
Kinder oft auf langen Fahrten
im Zug oder im Auto
spielen. Es ist mehr als ein Zeitvertreib.
Das Kind und der erwachsene
Mitspieler versuchen, die Welt oder
zumindest einen kleinen Teil der
Welt mit den Augen des anderen zu
sehen. Beide versuchen, durch diezu
begleiten. Wir haben hier eine
Vorbildfunktion. Was vermitteln wir
denn für Werte und Haltungen,
wenn wir diese einfach unreflektiert
aufgrund unserer Stärke als Erwachsene
den Jungen überstülpen?
Aufgrund meiner langen Erfahrung
als Vater, Erzieher und Lehrer
bin ich überzeugt, dass es sich
immer wieder lohnt, die Perspektive
zu wechseln und die Dinge mit einer
anderen Brille anzuschauen: mit der
Brille des Kindes respektive des
Jugendlichen.
Die Welt mit den Augen des
anderen zu sehen, ist wichtig und
hilfreich. Eine Situation aus einer
anderen Richtung oder Perspektive
zu sehen, bedeutet, die eigene Blickrichtung
zu verändern und sich in
die Situation des anderen zu versetzen
und hineinzudenken.
Einfühlungsvermögen oder
Empathie ist die Fähigkeit und
Bereitschaft, Empfindungen, Ge
danken, Emotionen, Motive und
Persönlichkeitsmerkmale einer
an deren Person zu erkennen und zu
ver stehen. Zur Konfliktlösung
kommt dieser Fähigkeit eine wichtige
Bedeutung zu. Perspektivenwechsel
verbunden mit Einfühlungsvermögen
und Empathie
öffnet den Weg für ein anderes Verständnis
und für neue, andere Ideen.
Als Schulleiter habe ich immer
wieder die Aufgabe, Gespräche zwischen
Eltern und Lehrpersonen zu
moderieren. Gespräche, in welchen
die Teilnehmenden unterschiedliche
54 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Ansichten zu einem Problem und
verschiedene Erwartungen und Vorstellungen
von dessen Lösung
haben.
Oftmals geht es um unterschiedliche
Vorstellungen und Erwartungen
einer Schülerin oder eines Schülers
und seiner Eltern an die Schule.
Eines von vielen klassischen Beispielen
ist der Übertrittsentscheid
von der Primarstufe in die Sekundarstufe.
Die Eltern möchten, dass
ihr Kind die Schullaufbahn unbedingt
in der Sekundarschule weiterführt
und im Anschluss das Gymnasium
besuchen kann. Begründung
der Eltern: Dem Jugendlichen stehen
nach der Realschule weniger
Chancen und Möglichkeiten offen.
Der Abschluss der Matura steht
nicht zur Verfügung. Die Matura «in
der Tasche» zu haben, ist sowieso
besser, als eine (Berufs-)Lehre zu
machen.
Erfahrungen lassen sich nicht
übertragen
Als Erwachsener kann ich solche
Überlegungen nachvollziehen. Ein
Jugendlicher sieht das möglicherweise
aber ganz anders. Vielleicht hat
er andere Interessen. Vielleicht
waren seine Leistungen in der Primarschule
nicht so brillant; er gehörte
vielleicht meistens zu den so -
genannt schlechteren Schülern.
Er folgserlebnisse blieben vielfach
aus. Seine Interessen liegen vielleicht
in anderen Gebieten. Er möchte vielleicht
eine handwerkliche oder eine
künstlerische Laufbahn einschlagen.
Er möchte einmal erfolgreich und
glücklich sein können. Er möchte
vielleicht ... Fragen über Fragen, die
ich besprochen und beantwortet
haben möchte. Antworten, die ich
benötige, um die Sichtweise des
Jugendlichen und seiner Eltern zu
verstehen und sie bei der Entscheidfindung
beraten und unterstützen zu
können
Einen Entscheid über einen
anderen Menschen zu fällen, ohne
seine Perspektive und Sichtweise zu
Eltern sollten vermeiden,
ihre Wunschvorstellungen
und Ziele auf das eigene
Kind zu übertragen.
kennen, ist meistens nicht zielführend
und erfolgreich. Man kann als
Erwachsener nicht einfach seine
persön lichen Ziele und Wunschvorstel
lungen auf das Kind oder den
Jugendlichen übertragen.
Als Eltern sehen wir uns immer
wieder mit Konflikten und Meinungsverschiedenheiten
mit unseren
Kindern und Jugendlichen konfrontiert.
Wir sind immer wieder
herausgefordert – das ist auch
anstrengend und verleitet auch einmal
dazu, eine Lösung zu diktieren.
Wir sprechen ja aus Erfahrung.
Es stimmt: Wir haben in unserem
Leben schon viele Erfahrungen
gemacht. Aus Erfahrungen kann
man zwar lernen, man kann sie sich
zu Nutze machen. Man kann sie
aber niemals auf einen anderen
Menschen übertragen und ihm
damit ersparen, sie selbst zu machen.
Wir können uns jedoch mit jungen
Menschen über ihre und unsere
Erfahrungen in ähnlichen und vergleichbaren
Situationen austauschen.
Nehmen wir uns die Zeit dazu.
Zeigen wir Interesse und Empathie.
Es fühlt sich unbestritten gut an,
sich von anderen Menschen verstanden
zu fühlen. Voraussetzung für
gegenseitiges Verständnis ist ein
Perspektivenwechsel; die Bereitschaft
und das Interesse, die Welt
auch aus der Sicht des Mitmenschen
sehen und verstehen zu wollen.
Nehmen wir doch diese Vorbildfunktion
wahr. Es lohnt sich!
FUNCTIONALITY IS
PART OF OUR FAMILY
Genf | Zürich | Brunnen | Luzern
SHOP ONLINE AT VICTORINOX.COM
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
November 201755
ESTABLISHED 1884
In Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Post
Erziehung & Schule
R_CH_SCHR_IB_NG:
So macht sie Spass!
Um die Orthografie in den Griff zu bekommen, brauchen Kinder Motivation zum Dranbleiben.
Das Motto ist: Lernen durch Anwenden! Drei Praxistipps.
Text: Johanna Oeschger
Geheimschrift
Zuerst wird das Alphabet in Geheimschrift
codiert: Für jeden (oder die häufigsten)
Buchstaben steht ein Symbol
oder eine Zahl – damit verschlüsselt der
Schreiber eine Nachricht. Der Empfänger
versucht, den Code zu knacken. So
prägen sich Wörter mit kniffliger
Schreibweise besser im Gedächtnis ein.
Galgenmännchen
Ein Spieler denkt sich ein Wort aus und
zeichnet für jeden Buchstaben einen
Strich auf das Blatt. Der andere Spieler
errät nun Buchstabe für Buchstabe das
Wort. Kommt der Buchstabe im Wort
vor, wird er beim entsprechenden Strich
eingetragen. Liegt der Ratende falsch,
wird in zehn Schritten ein Galgen (oder
eine Blume, ein Tier, ein Haus usw.)
gezeichnet.
Buchstaben fühlen
Ein Spieler schreibt einen Buchstaben
oder ein Wort auf den Rücken des anderen
Spielers, dieser muss das Geschriebene
erraten. Buchstabenentdecker
nehmen dabei bewusst die typischen
Linien und Kurven der Buchstaben
wahr.
Die Rechtschreibung entwickelt sich in Phasen: Kinder ab etwa drei Jahren schreiben Wörter noch aus
dem Gedächtnis. Mit fünf bis sieben Jahren beginnen sie, Laute in Buchstaben zu übersetzen. Ab der
2. oder 3. Klasse lernen sie, Rechtschreibregeln anzuwenden. Korrekturen sind also nur sinnvoll, wenn die
Kinder sie nachvollziehen können: Jüngeren Kindern kann man z. B. beim Vorschreiben Laut für Laut
vorlesen und so zeigen, wie sich Buchstaben und Laute aufeinander beziehen. Fortgeschrittene Schreiber
kann man auf Regelmässigkeiten hinweisen, wie dass man für einen langen i-Laut meistens ie schreibt.
Für Kinder, die bereits etwas mit der Schrift vertraut sind, können Schreibspiele auf motivierende Art das
Augenmerk auf die Schreibweise von Wörtern lenken.
App-Tipp
Wort-Zauberer
Diese App verwandelt Buchstaben in Laute: Die Kinder bilden
eigene Wörter und lassen sie vom «Wort-Zauberer» vorlesen
oder sie fügen Buchstaben zu Wörtern zusammen, die ihnen
diktiert werden. Für iPhone/iPad erhältlich. Kosten: Fr. 3.–.
Johanna Oeschger
ist Literatur- und Sprachwissenschaftlerin,
unterrichtet Deutsch und Englisch auf der
Sekundarstufe II und arbeitet als
Mediendidaktikerin bei LerNetz.
Bild: iStockphoto
56 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Stiftung Elternsein
Bauchfrei durch den Winter
Ellen Ringier über Erziehungsmethoden ihrer Mutter und warum sie ihre
Töchter nicht davon abhielt, im Winter in Turnschuhen aus dem Haus zu gehen.
Bild: Maurice Haas / 13 Photo
Dr. Ellen Ringier präsidiert
die Stiftung Elternsein.
Sie ist Mutter zweier Töchter.
In der zweiten Primarklasse schickte
mich Lehrer Halder eines Tages um
10 Uhr wieder nach Hause. Zuvor hatte
er mich vor der ganzen Klasse lächerlich
gemacht. Es war ein Wintertag, ich
trug Knie socken. Dieser Umstand hatte
ihn so erbost, dass er es angemessen
fand, mir vor meinen Mitschülerinnen
und Mitschülern Folgendes an meine
Eltern mitzugeben: Falls ich im Winter je wieder mit
Kniesocken in der Schule erscheine, werde er die Vormundschaftsbehörde
benachrichtigen.
Meine Mutter hatte trotzdem nicht nachgegeben:
Strumpfhosen zog sie mir weiter nur an, wenn es
schneite und wenn wir Ski fahren gingen. Die Aufsichtsbehörde
ist zum Glück trotzdem nie bei uns vorstellig
geworden.
Jahre später sprach ich meine Mutter auf den Vorfall
mit Lehrer Halder an. Sie fragte zurück: Bist du in
deiner Schulzeit je krank gewesen? In der Tat: Ich
konnte mich nicht daran erinnern, je gefehlt zu haben
– ausgenommen für eine Mandeloperation.
Nun, Erziehung ist etwas Individuelles, und es ist
für Aussenstehende nicht immer leicht zu erkennen,
ob die gewählten Methoden gerade noch akzeptabel
oder schon schädlich sind. Bei meiner Mutter galt das
Credo: Kinder darf man niemals «verweichlichen»!
Egal, ob es Bindfäden regnete oder Vorhänge schneite:
Wir mussten bei jedem Wetter raus. Und die Fenster
im Schlafzimmer standen in der Nacht zu jeder Jahreszeit
speerangelweit offen. Schien uns drei Kindern
die Raumtemperatur zu frisch, hiess es, wir sollten
einen Pullover anziehen.
Im Erwachsenenleben ist mir diese «Abhärtung»
immer wieder zugutegekommen. Bei keinem Arbeitgeber
war ich je länger als einen halben Tag krankheitshalber
abwesend. Und ich war mein Leben lang –
anders als die meisten Kolleginnen und Kollegen – frei
von der ständigen Selbstbeobachtung, ob mir gerade
zu heiss oder zu kalt ist. Es ist einfach, wie es ist.
Meine Kinder machten das Fenster jeweils zu, sobald
ich die Türe des Kinderzimmers zugemacht hatte.
Frischluftzufuhr war definitiv nicht ihr Ding. Mehr als
nur einmal ertappte ich eine meiner Töchter dabei,
wie sie vor dem Zubettgehen die Bettwäsche föhnte.
Ich glaube, es wäre ihr grösster Wunsch gewesen,
einen Heizofen direkt neben dem Bett stehen zu
haben.
Trotzdem trugen sie zu Teenagerzeiten bauchfrei.
Dazu zu jeder Jahreszeit Turnschuhe – zumindest
sahen sie für mich immer danach aus –, was mit Stulpen
über den Wollstrümpfen ausgeglichen wurde, die
bei Regen und Schnee zusammen mit den Turnschuhen
pflotschnass wurden. Übereinander angezogene
Sweatshirts mit Kapuzen (Hoodies genannt) machten
offenbar den zu meinen Zeiten gängigen und daher
spiessigen Regen- oder Wintermantel wett.
Es ist meine Überzeugung, dass man als Eltern
nicht nur die psychische Resilienz, sondern auch die
physische Robustheit fördern kann und muss. Gleichzeitig
bin ich aber auch überzeugt, dass das Diktat der
Peergroup in modischen Belangen bis zu einem
gewissen Grad beachtet werden muss: Jugendliche
wollen in der Regel das tragen, was die andern tragen.
Es geht ums Selbstwertgefühl. Und dieses zu stärken,
schien mir ebenso wichtig – wichtig genug jedenfalls,
um den einen oder anderen Schnupfen in Kauf zu
nehmen.
STIFTUNG ELTERNSEIN
«Eltern werden ist nicht schwer,
Eltern sein dagegen sehr.» Frei nach Wilhelm Busch
Oft fühlen sich Eltern alleingelassen in ihren Unsicherheiten,
Fragen, Sorgen. Hier setzt die Stiftung Elternsein
an. Sie richtet sich an Eltern von schulpflichtigen Kindern
und Jugendlichen. Sie fördert den Dialog zwischen
Eltern, Kindern, Lehrern und die Vernetzung der elternund
erziehungsrelevanten Organisationen in der
deutschs prachigen Schweiz. Die Stiftung Elternsein
gibt das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi heraus.
www.elternsein.ch
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
November 201757
Elterncoaching
Wer sind eigentlich diese
Leute in meinem Haus?
Wer aufhört, sich gegenseitig kennenzulernen, wird sich fremd –
das gilt auch für unsere engsten Beziehungen.
Fabian Grolimund
ist Psychologe und Autor («Mit
Kindern lernen»). In der Rubrik
«Elterncoaching» beantwortet
er Fragen aus dem Familienalltag.
Der 38-Jährige ist verheiratet
und Vater eines Sohnes, 5,
und einer Tochter, 2. Er lebt
mit seiner Familie in Freiburg.
www.mit-kindern-lernen.ch
www.biber-blog.com
Manchmal ist es gerade
die enge Beziehung zum Kind,
die es uns schwer macht,
bestimmte Dinge zu sehen oder
an uns heranzulassen.
Zu Beginn einer Beziehung
können wir einander
gar nicht genug
erzählen. Wir wollen
die Gedanken, Träume
und Ängste des Partners oder der
Partnerin kennenlernen, die letzten
Winkel seiner respektive ihrer Persönlichkeit
ausloten. Alles ist neu
und interessant, und wir befinden
uns auf einer Entdeckungsreise. Mit
den Jahren holt uns der Alltag ein.
Die Beziehung läuft gut, doch
man redet weniger miteinander. Die
Gespräche werden flacher, und
sobald Kinder dazukommen, geht es
bald vorwiegend um Organisatorisches:
Wer ist wann zu Hause? Wer
fährt die Kinder wann wohin? Routine
breitet sich aus. Gefangen im
Alltag kann es uns passieren, dass
wir Veränderungen nicht mehr mitbekommen,
unser Bild des Gegenübers
nicht mehr aktualisieren, die
gemeinsame Entwicklung ins Stocken
gerät – bis wir eines Tages feststellen,
dass wir uns auseinandergelebt
haben. Dabei kann uns gerade
unsere gemeinsame Geschichte zum
Verhängnis werden.
