Landschaftsvertrag – Zur kritischen Rekonstruktion der Kulturlandschaft
ISBN 978-3-86859-507-9 https://www.jovis.de/de/buecher/landschaft/product/landschaftsvertrag.html
ISBN 978-3-86859-507-9
https://www.jovis.de/de/buecher/landschaft/product/landschaftsvertrag.html
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ProfeSSur für LaNDSchaftSarchItektur regIoNaLer freIräume<br />
techNISche uNIverSItät müNcheN<br />
SöreN SchöBeL (hg.)<br />
LaND — SCHAFTS|VERTRAG<br />
zur krItIScheN rekoNStruktIoN Der kuLturLaNDSchaft
INHALT<br />
Im üBerBLIck | BEGRIFFE |6|<br />
eINLeItuNg 9<br />
StaDt uND LaND<br />
DIETER HOFFMANN-AXTHELM . PLaNuNgSkuLtureN IN StaDt uND LaND 27<br />
Im geSPräch | MARTINA LÖW . methoDeNLaBor uND reSoNaNzraum 53<br />
KENNETH ANDERS . LaNDSchaft Im WaNDeL 61<br />
Im üBerBLIck | GESELLSCHAFTSVERTRAG |70| krItISche rekoNStruktIoN |72| LaNDNutzuNg |74|<br />
traNSformatIoNeN Der kuLturLaNDSchaft<br />
Im geSPräch | WOLFGANG HABER . DIffereNz Der LaNDSchaft 85<br />
HANSJÖRG KÜSTER . geBrauch uND IDee Der LaNDSchaft 95<br />
WERNER KONOLD . LaNDSchaftSDyNamIk — vom eINgrIff zur eIgeNart 111<br />
MARTIN HELD . große traNSformatIoN zur NachhaLtIgkeIt 133<br />
koNzePtIoNeN Der LaNDSchaft<br />
Im geSPräch | ROLF KUHN . LaNDSchaft Nach vorNe DeNkeN 147<br />
Im geSPräch | PETER LATZ . INformatIoNSDIchte voN LaNDSchaft 155<br />
LARS HOPSTOCK . matterNS LaNDSchaftSaufBauPLaNuNg 165<br />
JÜRGEN WENZEL . voN Der magIe DeS reaLeN 185<br />
Im geSPräch | HOLGER MAGEL . WIr BraucheN eINe Neue LaNDSchaftSBeWeguNg! 193<br />
StruktureN uND BauSteINe eINeS LaNDSchaftSvertragS<br />
MICHAEL SCHMÖLZ . zum geBrauchSWert eINer LaNDSchaft 207<br />
ALEXANDRA BAUER . aLLtagSLaNDSchaft 231<br />
JULIAN SCHÄFER . Der SozIaLe raum Der freIeN LaNDSchaft 247<br />
SABINE KERN . LaNDSchaftSmoDuLor 267<br />
SÖREN SCHÖBEL . BauSteINe eINeS NeueN LaNDSchaftSvertragS 289<br />
Im üBerBLIck | euroPäIScheS LaNDSchaftSüBereINkommeN |314|
Im üBerBLIck | BEGRIFFE<br />
kuLturLaNDSchaft umfasst den gesamten und zu je<strong>der</strong> zeit vom menschen kultivierten erdraum, also<br />
auch intensiv genutzte Wirtschaftsräume, Stadtlandschaften sowie verlassene gebiete (vgl. Wikipedia:<br />
kulturlandschaft). „Während <strong>der</strong> Begriff ‚Landschaft‘ also die mehr o<strong>der</strong> weniger reflektierte aneignung<br />
<strong>der</strong> Natur bezeichnet, verweist <strong>der</strong> Begriff ‚kulturlandschaft‘ auf die mehr o<strong>der</strong> weniger als erfolg<br />
wahrgenommene und bewertete gestaltung dieses Prozesses und seiner folgen.“ (kenneth an<strong>der</strong>s) „Unter<br />
kulturlandschaft verstehe ich einen Landschaftszustand, <strong>der</strong>, ob noch o<strong>der</strong> wie<strong>der</strong>, eine Balance hält<br />
zwischen eingriff und Naturprozess, also durchaus die reale menschengemachte Landschaft, aber zu<br />
bewahren vor bzw. wie<strong>der</strong> zu befreien ist von jenen technischen großeingriffen aller art, welche die<br />
Balance gekippt haben o<strong>der</strong> zu kippen drohen. Insofern wäre kulturlandschaft die menge noch nicht<br />
o<strong>der</strong> nicht mehr durch Schnellverkehre, energieproduktion, Industrie, handel, Logistik o<strong>der</strong> Braunkohletagebau<br />
verzehrten Landes.“ (Dieter hoffmann-axthelm) „es ist ganz und gar unbestritten, dass <strong>der</strong> geschichtliche<br />
Gehalt <strong>der</strong> <strong>Kulturlandschaft</strong>en bewahrt — dies auch im Zuge <strong>der</strong> Landschaftsplanung — und<br />
bewusst gemacht werden muss. Beim Wissen um diesen gehalt sehe ich allerdings noch große Lücken.<br />
erste aufgabe ist es daher, diese Lücken zu schließen.“ (Werner konold) „Befasst man sich mit Landschaft<br />
aus wissenschaftlicher Perspektive, gilt es zu erkennen, was natürliche und was kulturelle komponenten<br />
einer Landschaft sind. Bei den kulturellen komponenten muss sowohl an die Prägung durch Nutzung<br />
gedacht werden, an<strong>der</strong>erseits an die (kulturellen) Ideen, die man mit bestimmten Landschaften verknüpft.“<br />
(hansjörg küster)<br />
LaNDeSkuLtur | ist die ordnung und technik zur verbesserung das Landes: die Bodenordnung | auch<br />
Land management, Land care, flurneuordnung bzw. -bereinigung, umfasst alle strukturellen maßnahmen<br />
zur verbesserung <strong>der</strong> Landnutzung; die Kulturtechnik | arbeitet an <strong>der</strong> Bodenerhaltung und -verbesserung<br />
(melioration), Bewässerung, Wasser- und abfallwirtschaft, dem Wegebau, hochwasser-, Lawinen-,<br />
hang- und küstenschutz sowie umweltschutz.<br />
LaNDeNtWIckLuNg | o<strong>der</strong> | Integrierte Ländliche entwicklung (ILe) dient als erweiterung <strong>der</strong> Bodenordnung<br />
<strong>der</strong> wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen entwicklung ländlicher räume.<br />
LaNDeSPfLege / LaNDSchaftSPLaNuNg | ist die Querschnitts- und räumliche Gesamtplanung <strong>der</strong><br />
Landschaft.<br />
LaNDSchaftSSchutz / LaNDSchaftSPLaNuNg | ist als fachplanung mit <strong>der</strong> erhaltung <strong>der</strong> Nutzbarkeit<br />
natürlicher ressourcen, <strong>der</strong> Leistungsfähigkeit des Naturhaushaltes, des Landschaftsbildes in seiner<br />
Funktion für die Erholung sowie <strong>der</strong> kulturhistorischen Eigenarten <strong>der</strong> Landschaft befasst.<br />
LaNDSchaftSPfLege | ist die von gemeinnützigen vereinen aus vertretern <strong>der</strong> kommunalpolitik, <strong>der</strong><br />
Landwirtschaft und des Naturschutzes getragene a) erhaltende, b) optimierende, c) sichernde, d) neugestaltende<br />
und e) verwertende Pflege einer artenreichen und vielfältigen kulturlandschaft.<br />
LaNDSchaftSarchItektur | ist entwerfen, Planung und gestaltung von nicht bebautem raum mit dem<br />
ziel, sozial, ästhetisch und ökologisch qualitätvolle freiräume und Landschaften zu schaffen.<br />
LaNDSchaftSkoNveNtIoN | ist das europäische übereinkommen zur gemeinsamen för<strong>der</strong>ung, Schutz,<br />
Pflege und gestaltung von kulturlandschaften als wesentlicher Bestandteil von Lebensqualität in allen,<br />
ländlichen wie städtischen, schönen als auch gewöhnlichen gebieten.<br />
LaNDeSPLaNuNg | ist die umsetzung <strong>der</strong> ziele <strong>der</strong> raumordnung auf Län<strong>der</strong>ebene in form eines konkreten<br />
entwicklungsprogramms o<strong>der</strong> auch eines Plans zur Steuerung u.a. <strong>der</strong> Daseinsvorsorge und <strong>der</strong><br />
flächennutzung.<br />
LaNDWIrtSchaft | ist die urproduktion genannte Bewirtschaftung von fläche zur erzeugung pflanzlicher<br />
o<strong>der</strong> tierischer erzeugnisse.<br />
LaNDNutzuNg | als kategorie des vermessungswesens umfasst in vier flächennutzungsbereichen<br />
1 Siedlung — 2 verkehr — 3 vegetation — und 4 gewässer sechsundzwanzig Nutzungsartengruppen: so<br />
wird 3 vegetation unterschieden in 31 Landwirtschaft — 32 Wald — 33 gehölz — 34 heide — 35 moor —<br />
36 Sumpf — 37 unland.<br />
LaNDeSverSchöNeruNg | ist die historische Verbindung von LaNDeSkuLtur und LaNDSchaftSarchI-<br />
TEKTUR als feudales und bürgerliches Projekt <strong>der</strong> aufklärung, restauration und frühen mo<strong>der</strong>ne.
