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Kinobuch:Beginn+Inhalt

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Reto Andrea Savoldelli<br />

RUDOLF STEINER<br />

ÜBER DAS KINO<br />

zur Genealogie des Films<br />

SeminarVerlag / Basel


Zur Förderung des Geistigen im Film<br />

Den zukünftigen Filmschaffenden gewidmet,<br />

die sich mit dieser Studie befassen werden


© Reto Andrea Savoldelli, 2017<br />

SeminarVerlag/Basel, im Lohnhof 8, CH-4057 Basel<br />

ISBN 978-3-9523828-9-9<br />

mein inniger Dank geht<br />

- an Jörg Lamprecht (✝ 2010) für seine im Sommer 2003 erfolgte<br />

Aufforderung zur Wiederbelebung des Hieronymus-Filmprojekts<br />

- an Jutta Knobel-Weitz für ihr beharrliches Drängen, das in einer<br />

Schublade begrabene Hieronymus-Drehbuch in einen gleichnamigen<br />

Roman zu verwandeln<br />

- an Wolf Otto Pfeiffer von "Filmgeist", Berlin, der dieser Studie zu<br />

ihrem Titel verhalf<br />

- an Петер Ремпель, der mit grossem Verständnis für meine<br />

frühen Filme diesen in Moskau einige Aufmerksamkeit verschafft


Reto Andrea Savoldelli<br />

Rudolf Steiner über das Kino<br />

zur Genealogie des Films<br />

SeminarVerlag | Basel


Prolog<br />

Joseph Vogelsang verlässt die Einsiedelei bei Solothurn (Soleure,<br />

Suisse) und macht sich auf den Weg nach Hause. Vorbei an der Felsenhöhle,<br />

in der die heilige Verena vor vielen Jahrhunderten gelebt<br />

hat, vorbei am Haus des Eremiten und am nachgebildeten Garten<br />

von Gethsemane, in dem die Jünger in jener dunklen Nacht versagten,<br />

an einem Felsengrab der Maria Magdalena und an drei Kreuzen<br />

des solothurnischen Golgotha vorbei, vor denen sich Vogelsang bekreuzt.<br />

Nebenan die Kirche "Kreuzen", eine verkleinerte Nachbildung<br />

der Grabeskirche in Jerusalem. Die ganze Schlucht scheint eine begehbare<br />

Devotionalie zu sein. Für Vogelsang jedoch ist es die kostbare<br />

Vorlage, der er sein Ingenium widmen will. "Eine heilige Landschaft,<br />

die alle Menschen, wo sie auch leben, sehen sollen!"<br />

Er eilt in seine nahe Werkstadt, um mit der Nachbildung des<br />

Abbilds zu beginnen. Die ganze Einsiedelei will er nachbauen, mitsamt<br />

der Klause des Eremiten und dem forellenreichen Bach, der die<br />

beiden Kapellen trennt. All dies baut er in einem Guckkasten nach. 1 -<br />

Ihn wird er vierzehn Jahre lang durch viele Städte Europas wie eine<br />

Schubkarre an festen Holmen vor sich her schieben.<br />

Damals liessen Vogelsangs Anpreisung viele durch eines der<br />

beiden Gläser in den Kasten schauen. Entweder durchs ungeschliffne<br />

Fensterglas links oder durch die Lupe rechts. Und wen es noch weiter<br />

auf eine Raum- und Zeitreise zu begeben drängte, der liess sich von<br />

Vogelsang kastenseitwärts ein kleines Türchen aufschliessen, durch<br />

das er eine Kerze in Verenas Kapelle entfachen und an einer Schnur<br />

ziehen konn-te, um das Glöckchen im Turm über dem Felsen bimmeln<br />

zu lassen.<br />

Bis hinauf in die Kantstadt Königsberg (heute das russische<br />

Kaliningrad) ist eine Reise Vogelsangs bezeugt. Das Gästebuch, das<br />

er neben den Schaukasten auf den Tisch legte, an dem er sass und<br />

1<br />

Er findet sich heute im Museum Blumenstein in Solothurn in 10 min. Fuss-<br />

Entfernung von der Verenaschlucht. - Siehe die Abbildungen am Schluss des<br />

Buches. © für die Fotos: Museum Blumenstein.<br />

5


auf Neugierige wartete, hat sich erhalten. Es enthält manche Lobesbezeugung<br />