Gemeinsame Geschichte kann uns
verbinden, aber auch entfremden
Wenn uns mit einem Menschen viele
Jahre und eine gemeinsame Geschichte
verbinden, gehen wir davon
aus, dass wir ihn dadurch umso besser
kennen. Wir wissen, woher er
kam, was er erlebt und was ihn geprägt
hat. Wir können auf gemeinsame
Erfahrungen und viele Gespräche
zurückblicken. Das ist etwas
Wertvolles und Wunderbares, das
uns verbinden kann.
Es kann jedoch auch verhindern,
dass wir die andere Person so sehen,
wie sie ist. Wir haben uns ein Bild
dieses Menschen gemacht, und es
fällt uns entsprechend schwerer, zu
sehen, was an ihm neu und anders
ist. Wir können blind werden für
Entwicklungen, die für Aussenstehende
offensichtlich sind. Besonders
eindrücklich beschreibt dies der
Schriftsteller Daniel Pennac in seinem
Buch «Schulkummer». Inzwischen
einer der bekanntesten Autoren
Frankreichs, war er in seiner
Schulzeit ein schlechter Schüler, um
den sich seine Mutter zeitlebens Sorgen
machte.
Pennac schildert im Epilog eine
Szene, in der er mit seinem Bruder
und seiner Mutter im Wohnzimmer
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren
58 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
sitzt und sich einen Film über sein
schriftstellerisches Werk anschaut:
«Mama schaut sich also diesen Film
an, neben ihr mein Bruder Bernard,
der ihn für sie aufgenommen hat. Sie
schaut sich den Film an, von der ersten
bis zur letzten Minute, mit un
verwandtem Blick, reglos in ihrem
Sessel, mucksmäuschenstill, während
es draussen Abend wird. Ende
des Films. Abspann. Stille. Dann,
während sie sich langsam zu
Bernard hindreht: ‹Glaubst du, dass
er es eines Tages schafft?›»
Vielleicht haben Sie mit Ihren
Eltern weniger drastische, aber ähnliche
Erfahrungen gemacht und hätten
bei Besuchen im Erwachsenenalter
manchmal am liebsten gesagt:
«Du behandelst mich, als wäre ich
noch immer sechzehn!»
Phasen, die intensiv waren und in
denen wir viel Zeit miteinander verbracht
haben, prägen unsere Wahrnehmung.
Vielleicht hilft uns dieser
Gedanke dabei, bei Besuchen nachsichtiger
mit unseren Eltern zu sein.
Das Bewusstsein um die Macht der
Erinnerungen kann uns aber auch
dabei helfen, uns selbst mehr zu öffnen
und uns immer wieder vorzunehmen,
genau hinzuschauen und
hinzuhören, damit wir wichtige Entwicklungen
bei anderen mitbekommen.
Erinnerungen sind aber nicht die
einzige Hürde, wenn es darum geht,
uns auf Nahestehende einzulassen.
Wir haben es doch gut!
Als seine Frau die Scheidung einleitete,
meinte ein Bekannter zu mir:
«Aber wir hatten es doch immer gut
miteinander!» Davon war er felsenfest
überzeugt. Doch seine Frau sah
das anders, und zwar seit Jahren.
Bezeichnend ist das «Wir» in seinem
Satz. Studien zeigen, dass wir
in engen Beziehungen dazu neigen,
unsere Gefühle auf andere zu übertragen.
Das passiert uns auch bei
unseren Kindern, wie Dr. Belén
López-Pérez von der Plymouth University
zeigen konnte. Sie liess Eltern
einschätzen, wie glücklich ihre Kinder
sind. Dabei zeigte sich: Die Einschätzung
der Eltern stimmte nicht
besonders gut mit der Einschätzung
der Kinder und Jugendlichen überein,
dafür mit der Selbsteinschätzung
der Eltern. Glückliche Eltern
überschätzten das Glück ihrer Kinder,
während unzufriedene es unterschätzten.
Die unbewusste Annahme,
dass es unserer Familie in etwa
so geht wie uns, verstellt uns den
Blick.
Wünsche verzerren unsere
Wahrnehmung
Zu guter Letzt stehen uns auch unsere
Wünsche im Weg. Die meisten
Eltern überschätzen ihre Kinder systematisch.
Sie halten sie für leistungsfähiger,
intelligenter, musikalischer
oder sportlicher, als sie es
tatsächlich sind. Bis zu einem gewissen
Grad ist das auch nicht schädlich.
Wie eine Studie von Eddie Brummelman
zeigt, überschätzen einige
Eltern – besonders diejenigen, die
sich selbst als etwas Besonderes
sehen – ihre Kinder jedoch sehr
stark. Das kann zu Problemen führen,
weil sie in der Folge erwarten,
dass ihr Kind aus der Menge heraussticht
und Grosses leistet. Warnungen
anderer Bezugspersonen, z. B.
der Lehrpersonen, dass die Eltern
ihr Kind überfordern, führen bei
diesen Eltern meist nur zu Ärger
und Unglauben. Zu hohe Erwartungen
können ein Kind unter Druck
setzen, den viele Eltern wiederum
nicht wahrnehmen.
Eine Vielzahl von Studien zeigt:
Kindern und Jugendlichen geht es
heute im Allgemeinen gut. Sie sind
mit ihrem Leben zufrieden und
kommen mit den Anforderungen
zurecht. Es gibt jedoch auch Kinder
und Jugendliche, die hohen Belastungen
ausgesetzt sind und von
denen mehr erwartet wird, als sie
leisten können. In diesem Zusammenhang
fand ich eine Studie von
Holger Ziegler der Universität Bielefeld
bedrückend. Er untersuchte
Glückliche Eltern überschätzen
das Glück ihrer Kindern,
während unzufriedene
es unterschätzen.
über tausend Kinder und ihre Eltern
und mass dabei den Stresslevel der
Kinder. Bei den besonders belasteten
Kindern liess er die Eltern den
Stress der Kinder einschätzen. Dabei
zeigte sich: 87 Prozent der Eltern
nahmen den Druck der Kinder nicht
wahr, obwohl diese deutliche Symptome
zeigten. Ein Grossteil dieser
Eltern glaubte sogar, das eigene
Kind nicht genug zu fördern.
Ich kenne mein Kind immer noch
am besten!
In vielerlei Hinsicht stimmt der Satz
«die Eltern kennen ihr Kind am besten».
Aber manchmal ist es gerade
die enge Beziehung zum Kind, die
es uns schwer macht, bestimmte
Dinge zu sehen oder an uns heranzulassen.
Was von unseren Vorstellungen,
unserem eigenen Empfinden
oder unseren Wünschen abweicht,
nehmen wir als Eltern teilweise
weniger wahr als Aussenstehende.
Das Wissen darum kann uns
dazu verhelfen, neugierig und offen
zu bleiben und uns darum zu bemühen,
unsere Kinder und unseren
Partner, unsere Partnerin immer
wieder neu kennenzulernen.
In der nächsten Ausgabe:
Unterschiedliche Erziehungstile – Problem oder
Chance?
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
November 201759
Erziehung & Schule
Aggressive Kinder –
was ist normal?
Wutanfälle, herumschreien, das kleine Geschwister hauen – wer Kinder erzieht,
kennt diese Ausbrüche. Was aber, wenn die Aggression extrem wird? Text: Jacqueline Esslinger
Welche Form von
aggressivem
Verhalten bei
Kindern auftritt,
ist stark
altersabhängig. Bereits Säuglinge ab
rund sechs Monaten können Ärger
ausdrücken, sie verfolgen jedoch
keine Schädigungsabsicht. Im zwei
ten und dritten Lebensjahr hingegen
sind Wutanfälle und aggressives
Verhalten nicht ungewöhnlich und
richten sich oft gezielt gegen Er
wachsene und andere Kinder. Ab
dem Grundschulalter sind ge
schlechtstypische Muster bei der
Ag gressionsäusserung sichtbar:
Buben scheinen eher offene und
körperliche Formen von Aggression
zu zeigen. Bei Mädchen hingegen
kommen häufiger verdeckte sowie
verbale Formen vor. Beispiele sind
Lügen und die Verbreitung von
Gerüchten, etwa um einer Person zu
schaden oder sie auszuschliessen.
Aggressives Verhalten im Kindes-
und Jugendalter wurde in gross
Bild: Adam Burn / 13 Photo
60 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
angelegten Studien wie beispielsweise
der KiGGS/BELLA-Studie bei bis
zu acht Prozent der unter 17-Jährigen
festgestellt. Es zeigt sich nicht
nur in physischen Angriffen, sondern
auch in verbaler Gewalt, Mobbing
und Diebstählen.
In der Adoleszenz ist aggressives
Verhalten in der Regel weniger häufig
zu beobachten. Im Gegensatz zu
kleinen Kindern, die Emotionen
oder Impulse direkt ausdrücken,
werden im Laufe der Jahre Selbstkontrolle
und hemmende Mechanismen
gelernt. Allerdings fällt das
aggressive Verhalten oft heftiger aus
als im Kleinkindalter, bedingt durch
zunehmende körperliche Kraft,
mehr Freiheiten ausser Haus und
grössere finanzielle Ressourcen.
Entsprechend tritt die höchste Frequenz
von aggressivem Verhalten
im Vorschulalter auf, die gravierendsten
Ausprägungen jedoch in
Im Vorschulalter ist die höchste
Frequenz von Aggression zu
beobachten, in der Adoleszenz
die gravierendste Ausprägung.
der Jugendzeit und im frühen
Erwachsenenalter.
Unter oppositionellem Trotzverhalten
wird wiederholt trotziges,
ungehorsames und verweigerndes
sowie feindseliges Verhalten gegenüber
Autoritätspersonen zusammengefasst.
Auch dies zählt zu
aggressivem Verhalten, da oppositionelle
Kinder schnell wütend
reagieren und ausrasten und sich
Regeln widersetzen. In Abgrenzung
dazu tendieren Kinder mit einer
Störung des Sozialverhaltens zu Einschüchterungen,
Körperverletzung,
Von Kindern, die stark oppositionell
auffällig sind, entwickelt rund die
Hälfte eine Störung des Sozialverhaltens.
Zeigt ein Kind schon sehr
jung Muster von Aggressivität,
behält es diese oft bei und läuft
Gefahr, delinquent zu werden. Tritt
das strafrechtlich auffällige Verhalten
schon früh auf, etwa im Alter
von 14 Jahren, steigt die Wahrscheinlichkeit
für dauerhaftes kriminelles
Verhalten. Oppositionelles
Verhalten ist jedoch ein typisches
Merkmal der frühen Kindheit
(Trotzalter) und der Adoleszenz.
Waffengebrauch und Tierquälerei. Eine Diagnose im Sinne einer >>>
Erziehung & Schule
Oppositionelles Verhalten
ist ein typisches Merkmal
der frühen Kindheit und
der Adoleszenz.
>>> Verhaltens störung wird deshalb
erst in Betracht gezogen, wenn
Aggression häufiger sowie mit
schwerwiegenderen Folgen auftritt
als bei anderen Kindern und es für
die Entwicklungsstufe des Kindes
angemessen wäre. Das Verhalten
muss über einen Zeitraum von sechs
Monaten auftreten und familiäre,
soziale oder schulische Bereiche
drastisch beeinträchtigen.
Für aggressives Verhalten bei
Kindern gibt es vielfältige Ursachen.
Diese müssen unbedingt im Einzelfall
untersucht werden. Die klassische
Absicht der Aggression wird als
egoistische Durchsetzung eigener
Bedürfnisse und bewusste Schädigung
und Verletzung anderer
beschrieben. Aggressives Verhalten
kann jedoch auch Ausdruck von
Angst und Unsicherheit sein. Diese
Kinder fühlen sich schneller bedroht
und angegriffen als andere. Sie handeln
aus einer eigenen Abwehrhaltung,
bedingt durch soziale Un
sicherheit, heraus. So nehmen diese
Kinder Bedrohungen vermehrt
wahr und reagieren übersensibel.
Zweifel an der Zuneigung
Bedrohliche Situationen lösen ein
inneres Spannungsgefühl aus, ein
Wutausbruch soll diese Spannung
wieder abbauen. Betroffene Kinder
scheinen an der Zuneigung ihres
Umfelds zu zweifeln und erwarten
nicht selten übermässige soziale
Anerkennung. Aggressives Verhalten
wird so zum Mittel, um sich
Respekt zu verschaffen. Dies funktioniert
besonders gut, wenn das
Umfeld mit Respekt, Angst oder
sogar Unterwürfigkeit antwortet. Je
öfter dann soziale Angst mit aggressivem
Verhalten gelöst wird, desto
stabiler wird das Muster, auch in
Zukunft aggressiv zu handeln.
Ein weiterer möglicher Auslöser
von aggressivem Verhalten kann
eine Krise im sozialen Umfeld des
Kindes sein, beispielsweise Konflikte
in der Paarbeziehung der Eltern
oder Stress in der Familie. Dies
bedeutet nicht, dass alle partnerschaftlichen
Konflikte oder Stress
dazu führen, dass ein Kind aggressiv
wird. Es wurde aber festgestellt, dass
Kinder in Familienkrisen eher zu
aggressivem Verhalten neigen.
Familien in Belastungssituationen
sind besonders gefährdet, da schwere
Belastungen das Erziehungsver
halten und die Kapazität der Eltern
beeinflussen. Zeigen die Eltern
selbst manchmal aggressives Verhalten,
wird dies zu einer hohen Wahrscheinlichkeit
vom Kind übernommen,
auch wenn die Situationen
verschieden sind oder sich die
Aggression nicht gegen das Kind,
sondern gegen Erwachsene richtet.
Weitere Ursachen sind Vernachlässigung
und Misshandlung,
manchmal jedoch auch eine Veränderung
der Lebenssituation wie zum
Beispiel ein Umzug in eine neue
Stadt und ein Schulwechsel.
Auch genetische Faktoren spielen
eine Rolle. Kinder mit aggressivem
Verhalten weisen meist eine mangelnde
Impulskontrolle und niedrige
Frustrationstoleranz auf. Kinder
mit ADHS haben ein höheres Risiko
für oppositionelles Trotzverhalten.
So zeigen zwei von drei Kindern mit
hyperkinetischer Störung auch
aggressives Verhalten. Darüber hinaus
scheinen impulsive Jugendliche
weniger schnell aus ihren Erfahrungen
zu lernen und Konsequenzen
schlechter abschätzen zu können.
Das Kind wird schnell zum Störelement
seines sozialen Umfeldes, es
wird als aggressiv und unkontrollierbar
erlebt. Nicht selten ist das
Kind deshalb weniger beliebt und
wird selbst Opfer aggressiver Handlungen.
Es kann ein Teufelskreis der
Aggression und Unbeliebtheit entstehen.
Kinder und Jugendliche gesucht!