Einleitung
EINLEITUNG voN SöreN SchöBeL<br />
Obwohl dieses Buch von <strong>der</strong> Landschaft des Landes handelt, beginnen wir mit<br />
einem Blick auf die Stadt, weil dort in den letzten Jahren ein neues Verständnis von<br />
Landschaft entstanden ist. Sie ist nicht mehr das ‚gesunde‘ Gegenüber <strong>der</strong> ‚kranken‘<br />
Stadt, aufzulösen in <strong>der</strong> Stadtlandschaft, wie es fast im gesamten 20. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
selbstverständlich war. Im Gegen teil: Stadtlandschaft bezeichnet heute die über<br />
Jahrhun<strong>der</strong>te gewachsene räumliche Vielfalt und zugleich den Zusammen hang<br />
<strong>der</strong> Stadt selbst, entstanden in, aus und über <strong>der</strong> natürlichen Morphologie des jeweiligen<br />
Ortes <strong>–</strong> Genius Loci.<br />
So wird -landschaft keineswegs als abstrakte Metapher verwendet, son<strong>der</strong>n soll<br />
daran erinnern, dass Stadt auch immer Landschaft ist, gerade weil in <strong>der</strong> grundlegenden<br />
Qualität <strong>der</strong> „Emanzipation vom Naturzwang“ (Siebel 1994) die natürlichen<br />
Einflüsse, wie Relief, Boden, Wasser und Klima, aufgehoben bleiben <strong>–</strong> im gebauten<br />
Wi<strong>der</strong>lager, vom Grundriss <strong>der</strong> Stadt bis zum singulären Gebäude. So zumindest<br />
war es bis zum Industriezeitalter aufgrund <strong>der</strong> Grenzen des Machbaren, aber auch<br />
handwerklicher Konventionen <strong>der</strong> Fall, und so wird es heute vielerorts bewusst gestaltet.<br />
Wir können sagen: die natürliche Morphologie prägt eine Stadt ebenso wie<br />
dies die Architektur tut. Nicht allein aus konstruktiver Sicht. Vielmehr wirkt die<br />
natürliche Morphologie tief in die Stadtstrukturen hinein, so wie etwa Main, Spree<br />
und Isar mit ihren spezifischen Flussräumen und -regimes nicht nur urbane Uferzonen<br />
und Brücken provozieren, son<strong>der</strong>n den stadtweiten Maßstab für die Dimension<br />
von Straßenräumen o<strong>der</strong> Häusern bilden und schließlich auch die sozialen<br />
Strukturen, Lebensbedingungen, das Lebensgefühl sowie sogar eine „Eigenlogik“ 1<br />
<strong>der</strong> Stadt beeinflussen.<br />
So dürften nicht nur die „bedeutenden Werke <strong>der</strong> Architektur“, son<strong>der</strong>n auch<br />
die urbanen Kultivierungen <strong>der</strong> Natur zu dem gehören, was Aldo Rossi, Victor<br />
Hugo zitierend, als Formationen bezeichnet hat (rossi 1973). Stadtlandschaft meint<br />
also heute den historischen, strukturellen Zusammenhang von Naturlandschaft,<br />
<strong>Kulturlandschaft</strong> und Stadt, um hervorzuheben, dass jede Stadt ihre spezifische<br />
Eigenart, ihre Vielfalt und ihren Zusammenhang, ja selbst ihre höchst urbanen<br />
Qualitäten wie Dichte, Mischung und Zentralität immer auch aus landschaftlichen<br />
Strukturen <strong>–</strong> o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kunst ihrer Aufhebung <strong>–</strong> heraus entwickelt hat.<br />
9<br />
Bild 1 (li.): Landschaft im rheintal. Foto: Schöbel
Dr. Dieter hoffmann-axthelm ist Publizist und Stadtplaner in Berlin. Seit 1975 redaktionsmitglied<br />
von ästhetik und kommunikation und arch+, seit 1987 Strukturpläne für kassel,<br />
Wien und Berlin (u.a. Planwerk Innenstadt Berlin, 1999). © Die dritte Stadt. Bausteine eines<br />
neuen gründungsvertrags (1993).