aus dem damaligen Hochadel, vom Kaiser Ferdinand in<br />

Prag über die grossherzögliche Hofschaft von Baden und von Hessen,<br />

von der Königin von Hannover bis zur Königin der Niederlande, die<br />

Vogelsang mit seinem Guckkasten in Interlaken aufsuchte. Im folgenden<br />

daraus zwei Eintragungen aus dem Geburtsjahr Rudolf Steiners:<br />

• «Ihre Majestät, die verwitwete Königin von Preussen und Ihre Königliche<br />

Hoheit die Grossherzogin Mutter von Meklenburg und die Prinzessinnen<br />

Töchter Seiner Lieben Frau des Prinzen Karl von Preussen haben heute die<br />

interessanten Darstellungen des Herrn Vogelsang besichtigt, worauf ich<br />

demselben mit der Bemerkung bezeuge, dass derselbe allseitig damit Ehre<br />

eingelegt hat, mit solcher Geschicklichkeit die Natur nachgebildet zu haben.»<br />

Potsdam, 23.Mai 1861<br />

• «Die mikroplastischen Darstellungen des Herrn Vogelsang haben mein<br />

Interesse auf’s Lebhafteste in Anspruch genommen. Auf das äusserste<br />

kunstvoll gearbeitet, mit kaum begreiflicher Feinheit der Darstellung im<br />

Einzelnen, wird doch das Ganze durch den tiefgoethischen Sinn des Verfertigers,<br />

der mit ganzer Seele in der von ihm dargestellten Natur lebt und<br />

webt, zum wirklichen Kunstwerk erhoben und die unübertreffliche Wiedergabe,<br />

sei es im Charakter des Ganzen, sei es in der Richtigkeit der zartesten<br />

Details, macht diese Arbeiten auch für den beschauenden Naturforscher<br />

höchst interessant.»<br />

Jena, den 13.Dezember 1861, gez. Prof. M.R. Schleidenach, Professor in Jena<br />

Rund hundert Jahre später schaute auch das Bübchen, das ich damals<br />

war, in Vogelsangs Guckkasten, den man in einer dunklen Ecke unter<br />

dem grossen Treppenaufgang des Solothurner Kunstmuseums eingelagert<br />

hatte. Und wieder einmal verlor sich jemand in seiner wundersamen<br />

Miniaturwelt, die ein Modell eines in Realgrösse konzipierten<br />

anderen Modells von urbildlichen Vorgängen in Jerusalem darstellte.<br />

Und da ich, wie sonst wenige von Vogelsangs Kunden, die Verenaschlucht<br />

als das zentrale Ausflugziel der frommen Schwestern des<br />

Kinderhortes, in dem ich die ersten Lebensjahre verbrachte, in- und<br />

auswendig kannte, erregte das Wiedererkennen die Phantasie des<br />

etwa Achtjährigen in ganz besonderem Masse. Meine seelische Aufmerksamkeit<br />

tauchte ganz in Vogelsangs Kasten ein und schwebte<br />

6


zwischen den vertrauten Dingen, die sie da in fremdartig anderer Art<br />

erblickte.<br />

Viele Jahre später teilte eine Szene meines Filmes Stella da<br />

Falla (1971) 2 Joseph Vogelsangs Begeisterung für die Solothurner<br />

Einsiedelei. In ihr wird dem Zuschauer gezeigt, wie die Hauptfigur<br />

des Films, die sich zum Schluss Stella da Falla nennt, in der Verenaschlucht<br />