Eine neue Studie (7 Tage) der Universität Freiburg
möchte den Zusammenhang zwischen Regulationsschwierigkeiten
und der Konzentration von Stresshormonen
im Körper untersuchen. Dazu sammeln wir
Speichelproben (kurz auf einer Watterolle kauen,
anonymes Senden ins Labor) von vielen Kindern. Die
Proben werden ergänzt durch Fragen über das
momentane Befinden von Eltern(teil) und Kind.
Mitmachen können alle Familien mit Kindern und
Jugendlichen zwischen 8 und 15 Jahren! Besonders
aufrufen möchten wir Eltern von Kindern mit ADHS oder
aggressivem Verhalten. Alle anderen Kinder werden für
den Vergleich gesucht. Machen auch Sie mit! Mit Ihrer
Teilnahme leisten Sie einen wichtigen Beitrag zur
Forschung über Regulierungsschwierigkeiten.
Sie erhalten Studienergebnisse sowie 50 Franken
(Gutschein) für Ihr Kind. – Kontakt: lama@unifr.ch oder
über die Website fns.unifr.ch/lama
62 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Aus der Perspektive der Kinder sind
meistens die Eltern, die Lehrer, die
anderen Kinder Schuld für ihre
Reaktion. Häufig beurteilen sie selbst
ihr Verhalten als nicht aggressiv.
Mütter und Väter finden es jedoch
herausfordernd, mit diesen Kindern
Zeit zu verbringen, ebenso wie eine
positive Beziehung zu ihnen aufzubauen.
Ein weiterer Teufelskreis:
Intensive Kinder mit beanspruchendem
Verhalten sorgen für gestresste
und/oder überanstrengte Eltern. Ist
dieser Punkt erreicht, wird es schwierig,
sensibel auf das Kind einzugehen,
immer angemessen zu reagieren
und emotional verfügbar zu bleiben.
Kinder spüren solche Veränderungen.
Oft versuchen sie, emotionale
Aufmerksamkeit durch Provokation
zu erlangen.
Langfristig bewirkt aggressives
Verhalten bei Kindern eine Einschränkung
ihres Verhaltens und
verhindert dadurch die Ausbildung
der Fähigkeit, ein Problem konfliktfrei
zu lösen. Es wird empfohlen,
extremes Verhalten so früh wie
möglich mit einer Fachperson zu
besprechen. Aggressive Kinder
haben ein hohes Risiko, von Gleichaltrigen
abgelehnt zu werden, sowie
für schulischen Misserfolg.
Oft kann eine aussenstehende
Person helfen – ein Berater oder eine
Psychologin sowie andere Fachspezialisten
können den Teufelskreis
durchblicken und helfen, sich im
Falle von Provokationen richtig zu
verhalten. Sprechen Sie zudem mit
der Lehrperson Ihres Kindes! Sie
sieht es einen Grossteil des Tages
und kann wichtige Informationen
geben über Situationen, in denen
das Verhalten auftritt, oder über vermutete
Einflussfaktoren.
Es ist wichtig, dass Eltern mit
dem Kind üben, wie es Konflikte
anders lösen kann. Hierbei ist konsequentes
Reagieren und Intervenieren
bedeutsam. Die Hilfestellung für
alternative Umgangsweisen und Lob
dafür sowie die eigene Vorbildhaltung
sind erfolgversprechend, denn
auch die Kinder sind oft mit ihrer
eigenen Reaktion nicht wirklich
glücklich. Das Kind zu fragen, was
es braucht und zugrunde liegende
Probleme zu ermitteln, gibt Aufschluss
über mögliche Lösungen.
Deshalb muss das Kind unbedingt
miteinbezogen werden.
>>>
Jacqueline Esslinger
ist Psychologin und Doktorandin an der
Universität Freiburg. Sie leitet eine neue Studie
zur Regulation bei Kindern mit ADHS und
aggressivem Verhalten.
Infoabend:
21. Nov.
«Ihr Aus- und Weiterbildungsinstitut
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Dr. med. Y. Maurer
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Praktischen Ausbildung zur Verfügung. Die Lernenden werden
unter der Woche von pädagogisch ausgebildeten Personen
in der Bewältigung der lebenspraktischen Anforderungen individuell
unterstützt. Das gemeinsame Ziel ist der erfolgreiche
Abschluss der Berufsausbildung.
Praktische Ausbildung
Seniorenbetreuung
Infos unter www.ibk-berufsbildung.ch
Weitere Informationen unter www.ibk-berufsbildung.ch
Erziehung & Schule
Wie Mathematik
Freude macht
Der Ansatz der «befreienden Pädagogik» zielt darauf ab, Kinder
in ihrer Lebenswelt abzuholen. Das weckt Freude am
Lernen und Lehren – mit überraschenden Erfolgen. Text: Stefan Meyer
Mathematik
beibringen?
Ohne Druck und
aus Erfahrungen
lernt sichs
besser.
Leiterspiel im
Kindergarten.
Bild: S. Meyer
Achten Sie einmal ge
nau auf die Rutschbahnen
in Ihrem
Quartier. Wie viele
Stufen haben sie? Auf
die wievielte Stufe muss Ihre Tochter
steigen, damit sie gleich gross ist wie
Mama? Warum rutscht man auf der
nassen Fläche schneller als auf der
trockenen? Warum ist eine Rutschbahn
schnell und die andere langsam?
Wenn Sie solche Fragen im
geeigneten Moment des Spielens
und der Freude an den Bewegungen
einstreuen, dann wird Ihr Kinder
die eine oder andere aufgreifen –
weil es erkennt, dass seine Interessen
wirklich ernst genommen werden.
Auch Abzählverse können Kinder
dazu animieren, die Zahlen zu
verwenden und auf neue Situationen
zu übertragen: «Eins, zwei, drei,
Der vierjährige Junge konnte
nur bis zwei zählen. In seinem
Lieblingsspiel wusste er jedoch
genau, wie viel sechs Kühe sind.
64 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
vier, fünf, sechs, sieben, Rutschbahn
runter, du kannst fliegen.» Lehrpersonen
berichten, dass der freudvolle
Umgang mit der Rutschbahn Kindergarten-
und Unterstufenkinder
beseelt habe – und sie selber auch.
Hand aufs Herz: Ziehen Sie selbst
nicht auch freudvolles Lernen der
Belehrung und dem Ab arbeiten von
Stoff vor?
Der brasilianische Pädagoge Paulo
Freire fand heraus, dass das Vermitteln
von Stoff durch Druck und
die Meinung, dass Bildung Belehrung
bedeute, Hauptfaktoren dafür
sind, dass Interessen und Bedürfnisse
der Lernenden unterdrückt werden.
Das demotiviert und kann
schlimme Folgen haben: von innerer
Kündigung bis hin zu schweren
Lernstörungen. Kinder reden dann
zwar, aber immer mit dem Gefühl,
dass das, was sie sagen, keine Bedeutung
hat. Informationen werden
nicht abgespeichert: Sie gehen zum
einen Ohr rein und zum anderen
wieder raus. Diese Mechanismen
wirken auch auf Erziehende und
Lehrpersonen destruktiv. Der Psychologe
Paul Watzlawick nannte
solche existenziellen Situationen
«Spiel ohne Ende» – ein Teufelskreis,
der entsteht, wenn Menschen
nicht wissen, wie negative Mechanismen
und Geschehnisse gestoppt
werden können.
Lesen und Schreiben in acht
Wochen
Auf diesen Erkenntnissen basierend
hat Paulo Freire Methoden für die
Alphabetisierung entwickelt, von
denen Millionen Brasilianerinnen
und Brasilianer profitieren konnten.
Als Erstes erforschte er die Interessen
und die Lebenserfahrungen >>>
Das flexible Interview
Die gleichnamige Website der Interkantonalen
Hochschule für Heilpädagogik HfH lädt dazu
ein, mit der Methode des flexiblen Interviews zu
arbeiten und zu forschen. Es werden bewährte
Gesellschaftsspiele beschrieben, bei denen
die Methode angewandt werden kann, und es
wird gezeigt, wie Geldwerte oder Bruchzahlen
besprochen werden können. Die Website informiert
auch über die Methode «Empathie und Verstehen»
von Nicola Cuomo. Ebenso wird auf ein
Entwicklungsprojekt verwiesen, bei dem Kinder
mit den Methoden von Paulo Freire Deutsch als
Zweitsprache lernten. Zahlreiche Beobachtungen
zeigen, wie freie Konversationen und auch das
Freispiel den Unterricht positiv beeinflussen.
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nach der Behandlung.
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Erziehung & Schule
Wenn wir lernen wollen, wie
man konkrete Probleme
meistert, braucht es neue,
kreative Methoden.
>>> der Lernenden, ganz nach
dem Motto: «Erst forschen, dann
lehren.» Nach einer Analyse integrierte
er die gesammelten Themen
in Lese- und Schreibprojekte. Diese
waren so erfolgreich, dass die Personen
nach rund acht Wochen lesen
und schreiben konnten. Ein weiterer
wichtiger Aspekt seiner Methode ist
der Dialog. Ein echter Dialog verändert
die Beziehungen und die Emotionen
der beteiligten Personen,
während Belehrung einfach das
«Spiel ohne Ende» fortsetzt.
«Erst forschen, dann lehren»
wurde auch zum Motto in der Ausbildung
von Schulischen Heilpädagoginnen
und Heilpädagogen an
der Interkantonalen Hochschule für
Heilpädagogik HfH. Dabei gingen
die Dozierenden von einer Forschungsmethode
aus, welche der
Genfer Psychologe Jean Piaget mitseinen
Mitarbeiterinnen entwickelt
hat. Er nannte sie kritische Methode,
später wurde sie auch flexibles Interview
genannt (siehe Box Seite 65).
Dabei gilt es, die Denkprozesse eines
Kindes bestmöglich zur Sprache zu
bringen, indem es auch zum Handeln
motiviert wird. In einer freundschaftlichen
Konversation werden
die Bedeutungen von Gedanken und
Handlungen fortlaufend besprochen
und weiterentwickelt. Mit der Zeit
konnte diese Methode immer besser
in die Lehre der HfH und die Schulpraxis
integriert werden.
Lehren aus dem Bauernhof
Wie funktioniert das genau? Lassen
Sie mich zwei Fallbeispiele nennen:
In Mathematikstunden im Kindergarten
wurde bei einem vierjährigen
Jungen festgestellt, dass er die Zahlen
erst bis zwei kannte. Man befürchtete,
dass er geistig entwicklungsverzögert
sein könnte. Bei flexiblen
Interviews entdeckte die Heilpädagogin,
dass der Junge in seinem Lieblingsspiel
mit dem Bauernhof sehr
wohl wusste, wie viel sechs Kühe
sind.
Diese Entdeckung hatte Auswirkungen
auf die Lehre: Der Junge und
andere Kinder bekamen die Gelegenheit,
Mathematik und Geometrie
ausgehend vom Bauernhof oder
anderen Lieblingsspielen zu lernen.
Die Lehrpersonen hatten den Druck
von Belehrung und Stofffülle überwunden,
weil sie den Bauernhof als
Sachthema für die mathematische
Bildung erforscht hatten. Gleichzeitig
hatten sie eingesehen, wie relativ
belehrende Didaktik und deren Vorurteile
sind, wenn Ressourcen der
Kinder miteinbezogen werden.
Das zweite Beispiel handelt von
Erfahrungen, die Eltern und Lehrpersonen
in Spiel- und Hausaufgabensituationen
gesammelt haben.
Sie lernten in einem Workshop, mit
dem flexiblen Interview das Belehren
zu überwinden und Gesellschaftsspiele
für Kinder mit Behinderungen
zugänglich zu machen.
Dadurch wurden die Dialoge mit
den Kindern sachlicher und freudvoller.
Das Können hatte sich frei
und wirkungsvoll entwickelt.
Die Beispiele deuten an, dass Psychologen,
Erziehende oder Lehrpersonen
mit Kindern und Jugendlichen
umgehen, als würden sie mit
Freunden sprechen. Dabei lösen sie
Probleme, mit denen ein Kind konfrontiert
ist, und arbeiten gleichzeitig
mit Materialien (oder Spielsachen)
sowie mit Notizen. Die
Richtigkeit der Resultate ist ein
Nebenprodukt. Das freundschaftliche
Klima ist reicher an sozialen
Beziehungen und Emotionen als das
Klima der Belehrung. Die Selbstbestimmung
des Kindes ist angemessen
integriert und nicht ausgeschlossen.
So gelingt es in kürzester
Zeit, Lebenserfahrungen und Interessen
zu erforschen und für die Pädagogik
nutzbar zu machen.
Eine komplexe und schwierige
Aufgabe steht an, wenn Fachpersonen,
Lehrpersonen, Eltern und Lernende
wahrnehmen, dass die Integration
von Kindern, die anders sind
als der Durchschnitt, nicht recht
gelingen will. Betrachten wir die
Aussage der Mutter eines Sohnes
mit Trisomie 21. Sie blickte in einem
Podiumsgespräch zufrieden auf die
schulische Integration ihres Kindes
zurück. Dass sie ihren Jungen jedoch
vier Mal jeden Tag holen und bringen
musste, belastete sie sehr. Wie
wäre es, wenn Fachpersonen in ähnlichen
Fällen nach Ressourcen im
Quartier oder in der Gemeinde forschen
würden? Wären andere Eltern
oder ein Restaurant bereit, einer
Familie mit einem Kind mit Behinderung
zu helfen, auch wenn es nur
um den Schulweg oder das Mittagessen
geht? Paul Watzlawick betonte
in einem Vortrag, dass der Ausweg
aus dem «Spiel ohne Ende» über
einfache Handlungen ge schieht.
Die Entwicklung von integrativer
Bildung und Erziehung erfordert
neue Methoden (siehe Box S. 67).
Das beginnt bei der Diagnose der
Ressourcen der Kinder, der Eltern,
der Grosseltern, in der Schule und
im Quartier. Es ist einfacher, Defizite
zu diagnostizieren und diese isoliert
zu behandeln. Gemeinhin
denkt man dann, dass das Kind oder
die Jugendlichen mit Behandlungen
66 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
«versorgt» seien und sich die Sachlage
verbessern werde. Doch häufig
ist das ein Trugschluss.
Unkonventionelle Methoden
Wenn wir lernen wollen, wie man
konkrete Probleme meistert, braucht
es neue, kreative, dialogische und
unkonventionelle Methoden. Das
Interesse an der Sache, an den Kompetenzen,
an Beziehungen und an
der Selbstbestimmung steht dabei
im Zentrum. Wenn in Besprechungen
oder Supervisionen festgestellt
wird, dass eine Entwicklung ausbleibt
und Freude oder das Gefühl
von Freiheit fehlen, müssen die Projekte,
die Ziele, die Beziehungen und
die Methoden nochmals überarbeitet
werden. Dieses Vorgehen lehnt
sich an das Integrationskonzept
«Empathie und Verstehen» des Bologneser
Pädagogen Nicola Cuomo an.
Zurück zur Mathematik: Georg Cantor,
der Begründer der Mengenlehre,
schrieb einmal: «Das Wesen der
Mathematik liegt gerade in ihrer
Freiheit.» Er hätte sich über den
Anblick einer Kindergartengruppe
gefreut, die auf einem Platz Zahlenfelder
zu einem riesigen Hüpfspiel
aufgemalt hatte, das bis zu einer Million
reichte. Solche Aktionen sind
Sternstunden der befreienden Pädagogik.