PLANUNGSKULTUREN IN STADT UND LAND<br />
voN DIeter hoffmaNN-axtheLm<br />
Je<strong>der</strong> Versuch, einen Methodenvergleich zwischen Stadtplanung und Planung im<br />
ländlichen Raum zu unternehmen, ist ein Wagnis. Um so mehr die weitergehende<br />
Frage, ob stadtbezogene Planungsformen anregend o<strong>der</strong> gar maßstäblich für die<br />
Bewältigung von Planungsdefiziten des Landes sein könnten. Dem gegenüber<br />
ist die Frage, ob die Stadtplanung ihren eigenen For<strong>der</strong>ungen gerecht wird, also<br />
als Taktgeber für die Planung von Land sinnvoll sein kann, noch das geringste<br />
Problem.<br />
Viel näher liegt die an<strong>der</strong>e Frage, ob und wie weit Land überhaupt in vergleichbarer<br />
Weise und vergleichbarem Ausmaß ge- und beplant werden kann. Sitzen<br />
wir nicht einer Illusion <strong>der</strong> Planbarkeit von allem und jedem auf? Da ist zumindest,<br />
wie immer <strong>der</strong> Planungszugang zum Land ausfallen mag <strong>–</strong> Regionalplanung,<br />
Planung im ländlichen Raum, Landschaftsplanung, -schutz, -pflege <strong>–</strong> gegenüber<br />
je<strong>der</strong> Zugriffsweise ein erhöhtes Misstrauen angemessen. Der Augenschein verschwimmen<strong>der</strong><br />
Grenzen und weitgehen<strong>der</strong> städtischer Übernahme täuscht, im<br />
Grunde ist er eine Voreingenommenheit, bestimmt durch die mo<strong>der</strong>ne Illusion<br />
<strong>der</strong> Aufhebung des Unterschieds von Stadt und Land: ein Erbe des Frühsozialismus.<br />
Aber jenes frühsozialistische war ein soziales Projekt, keines <strong>der</strong> Aufhebung<br />
des naturalen Unterschieds.<br />
Soll das Unterfangen des Planungsvergleichs sinnvoll sein, dann ist von <strong>der</strong><br />
letztlichen Unaufhebbarkeit <strong>der</strong> Scheidung auszugehen und zuallererst nachzuweisen,<br />
dass es für Vergleich wie Transfer überhaupt eine Grundlage gibt. Ob <strong>der</strong>gleichen<br />
allerdings möglich ist, hängt nicht vom Willen des Planers ab. Was darüber<br />
entscheidet, ist <strong>der</strong> jeweilige Entwicklungsstand von Stadt und Land: Wenn<br />
es ein Gemeinsames gibt, was die Transferfrage sinnvoll macht, dann kann es nur<br />
ein Ergebnis, noch dazu ein historisch spätes, des beides vor sich hertreibenden<br />
politisch-ökonomischen Entwicklungsprozesses sein.<br />
1 autoNomIe uND eNtmachtuNg DeS LaNDeS<br />
Die Beson<strong>der</strong>heit des Landes muss allerdings erst einmal gegenüber dem scheinbar<br />
selbstverständlichen Zugriff <strong>der</strong> Stadt freigestellt werden, Land als Land und<br />
nicht als städtische Projektionsfläche. Definitorisch ist das nur unzureichend zu<br />
leisten. Es geht nur über einen Blick auf eine mehr als ein Jahrtausend übergrei-<br />
27
Prof. Dr. martina Löw ist Professorin für Soziologie an <strong>der</strong> tu Darmstadt (ab 2002) und<br />
für architektur- und Planungssoziologie an <strong>der</strong> tu Berlin (seit 2013). Schwerpunkte sind<br />
raumbezogene gesellschaftsanalyse, Stadt- und regionalsoziologie sowie frauen- und geschlechterforschung.<br />
forschung zu eigenlogiken als grundlegende Sinnstrukturen <strong>der</strong> Stadt.<br />
© Soziologie <strong>der</strong> Städte (2008)
ÜBER STADT ALS METHODENLABOR<br />
UND LANDSCHAFT ALS RESONANZRAUM<br />
Im geSPräch mIt martINa LöW<br />
Soziologen befassen sich bevorzugt mit Stadt. Was ist angesichts <strong>der</strong><br />
allgemeinen verstädterung des raumes mit dem Land? Viele gesellschaftliche<br />
Entwicklungen zeigen sich in <strong>der</strong> Stadt schneller und sickern dann sukzessive<br />
ein in das, was man Land nennt. Daher war Stadtsoziologie immer so etwas<br />
wie das Methodenlabor <strong>der</strong> allgemeinen Soziologie. Schon in den 1970er<br />
Jahren gab es eine Debatte darüber, was eigentlich Stadtsoziologie noch sein<br />
kann, wenn es eine Verstädterung <strong>der</strong> Gesellschaft gibt. Und seit Silicon<br />
Valley ist man sich nicht mehr so sicher, ob Dynamik nicht auch an an<strong>der</strong>en<br />
Stellen entstehen kann. Stadtsoziologen und Stadtsoziologinnen verstehen<br />
daher Stadt heute als Experimentalraum. Mein Buch Soziologie <strong>der</strong> Städte ist<br />
dagegen von <strong>der</strong> Idee getragen, dass es eben nicht ausreicht zu sagen: die Stadt<br />
ist unser Labor <strong>–</strong> denn die Städte unterscheiden sich und wir müssen genauso<br />
den Ort in seiner Spezifik ernst nehmen und diese Strukturen verstehen.<br />
Mich interessiert Land daher vor allem in <strong>der</strong> Hinsicht, wie es von den<br />
Logiken <strong>der</strong> Stadt vereinnahmt wird, wie also Land Teil dessen wird, was<br />
wir als Eigenlogik <strong>der</strong> Städte bezeichnen. Diese Vereinnahmung kann ich an<br />
einem Ort betrachten, den ich noch als richtiges Dorf kenne: Estenfeld bei<br />
Würzburg. Dort war früher die Stadt, obwohl nur wenige Kilometer entfernt,<br />
in <strong>der</strong> Wahrnehmung <strong>der</strong> Dorfbewohner weit weg. Heute sind dörfliche<br />
Strukturen von Estenfeld nur noch an <strong>der</strong> Eigenart einiger Häuser erkennbar,<br />
die aber längst eingenommen und von Neubauten durchsetzt wurden <strong>–</strong> denn<br />
<strong>der</strong> Großteil <strong>der</strong> Bevölkerung arbeitet heute in Würzburg. Auch wenn es<br />
noch Landwirtschaft gibt <strong>–</strong> Estenfeld ist Pendlerort geworden und die alte<br />
Struktur, in <strong>der</strong> die großen Bauern das Geschehen im Ort bestimmt haben, ist<br />
aufgebrochen; auch <strong>der</strong> Pfarrer ist nicht mehr die wichtigste Instanz. Heute<br />
würde man sagen, Estenfeld ist ganz stark von <strong>der</strong> eigenen Logik <strong>der</strong> Stadt<br />
Würzburg mitgeprägt. Das Dorf ist natürlich nicht das Gleiche wie die Stadt <strong>–</strong><br />
aber auch diese selbst ist ja nicht homogen, son<strong>der</strong>n hat sehr unterschiedliche<br />
Quartiere. Das ehemalige Dorf ist so Teil eines Verbundes, eines Gefüges<br />
geworden. Deswegen würde ich schon sagen, dass es auch eine Eigenlogik <strong>der</strong><br />
Dörfer gibt, und dass diese sich auch eigenlogisch weiter entwickeln können,<br />
aber eben beeinflusst von den Städten.<br />
53
Dr. kenneth an<strong>der</strong>s studierte kulturwissenschaften, Soziologie und Philosophie in Leipzig<br />
und Berlin, promovierte in kulturgeschichte und arbeitete als freier Journalist. Den einstieg<br />
in die Landschaftsthematik fand er im Jahr 2000 durch die gestaltung einer ausstellung<br />
über die entstehung <strong>der</strong> Naturschutzeule in Bad freienwalde am haus <strong>der</strong> Naturpflege.<br />
Daraufhin sammelte er an <strong>der</strong> universität Potsdam erfahrungen in <strong>der</strong> sozialwissenschaftlichen<br />
Umweltforschung. 2004 gründete er mit Lars Fischer das Büro für Landschaftskommunikation.<br />
Kenneth An<strong>der</strong>s ist außerdem als Autor und Sprecher tätig.