Bruder Niklaus, dem damals real amtierenden Eremiten, zur<br />

Hand geht. In einer Einstellung liest sie in einer prachtvoll bebilderten<br />

Bibel die folgenden Sätze:<br />

"Und die Jünger traten hinzu und fragten ihn: Warum redest<br />

du in Gleichnissen zu ihnen? Er aber antwortete und sprach zu ihnen:<br />

Weil es euch gegeben ist, die Geheimnisse des Himmelreiches zu<br />

verstehen, jenen aber ist es nicht gegeben; denn wer hat, dem wird<br />

gegeben und überreichlich gewährt werden; wer aber nicht hat, von<br />

dem wird selbst das, was er hat, genommen werden. Darum rede ich<br />

in Gleichnissen zu ihnen, weil sie sehen und doch nicht sehen, hören<br />

und doch nicht hören noch verstehen."<br />

"Sehen, und doch nicht sehen noch verstehen": Wir werden<br />

sehen, was das mit dem Kino zu tun hat.<br />

2<br />

Siehe die Abbildungen am Schluss des Buches. Für das Filmschaffen von<br />

R.A.Savoldelli siehe www.HieronymusFilm.ch<br />

7


Vogelsangs Schaukasten


Einblick in Vogelsangs Schaukasten: die Ermitage St.Verène


In der Ermitage St.Verène: eine Szene aus dem Film "Stella da Falla"<br />

(1971). Links der Autor, rechts Bruder Niklaus.


Prolog<br />

Joseph Vogelsang und sein geheimnisvoller Guckkasten ☐ Der Guckkasten<br />

und der Autor ☐ Die Einsiedelei der Solothurner Verenenschlucht 5<br />

1 Zur Erfindungsgeschichte des Kinos ☐ Taumel und Schock in der Zeit 8<br />

seines Auftretens ☐ "Sehen und doch nicht Sehen, Hören und doch<br />

nicht Hören" ☐ Das Reden in Gleichnissen<br />

2 Rudolf Steiners Beobachtungen im Kinosaal ☐ Der Berliner Kinoboom 11<br />

☐ Die Grundfrage von Schein und Sein, von Kunst und Medium ☐ Kino,<br />

"das hypnotische Monstrum" (Pasolini)<br />

3 Die vierstufige Wirklichkeit (Wahrnehmung - Bild - Begriff - Wesen) 15<br />

☐ Der Kampf gegen die Psychologie als Erfahrungswissenschaft<br />

☐ Franz Brentano und B.F. Skinner ☐ Der Behaviorismus als theoretische<br />

Grundlage für die Manipulationstechniken der Filmindustrie ☐ Ihre<br />

Grundmuster: Lachen / Weinen / Erschrecken / Verfolgungsjagd / Erotik<br />

☐ Eine kunstherapeutische Prophezeiung<br />

4 Die philosophischen Grundpositionen in der medienwissenschaftlichen 26<br />

Pionierzeit ☐ Von Béla Balázs bis Siegfried Kracauer ☐ Moralische und<br />

ästhetische Bedenken ☐ Franz Kafka, Edvard Munch ☐ Erkenntnisse beim<br />

Besuch einer Monet-Ausstellung ☐ Wirklichkeitsferne und Wirklichkeitsnähe,<br />

zwei Faszinationsformen des Kinos ☐ Die Filmpioniere Lumière und<br />

Meliès<br />

5 Steiner über Kino am 27. Feb.1917 in Berlin ☐ Verständnishilfe für 36<br />

"ätherisch glotzäugig werden" ☐ Die Funktion des Scheins zwischen<br />

Sein und Nichts ☐ Der gute und der schlechte Schein ☐ Michael Ende<br />

über Steiners Filmverständnis ☐ Steiner über Kino am 11. Juli 1923 in<br />

Stuttgart ☐ Verhältnishilfe für "Sucht nach Wirklichkeit" ☐ Das spirituelle<br />

Verständnis von P.P.Pasolini ☐ Die psychologische Normierung der<br />

Filmhelden ☐ Der Hang zum Psychopathologischen im Genre-Kino ☐<br />

Sucht und Therapie ☐ Wie könnte eine evtl. Filmkunst einen Beitrag zur<br />

'ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts' (Schiller) liefern?<br />