>>>
Stefan Meyer
lic. phil., ist Dozent im Masterstudiengang
Sonderpädagogik SHP, Schwerpunkt
Pädagogik bei Schulschwierigkeiten, an der
Interkantonalen Hochschule für
Heilpädagogik. Eine Liste mit empfohlener
Literatur und Links kann angefordert werden
über: Stefan.Meyer@hfh.ch.
Das MKT-Testsystem
Ausgehend von den Prinzipien der befreienden
Pädagogik, des flexiblen Interviews und des
Integrationskonzepts Empathie und Verstehen
wurde auch ein Testsystem für die Diagnose
und Förderung in Mathematik von der
1. bis zur 9. Klasse entwickelt und normiert.
Im Kern befassen sich die verschiedenen
Testmethoden nicht nur mit kognitiven Fachkompetenzen,
sondern mit der Empathie und
dem Verstehen von Mathematik im Bildungssystem.
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Do sier
Der 9-jährige Emilio
hat Autismus. Rituale
bestimmen sein
Leben. Mehrmals am
Tag geht er in den
Wäscheraum und
beobachtet die
drehenden Trommeln.
Programmierende
Primarschüler?
An der Bläsi-Schule
Basel ist das
bereits Realität.
Digital & Medial
Digital & Medial
Dossier sier
«Wir halten an alten
Lernvorstellungen fest»
«Bei Pflegekindern ist
das Thema Autismus
sehr wichtig»
(Dossier «Autismus», Heft 8/2017)
Das andere Kind –
leben mit Autismus
Eine Störung für die einen, eine Wesensart für die anderen
und eine Herausforderung für a le. Das ist Autismus.
Jedes hundertste Kind in der Schweiz ist davon betroffen.
Was heisst das für das Kind? Was für seine Eltern?
Und vor a lem: Wer hilft?
Text: Sarah King Bilder: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo
10 August 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi August 2017 1
Unsere Fachstelle hat gerade heute wieder Ihr tolles Magazin
erhalten. Vielen Dank! Wir legen Ihr Heft gerne auf und verteilen es
auch gezielt an Eltern, die vom aktuellen Thema direkt betroffen sind.
Gerade bei Pflegekindern ist dieses Thema sehr wichtig.
Cécile Manser, Pflegekinder-Aktion, St. Gallen (via Mail)
«Schule und
Elternhaus müssen
zusammen Lösungen
suchen»
« Wenn es
wehtut,
lache ich»
Rauswurf aus dem Chat, beleidigende und bedrohliche
Textnachrichten: Cybermobbing hinterlässt keine blauen
Flecken, richtet aber bei betro fenen Kindern und
Jugendlichen viel Leid an. So auch bei der 14-jährigen Laila*.
Sie lässt ihre Mu ter Renata Weiss* beschreiben,
wie sehr Eltern mitleiden.
Aufgezeichnet: Sarah King Bilder: Stephan Ra po / 13 Photo
68 September 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
(Thema Mobbing: «Wenn es weh tut, lache ich»,
9/2017)
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi September 2017 69
Das Beste ist, wenn Schule und Elternhaus gemeinsam Lösungswege
suchen und gehen! Weder nur Schule noch nur Elternhaus
können alleine genug Schutz bieten.
«Erziehung zur Menschlichkeit!»
(Dossier «Autismus», Heft 8/2017)
Karin Holzherr-Widmer (via Facebook)
Sie geben einen sehr guten Einblick in die Welt von autistischen
Menschen. Wie beim Thema Depression (mein Lebensthema) ist
es wichtig, die Gesellschaft umfassend zu informieren. Am besten
durch Kontakte mit Beziehungspersonen und – soweit das möglich
ist – mit Betroffenen. Und möglichst früh. Schon im Kindergarten –
eben auf kindgerechte und nicht überfordernde Weise: Erziehung
zur Menschlichkeit!
Reinhard (auf www.fritzundfraenzi.ch)
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«Der Artikel
macht mir Mut»
Die digitale
Schule
Schon bald benötigen wir in 90 Prozent
a ler Berufe digitale Kompetenzen.
Wie bereiten die Schweizer Schulen
unsere Kinder auf diese Berufswelt vor?
Warum ist es so schwierig, digitales
Lernen einzuführen? Und lernt man am
Tablet besser als mit dem Schulheft?
Eine Spurensuche.
Text: Bianca Fritz, Virginia Nolan (Porträts)
Bilder: Rita Palanikumar / 13 Photo
10 Oktober 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
(Dossier «Digitale Revolution», Heft 10/2017)
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Oktober 2017 1
Bild: Christian Aeberhard / 13 Photo
Danke. Unsere Tochter hat seit gestern ihr eigenes Handy,
und der Artikel macht mir Mut...
Gymnasium | Sekundarschule A
Mittelschulvorbereitung > www.nsz.ch
Info-Abend
Mittwoch, 8. November, 18 Uhr
Irene (auf www.fritzundfraenzi.ch)
...von der 1. Sek bis zur Matura
68 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Erziehung & Schule
Wo die Familie
zusammenkommt,
musiziert sichs
be ser.
Leserbriefe
«Wir haben uns die Zähne
ausgebissen»
(Dossier «Digitale Revolution», Heft 10/2017)
Digitale Kompetenz umfasst unterschiedliche Bereiche. Der
Umgang mit sozialen Medien ist nur ein Aspekt. Was ist beispielsweise
mit der Organisation sämtlicher technischer Geräte
inklusive Foto- und Musikverwaltung in einem Haushalt mit
mehreren Desktops? Bei diesem Thema haben wir Eltern uns
schon die Zähne ausgebissen. Zum guten Glück haben wir etwas
Ahnung. Dennoch bin ich der Meinung, dass dies dringend ins Fach
ICT gehört. Wir haben immer mehr Daten, die wir auch privat
verwalten müssen. In der Schweiz haben wir zudem einen Mangel
an ausgewiesenen Programmierern. Die Zukunft hat begonnen
und wird noch digitaler. Ich danke Ihnen für diese Ausgabe von
Fritz+Fränzi und den Anstoss. Es muss sich dringend etwas tun!
«Freue mich darauf,
Erkenntnisse aus der
Lektüre umzusetzen»
(«Spielen statt üben»,
Heft 10/2017)
Spielen statt üben!
Ein Kind möchte ein Instrument lernen. Die Eltern unterstützen diesen Wunsch, mieten
ein Instrument und melden das Kind bei der Musikschule an. Bald folgt die Ernüchterung:
das Kind will nicht üben. Damit zu Hause Musik sta t Streit erklingt, brauchen kleine
Anfänger die richtige Unterstützung. Text und Bilder: Siby le Dubs
Ich möchte mich bedanken bei euch. Eigentlich lese ich keine
Erziehungsratgeber, aber Ihr greift so vielseitige Themen auf, da ist
immer mindestens ein Artikel dabei, der mich brennend interessiert
und mich auch zum Nachdenken und Umdenken anregt. Ich bin
sowohl beruflich als auch persönlich begeistert vom Schweizer
ElternMagazin. Auch dass es so breit gestreut wird in Schulen und
Institutionen, finde ich toll. Aus der aktuellen Oktober-Ausgabe konnte
ich etwas mitnehmen zum Thema Medienerziehung und Musik
spielen. Freue mich darauf, es umzusetzen. Macht unbedingt so
weiter.
Gabriela Fust (via Facebook)
Sonja, Zürich (per Mail)
«Mir kam ‹Entschulung der Gesellschaft›
in den Sinn»
(Dossier «Digitale Revolution», Heft 10/2017)
Danke für die unaufgeregten Aussagen von Philippe Wampfler. Seine
Aussage «Auch die Wandtafel ist ein Medium» sagt vieles aus, wie
Medien für den Unterricht sinnvoll genutzt werden können.
Beim Lesen kam mir Ivan Illichs Buch «Entschulung der Gesellschaft»
in den Sinn: «Einzurichten sind netzartige Strukturen, auch Beziehungsstrukturen,
die allen freien Zugang zu allem ermöglichen, was
für formales Lernen genutzt werden kann (Dinge, Orte, Prozesse,
Verfahren, Ereignisse und Informationen). Die Pädagogen begleiten
die Schülerinnen und Schüler dabei als ‹primus inter pares› auf
schwierigen intellektuellen Erkundungsreisen.» (Zusammenfassung
aus Ivan Illichs «Entschulung der Gesellschaft», eine Streitschrift
(6. Auflage). München: C.H. Beck. (Im Original erschienen 1971:
Deschooling Society).
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Das Magazin der Reformierten
Christian Hügli-Sassones (via LinkedIn)
Schreiben Sie uns!
Ihre Meinung ist uns wichtig. Sie erreichen
uns über: leserbriefe@fritzundfraenzi.ch oder
Redaktion Fritz+Fränzi, Dufourstrasse 97, 8008 Zürich
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
November 2017
www.brefmagazin.ch
Rubrik
70 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Erziehung & Schule
Unser Leben
Erziehung & Schule
mit Maél
Der achtjährige Maél kann sich nicht alleine waschen oder
anziehen, trägt Windeln und muss ständig überwacht werden –
er kam mit Downsyndrom auf die Welt. Seine Mutter erzählt
vom Alltag mit ihrem behinderten Kind und dessen gesundem
Bruder Elias und wie Maél es immer wieder schafft,
ihre Sorgen und Zweifel zu zerstreuen.
Text: Barbara Stotz Würgler Bilder: Samuel Trümpy / 13 Photo
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
November 201771
Erziehung & Schule
Zum dritten Mal habe ich
Maél an diesem Morgen
aufgefordert, sich die
Schuhe anzuziehen und
für die Schule bereit zu
machen. Sein Schulbus hält jeden
Tag pünktlich um 7.45 Uhr vor
unserem Haus. Maél besucht die
dritte Klasse der heilpädagogischen
Schule in einem Nachbardorf.
Endlich setzt er sich auf den Stuhl
bei der Garderobe und nimmt einen
Schuh in die Hand. Als er fertig ist,
stelle ich fest: Der linke Schuh sitzt
am rechten Fuss – und umgekehrt.
Auf meine Frage, ob er das extra
gemacht habe, setzt Maél ein schelmisches
Lächeln auf.
Wenige Minuten später eilen wir
– die Schuhe habe ich ihm inzwischen
richtig an die Füsse gesteckt
– nach draussen, der Bus steht mit
laufendem Motor da. Ich helfe Maél
beim Einsteigen und gurte ihn an.
Durch das Fenster werfen wir uns
Kusshände zu. Maél strahlt. Entweder
am Mittag oder am späteren
Nachmittag wird er wieder nach
Hause zurückkehren.
Das verflixte 47. Chromosom
«Alles Glück», sagt mein Sohn
manchmal zu mir und drückt mir
einen dicken, nassen Kuss auf die
Backe. Ein unbeschreibliches Gefühl.
Für mich stecken in diesem Satz und
in dieser Geste so viel Dankbarkeit,
Liebe und auch Bestätigung dafür,
dass wir Eltern vieles richtig machen
mit unserem «besonderen» Kind.
Dass unser älterer Sohn mit 47
Chromosomen anstatt mit 46 (siehe
Box Seite 77) ausgestattet ist, wirkt
sich auf sein Aussehen sowie seine
geistige und körperliche Entwicklung
aus. Er gleicht anderen Knaben
mit dem Downsyndrom mehr, als
dass er seinem sechsjährigen Bruder
Elias oder uns Eltern ähnelt.
Sein Kopfumfang ist kleiner, seine
Nase flach. Die typische Lidfalte
an den Augen verleiht ihm einen
leicht asiatischen Einschlag. Seine
Muskeln sind weniger stark als bei
normalen Kindern. Diese sogenannte
Muskelhypotonie ist auch der
Grund dafür, dass Maél erst mit
knapp drei Jahren laufen lernte.
Grobmotorisch ist unser Sohn
gut aufgestellt: Er liebt Spielplätze
mit Kletteranlagen, Seilbahnen,
Rutschbahnen und Schaukeln. Als
Vierjähriger lernte er mit dem Micro
Scooter zu fahren. Später entdeckte
er das Laufrad, und seit etwa
eineinhalb Jahren ist er mit seinem
Fahrrad unterwegs – wenn auch
noch mit Stützrädern. Dies ermöglicht
es uns als Familie, kleinere Ausfahrten
in der nahen Umgebung zu
machen.
Ein turbulenter Start für alle
Im feinmotorischen Bereich ist der
Entwicklungsrückstand im Vergleich
zu Kindern ohne Trisomie 21
bedeutend grösser: Einen Stift richtig
zu halten oder mit der Schere zu
schneiden, sind Dinge, die Maél
schwerfallen und die er auch so gut
wie möglich meidet. Dafür bedient
er das Tablet mit seinen Spielen und
Apps mit Leichtigkeit.
Nach einer problemlosen
Schwangerschaft kam Maél am
1. April 2009 um 13 Uhr zur Welt.
Wegen abfallender Herztöne musste
er per Notfallkaiserschnitt auf die
Welt geholt werden. Nachdem ich
mein Baby begrüsst hatte, stand ein
Kinderarzt nervös neben mir: Maél
war etwas blau angelaufen, musste
genauer untersucht werden.
Noch erwähnte niemand die Diagnose
Trisomie 21. Dann die Mitteilung:
Maél muss in die Neonatologie
eines grösseren Spitals verlegt werden.
Es dauerte über 24 Stunden, bis
auch ich in dasselbe Spital gebracht
wurde. Endlich standen mein Mann
und ich neben dem Brutkasten.
Nackt, mit Magensonde und Sauerstoffschlauch
versehen sowie einem
Neugeborenen-Ausschlag, sah unser
Baby ganz schön ramponiert aus.
Wegen Anpassungsstörungen musste
Maél für längere Zeit hospitalisiert
bleiben. >>>
Auf meine Frage, ob er die Schuhe
extra falsch angezogen habe,
antwortet Maél mit einem
schelmischen Lächeln.
Trisomie 21 – Infos und Buchtipps
Der Verein Insieme 21 setzt sich für Menschen mit
Trisomie 21 und deren Angehörige ein. Er ist die
erste Anlaufstelle für neubetroffene Familien und
unterhält in der ganzen Schweiz Regionalgruppen:
www.insieme21.ch
www.ds-infocenter.de (Deutschland)
www.down-syndrom.at (Österreich)
Etta Wilken: «Menschen mit Down-Syndrom
in Familie, Schule und Gesellschaft»
Etta Wilken ist Professorin für Behindertenpädagogik
und befasst sich seit vielen Jahren
intensiv mit Trisomie 21. Sie hat auch Bücher über
Sprachförderung und Kommunikation bei Kindern
und Jugendlichen mit Trisomie 21 herausgegeben.
André Frank Zimpel: «Trisomie 21. Was wir von
Menschen mit Down-Syndrom lernen können»
André Frank Zimpel, Professor für Erziehungswissenschaft,
befasst sich mit dem Lern verhalten
von Menschen mit Trisomie 21. In seinem Buch fasst
er die Ergebnisse und Erkenntnisse einer Studie mit
über tausend Personen mit Trisomie 21 zusammen.
Informationen über pränatale Diagnostik
Insieme Schweiz hat diesen Sommer ein neues
Online-Tool lanciert. Dieses bietet werdenden Eltern
einen Überblick über vorgeburtliche Tests. Die
kompakten, leicht verständlichen Infos sowie eine
Vielzahl von weiterführenden Fach- und Beratungsstellen
sind unter www.vorgeburtliche-tests.ch
zu finden.