LANDSCHAFT IM WANDEL<br />
— ÜBER DIE DIALEKTIK UNSERES LEBENS IM RAUM<br />
voN keNNeth aNDerS<br />
Dass Landschaften sich verän<strong>der</strong>n, sich wandeln, ist in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne ein selbstverständlicher<br />
Teil des gesellschaftlichen Bewusstseins. Wenige Lebensjahre genügen,<br />
um diese Erfahrung persönlich zu machen. Die Landschaften Brandenburgs zum<br />
Beispiel haben sich in den letzten zweihun<strong>der</strong>t Jahren so stark gewandelt, dass ihre<br />
Verän<strong>der</strong>lichkeit die einzige Konstante zu sein scheint. Aber ist dieser Zusammenhang<br />
nicht geradezu trivial? Wissen wir nicht ohnehin, dass die Welt sich än<strong>der</strong>t?<br />
Lässt sich irgendein interessanter Schluss daraus ziehen?<br />
Vielleicht doch, wie ein zweiter Blick zeigt. Denn im Diskurs über unser Leben<br />
im Raum werden die Begriffe „Landschaft“ und „Wandel“ beileibe nicht wie halbe<br />
Synonyme behandelt. Viele Zeugnisse <strong>der</strong> Landschaftsmalerei sind Lobpreisungen<br />
<strong>der</strong> Ruhe und <strong>der</strong> stillen Einkehr. Höchstens das Wetter darf in diesen Bil<strong>der</strong>n<br />
als wilde Natur in Bewegung sein, die Menschen dagegen sind Betrachter, vielleicht<br />
Wan<strong>der</strong>er, kaum Akteure <strong>–</strong> und die Szenerien scheinen ihre eigene Statik zu<br />
haben. Nur in seltenen Zeiten, wie denen des sozialistischen Realismus, tritt die<br />
landschaftliche Unruhe in Erscheinung. Und nicht nur in <strong>der</strong> Vorstellung von „Oh<br />
Täler weit, oh Höhen“ herrscht das Moment <strong>der</strong> Dauer, auch die im Kontext <strong>der</strong><br />
mo<strong>der</strong>nen Landschaftsplanung stets gefor<strong>der</strong>ten Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen<br />
für landschaftliche Verän<strong>der</strong>ungen unterstellen die Wie<strong>der</strong>herstellung eines<br />
Zustands, nicht die Steuerung eines Prozesses.<br />
Bei Konflikten um große Bauvorhaben wi<strong>der</strong>setzen sich viele Menschen dem<br />
Landschaftswandel geradezu leidenschaftlich. Die ihnen oft entgegengehaltene<br />
Einsicht, dass sich Landschaften nun einmal verän<strong>der</strong>n, richtet wenig aus. Und<br />
nicht zuletzt verweist die hartnäckige Behauptung, da draußen herrsche ein natürliches<br />
Gleichgewicht, das wir nicht stören dürften, auf ein Muster, das ganz und gar<br />
nicht zur Erfahrung des permanenten Wandels <strong>der</strong> Landschaft passen will.<br />
Das Verhältnis von Landschaft und Wandel scheint nicht so selbstverständlich<br />
zu sein, wie man meinen möchte. Der Erfahrung des Wandels steht die Idee des<br />
schönen Stillstands gegenüber. Ist dieser Stillstand nur eine Illusion, gar eine Ideologie?<br />
Was hat es damit auf sich?<br />
61
<strong>Landschaftsvertrag</strong><br />
68
5 | Sieben Grundregeln<br />
im Überblick<br />
Gesellschaftsvertrag<br />
Stadtvertrag — Transformation<br />
kritische <strong>Rekonstruktion</strong><br />
<strong>der</strong> europäischen Stadt<br />
Landnutzung<br />
Schlaggrößen<br />
GroßHallenbauten<br />
StraßenBau<br />
Differenzierte Landnutzung<br />
69
LaNDSchaftSvertrag<br />
fussballfeld (m 1:10.000)<br />
7.140 qm (105 x 68 m)<br />
Ø landwirtschaftliche Schlaggröße<br />
in Bayern 15.000 qm<br />
typisches IKEA<br />
20.000 qm<br />
amazon in graben<br />
110.000 qm<br />
Daimler Speyer 79.000 qm<br />
halle 1,2 km lang<br />
flughafen frankfurt terminal 1, 200.000 qm.<br />
Die gesamtfläche des flughafens beträgt<br />
21,6 mio qm o<strong>der</strong> 3.025 fussballfel<strong>der</strong><br />
BmW ersatzteilelager in Wallersdorf, 18 zusammenhängende<br />
hallen, 225.000 qm<br />
100 m 1000 m<br />
76<br />
große Lager-, terminal- und Logistikhallen in Deutschland. Statt <strong>der</strong> angabe in grundflächen o<strong>der</strong><br />
raumninhalten hat sich in medialen Präsentationen eingebürgert, die immensen ausdehnungen in <strong>der</strong><br />
maßeinheit fußballfel<strong>der</strong> zu beschreiben.<br />
Bild (re.): neues BmW ersatzteillager Wallersdorf, Landkreis Dingolfing-Landau (Nie<strong>der</strong> bayern) mit einer<br />
hallenfläche von 225.000 Quadratmetern. Quelle: Bayrische vermessungsverwaltung, Bayernatlas,<br />
m 1:10.000 i.o.
im Überblick 5 | Sieben | Landnutzung<br />
Grundregeln<br />
77
Prof. Dr. Wolfgang haber ist ein deutscher Biologe und gilt als einer <strong>der</strong> „väter <strong>der</strong> Landschaftsökologie“<br />
in Deutschland. er ist Professor für Landschaftsökologie an <strong>der</strong> tu münchen<br />
(emeritiert seit 1993). forschung zur allgemeinen und theoretischen ökologie, ihrer<br />
anwendung in <strong>der</strong> Landnutzung, im Naturschutz und <strong>der</strong> umweltpolitik. © Die unbequemen<br />
Wahrheiten <strong>der</strong> ökologie — eine Nachhaltigkeitsperspektive für das 21. Jahrhun<strong>der</strong>t (2011)
DIFFERENZ DER LANDSCHAFT<br />
Im geSPräch mIt WoLfgaNg haBer<br />
In Ihrem modell <strong>der</strong> differenzierten Landnutzung spielen zahlen eine<br />
zentrale rolle: die Schlaggröße von 25 hektar und <strong>der</strong> anteil naturnaher<br />
flächen von 10 Prozent. gleichzeitig betonen Sie aber qualitative<br />
aspekte wie Struktur und ästhetik <strong>der</strong> Landnutzung. Richtig <strong>–</strong> weil ich<br />
die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit sehe, den Begriff <strong>der</strong> differenzierten<br />
Landnutzung von <strong>der</strong> abstrakten in eine konkrete Ebene herunter zu<br />
brechen. Das ist allerdings gar nicht so einfach. Zumindest <strong>der</strong> Ackerbau,<br />
als <strong>der</strong> zur Versorgung aller Menschen wichtigere Sektor, hat nun einmal<br />
die Tendenz, das Land so homogen wie möglich herzurichten. Der Bauer<br />
will möglichst auf jedem Quadratmeter das Gleiche ernten. Zwar kann man<br />
etwa eine bestimmte maximale Feldgröße festlegen, indem man zum Schutz<br />
vor Win<strong>der</strong>osion Hecken vorsieht, die auch die Fluchtdistanzen für Tiere<br />
reduzieren und so auch für den Naturschutz wirken. Man muss das den<br />
Bauern aber so beibringen, dass es in ihrem Interesse liegt <strong>–</strong> etwa weil die<br />
Erosion auf ihre Kosten geht.<br />
aber das ist doch noch immer rein funktional und abstrakt? Eben. Ich habe<br />
das Modell <strong>der</strong> Differenzierung seit meinen ersten Auseinan<strong>der</strong>setzungen<br />
mit <strong>der</strong> Flurbereinigung in den 1970er Jahren deswegen immer sehr stark<br />
an vorhandenen, gewachsenen Strukturen orientiert. Damals hatte das<br />
Wort Bereinigung ja noch wirklich den Sinn, den es ausdrückt: alles, was an<br />
störenden Strukturen vorhanden ist, etwa Hecken, das musste raus; Gräben<br />
wurden verrohrt. Als dann die Proteste vom Naturschutz und an<strong>der</strong>en<br />
Landschaftsinteressierten größer wurden, hat die Flurbereinigungsverwaltung<br />
beschlossen: „Gut <strong>–</strong> dann machen wir jetzt zu je<strong>der</strong> Flurbereinigung einen<br />
Bepflanzungsplan.“ Nun geht das Denken <strong>der</strong> Landvermesser ja alles nach<br />
mathematisch berechenbaren Gesichtspunkten an, <strong>der</strong> Auftrag <strong>der</strong> Geodäsie<br />