6 Eine Mitteilung in Info3 im April 1983 über Rudolf Steiners Versuch, einen 48<br />

Film mit dem Thema von Wiederverkörperung und Schicksal zu produzieren<br />

☐ Seine besorgniserregenden Prophezeiungen im Fall einer geistig<br />

nicht ins Gleichgewicht gebrachten „Sucht nach Sinneswirklichkeit“ ☐<br />

Die korrespondierenden Intentionen des Autors mit denen Rudolf Steiners<br />

☐ Das Filmprojekt „Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss“ (1973)<br />

und seine 30-jährige Entwicklungsgeschichte<br />

7 Die von Rudolf Steiner zusammen mit Jan Stuten verfolgte Licht-Spiel- 55<br />

Kunst ☐ Die Erweiterung der Raumgestaltung durch maschinell ungestützte<br />

Lichtraumbewegung durch Jan Stuten und Hans Jenny ☐ Das<br />

Projekt „Furcht“ ☐ Sein Zusammenhang mit dem Film ☐ Die Nutzung<br />

Stuten’scher Vorleistungen in Walt Disneys Film „Fantasia“ (1940)


8 Zur Glaubwürdigkeit der Mitteilung von J.E. Zeylmans van Emmichoven ☐ 64<br />

Fünf voraussetzende Erwägungen für eine Filmkunst im Sinne Steiners:<br />

a) Seine kritischen Äusserungen bleiben in Kraft<br />

b) Die Suche nach genuin filmkünstlerischen Ausdrucksmitteln, unberührt<br />

von der Frage des Inhaltes, ist das für die Filmgeschichte Wesentliche<br />

c) Der Bruch der Mysteriendramen Steiners mit dem konventionellen<br />

Theater von damals und heute<br />

d) Die naturalistische Reproduktion des Films im Dienst einer Vergeistigung<br />

der Filmkunst<br />

e) Eine spirituelle Grundlage hierzu: die testamentarischen drei letzten<br />

„Leitsätze“ Rudolf Steiners<br />

9 Steiners prophetische Warnungen einer menschenzerstörenden, techno- 68<br />

kratischen Zivlisationsform ☐ Erkennen der Entwicklungsbedingungen<br />

des menschlichen Geistes und die phantastischen Gegenentwürfe des<br />

ScienceFiction-Films als Infusion betäubender Zukunftsvorstellungen<br />

ahrimanischer Stossrichtung ☐ Blick auf sieben ScienceFiction-Filme von<br />

Matrix bis StarWars ☐ Transhumanismus als ahrimanische Inspiration<br />

☐ Der „anthroposophische“ Hintergrund des StarWars-Universums<br />

10 Die Nostalgie des in den 60-er Jahren entstandenen Autorenkinos ☐ 78<br />

Filmtheoretische Beiträge einiger Filmautoren wie Godard, Bresson, u.a.<br />

☐ Gibt es eine Filmsprache? ☐ Wie kommt Geist in den Film, wenn der<br />

Zuschauer dabei betäubt bleibt? ☐ Die „nouvelle vague“ vs russisches Kino,<br />

Poesie vs Dokumentation, Reproduktion vs Kreation ☐ Rückgriff auf die<br />

Genealogie des Kinos anhand des Gegensatzes von Lumière und Meliès<br />

11 Die Beiträge der drei Filmregisseure Pier Paolo Pasolini, Eric Rohmer 90<br />

und Andrej Tarkowskij zu einer Entwicklung der filmkünstlerischen<br />

Phantasie und die von Steiner geforderte imaginationsfördernde<br />

Behandlung von Schicksal und Wiederverkörperung ☐ Ausführliche<br />

Erörterung hierzu<br />

12 Das zwischen Alexander Kluge und Andrej Tarkowskij bewegte Projekt 111<br />

einer Verfilmung von Rudolf Steiners "Aus der Akasha-Chronik" ☐ Dabei<br />

aufgetretene filmtheoretische Fragestellungen<br />

13 Rudolf Steiners Filmprojekt als Grundlage einer Vergeistigung des Films 127<br />

und der Filmkunst ☐ Begründung ☐ Die zunehmende Differenzierung von<br />

Filmproduktion und Vertriebsformen ☐ Nischen- oder Massenfilm? Pasolini<br />

hierzu ☐ Das allmähliche Entstehen der Unter-Natur ☐ Die damit auftretende<br />

evolutive Gefahr und ihre Überwindung ☐ Von der Bildung des<br />

"Denkblicks" im Denkstau ☐ Vom Heraufheben des individuellen Willens<br />

ins Bewusstsein<br />

Epilog 141<br />

Vogelsangs Rückreise ☐ Am Boden zerstört ☐ Hitzschlag und Vision<br />

Anhang 144

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