In Zusammenarbeit mit der PH Bern entwickelte
Insieme Schweiz das Ideenset «Vielfalt begegnen»
mit dem Ziel, Schülerinnen und Schülern Einblicke
in die Lebenswelt von Menschen mit einer
Beeinträchtigung zu ermöglichen.
www.phbern.ch/ideenset-vielfalt-begegnen
72 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Maél und sein
jüngerer Bruder
Elias sind ein
gutes Gespann –
besonders wenn es
darum geht, die
Eltern zu ärgern.
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
November 201773
Erziehung & Schule
>>> Die Diagnose Trisomie 21
traf uns wie ein Blitz. Während ich
mit Traurigkeit und Verzweiflung
reagierte, wurde mein Mann
wütend. In der Schwangerschaft hatte
ich mich zwar mit dem Thema
Downsyndrom auseinandergesetzt.
Doch der Ersttrimestertest, der ein
Risiko von 1:1600 auswies, gab keinen
Anlass für weitere vorgeburtliche
Abklärungen. Auch die Nackenfalte
schien im Ultraschall unauffällig.
Und jetzt war ich auf einen
Schlag Mutter eines Babys mit Trisomie
21 geworden. Das sass.
Oft stellte ich mir in den folgenden
Monaten die Frage, ob es besser
gewesen wäre, wenn wir schon während
der Schwangerschaft Bescheid
gewusst hätten. Eine Frage, die sehr
schwer zu beantworten ist. Und für
uns bald keine Rolle mehr spielte –
Maél war ja jetzt da, und wir arrangierten
uns nach und nach mit der
Situation.
Die Nachricht, Eltern eines behinderten
Kindes geworden zu sein,
löste in uns zahlreiche Fragen aus.
Werden wir mit der Pflege und
Betreuung unseres Kindes zurechtkommen?
Wie entwickelt sich ein
Kind mit Downsyndrom? Wie
reagieren die Freunde und Bekannten,
die sich mit uns auf unser Baby
gefreut hatten? Das Gedankenkarussell
drehte unablässig. Ich fand keinen
Schlaf, war weinerlich und
dünnhäutig.
Grosses Glück mit der Gesundheit –
und doch Stammgast in der Klinik
Die ersten Monate zu Hause mit
Maél waren geprägt davon, dass er
sehr schlecht trank. Als er drei
Monate alt war, durfte ich mit ihm
eine Physiotherapie machen. Als er
ein halbes Jahr alt war, begann die
Heilpädagogische Früherziehung:
Jede Woche besuchte uns ein Heilpädagoge
zu Hause und förderte
Maéls Fähigkeiten.
Die Früherziehung dauerte bis
zum Eintritt in den Kindergarten.
Das Aufgleisen der Therapien gab
uns Eltern das Gefühl, endlich etwas
für unser Kind tun zu können. Nach
und nach fiel uns aber auf, dass Maél
vermehrt schrie. Das Trinken verweigerte
er nun vollends. Als wir
mit der gepackten Tasche bei unserer
Kinderärztin im Behandlungszimmer
sassen, meldete sie uns im
Spital an – wo Maél notfallmässig
aufgenommen und über eine
Magensonde ernährt werden musste.
Seine Speiseröhre war komplett
entzündet, er hatte die Refluxkrankheit
entwickelt. Noch heute
bekommt Maél täglich Magensäureblocker.
Ansonsten haben wir grosses
Glück, dass Maél organisch gesund
ist. Oftmals leiden Kinder mit Trisomie
21 an Herzfehlern oder >>>
«Kinder mit Trisomie
21 können uns die
Augen öffnen»
Der Mediziner Urs Zimmermann
sagt, dass die Gesellschaft von
Kindern mit Trisomie 21 profitieren
kann. Trotzdem sieht er grosse
Vorteile in der Möglichkeit, dass
der Gendefekt heute sehr früh
festgestellt werden kann.
Interview: Barbara Stotz Würgler
Herr Zimmermann, wie hat sich die Zahl
der Geburten mit Trisomie 21 in den
letzten Jahren in der Schweiz entwickelt?
Zuverlässige Zahlen sind schwierig zu
bekommen. Wir können davon ausgehen,
dass in der Schweiz pro Jahr zwischen 70
und 90 Kinder mit Downsyndrom zur Welt
kommen. Diese Zahlen sind in den letzten
Jahren konstant geblieben.
Mit dem vor fünf Jahren eingeführten
nichtinvasiven Praena-Test kann Trisomie
Die Diagnose Trisomie 21
traf uns wie ein Blitz. Ich
reagierte mit Verzweiflung,
mein Mann mit Wut.
«Es ist schön,
mit ihm Zeit zu
verbringen»,
sagt Maéls
Mutter. «Er gibt
uns sehr viel
zurück.»
21 in einem sehr frühen Stadium der
Schwangerschaft festgestellt werden.
Warum sind die Geburten mit Trisomie 21
dennoch nicht stärker rückläufig?
Es hängt damit zusammen, dass die
Trisomie-21-Schwangerschaften insgesamt
enorm zugenommen haben. In der Schweiz
sammelt einzig der Kanton Waadt diese
Daten systematisch, um sie in eine europäische
Studie einzuspeisen. Hier haben sich
die Schwangerschaften mit Trisomie 21 im
Zeitraum zwischen 1989 bis 2012 verdreifacht.
Dies hat damit zu tun, dass heutzutage
viele Frauen erst im höheren Alter schwanger
werden oder die Familienplanung erst im
höheren Alter abschliessen.
Wie viele Frauen behalten ihr Kind,
wenn sie von der Diagnose erfahren?
Wir müssen davon ausgehen, dass in Europa
neun von zehn Frauen ihr ungeborenes Kind
abtreiben, wenn sie erfahren, dass es das
Downsyndrom hat.
Sehen Sie auch einen Vorteil darin, dass
man heute Trisomie 21 schon so früh beim
ungeborenen Kind nachweisen kann?
Grundsätzlich ist es eine riesige Chance, um
sich mit diesem Thema früh auseinanderzu-
74 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Rubrik
setzen. Oftmals wird diese aber verpasst,
da es offenbar immer noch für viele eine
Selbstverständlichkeit ist, ein Kind abzutreiben,
wenn irgendetwas nicht stimmt. Dabei
wäre es so wertvoll, sich Gedanken zu
machen über mögliche Behinderungen oder
Andersartigkeiten beim Kind. Denn letztlich
kann einem Kind immer etwas zustossen,
das zu einer Behinderung führt, beziehungsweise
das Kind kann sich anders entwickeln,
als man es sich gewünscht hat. Was dann?
Einen anderen Vorteil der frühen Diagnose
sehe ich darin, dass sich Familien bewusst
entscheiden, ein Leben mit einem Kind mit
Trisomie 21 zu führen. Diese Eltern stehen
mit einem neuen Selbstbewusstsein hinter
ihren Kindern.
Die Lebensqualität der Kinder mit
Downsyndrom ist in den letzten Jahren
deutlich besser geworden. Warum?
Es hat eine klare Haltungsänderung
stattgefunden. Früher hat man bei einem
Kind mit Downsyndrom überlegt, ob es sich
überhaupt lohnt, einen Herzfehler zu
operieren oder eine Chemotherapie zu
machen. Heute ist es keine Frage mehr, man
geht proaktiv vor, sucht gezielt nach
Risikofaktoren und interveniert so schnell
wie möglich. Daneben wird heute auch
versucht, Kinder mit Trisomie 21 maximal zu
fördern und zu integrieren.
Was geben Sie werdenden Eltern mit auf
den Weg, die erfahren haben, dass ihr
ungeborenes Kind Trisomie 21 hat?
Zum einen geht es darum, die vielen Informationen
verständlich zu machen und den
Eltern eine Vorstellung davon zu vermitteln,
wie ihr Leben mit einem Kind mit Trisomie 21
aussehen könnte. Daneben rege ich dazu an,
die eigenen Werte zu ergründen, aber auch
die gemeinsamen Werte als Paar – und falls
bereits vorhanden mit dem Rest der Familie.
Was bedeutet es für uns, Kinder zu haben?
Welche Werte wollen wir ihm mit auf den Weg
geben? Dann wird oft schnell klar, ob ein Kind
mit Downsyndrom Platz in dieser Familie hat.
Diese «Wertearbeit» empfehle ich übrigens
allen Eltern, und zwar bereits bevor sie das
erste Kind bekommen.
Was können wir Ihrer Meinung nach von
Kindern mit Trisomie 21 lernen?
Diese Kinder zwingen uns, sie in ihrer
maximalen Individualität zu erkennen und zu
fördern. Andere Kinder würden genauso
profitieren, wenn man ihnen so unvoreingenommen
und individuell begegnen würde.
Kinder mit Trisomie 21 können uns die
Augen öffnen, wie man grundsätzlich mit
Kindern umgehen sollte. Wenn unsere
Schulen so individuell und offen gestaltet
wären, dass auch Trisomie-21-Kinder sie
besuchen könnten, hätte man zum Beispiel
weniger Kinder, die Ritalin nehmen.
Zur Person
Urs Zimmermann, 52, ist seit fünf Jahren
Chefarzt Neonatologie und Kinder- und
Jugendmedizin am Spital Bülach. Vor seiner
Tätigkeit in Bülach war er mehr als zehn Jahre
Leiter der Klinik für Neonatologie und Chefarzt
im Departement Kinder- und Jugendmedizin
am Kantonsspital Winterthur. Er lebt in Bülach
und ist Vater von drei erwachsenen Kindern.
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
November 201775
Erziehung & Schule
>>> Missbildungen im Darmtrakt.
In den ersten vier Lebensjahren
war Maél dennoch ständiger
Gast in der Kinderklinik. Er litt zum
Teil unter heftigen Atemwegsinfekten,
benötigte Sauerstoff und musste
künstlich ernährt werden. Die
traumatische Erfahrung mit dem
Reflux hatte dazu geführt, dass er bei
jedem Infekt die Nahrungsaufnahme
verweigerte.
Nebst den vielen Spitalaufenthalten
waren die ersten Jahre bis zum
Kindergarteneintritt von seinem
Therapieplan bestimmt. Nebst der
Früherziehung und der Physiotherapie
kam ab etwa drei Jahren zwei
Mal wöchentlich Logopädie hinzu.
Maél erhielt mit 14 Monaten erstmals
Paukenröhrchen ins Trommelfell.
Auf diese Weise sind seine
Ohren besser belüftet und er hört
besser. Mit zwei Jahren wurde er
zum Brillenträger, was ihn glücklicherweise
nicht stört. Probleme mit
Augen und Ohren sind häufig bei
Kindern mit dem Downsyndrom.
Unterschätzte Intelligenz
Maél war als Kleinkind schwierig zu
lesen respektive zu verstehen. Er
konnte Hunger, Schmerz oder
Müdigkeit nicht ausdrücken, es war
für uns ein ständiges Rätselraten.
Noch mit zwei Jahren sprach er kein
Wort. Wir hatten aber den Eindruck,
dass er gut versteht, was wir zu ihm
sagen.
Von unseren Heilpädagogen
erfuhren wir von der Gebärdensammlung
«Wenn mir die Worte
fehlen» für kognitiv beeinträchtigte
Menschen von der Schweizer Heilpädagogin
Anita Portmann. Die
Gebärden für Essen, Schlafen, Spie-
Maél hat die Angewohnheit
auszubüxen. Er trägt deshalb
eine Plakette mit Name
und Telefonnummer auf sich.
len, Nach-draussen-Gehen sowie
für sämtliche Bauernhoftiere waren
die ersten Begriffe, die wir Maél im
Alter von zweieinhalb Jahren beibrachten.
Die Bewegungen mit den
Händen auszuführen, bereitete ihm
zu Beginn noch Mühe. Aber er
konnte endlich kommunizieren!
Im zweiten Kindergartenjahr
lernte Maél mit Unterstützung von
Piktogrammen, in Zwei- und Drei-
Wort-Sätzen zu sprechen. Heute
drückt er sich ohne Hilfsmittel aus.
Kinder mit Downsyndrom haben
oftmals eine überlange Zunge und
einen schmalen Mundraum. Beides
ist nicht gerade förderlich für die
Aussprache, erschwerend kommt
eine schlaffe Mundmuskulatur hinzu.
Maéls Wortschatz ist um ein
Vielfaches grösser, als er in der Lage
ist, sich verbal auszudrücken. Seine
Intelligenz wird deshalb häufig
unterschätzt.
«Mittelgradig hilflos»
Im Alltag benötigt Maél in vielen
Bereichen Unterstützung. Die Invalidenversicherung
stuft ihn als «mittelgradig
hilflos» ein und entrichtet
Hilflosenentschädigung, seit er zwei
Jahre alt ist. Eine Person gilt als hilflos,
«wenn sie wegen Beeinträchtigung
der Gesundheit für alltägliche
Lebensverrichtungen dauernd der
Hilfe Dritter oder der persönlichen
Überwachung bedarf». Die Höhe der
Leistung hängt vom Grad der Unterstützung
ab und ist in leicht, mittel
und hoch abgestuft.
Der Alltag mit Maél erfordert von
uns Eltern, aber auch von allen weiteren
Bezugspersonen permanente
Präsenz. Maél ist noch nicht in der
Lage, selbständig auf die Toilette zu
gehen, zu duschen, sich in einer
sinnvollen Zeitspanne ganz – und
richtig – an- oder auszuziehen.
Besonders auf Spiel- oder anderen
öffentlichen Plätzen muss er stets im
Auge behalten werden. Leider verhält
er sich gegenüber anderen Kindern
oftmals aggressiv. Weil er sich
nach wie vor weigert, feste Nahrung
zu essen, müssen wir alle Mahlzeiten
pürieren oder speziell für ihn zubereiten.
Es dauerte Jahre, bis er so
weit war, selber seinen Brei oder sein
Müesli zu löffeln.
Und Maél hat die Angewohnheit
auszubüxen. Wenn wir Glück haben
zu Fuss, wenn wir Pech haben mit
dem Velo oder Trottinett. Kürzlich
hat er es zum ersten Mal geschafft,
den Schlüssel im Schloss der Haustüre
zu drehen. Nun trägt er am
Handgelenk eine Silberkette mit
einer Plakette, auf der sein Name
und unsere Telefonnummern eingraviert
sind.
Von Anfang an besuchte ich mit
Maél das Familienzentrum unseres
Wohnortes. Bis zu drei Mal
wöchentlich hatte er dort Kontakt
mit anderen, «normalen» Kindern.
Auch für mich als Mutter, die immer
wieder von Verzweiflung und
Zukunftsängsten heimgesucht wurde,
war der Treff eine gute Möglichkeit,
unter die Leute zu kommen.
Vor der Einschulung wägten wir
die Vor- und Nachteile einer Integration
in die Regelschule und einer
Sonderschulung ab. Für uns stand
immer nur unser Sohn im Zentrum.
Schliesslich meldeten wir ihn für die
heilpädagogische Schule an. Unsere
Entscheidung haben wir noch keinen
Tag bereut; die Schule ist zu
seinem zweiten Zuhause geworden.