lautet bis heute, alles so rational wie möglich zu gestalten. Also wurde nach<br />
wie vor zuerst alles bereinigt <strong>–</strong> und dann etwas Neues gepflanzt, was aber<br />
natürlich nie die Qualität dessen erreichen konnte, was zuvor da war <strong>–</strong><br />
we<strong>der</strong> ökologisch noch ästhetisch. Damit habe ich mich auseinan<strong>der</strong>gesetzt<br />
und gefor<strong>der</strong>t, dass jede Planung die alten Strukturen so weit wie möglich<br />
einbeziehen sollte.<br />
85
Transformationen <strong>der</strong> <strong>Kulturlandschaft</strong><br />
116
koNoLD . LaNDSchaftSDyNamIk — vom eINgrIff zur eIgeNart<br />
Um für heutige Verän<strong>der</strong>ungsprozesse zu lernen (wenn dies überhaupt möglich<br />
sein sollte), wäre es außerdem interessant zu wissen, wie es (a) mit <strong>der</strong> zeitgenössischen<br />
Akzeptanz ausgesehen hat und welches (b) die Prozesse waren und die<br />
„Geheimnisse“ sind, die diesen Landschaften heute das Prädikat einer geschätzten,<br />
von Eigenart geprägten <strong>Kulturlandschaft</strong> verleiht. Fast alle mo<strong>der</strong>nen Landschaften,<br />
auch die alten mo<strong>der</strong>nen, sind von je eigenen Geometrien gezeichnet; das<br />
Gestaltetsein ist also ablesbar o<strong>der</strong> dringt zumindest in das Bewusstsein ein.<br />
1 Spätmittelalterliche, terrassierte Weinbaulandschaften sind zweifellos das<br />
Eindrucksvollste und Atemberaubendste, was Mitteleuropa an <strong>Kulturlandschaft</strong>lichem<br />
zu bieten hat (Bild 3). Sie sind erhaben, monumental, in<br />
ihrer Schönheit unangreifbar <strong>–</strong> jedoch von ihrer Funktion her ‚knallharte‘<br />
Zwecklandschaften, entstanden durch radikale Brüche. Vom Ahrtal heißt<br />
es beispielsweise, <strong>der</strong> „Ausbau <strong>der</strong> Steilhänge“ sei „im 12. und 13. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
rasch vonstatten gegangen und abgeschlossen worden“ (volk 1993, 59).<br />
Es wurden Wäl<strong>der</strong> gerodet, Hutungen aufgegeben, Nutzungen umgewandelt<br />
<strong>–</strong> bis hin zum Verbot, weil befürchtet wurde, es könnte einen Mangel<br />
an Brotgetreide geben. Weinberge waren mittelalterliche Großbaustellen<br />
mit Einrichtung von Steinbrüchen, massiven Eingriffen in den Wasserhaushalt,<br />
Entsteinung <strong>der</strong> Böden und fortwähren<strong>der</strong> Erosion über die folgenden<br />
Jahrhun<strong>der</strong>te hinweg (hierzu ausf.: konold u. Petit 2013), eigentlich bis<br />
in die jüngste Vergangenheit, bis die Rebflächen dauerbegrünt wurden.<br />
Die schönsten <strong>Kulturlandschaft</strong>en entstanden unter dem Einfluss gravieren<strong>der</strong><br />
Eingriffe! Zeitgenössische Äußerungen zur Wahrnehmung sind<br />
mir nicht bekannt.<br />
2 Die Vereinödung in Oberschwaben (Dorn 1904, Lochbrunner 1984): Das war die<br />
Aufhebung des Flurzwangs und <strong>der</strong> Weidedienstbarkeiten, die Einführung<br />
des Anerbenrechts, eine umfassende Flurneuordnung mit Grundstückszusammenlegung,<br />
die völlige Aufhebung <strong>der</strong> Gemeinheiten/Allmenden,<br />
die Melioration von Feuchtflächen und an<strong>der</strong>er „Ödlän<strong>der</strong>“,<br />
die Aussiedlung („Hinausbau“) von Bauernhöfen aus dem Dorfverband<br />
in die freie Feldflur. Die Vereinödung war eine „Bewegung von unten“,<br />
hatte um 1550 im Fürststift Kempten ihren Ausgang genommen, in den<br />
folgenden 300 Jahren um die 390.000 Hektar erfasst und mit tiefgreifen<strong>der</strong><br />
Radikalität verän<strong>der</strong>t, in Richtung großflächiger Nutzungsstrukturen,<br />
117<br />
Bild 3 (li.): trockenmauer-Weinberge, hier in mühlhausen an <strong>der</strong> enz, gehören zu den großartigsten<br />
zeugnissen <strong>der</strong> Landeskultur; zur zeit ihrer entstehung waren dort großbaustellen.
Konzeptionen <strong>der</strong> Landschaft<br />
148
kuhN . LaNDSchaft Nach vorNe DeNkeN<br />
sagte, er sei seit drei Jahren am Cospudener See <strong>–</strong> jetzt würde es doch etwas<br />
langweilig. Und genau das wird hier verhin<strong>der</strong>t. Wir als IBA haben hinzugefügt,<br />
dass die Seen unterschiedliche Charaktere haben: <strong>der</strong> eine See beispielsweise<br />
einen sportlichen, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e eher einen naturbelassenen. Neben den<br />
Unterschieden war es aber auch wichtig, dass bestimmte Dinge vereinheitlicht<br />
werden, damit das Seenland auch immer als ein Ganzes gesehen wird. An den<br />
Kanälen kann man am besten spüren, dass man sich in einem Seenland befindet,<br />
das aus <strong>der</strong> Industrie kommt und vom Menschen gemacht ist. Deswegen haben<br />
wir den als „rostigen Nagel“ bezeichneten Aussichtturm, die „Landmarke“, an<br />
einen Kanal gesetzt.<br />
Was sonst die eiszeit gemacht hat, haben in <strong>der</strong> Lausitz die Bagger gemacht.<br />
Ist die form, die die Baggerung geschaffen hat, <strong>der</strong> ausgangspunkt für die<br />
charaktere und die eigenart <strong>der</strong> Seen? Die Bagger konnten wir als IBA ja nicht<br />
steuern. Eine Ausnahme ist <strong>der</strong> Hafen von Großräschen. Er durfte auch nicht<br />
Hafen genannt werden, son<strong>der</strong>n Rangierfläche für Großgeräte, damit man ihn<br />
im Bergrecht überhaupt ermöglichen konnte. Er wurde schon vor <strong>der</strong> IBA auf<br />
Wunsch <strong>der</strong> Stadt Großräschen angelegt.<br />
Die Charaktere ergeben sich aber vor allem aus <strong>der</strong> Lage. Von den zehn Seen<br />
grenzen nur zwei an eine Stadt, <strong>der</strong> Senftenberger und <strong>der</strong> Großräschener. Das<br />
war <strong>der</strong> Grund dafür, dass diese zwei Seen einen richtigen Hafen bekommen<br />
sollten, einschließlich kultureller und gastronomischer Angebote. Wo hingegen<br />
Schutzgebiete angrenzten, galt es, Wildnis als Charakter zu erhalten o<strong>der</strong> zu<br />
gestalten.<br />
Welche Strukturen fehlen in dieser leergeräumten Landschaft am<br />
schmerzhaftesten? Durch den Tagebau wurden die ursprünglichen Strukturen<br />
vollständig zerstört, aber auch neue geschaffen. Dabei gibt es einen wesentlichen<br />
Unterschied. Wir haben die Strukturen <strong>der</strong> ehemaligen Landschaft über das<br />
gelegt, was jetzt da ist und gesehen: Es fehlen vor allem die Feinstrukturen, die<br />
Glie<strong>der</strong>ungen und Verbindungen, die ja nicht ad hoc entstanden sind. Über<br />
lange Zeit war ein intelligentes und auch feingliedriges Raster entstanden, mit<br />
Straßen, Flüsschen, Fließen, wie man im Spreewald sagt, und kleinen Kanälen.<br />
All das sieht man auf den alten Karten, alles, was ausradiert worden ist, wie auch<br />
die kleinen Ortschaften. Wenn ich das jetzt anschaue, dann ist die Landschaft<br />
grobgliedrig geworden, muss etwa mit viel weniger Straßen auskommen.<br />
149<br />
Bild (li.): ehemaliger Braunkohletagebau großräschen in <strong>der</strong> Lausitz Foto: Schöbel
koNzePtIoNeN Der LaNDSchaft<br />
176<br />
Bild 6: Das foto auf dem Schutzumschlag von Die Wohnlandschaft (1950) wurde von Willi moegle auf <strong>der</strong><br />
reichsgartenschau 1939 aufgenommen und bereits 1940 in <strong>der</strong> zeitschrift Gartenkunst veröffentlicht.