Langjährige Bekannte ziehen
sich zurück
Als wir nach Maéls Geburt unser
Umfeld über die Behinderung unseres
Kindes ins Bild setzten, fielen die
Reaktionen unterschiedlich aus. Viele
wussten schlichtweg nicht, wie
man auf eine solche Nachricht
reagiert. Ob man zum Beispiel gratulieren
soll (ja, man soll). Einige
langjährige Bekannte zogen sich
zurück. Auch heute noch ist die
meistgestellte Frage: «Habt ihr es
vorher gewusst?»
Wenn wir mit Maél unterwegs
sind, fallen die Reaktionen fast ausschliesslich
positiv aus. Besonders
76 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Kinder reagieren gut auf ihn. Er
wachsene dagegen können auch mal
ganz schön nerven. Indem sie starren
und flüstern. Zum Glück kommt
dies selten vor. Oder vielleicht nehme
ich es gar nicht mehr so wahr.
Etwas salopp ausgedrückt hat Trisomie
21 den Vorteil, dass man den
betroffenen Menschen ihr Handicap
auf den ersten Blick ansieht.
Als unser zweiter Sohn Elias am
20. April 2011 zur Welt kam, war
unser Glück perfekt. Natürlich stand
schon früh die Frage im Raum, was
denn wäre, wenn auch unser zweites
Kind mit einem Handicap zur Welt
käme. Da es sich bei Maél aber um
keine erblich bedingte Chromosomenveränderung
handelt, war das
Risiko, nochmals ein Baby mit Trisomie
21 zu bekommen, nicht er
höht.
Anfangs war Maél ziemlich eifersüchtig
auf das neue Familienmitglied.
Er traktierte den kleinen Bruder
oft und riss ihm die Haare
büschelweise aus. Aber wie so vieles
legte sich auch diese Phase. Die Brüder
gewöhnten sich nach und nach
aneinander. Elias lernte bald, sich zu
wehren. Rasend schnell überholte er
seinen älteren Bruder in der Entwicklung,
sprach mit eineinhalb
Jahren bereits in ganzen Sätzen. Die
zwei fanden Wege, miteinander zu
kommunizieren, zu spielen, es lustig
zu haben. Ein besonders gutes Ge
spann sind sie, wenn sie gemeinsam
uns Eltern ärgern wollen.
Elias macht gerne mit seinen Kollegen
ab. Wir haben ein offenes
Haus, die Kinder dürfen zu uns zum
Spielen kommen, wann immer wir
da sind und Zeit haben. Die meisten
nehmen zur Kenntnis, dass Elias’
Bruder speziell ist. Elias kann dies
schon gut erklären.
Als einmal ein Kind auf einem
Spielplatz sagte, Maél sei «komisch»,
erwiderte Elias: «Dä Maél isch halt
eifach de Maél.» Er war da etwa vierjährig.
Ihn stört es höchstens, wenn
wir Eltern uns seiner Meinung nach
zu intensiv um seinen Bruder küm
Als ein Kind auf dem Spielplatz
sagte, Maél sei komisch, erwiderte
Bruder Elias: «Dä Maél isch halt
eifach de Maél.»
mern. Dabei achten wir fest darauf,
dass unser Jüngster ja nicht zu kurz
kommt. Wann immer möglich
machen wir ein getrenntes Programm.
Kein Kind gleich wie das andere
Wichtig zu wissen, war und ist für
mich als Mutter, dass sich Kinder mit
Trisomie 21 noch viel weniger miteinander
vergleichen lassen als sogenannt
normale Kinder: Die Heterogenität
von Menschen mit Trisomie
21 ist enorm. Einige lernen schon als
Kind fast normal sprechen, andere
finden ein Leben lang nicht zur Lautsprache.
Einige entwickeln eine hohe
Selbständigkeit, andere brauchen ein
Leben lang Unterstützung.
Wie kommt es bei unserem Sohn
heraus? Da Maél, im Grunde ein
ausgeglichenes Kind, immer häufiger
Phasen mit sehr herausforderndem
Verhalten hat, lassen wir ihn
zur Zeit gerade durch einen Kinderpsychiater
abklären. Wenn ich mit
Maél zusammen bin, kann ich solche
und andere Probleme aber gut
beiseite schieben und mit ihm den
Moment geniessen, er gibt uns
Eltern sehr viel zurück.
Wir setzen uns keine unerreichbaren
Ziele. Was aber auch nicht
bedeutet, dass wir nichts von ihm
erwarten. Wir freuen uns über jeden
noch so kleinen Schritt, den es vorwärtsgeht.
Wenn Maél ein neues
Wort aussprechen kann. Wenn er
die Schuhe endlich richtig anzieht.
Maél macht seinen Weg, einfach auf
seine Weise und in seinem Tempo.
«Alles Glück», sagt Maél. Und
wischt einmal mehr alle meine
Zweifel und Sorgen beiseite.
>>>
Was ist Trisomie 21?
Ungefähr jedes 700. Kind kommt mit Trisomie 21 zur
Welt. Der Name rührt daher, dass bei den
betroffenen Menschen das Chromosom 21 nicht wie
gewöhnlich zwei Mal, sondern drei Mal vorhanden
ist. Dieses zusätzliche Chromosom – insgesamt 47
statt 46 – hat zur Folge, dass sich ein betroffenes
Kind deutlich anders entwickelt als ein Kind mit der
gewöhnlichen Anzahl Chromosomen.
Häufig leiden Menschen mit Trisomie 21 an
angeborenen Herzfehlern oder einer Missbildung
des Magen-Darm-Trakts. Typisch sind auch der
schwache Muskeltonus, eine verzögerte sprachliche
Entwicklung und eine kognitive Beeinträchtigung.
Per 1. März 2016 hat der Bund die Trisomie 21 in die
Liste der Geburtsgebrechen aufgenommen. Somit
übernimmt die Invalidenversicherung alle nötigen
medizinischen Behandlungen, welche damit
einhergehen, und setzt sich für die gesellschaftliche
Eingliederung ein.
Der ebenfalls häufig verwendete Ausdruck
Downsyndrom geht auf den Arzt John Langdon
Down zurück, der die Trisomie 21 im Jahre 1866
erstmals ausführlich erforschte und beschrieb.
Zur Person
Barbara Stotz Würgler, 42, ist Journalistin und
Präsidentin des Elternforums der Heilpädagogischen
Schule Bezirk Bülach. Bei ihren vielen Kontakten zu
Eltern mit Kindern mit den verschiedensten
Behinderungen stellt sie immer wieder fest, wie
anspruchsvoll das Leben mit Kindern mit Handicap
ist – aber auch, wie bereichernd es sein kann.
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
November 201777
Ernährung & Gesundheit
Generation kurzsichtig
Statt draussen zu spielen, verbringen Kinder und Jugendliche immer mehr Zeit in
geschlossenen Räumen an Smartphone, Spielkonsole und Co. Das hat auch Auswirkungen
auf die Augen. Was Eltern beachten sollten. Text: Anja Lang
Kurzsichtigkeit
hat zwischen
2000 und 2010
weltweit um
fast 30 Prozent
zugenommen.
Lara liest für ihr Leben
gern, aber was in der
Schule vorne an der Tafel
steht, kann sie nur schwer
entziffern. Wenn sie die
Augen zusammenkneift, geht es
etwas besser, aber das ist anstrengend,
denn Lara ist kurzsichtig. Das
heisst: In die Nähe sieht die Primarschülerin
gut, weiter entfernte Dinge
kann sie dagegen nur unscharf
erkennen.
Wie Lara geht es immer mehr Kindern
und Jugendlichen. «Von 2000
bis 2010 wurde eine weltweite
Zunahme von Kurzsichtigkeit um
fast 30 Prozent festgestellt», weiss Dr.
Vera Schmit-Eilenberger, Fachärztin
für Augenheilkunde mit Schwerpunkt
Kinderophthalmologie und
Netz hauterkrankungen aus Dübendorf
im Kanton Zürich.
Vor allem in einigen Ländern
Asiens und Südostasiens hat Kurz-
78 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Bild: iStockphoto
sichtigkeit, fachsprachlich Myopie
genannt, inzwischen nahezu epidemische
Ausmasse angenommen. «In
Teilen Chinas, Singapurs oder Taiwans
sind bereits bis zu 90 Prozent
der jungen Erwachsenen kurzsichtig»,
sagt Vera Schmit-Eilenberger.
Jeder zweite «Digital Native» ist
kurzsichtig
Vor rund 60 Jahren lag der Anteil
der Kurzsichtigen in der Bevölkerung
hier noch bei etwa 10 bis 20
Prozent. Aber auch in Europa und
den USA nimmt Myopie immer stärker
zu. In den USA ist die Zahl der
Kurzsichtigen in den letzten 30 Jahren
um 66 Prozent angestiegen. In
Europa zeigt sich gemäss einer 2015
vorgestellten Studie des European
Eye Epidemiology Consortium ein
ähnlicher Trend: In der Altersklasse
der 25- bis 29-Jährigen – also der
«Digital Natives» – ist bereits fast
jeder Zweite kurzsichtig.
Je höher die Bildung, desto mehr
Kurzsichtige gibt es
Lange Zeit dachte man, dass vor
allem die Vererbung bei der Entstehung
von Kurzsichtigkeit entscheidend
ist. «Bis heute sind etwa zwei
bis drei Dutzend Genorte gefunden
worden, die für Myopie verantwort-
lich sind», sagt Vera Schmit-Eilenberger.
«Damit ist nachweislich eine
genetische Disposition gegeben,
wenn Mutter oder Vater kurzsichtig
sind.»
Dennoch: Die explosionsartige
Zunahme von Kurzsichtigkeit innerhalb
weniger Jahrzehnte kann nicht
darauf zurückzuführen sein. Studien
haben untersucht, welchen Einfluss
Umweltfaktoren auf die Ausbildung
einer Kurzsichtigkeit haben. «Dabei
hat sich herauskristallisiert, dass
besonders langanhaltende Augen-
Naharbeit sowie zu wenig Tageslicht
die Entwicklung einer Kurzsichtigkeit
fördern», erklärt die Fachärztin.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt
auch die Gutenberg-Gesundheitsstudie
für Deutschland von 2015.
Demnach steigt die Zahl der Kurzsichtigen
mit der Anzahl der Bildungsjahre.
Immer öfter fehlt der Weitblick
Erste Symptome einer beginnenden
Kurzsichtigkeit treten häufig bereits
in der Kindheit auf. «Bis Ende der
Kindergartenzeit sind die meisten
Kinder noch normalsichtig», so Vera
Schmit-Eilenberger. «Das ändert
sich oft in der Primarschule. Man
spricht deshalb von der sogenannten
Schulmyopie, die typischerweise im
Wenig Tageslicht und lange
Augen-Naharbeit fördern
Kurzsichtigkeit.
Alter von 8 bis 15 Jahren auftritt.»
Also genau in der Altersphase, in der
Kinder durch Schulzeit und Hausaufgaben
viel Zeit in geschlossenen
Räumen mit Lesen, Schreiben und
Lernen – also Augen-Naharbeit –
verbringen.
Dazu kommt die in dieser Altersklasse
besonders beliebte Nutzung
elektronischer Medien in der Freizeit.
Das führt dazu, dass viele Kinder
und Jugendliche hierzulande
täglich bis zu acht Stunden und
mehr bei Kunstlicht im Nahsichtmodus
verbringen. «Wenn das
Auge überwiegend Sehangebote
bekommt, die nur wenige Zentimeter
entfernt sind, reagiert es irgendwann
mit Längenwachstum», betont
Kinderaugenärztin. Schmit-Eilenberger.
«Dies passiert umso >>>
vormals Lichter der Welt
25.-26.11.17 Zürich
Hallenstadion
24.-25.03.18 Basel
St. Jakobshalle
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
www.goodnews.ch
www.apassionata.com
November 201779
Ernährung & Gesundheit
>>> stärker, je länger die Nahfixation
dauert und je näher sich das
fixierte Objekt befindet.»
Tageslicht hat schützende Wirkung
Ausserdem weiss man inzwischen
auch, dass der Mangel an Tageslicht
eine wichtige Rolle bei der Entstehung
von Kurzsichtigkeit spielt.
«Kürzlich veröffentlichte Studien
haben ‹Outdoor activity› als eine
Schlüssel-Umwelt-Determinante für
die Myopie-Entwicklung identifiziert»,
erklärt Schmit-Eilenberger.
Wie genau Tageslicht vor Kurzsichtigkeit
schützt, ist noch nicht eindeutig
geklärt. Allerdings ist Tageslicht
bis zu 100 Mal intensiver als künstliches
Licht, und intensives Licht
fördert die Ausschüttung des Botenstoffs
Dopamin in der Netzhaut. In
Tieruntersuchungen an Hühnern
konnte ein Zusammenhang zwischen
Dopamin und dem Längenwachstum
des Augapfels beobachtet
werden, weshalb man davon ausgeht,
dass die Dopamin-Ausschüttung
durch Tageslicht das zu starke Längenwachstum
des Augapfels bremst.
Ist das Auge einmal länger ge -
wachsen und damit kurzsichtig, lässt
sich dieser Schritt nicht wieder
umkehren. Deshalb ist es wichtig,
Umweltfaktoren, die nachweislich
das Längenwachstum des Auges fördern,
frühzeitig zu meiden. «Dazu
gehört, dass sich Kinder und
Jugendliche möglichst viel im Freien
aufhalten, damit der Körper genügend
schützendes Tageslicht abbekommt»,
rät die Dübendorfer
Augenärztin. «Bei der Augen-Naharbeit
sollten ausserdem regelmässig
Pausen eingelegt werden. Dabei den
Blick ruhig auch mal in die Ferne
schweifen lassen.» Hilfreich ist auch,
den Leseabstand nicht zu kurz zu
halten. «Mindestens 30 Zentimeter
sollten es sein, besser mehr», betont
Vera Schmit-Eilenberger. Hier kann
zum Beispiel schon ein grösserer
Monitor helfen. «Jedes Kind ab dem
dritten Lebensjahr sollte ausserdem
augenfachärztlich untersucht werden,
um versteckte Sehfehler zu
erkennen, die unbehandelt nach
dem siebten Lebensjahr zu bleibenden
Sehschwächen führen können»,
appelliert die Kinderaugenärztin.
«Dasselbe gilt für Kinder kurz vor
der Einschulung und natürlich,
wenn erste Anzeichen von Kurzsichtigkeit
auftreten.»
Unterkorrektur hilft nicht
Da Kurzsichtigkeit typischerweise
voranschreitet, wird meist in regelmässigen
Abständen eine neue Sehhilfe
benötigt. Diese sollte die Kurzsichtigkeit
immer maximal gut
korrigieren. «Der Mythos, dass ein
Fortschreiten der Myopie durch eine
Unterkorrektion von Brille oder
Kontaktlinsen verhindert werden
kann, hält sich leider immer noch
hartnäckig», beklagt Vera Schmit-
Eilenberger. «Prospektive klinische
Studien zeigen jedoch, dass eine
Unterkorrektion der Myopie das
Voranschreiten nicht verhindern, ja
im Gegenteil sogar anheizen kann.»