hoPStock . matterNS LaNDSchaftSaufBauPLaNuNg<br />
„Der Landschaftsaufbauplan gibt dem Planungsprogramm räumlich und zeitlich<br />
Ausdruck. Zeitlich insofern, als in ihm die langfristigen Interessen des Aufbaus<br />
einer gesunden <strong>Kulturlandschaft</strong> mit optimaler und nachhaltiger Nutzbarkeit<br />
vor kurzfristige und einseitige Nutzungsinteressen, die zu diesem Ziel<br />
wi<strong>der</strong>streben, gestellt wurden. Daher weicht <strong>der</strong> Landschaftsaufbauplan auch<br />
teilweise wesentlich von an<strong>der</strong>en Planungen in diesem Gebiet ab (Verkehrsplanung,<br />
Flächennutzungsplanung).“ (ebd.)<br />
Obwohl Mattern während <strong>der</strong> 1950er Jahre zu den anerkanntesten Fachvertretern<br />
gehörte, fanden seine Vorstellungen letztendlich wenig Gehör. Bedingt war dies<br />
durch die Abstraktheit seiner Gedanken, durch seine bereits in <strong>der</strong> Vorkriegszeit<br />
begründete, persönliche Feindschaft mit dem einflussreichen konservativen Kreis<br />
um Heinrich Wiepking sowie sicher auch seine oft wenig diplomatische Art. Eine<br />
solche Evaluierung berücksichtigt aber nicht die potentiell nachhaltigen Auswirkungen<br />
<strong>der</strong> Landschaftsaufbauplanungen für Marl (1962/63), Seußen/Oberfranken<br />
(1965), Destedt (1965), Ratzeburg (1968), Fehmarn (1969) o<strong>der</strong> Neumünster (1971). Erst<br />
mit <strong>der</strong> Erforschung <strong>der</strong> Auswirkungen kann eine abschließende Bewertung <strong>der</strong><br />
Effektivität seiner Konzepte beginnen. Klar ist, dass einige später sehr einflussreiche<br />
Fachvertreter, wie beispielweise Werner Nohl, durch seine Schule gingen.<br />
Ein interessantes Detail: zwischen 1952 und 1954 verfasste Mattern das Lemma<br />
„Garten- und Landschaftsgestaltung“ für den Großen Brockhaus, das am weitesten<br />
verbreitete Nachschlagewerk für ein Nicht-Fachpublikum. Textentwürfe im Nachlass<br />
zeigen, dass seine Gedanken nicht in ihrer ganzen Radikalität abgedruckt wurden,<br />
dennoch ermöglichte ihm diese Autorschaft, seine Vorstellungen inklusive<br />
persönlicher Terminologie <strong>–</strong> Landschaftsaufbauplanung anstatt Landespflege <strong>–</strong> mit<br />
Hilfe <strong>der</strong> unangreifbaren Autorität <strong>der</strong> anerkannten Enzyklopadie zu verbreiten.<br />
LaNDSchaftSarchItektur aLS geSeLLSchaftLIche aufgaBe<br />
Ein weiteres Indiz für die Kontinuität von Matterns Ideal <strong>der</strong> Wohnlandschaft<br />
ist ein von Willi Moegle aufgenommenes Foto im Mattern-Nachlass, das bereits<br />
1940 im Zusammenhang mit <strong>der</strong> erwähnten Kritik des Killesbergparks in <strong>der</strong> Zeitschrift<br />
Gartenkunst abgedruckt wurde. Es zierte zehn Jahre später den Einband <strong>der</strong><br />
von Mattern herausgegebenen Publikation Die Wohnlandschaft (1950 — Bild 6), in <strong>der</strong><br />
er zentrale Gedanken <strong>der</strong> Landschaftsaufbauplanung in Worte fasste. Auffälligstes<br />
Bildelement ist ein im Vor<strong>der</strong>grund in den oberen Bildteil ragen<strong>der</strong> Essigbaum<br />
Rhus typhina vor einer Wiese im Mittelgrund, im Hintergrund sind Wohnhäuser<br />
und eine Hügellandschaft erkennbar. Dass Mattern einen amerikanischen Neophyten<br />
zeigt, und keine heimische Art, ist angesichts <strong>der</strong> Diskussion <strong>der</strong> 1930er<br />
und 1940er Jahre um das ‚Einheimische‘ sicherlich kein Zufall. Wenn nicht im<br />
Garten, so doch wenigstens in <strong>der</strong> Gestaltung <strong>der</strong> offenen Landschaft wollte die<br />
177
univ. Prof. emeritus of excellence Dr.-Ing. holger magel ist Präsident <strong>der</strong> Bayerischen akademie<br />
ländlicher raum (aLr). Bevor er Professor für Bodenordnung und Landentwicklung<br />
an <strong>der</strong> technischen universität münchen wurde, war er zuletzt Leiter <strong>der</strong> Bayerischen flurbereinigungsverwaltung<br />
im Bayerischen Staatsministerium für ernährung, Landwirtschaft<br />
und forsten. forschungen und veröffentlichungen zu Nachhaltigkeit, kommunal- und Landentwicklung,<br />
Dorferneuerung, flurneuordnung und Ländlicher raum (www.landentwicklung-muenchen.de)<br />
© Nachhaltige entwicklung von Stadt und Land. holger magel zum 60.<br />
geburtstag (hg. horst karmann und Josef attenberger, Lehrstuhl für Bodenordnung und<br />
Landentwicklung tum und aLr 2014) sowie © It‘s all about land. hommage an holger magel<br />
zum 70. geburtstag (hg. k. Spreng, aLr 2014)
WIR BRAUCHEN EINE NEUE LANDSCHAFTSBEWEGUNG!<br />
Im geSPräch mIt hoLger mageL<br />
Sprechen wir besser über Land o<strong>der</strong> über Landschaft? Der Vorteil am<br />
Begriff Landschaft ist, dass er den gesamten Raum mitsamt <strong>der</strong> Hierarchie<br />
<strong>der</strong> verschiedenen Siedlungen, Strukturen wie Wald und freies offenes Land<br />
umfasst. Denn im ländlichen Raum macht ein Ausgrenzen <strong>der</strong> Siedlungen<br />
keinen Sinn. Sprechen wir also über Landschaft im ländlichen Raum, weil<br />
das ein ganz wichtiges Thema ist, aber eben auch in soziostruktureller und<br />
kultureller Hinsicht und nicht nur im ökologischen, ökonomischen o<strong>der</strong> rein<br />
emotionalen Sinn. Der Gesamtblick ist wichtig.<br />
Der Begriff Land ist dagegen zu vieldeutig, wie ja <strong>–</strong> aus meinem Fachbereich<br />
gegriffen <strong>–</strong> die Begriffe Landentwicklung, Land-Konflikte o<strong>der</strong> Land<br />
Administration zeigen. Es kann einmal um den Raum insgesamt gehen,<br />
wie bei Landentwicklung, o<strong>der</strong> es geht um die Ressource Land als Grund<br />
und Boden, und hier zum Beispiel um konkrete Fragen von Nutzung<br />
und Eigentum. Der neue Begriff Landmanagement schließlich umfasst,<br />
zumindest nach unserer Auffassung, beides: sowohl räumliche, rechtliche<br />
wie auch boden- und parzellenbezogene Komponenten. Lei<strong>der</strong> haben an<strong>der</strong>e<br />
Stellen wie das Bundesforschungsministerium diesen Begriff auch besetzt<br />
und hierbei das Thema geodätische Bodenordnung völlig missachtet. Hier<br />
geht es mehr o<strong>der</strong> weniger nur um Landnutzungsaspekte und nicht um<br />