Eine relativ neue Therapie zur
Behandlung von Kurzsichtigkeit ist
die Gabe von niedrig dosierten
Atropin-Tropfen. Sie sollen helfen,
das vermehrte Längenwachstum des
Augapfels zu bremsen. «In grossen
Studien konnte durch die Behandlung
mit Atropin tatsächlich eine
Reduktion des Voranschreitens der
Kurzsichtigkeit um etwa eine Dioptrie
pro Jahr gemessen werden»,
weiss die Augenexpertin. «Nach
dem Ende der Behandlung bildete
sich der positive Erfolg allerdings
wieder zurück.»
Eine andere Möglichkeit für die
Verlangsamung der Myopie sind
sogenannte Ortho-K-Linsen. Diese
Kontaktlinsen werden nur über
Nacht getragen und sollen eine zeitlich
begrenzte Abflachung der zentralen
Hornhaut bewirken, um die
Sehschärfe tagsüber zu normalisieren.
«Diese Methode wird vor
allem von Augenoptikern befürwortet»,
sagt Vera Schmit-Eilenberger.
«Augenärzte bemängeln jedoch
Viele Kinder verbringen
bis zu acht Stunden
im Nahsichtmodus.
hohe Kosten und das Infektionsrisiko.
Auch fehlt bislang eine aussagekräftige,
kontrollierte Langzeitstudie,
die den positiven Effekt
bestätigen würde.»
>>>
Kurzsichtigkeit – was ist das?
Kurzsichtigkeit ist die häufigste Art der Fehlsichtigkeit.
Sie wird in den meisten Fällen durch ein zu starkes
Längenwachstum des Auges verursacht. Der
Brennpunkt, also das schärfste Bild, entsteht dann
nicht mehr direkt auf der Netzhaut, sondern kurz
davor, so dass weiter entfernte Objekte entsprechend
unscharf wahrgenommen werden. Nah gelegene
Objekte werden dagegen einwandfrei gesehen. Ist
der Augapfel nur einen Millimeter zu lang, beträgt die
Höhe der Kurzsichtigkeit bereits rund drei Dioptrien.
Damit sieht der Kurzsichtige Objekte nur noch bis
zu einer Entfernung von rund 30 Zentimetern scharf.
Typisch für Kurzsichtigkeit ist ausserdem ein
Voranschreiten bis etwa zum 30. Lebensjahr.
Erste Anzeichen früh erkennen
Folgende Symptome können auf eine beginnende
Kurzsichtigkeit hinweisen:
• Häufiges Blinzeln und Zusammenkneifen der Augen,
um weiter entfernte Gegenstände zu fokussieren
• Klagen über schlechtes Sehen von weiter entfernten
Objekten, z. B. schlechte Sicht an die Tafel
• Nahes Heranrutschen an den Fernseher, um besser
zu sehen
• Wiederkehrende Kopfschmerzen und
Ermüdungs erscheinungen
Anja Lang
ist Medizinjournalistin und Mutter von drei Kindern.
Das Problem mit der zunehmenden Nutzung
elektronischer Medien bei Kindern und Jugendlichen
kennt sie selbst nur zu gut.
80 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Publireportage
Dank dem breiten Angebot an Schweizer Milchprodukten findet sich für jedes Bedürfnis etwas Passendes.
Das Beste für Eltern und Kinder
Für echte Milch gibt’s keinen Ersatz
Milch ist ein nährstoffreiches, gesundes Grundnahrungsmittel für
alle, besonders aber für Kinder. Glücklicherweise gibt es auch bei
Laktoseintoleranz passende Lösungen, denn auf Milchprodukte
zu verzichten ist keine gute Idee.
Mehr erfahren?
Weitere Informationen
und Tipps bei Unverträglichkeiten
unter
www.swissmilk.ch/
unvertraeglichkeiten
Eltern wollen für ihre Kinder natürlich das Beste.
Wenn sie vermuten, dass ihr Kind bestimmte
Lebensmittel nicht verträgt, streichen sie diese oft
in guter Absicht vom Menüplan oder ersetzen sie
durch Alternativen. Das ist aber nicht immer eine
gute Lösung.
Fragen Sie Ihren Arzt
Klagt ein Kind häufig über Bauchweh, liegt die
Vermutung nahe, dass ein Lebensmittel schuld ist.
Oft folgen dann Selbstdiagnosen und individuelle
Ernährungsexperimente. Diese können aber Nährstoffmängel
nach sich ziehen und führen meist
nur kurzfristig zu einer Besserung. Sinnvoller ist es,
die Beschwerden durch eine Fachperson abklären
zu lassen, denn die Gründe können vielfältig sein.
Wenn tatsächlich eine Laktoseintoleranz vorliegt –
die bei Kindern jedoch nur äusserst selten vorkommt
–, dann sollten Milchprodukte nicht gestrichen,
sondern gezielt ausgewählt werden. Es gibt
ein grosses Angebot an passenden, fermentierten
Milchprodukten. Gut verträglich sind Hart- und
Halbhartkäse wie etwa Emmentaler oder Tilsiter
sowie alle Jogurtsorten.
Pflanzendrinks sind kein Milchersatz
Keine gute Lösung ist es, Milch durch Pflanzendrinks
zu ersetzen. Die Ernährungswissenschaft
zeigt immer wieder, dass insbesondere Kinder
von Milch profitieren. Drei Milchportionen täglich
unterstützen den Aufbau und die Entwicklung von
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi November 2017
Knochen und Muskeln. Zudem liefern sie generell
viele Nährstoffe in idealem Verhältnis zueinander,
was für ein gesundes Wachstum äusserst vorteilhaft
ist.
Niemand kann heute abschätzen, wie sich der
Ersatz von Kuhmilch durch Pflanzendrinks langfristig
auf die Gesundheit von Kindern auswirken
wird. Es gibt dafür weder Langzeitstudien noch
genügend Erfahrung. Ernährungsfachpersonen
und Kinderärzte schätzen das Risiko eines Nährstoffmangels
mit Folgen für die körperliche und
geistige Entwicklung der Kinder als hoch ein. Denn
Pflanzendrinks sind nährstoffarm und enthalten
keine Baustoffe für das Wachstum.
!
Milchprodukte bei Laktoseintoleranz
Milch liefert ein reichhaltiges Spektrum an
Inhaltsstoffen. Davon profitieren Personen
jeden Alters, insbesondere aber Kinder.
Milchprodukte tragen viel zu einer gesunden
Ernährung bei. Deshalb sollten sie auch bei
Laktoseintoleranz auf dem Menüplan zu finden
sein. Welche Milchprodukte besonders
geeignet sind, erfahren Sie unter
www.swissmilk.ch/unvertraeglichkeiten >
Laktoseintoleranz > verträgliche Milchprodukte.
Wer von einer Laktoseintoleranz
betroffen ist, wählt
am besten gereiften Käse.
Auch Jogurt wird häufig gut
vertragen.
Schweizer Milch ist ein
Naturprodukt, sie wird
standortgerecht auf Familienbetrieben
produziert
und braucht nur kurze
Transportwege.
Milch liefert Eiweiss, Kalzium,
Vitamine und Fette für den
Aufbau von Muskeln und
Knochen. Drei Portionen am
Tag sind genau richtig.
Digital & Medial
Anderen beim
Spielen zuschauen
Sogenannte Let’s Player sind bei Teenagern voll im Trend. Nur: Was
finden Jugendliche daran, anderen beim Videospielen zuzuschauen?
Und was heisst das für die Eltern? Text: Stephan Petersen
Daniels Mutter ist ge
nervt. Gerade erst
hat sie ihren 13-jährigen
Sohn von der
Spielkonsole loseisen
können. Jetzt sitzt er am Smartphone.
«Was machst du denn da?»,
fragt sie ihn. «Ich schaue mir nur
schnell dieses Video an.» Sie blickt
über seine Schulter: «Ist das ein
Video über ein Computerspiel?» –
«Ja, ein Let’s Play!», lautet die Antwort.
«Du hast doch gerade erst
gespielt! Und das sieht nicht so aus,
als ob es ein Spiel für Dreizehnjährige
wäre. Mach jetzt dein Natel
aus!» Daniel seufzt extra laut und
legt das Smartphone zur Seite.
Schreckensschreie und zusammengebissene
Zähne live
So wie Daniel schauen Millionen
Jugendliche sogenannte Let’s Plays.
Bei Let’s play wird live gespielt.
Das heisst: Der Spieler hat das
Game vorher noch nie gespielt.
Let’s Play bedeutet «Lass uns spielen».
Es sind Videos, in denen Games
vorgeführt und kommentiert werden.
Man schaut anderen Spielern
beim Spielen zu. Vorläufer dieses
Trends waren die 2006 von Spielern
im Forum der US-amerikanischen
Webseite «Something Awful» veröffentlichten
Bilder aus von ihnen
gespielten Games. Die anderen
Forumsteilnehmer konnten direkt
darauf antworten und Anregungen
geben, wie die Spieler weiter agieren
sollten. Mit der zunehmenden Verbreitung
des Videoportals Youtube
entstand die Idee, den kompletten
Spielverlauf beim Gamen zu filmen
und zu kommentieren.
Heute filmen die Spieler sich
meist noch zusätzlich selbst. So
hören die Zuschauer nicht nur die
Kommentare, sondern sehen auch
die Reaktionen des Spielers auf das
Geschehen: zusammengebissene
Zähne in kniffligen Szenen und kurze
Schreckensschreie, wenn Unvorhergesehenes
geschieht. Das Besondere
an Let’s Plays: Es wird live
gespielt. Das bedeutet hier: Der
Spieler hat das Game vorher noch
nie gezockt und erlebt gemeinsam
mit dem Zuschauer sämtliche Situationen
zum ersten Mal.
Was als kleiner Spass für ein paar
Dutzend Zuschauer begann, ist in
den vergangenen Jahren zu einem
Millionen-Trend insbesondere bei
Teenagern geworden. 50 Prozent
aller Let’s-Play-Zuschauer sind zwischen
13 und 17 Jahre alt. Mit rund
30 Prozent machen junge Erwachsene
zwischen 18 und 25 Jahren die
zweitgrösste Gruppe aus. Das Pu blikum
ist also jung. Und noch etwas
fällt auf: Je nach Schätzungen und
Umfragen sind 70 bis 80 Prozent der
Zuschauer männlich.
Let’s play als Entscheidungshilfe
Eltern zeigen sich besorgt über den
Trend. Die meisten stehen Games an
sich schon skeptisch gegenüber. Nun
fragen sie sich: Ist es sinnvoll, dass
mein Kind passiv Videos über Computerspiele
konsumiert, anstatt
wenigstens selbst aktiv zu sein und
kreative Lösungsstrategien in einem
Game zu finden? «In den seltensten
Fällen werden Let’s Plays nur angeschaut,
ohne dass man selbst gamt»,
relativiert Isabel Willemse, Medienpsychologin
an der Zürcher Hoch
82 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Rubrik
Die Hälfte der Zuschauer
sind unter 18, ein Drittel
ist zwischen 18 und 26.
Die meisten sind männlich.
Anzeige
Bild: iStockphoto
schule für Angewandte Wissenschaften
(ZHAW). Weiter führt sie aus:
«Meist dienen sie als Entscheidungshilfe,
ob man sich das Game besorgen
soll, oder man lernt hier Tricks
und Kniffe kennen.» Die Aussage
deckt sich mit Umfragen unter
jugendlichen Let’s-Play-Zuschauern.
Andere Gründe für den Konsum der
Videospiele können fehlende Zeit
oder auch zu wenig Taschengeld für
das neueste Game sein.
Die Zuschauer ziehen aus dem
passiven Zuschauen genauso viel
Freude wie aus der aktiven Handlung.
Interpassivität (also delegiertes
Geniessen) ist bei Erwachsenen
ebenfalls sehr gut bekannt. Zum
Beispiel schauen ja viele ein Fussballspiel
im Fernsehen an, >>>
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
November 2017
Neues Profil:
Naturwissenschaften
+
(Magna)
Kurzgymnasium
Musisches Profil
Profil Philosophie/Pädagogik/Psychologie
Profil Naturwissenschaften + (Magna)
Schnuppermorgen Di 28. Nov. 2017, 7.50-12.30 Uhr
Infoabende Mo 6. und Do 30. Nov. 2017, 19.15 Uhr und
Di 9. Januar 2018, 18.15 Uhr
Gymnasium Unterstrass beim Schaffhauserplatz in Zürich
www.unterstrass.edu
Digital & Medial
Tipps für Eltern
>>> anstatt selbst über den grünen
Rasen zu rennen.
Problematisch wird es allerdings,
wenn die Kids sich Videos über
Games ansehen, die nicht ihrem
Alter entsprechen. «Es ist unmöglich,
die etwa 400 Stunden Videomaterial,
die jede Minute auf Youtube
hochgeladen werden, auf Altersfreigaben
zu überprüfen. Daher ist der
Jugendschutz von Anbieterseite
(Youtube) nicht gewährleistet. Umso
mehr sind die Eltern gefordert»,
erläutert Isabel Willemse. Doch
Problematisch wird es,
wenn sich Kids Videos über
Games ansehen, die nicht
ihrem Alter entsprechen.
• Die Altersbeschränkung für Youtube liegt bei 13 Jahren. Eine
kindgerechte Alternative ist die App YouTube Kids.
• Auf der Youtube-Website in den Einstellungen
«Eingeschränkter Modus» aktivieren. Dieser sperrt für Kinder
unangemessene Inhalte. Achtung: Der Filter bietet keine
hundertprozentige Sicherheit.
• Kinder möglichst nicht mit Youtube allein lassen, da immer
sofort das nächste Video abgespielt wird und sie auf diese
Weise rasch bei nicht kindgerechten Inhalten landen.
• Mit den Kindern und Jugendlichen besprechen, was sie auf
Youtube schauen.
• Kindern und Jugendlichen Medienkompetenz vermitteln,
damit sie mit den gesehenen Inhalten richtig umgehen
können. Die Aussagen und Moralvorstellungen ihrer
Lieblings-Let’s-Player kritisch beleuchten.
• Gemeinsam über die Einnahmequellen des Lieblings-Let’s-
Players diskutieren und die Objektivität der Let’s Player
hinterfragen. Gute Alternativen für Spielebesprechungen
sind klassische Videospiel-Magazine.
• Kids, die selbst Let’s Plays erstellen möchten, über
Urheberrechte (Games und Musik) aufklären.
nicht nur die Games, sondern auch
der Einfluss der Let’s Player – also
der Spieler selbst – können problematisch
sein. So fiel etwa PewDie-
Pie, der weltweit mit 57 Millionen
Abonnenten auf Youtube beliebteste
Let’s Player, in jüngster Zeit mit rassistischen
Kommentaren auf.
Immer gut drauf und leicht
überdreht – aber unabhängig?
Ein nicht zu unterschätzender
Grund für den Erfolg eines Let’s
Plays ist die Persönlichkeit des Let’s
Players. «Die Videos müssen witzig
sein», findet Daniel. Tatsächlich
ähneln sich die erfolgreichsten Let’s
Player in ihrer Moderationsweise. Sie
sind immer gut drauf, leicht überdreht,
reden viel und machen lustige
Kommentare und Grimassen.
Bei den Jugendlichen kommt das
sehr gut an. Um die erfolgreichsten
Let’s Player hat sich deshalb ein
regelrechter Starkult entwickelt.
Umfragen zeigen, dass rund 75 Prozent
der Follower davon überzeugt
sind, dass Let’s Player ihre eigene,
unabhängige Meinung äussern.