die Implementierung neuer Strukturen, die durch Bodenordnung letztlich<br />
eigentums- und nutzungsrechtlich abgesichert sind.<br />
Halten wir hier fest: um Landschaft zielführend gestalten zu können, müssen<br />
die Wechselwirkungen und Verbindungen <strong>der</strong> freien Landschaft <strong>–</strong> Fluren und<br />
Wäl<strong>der</strong> <strong>–</strong> mit den Siedlungen konsequent in die Planungen integriert werden.<br />
Das heißt, es geht zum einen um bestehende, geschichtlich entwickelte<br />
funktionale Beziehungen zwischen bebauter und unbebauter Landschaft,<br />
und zum an<strong>der</strong>en um dynamische Aspekte <strong>der</strong> Weiterentwicklung. Reines,<br />
womöglich gar romantisierendes Konservieren hilft hier nicht weiter.<br />
193
michael Schmölz, master of Science urbanistik — Landschaft und Stadt und Bachelor of<br />
Science Landschaftsarchitektur und Landschaftsplanung, forscht und lehrt als Wissenschaftlicher<br />
mitarbeiter an <strong>der</strong> Professur für Landschaftsarchitektur regionaler freiräume (Lareg)<br />
<strong>der</strong> technischen universität münchen und arbeitet als Landschaftsarchitekt in münchen. ©<br />
gebrauchsallgäu — charakterstudie einer Landschaft (master-thesis 2015)
ZUM GEBRAUCHSWERT EINER LANDSCHAFT<br />
voN mIchaeL SchmöLz<br />
voN Der urBaNIStIScheN theorIe LerNeN<br />
Ein Diskurs über das Land und die Landschaft nach dem Vorbild <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen<br />
Stadttheorie legt, wie insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> Beitrag von Dieter Hoffmann-Axthelm<br />
in diesem Buch zeigt, auch die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den Begriffen Gebrauchswert<br />
und Tauschwert des Raumes nahe. So muss sich ein <strong>Landschaftsvertrag</strong>, in<br />
dessen Mittelpunkt <strong>der</strong> gesellschaftliche Umgang mit unseren Landschaften neu<br />
definiert werden soll, zentral mit Fragen <strong>der</strong> Landnutzung befassen. Haber betont,<br />
dass Landschaft isoliert von Landnutzung „gar nicht geplant werden“ kann (haber<br />
i. d. B.). Ein Gesellschaftsvertrag zur Landschaft nach dem Vorbild <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen<br />
Stadttheorie muss sich aber, Dieter-Hoffmann-Axthelm folgend, darüber<br />
hinausgehend viel grundsätzlicher <strong>der</strong> Frage nach dem sozialen Gebrauch <strong>der</strong><br />
Landschaft stellen, nach dem Gebrauch nicht allein auf <strong>der</strong> funktionalen, son<strong>der</strong>n<br />
auf einer strukturellen Ebene.<br />
Aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> Landschaftsarchitektur geht es dabei insbeson<strong>der</strong>e um<br />
die durch den Gebrauch erzeugte und wie<strong>der</strong>um Gebrauch ermöglichende konkrete<br />
Raumform. Wie zu zeigen ist, meint die Unterscheidung von Gebrauchswert<br />
und Tauschwert <strong>der</strong> Landschaft dabei, wie in <strong>der</strong> Stadt, eine Konzentration auf die<br />
sich ständig wandelnden Alltagslandschaften, weniger auf die sogenannten Bil<strong>der</strong>buchlandschaften,<br />
in denen <strong>der</strong> Gebrauch hinter dem musealisierten Produkt als<br />
reines Anschauungsobjekt verschwindet. Im Mittelpunkt dieses Beitrages soll es<br />
daher um die Erfassung von Landschaftsstrukturen gehen, die für den alltäglichen<br />
Gebrauch wesentlich sind, sich aber nicht als Bil<strong>der</strong>, son<strong>der</strong>n mittels dichter Beschreibungen<br />
fassen lassen.<br />
geBrauchSWert uND tauSchWert BeI LefèBvre<br />
Die Frage nach dem Gebrauchswert spielt seit <strong>der</strong> Theorie <strong>der</strong> Produktion des<br />
Raumes (Pdr 1974) von Henri Lefèbvre, entwickelt in den Vorarbeiten Kritik des Alltagslebens<br />
(kda 1947, dt. 1974), Die Revolution <strong>der</strong> Städte (rdS 1972) und in La Droite à<br />
la Ville (Dav 1971, dt. 2009), beson<strong>der</strong>s in den letzten Jahrzehnten eine herausragende<br />
Rolle in <strong>der</strong> urbanistischen Theorie.<br />
207
StruktureN uND BauSteINe eINeS LaNDSchaftSvertragS<br />
220<br />
Bild 3 (o.), tafel 2 (re.): raumstrukturen, die vom tauschwert beherrscht sind. Quellen: Eigene Darstellung
SchmöLz . zum geBrauchSWert eINer LaNDSchaft<br />
StraßeN &<br />
PLätze<br />
ortsteilstraße<br />
Autobahn A7<br />
Scheidplatz & festplatz<br />
moNumeNte<br />
Explorer Hotel<br />
alpspitzbadecenter<br />
alpspitzbahn<br />
AUSSICHTS-<br />
PuNkte<br />
gerahmte ortsansicht<br />
Gipfelpanorama<br />
toPoI &<br />
fLurNameN<br />
Explorer Hotel<br />
Gamssteige<br />
221<br />
ParkS &<br />
gärteN<br />
NSg attlesee
StruktureN uND BauSteINe eINeS LaNDSchaftSvertragS<br />
orte<br />
MOTIVE<br />
RUHE EMPFINDEN,<br />
SICH ZURÜCKZIEHEN<br />
WIEDERHOLEN,<br />
EINER GEWOHNHEIT/<br />
RITUAL NACHGEHEN<br />
FASZINIEREND FINDEN<br />
Kirschblüte<br />
in Pretzfel<strong>der</strong><br />
umgebung;<br />
Der Kirschgarten<br />
ich<br />
draufgekommen,<br />
dass [...] mich [...]<br />
sehr fasziniert.<br />
mal<br />
ich<br />
wo [...] auch alleine sein<br />
kann.<br />
Basilika<br />
Gößweinstein<br />
man<br />
sich zurückziehen kann<br />
Der Wachstein<br />
ist ein Felsen<br />
bei Truppach<br />
ich<br />
geh [...] mit<br />
meinem Hund<br />
meistens<br />
Reifenberg. Die<br />
Vexierkapelle.<br />
du<br />
siehst [...] Niemanden.<br />
Keinen Menschen [...] bist<br />
[...] alleine<br />
240<br />
Weiher<br />
Grundstück<br />
Arnoldsreuth<br />
du<br />
ich<br />
hier eine Bank, die nächste<br />
ist 30 m weg. [...] sitzt<br />
einfach für dich alleine<br />
alleine durch das Wäldchen<br />
fahre und kurz vor<br />
dem GRUNDSTÜCK bin,<br />
dann ist für mich<br />
Feierabend<br />
ich<br />
[...] fahre runter, stell [...]<br />
den Bus irgendwohin und<br />
mach ein bisschen was,<br />
dann setz [...] mich hin<br />
und mach ein Bier auf.<br />
PHYSIOLOGISCHE BEDÜRFNISSE
Bauer . aLLtagSLaNDSchaft<br />
SICH IDENTIFIZIEREN,<br />
FAVORISIEREN<br />
INNOVATIV SEIN,<br />
TRÄUME HABEN,<br />
ETWAS NEUES<br />
AUSPROBIEREN<br />
NACHDENKEN,<br />
ÜBERLEGEN<br />
ich<br />
die Zuneigung zu den<br />
kirschen, [...] mit dem<br />
Kirschenthema angefangen<br />