Das ist bei unbekannten Let’s
Playern wohl meistens der Fall. Bei
den beliebtesten Let’s Playern, die
mit den Videos ihr Geld verdienen,
darf man jedoch skeptisch sein.
Denn längst haben Game-Hersteller
die Kanäle der meistgesehenen Youtuber
als hervorragende Werbemöglichkeit
erkannt. Es gibt kostenlose
Spiele und Hardware, Product
Placement, PR-Aktionen und Werbeverträge.
Wie unabhängig werden
Die beliebtesten Let’s Player
• In der Schweiz: Diablox9 mit
1,7 Millionen Abonnenten
(viele davon aus Frankreich)
• Im deutschsprachigen Raum: Gronkh
mit 4,6 Millionen Abonnenten
• Weltweit: PewDiePie mit 57 Millionen
Abonnenten
84 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
diese Let’s Player wohl noch sein?
Let’s Player sind Vorbilder, viele
Jugendliche eifern ihnen nach.
Neben dem passiven Schauen möchten
viele Kids selbst eigene Let’s
Plays erstellen. Auf diese Weise teilen
sie ihre Erlebnisse mit Gleichgesinnten,
agieren als Experten zu
ihrem Lieblingsspiel und sind Teil
einer Community, von der es im
Idealfall viele «Likes» als Bestätigung
gibt.
Aber wie sieht das rechtlich aus?
Zurzeit dulden die meisten Spielehersteller
die Nutzung ihrer Games
für Let’s Plays, da sie den Nutzen des
Werbeeffekts als hoch einstufen.
Aber die Games und die bewegten
Bilder bleiben ihr Eigentum. Let’s
Player befinden sich in einer rechtlichen
Grauzone, wenn sie Spielmaterial
aufnehmen oder gar verändern.
Besondere Vorsicht bezüglich
des Urheberrechts ist bei Musik
geboten. Einige Youtuber sahen sich
schon mit Abmahnungskosten konfrontiert,
weil sie für ihre selbst er -
stellten Videos Songs ihrer Mu -
sikstars genutzt hatten. Im Zweifel
gilt immer: Lieber einmal zu oft bei
Herstellern nachfragen.
>>>
Stephan Petersen
ist studierter Historiker und freier Journalist.
Zu seinen Themen gehören unter anderem
Videospiele und Familie. Er ist Vater zweier
Kinder im Alter von sieben und elf Jahren.
Gamehersteller stellen den
Let’s Playern kostenlos
Hardware und Spiele zu
Verfügung. Da stellt sich die
Frage der Unabhängigkeit.
Wie sieht so
ein Let’s play
aus? Starten Sie die
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Digital & Medial
Gesundheitsbewusst?
App-solut!
Gesundheits-Apps sind die neuen
Medizinratgeber, Ernährungsberater und
Bewegungstrainer – für Erwachsene. Sind
sie auch für Kinder und Jugendliche
geeignet? Text: Michael In Albon
Bild: dolgachov
Zehntausende Gesundheits-Apps
tummeln
sich in den Stores von
Android und Apple.
Verführerisch. Doch
Apps können nur unterstützen und
keine eine eindeutige Diagnose liefern.
Ich habe einige nützliche Apps
für Eltern, Kinder und Teenager
herausgesucht und nenne Ihnen am
Schluss des Beitrags drei Prüfmerkmale
für Apps.
Zweiteiler für junge Familien
Die App «Baby & Essen» bietet Eltern
einen Essensfahrplan und nennt
die Entwicklungsschritte im ersten
Le bensjahr mit Tipps für den Alltag.
Stillende Mütter erhalten Ernährungstipps
und Informationen zur
Allergievorbeugung. Die Fortsetzung
«Kind & Essen» unterstützt mit
Ratschlägen zu gesunder Ernährung
und gesundem Aufwachsen von eins
bis drei. Den App-Zweiteiler gibt es
kostenlos für iOS und Android.
Medizinratgeber
Die App «Homöopathie für Kinder»
ist ein Nachschlagewerk. Die
Schnelldiagnose hilft, eine passende
homöopathische Auswahl zu treffen.
Dafür berücksichtigt die Medizin-
App typische Kinderbeschwerden
wie Schnupfen, Husten oder Fieber.
Sie bietet zudem Erste-Hilfe-Informationen
bei ansteckenden Kinderkrankheiten
und Verletzungen sowie
ein Globuli-Glossar. Die App gibt es
für iOS als Lite-Version gratis, die
Vollversion für vier Franken.
Lern-App Anatomie
Die preisgekrönte App «Der menschliche
Körper» ermöglicht mit einfach
gehaltenen, animierten Bildern anatomische
Einblicke in sechs Themengebiete:
Skelett, Muskeln, Nerven,
Kreislauf, Atmung und Verdauung.
Textfelder mit entsprechenden In -
forma tionen kann man sich einblenden
lassen. Ausserdem gibt es interaktive
Module zu Herz, Gehirn und
Auge. Die App ist für iOS erhältlich,
als Lite-Version kostenlos, als Vollversion
für vier Franken.
Bewegung und Ernährung
Die App «Gorilla Schweiz» gibt
Jugendlichen Tipps für mehr Bewegung,
ausgewogene Ernährung und
nachhaltigen Konsum. Freestyle-
Profis zeigen in kurzen Filmen Basics
und Tricks in den Sportarten Slalomboarden,
Streetskaten, Breakdance,
Bike, Frisbee, Freeski und Footbag.
Und Kochvideos unterstützen Teenager
beim Zubereiten von leckeren
Gerichten. Die App gibt es kostenlos
für iOS und Android.
Navigation im App-Wald
Beim Entscheid, ob eine App etwas
taugt, hilft Medienkompetenz. Und
da sind einmal mehr die Eltern als
Vorbilder und Wegbereiter gefragt.
Längst nicht alle Gesundheits-Apps
wurden von Fachleuten erstellt. Deshalb
empfehle ich, vor dem Download
ein wenig nachzuforschen. Und
zwar so: In den App-Stores von An -
droid oder Apple finden Sie und Ihre
Teenager kurze Angaben zur App
und einen Link auf die Website des
Anbieters. Prüfen Sie hier folgende
drei Merkmale.
1. Klicken Sie ins Impressum: Wer
steckt hinter der App?
2. Suchen Sie die Quellenangaben:
Von welcher Organisation oder
aus welchem Kreis von Fachleuten
stammen die Informationen und
Empfehlungen?
3. Datenschutz: Welche persönlichen
Daten von Ihnen werden
gespeichert?
Michael In Albon
ist Beauftragter Jugendmedienschutz
und Experte Medienkompetenz von
Swisscom.
Auf Medienstark finden Sie Tipps und interaktive
Lernmodule für den kompetenten Umgang mit
digitalen Medien im Familienalltag.
swisscom.ch/medienstark
86 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Finanzpartner Hauptsponsoren Heftsponsor
Dr. iur. Ellen Ringier
Walter Haefner Stiftung
Credit Suisse AG
Rozalia Stiftung
UBS AG
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Impressum
17. Jahrgang. Erscheint 10-mal jährlich
Herausgeber
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Präsidentin des Stiftungsrates:
Dr. Ellen Ringier, ellen@ringier.ch,
Tel. 044 400 33 11
(Stiftung Elternsein)
Geschäftsführer: Thomas Schlickenrieder,
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Redaktion
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Evelin Hartmann (stv. Chefredaktorin),
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Postkonto 87-447004-3
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Inhaltspartner
Institut für Familienforschung und -beratung
der Universität Freiburg / Dachverband Lehrerinnen
und Lehrer Schweiz / Verband Schulleiterinnen und
Schulleiter Schweiz / Jacobs Foundation /
Elternnotruf / Pro Juventute / Interkantonale
Hochschule für Heilpädagogik Zürich /
Schweizerisches Institut für Kinder- und
Jugendmedien
Stiftungspartner
Pro Familia Schweiz / Pädagogische Hochschule
Zürich / Elternbildung CH / Marie-Meierhofer-
Institut für das Kind / Schule und Elternhaus
Schweiz / Schweizerischer Verband
alleinerziehender Mütter und Väter SVAMV /
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Der beste Papa
der Welt kann
sogar auf
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Michi und Papa
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Der fünfjährige
Michi und sein
Papa erleben in diesen warmherzigen
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Und wenn Michi nachts böse Träume
quälen, weiss sein aufmerksamer
Papa immer einen Rat.
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Als Rollenvorbilder haben (vor)lesende
Väter in der Lesesozialisation ihrer Söhne
eine wichtige Funktion. Zum Vorlesen
eignen sich alle Bücher, die beiden
gefallen – trotzdem präsentieren wir Ihnen
hier Geschichten über spezielle, verrückte
und besonders enge Vater-Sohn-Teams.
Wenn der Vater mit dem Sohne
Christian
Tielmann: Der
Tag, an dem wir
Papa umprogrammierten
Statt des sicherheitsfanatischen
Vaters kümmert
sich plötzlich ein Roboter um Carlo
und seine Schwester – und den kann
man so umprogrammieren, dass er
alles erlaubt! Ein Lesespass mit
vielen Slapstick-Momenten.
dtv junior 2017, Fr. 16.90,
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Bilder:ZVG
In der Scheune wohnt ein
Rudel Tiger, auf dem Müllhaufen
eine Giraffe, die gerne
Betten frisst, und im Wald der
Urahne, dem Masarin, Loranga
und Dartanjang zu Weihnachten
ein paar Körnchen hinstreuen. Im
Schwimmbecken schwimmen
Hechte, und ab und zu schaut Gustav,
der Gefängnisinsasse, auf eine
Tasse Kaffee vorbei.
Und es geht noch verrückter:
Denn der Junge Masarin ist der vernünftigste
Bewohner des kleinen
Idylls in Schweden. Sein Papa
Loranga trägt gerne einen Teewärmer
auf dem Kopf, hört laut Popmusik
und ändert die Spielregeln stets
zu seinen Gunsten. Grossvater Dartanjang
hält sich mal für einen
India nerhäuptling, mal für einen
Hund und trägt den lieben langen
Tag Zahlen in erdachte Tabellen ein.
Gegessen wird Schokoladenpudding
mit Rahm, und arbeiten muss hier
niemand («Und wer soll bitte schön
Popmusik hören, wenn ich nicht zu
Hause bin? Ich frag ja nur.»).
Herrlich verdreht sind die Loranga-Geschichten
von Barbro Lindgren.
Dass sie in den Siebzigerjahren
entstanden sind, erkennt man an der
fröhlichen Lust, mit der Autoritäten
ignoriert und Machtverhältnisse
umgekehrt werden.
Jetzt sind die zwei Bände in
einem Buch neu übersetzt auf
Deutsch erschienen. Ein Vorlesespass
für wilde Väter und brave Söhne
– oder umgekehrt.
Barbro Lindgren:
Loranga: Der
beste Papa der
Welt.
Woow Books
2017,
Fr. 21.90,
ab 7 Jahren
Gudrun Skretting:
Mein Vater, das
Kondom und
andere nicht ganz
dichte Sachen
Anton ist überzeugt:
Sein Vater braucht
eine neue Frau. Da kommt es nicht
nur im Strickkurs zu Verwicklungen,
und eine urkomische Szene reiht sich
in diesem kurzweiligen Jugendroman
an die nächste.
Carlsen 2016, Fr. 21.90,
ab 12 Jahren
Verfasst von Elisabeth Eggenberger,
Mitarbeiterin des Schweizerischen
Instituts für Kinder- und
Jugendmedien SIKJM.
Auf www.sikjm.ch/rezensionen sind
weitere B uch empfehlungen zu finden.
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
November 201789
Eine Frage – drei Meinungen
Unsere Söhne sind im Fussballverein. Der Elfjährige seit ein paar Jahren,
der Neunjährige seit einigen Monaten – mit grossem Erfolg. Der Kleine scheint
ein Naturtalent zu sein und wird vom Trainer ständig gelobt. Das setzt dem
Älteren zu. Wir wollen uns natürlich mit unserem jüngeren Sohn freuen –
ohne den älteren zu verletzen. Wie machen wir das am besten?
Klaus, 39, Olten SO
Nicole Althaus
Es ist wohl eine der härtesten
Lektionen, die der Mensch im
Leben zu lernen hat: Es gibt
immer jemanden, der etwas
besser kann als man selbst.
Und nicht jeder ist in jedem
Fach begabt. Aber jeder hat
irgendwo Stärken. Freuen Sie
sich mit dem Jüngeren über
seinen Erfolg. Und loben Sie den Grossen in einem
Feld, in dem er den Kleinen übertrumpft. Es findet sich
ganz bestimmt eines.
Tonia von Gunten
Freuen Sie sich mit dem
Jüngeren, doch stärken Sie
das Selbstwertgefühl des
Älteren und sagen Sie: «Wie
ist das für dich, wenn dein
Bruder vom Trainer so gelobt
wird und du nicht? Ist sicher
enttäuschend für dich, du
spielst ja schon viel länger
Fussball.» Trösten Sie ihn nicht damit, indem Sie seine
andern Fähigkeiten aufzählen: «Dafür bist du gut in
Mathe!», sondern finden Sie zusammen heraus, ob er
sich noch fürs Fussballspielen begeistert oder nicht. Es
ist schön, wenn Kinder sich in der Freizeit mit Dingen
beschäftigen dürfen, die ihnen Spass machen.
Peter Schneider
Die Erfahrung, dass der
Jüngste besser tschuttet,
werden Sie dem Älteren nicht
ersparen können. Das merkt
er schliesslich auch selber.
Freuen Sie sich mit dem
Jüngeren und freuen Sie sich
– bei anderer Gelegenheit –
auch mit dem Älteren, und
haben Sie Verständnis dafür, dass ihm der Erfolg des
Bruders Bauchschmerzen bereitet; aber machen Sie
keine Aktionen der Ausgewogenheit daraus. Denn das
wäre für den Älteren eine Herablassung.
Nicole Althaus, 48, ist Kolumnistin, Autorin
und Mitglied der Chefredaktion der «NZZ am
Sonntag». Zuvor war sie Chefredaktorin von «wir
eltern» und hat den Mamablog auf «Tagesanzeiger.
ch» initiiert und geleitet. Nicole Althaus ist Mutter
von zwei Kindern, 16 und 12.
Tonia von Gunten, 44, ist Elterncoach, Pädagogin
und Buchautorin. Sie leitet elternpower.ch, ein
Programm, das frische Energie in die Familien
bringen und Eltern in ihrer Beziehungskompetenz
stärken möchte. Tonia von Gunten ist verheiratet
und Mutter von zwei Kindern, 11 und 8.
Peter Schneider, 59, ist praktizierender
Psychoanalytiker, Autor und SRF-Satiriker («Die
andere Presseschau»). Er lehrt als Privatdozent
für klinische Psychologie an der Uni Zürich und
ist Professor für Entwicklungspsychologie an
der Uni Bremen. Peter Schneider ist Vater eines
erwachsenen Sohnes.
Haben Sie auch eine Frage?
Schreiben Sie eine E-Mail an:
redaktion@fritzundfraenzi.ch
Bilder: Anne Gabriel-Jürgens / 13 Photo, Pino Stranieri, HO
90 November 2017 Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Die Herausforderungen an Sie als Eltern
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