habe.<br />
ich<br />
wollte dann natürlich ein<br />
Buch schreiben<br />
mir<br />
halt auch [...] sehr viel<br />
bedeutet.<br />
man<br />
[...] auf an<strong>der</strong>e Gedanken<br />
kommt.<br />
man<br />
kann [...] überlegen<br />
man<br />
wenn‘s einem<br />
nicht so gut geht<br />
nachdenken.<br />
immer<br />
ich<br />
Wo bist du denn am liebsten?<br />
[...] welcher PUNKT<br />
gefällt dir [...] am besten?<br />
du<br />
kannst [...] Denken<br />
o<strong>der</strong> nicht denken,<br />
einfach nur<br />
genießen.<br />
mal<br />
ist [...] mein meer. [...] das ist<br />
riesig.<br />
man<br />
kann [...] echt zwei Piratenboote<br />
draufhauen. Was<br />
mein Traum ist. Und dann<br />
gibts eine Piratenschlacht.<br />
241<br />
TRANSZENDENZ
StruktureN uND BauSteINe eINeS LaNDSchaftSvertragS<br />
Bild 2 und 3: morphologie <strong>der</strong> hallertau mit Panoramastandort (roter Punkt) und Prinzip-geländeschnitt<br />
(überhöht). Quelle: Eigene Darstellung<br />
tafel 1 (re.): Die klassischen Proportionenbegriffe vitruvs — ordinatio, quantitas, modul, eurythmia,<br />
proportio und symmetria — übertragen auf Landschaft und beispielhaft angewandt auf die Hallertau.<br />
Quelle: Eigene Darstellung<br />
274
kerN . LaNDSchaftSmoDuLor<br />
orDINatIo<br />
vitruvs Proportionenkategorien<br />
angewandt auf die<br />
Landschaft am Beispiel<br />
<strong>der</strong> Hallertau: Die ordinatio<br />
wird durch das Amperund<br />
Ilmtal definiert. Die<br />
quantitas ist die Struktur<br />
<strong>der</strong> täler, hänge und hügel.<br />
Daraus leitet sich das<br />
modul eines hügelzahns<br />
ab. In <strong>der</strong> eurythmia wird<br />
gezeigt, wie sich die Landschaftselemente<br />
— fluss,<br />
Wald und Siedlung — zur<br />
quantitas verhalten. Aus<br />
<strong>der</strong> proportio <strong>der</strong> Hügel<br />
und Täler lässt sich die<br />
formation und Setzung<br />
<strong>der</strong> Windenergieanlagen<br />
ableiten.<br />
QuaNtItaS<br />
moDuL<br />
eurythmIa<br />
ProPortIo<br />
SymmetrIa<br />
In <strong>der</strong> symmetria werden<br />
schließlich die gesamtlandschaftlich<br />
proportional<br />
günstigen Standorte<br />
festgelegt.<br />
275
StruktureN uND BauSteINe eINeS LaNDSchaftSvertragS<br />
<strong>der</strong> Abstand zwischen den Anlagen möglichst gering sein, um ein visuelles Erfassen<br />
<strong>der</strong> Windrä<strong>der</strong> als eine Formation zu ermöglichen.<br />
Wie hier das Panorama zeigt, (Bild 7) wird durch die Anreicherung <strong>der</strong> vertikalen<br />
Strukturen die Weite noch stärker tiefengestaffelt, gestreckt und so, bezogen<br />
auf Raumwahrnehmung und Raumgefühl, durch die Windrä<strong>der</strong> kaum verän<strong>der</strong>t.<br />
Das Einbringen einer weiteren Höhenschicht dagegen verän<strong>der</strong>t die Raumwahrnehmung,<br />
in <strong>der</strong> die bisher dominant horizontale, lediglich von Baumsäumen begrenzte<br />
Landschaft nun eine neue vertikale Struktur erhält und diese Dimension<br />
stärkt. Die Monotonie <strong>der</strong> Landschaft wird durch ein weiteres Landschaftselement,<br />
Windenergieanlagen, angereichert, bleibt jedoch in ihrer Proportion erhalten und<br />
die Harmonie des Landschaftsbildes bleibt gewahrt.<br />
Literatur<br />
BfN (o. J.): Landschaftstypen. https://www.bfn.de/0311_landschaftstypen.html (18.05.2015)<br />
Bacher, Siegfried (1999): kulturhistorische Landschaftselemente in Brandenburg. Berlin, 14ff.<br />
Lfu (2013): kulturlandschaftliche empfehlungen für Bayern, Nr. 49: hallertau. http://www.lfu.bayern.<br />
de/natur/kulturlandschaft/empfehlungen/doc/49.pdf (18.05.2015)<br />
286<br />
Liesenberg, carsten (2003): Die kolonisation des o<strong>der</strong>bruchs. Weimar, 25ff. und 21ff.<br />
Liedtke, herbert; marcinek, Joachim (1995): Physische geographie Deutschlands. gotha, 299<br />
ruppert, k. (1968): hallertau. In: Bayerisches Landesvermessungsamt (hg.): topographischer atlas<br />
Bayern. münchen, 190<br />
Schöbel, Sören (2012): Windenergie und Landschaftsästhetik. Berlin<br />
Wikipedia: http://www.wikipedia.org/wiki/o<strong>der</strong>bruch (27.05.2017)
kerN . LaNDSchaftSmoDuLor<br />
FAZIT<br />
Dieses am Beispiel <strong>der</strong> Windenergieanlagen entwickelte Verfahren eines Landschaftsmodulors<br />
lässt sich auch auf an<strong>der</strong>e Fragen nach dem Maß <strong>der</strong> Landschaft<br />
in einem neuen <strong>Landschaftsvertrag</strong> übertragen. Dabei ist jeweils zu klären, um<br />
welche Landschaft es geht, welche Landschaftselemente o<strong>der</strong> -strukturen die Träger<br />
<strong>der</strong> proportio sein können und schließlich, worin die neue Aufgabe besteht.<br />
Hier sind von <strong>der</strong> Ausweisung von Gewerbeflächen bis zur Konzeption eines neuen<br />
Beweidungsmusters viele Fragestellungen denkbar. Allen ist allerdings gleich,<br />
das sie nicht unter dem Aspekt <strong>der</strong> Messung, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Wahrnehmung verstanden<br />
werden und auch die entworfene Konzeption auf diese Weise verifiziert wird,<br />
also durch räumliche Strukturbil<strong>der</strong> und Visualisierungen.<br />
Da die Analyse- und Entwurfsmethodik des Landschaftsmodulors, also das Arbeiten<br />
und Entwerfen nach landschaftlichen Proportionen, eine noch junge Idee<br />
ist, muss die Palette <strong>der</strong> Möglichkeiten, <strong>der</strong> Katalog <strong>der</strong> verwendeten Werkzeuge<br />
und Parameter weiter erforscht und entwickelt werden. Welche können über die<br />
Proportionen <strong>der</strong> Landschaft beson<strong>der</strong>s gut Aufschluss geben? Aus <strong>der</strong> Stadt kommend:<br />
Maximalhöhen <strong>–</strong> Traufkanten <strong>–</strong> von Gebäuden, Parzellengrenzen, Dichte<br />
von Rän<strong>der</strong>n, Straßentypen; auf dem Land ankommend: Schlaggrößen von Fel<strong>der</strong>n,<br />
Reliefunterschiede und -ausprägung, Dichte und Anordnung von allgemeinen<br />
sowie spezifischen Landschaftselementen, Son<strong>der</strong>kulturen, Alleen usw. …<br />
Hier ließe sich ein umfassen<strong>der</strong> Analysekatalog zu Logiken und Wahrnehmungen<br />
von verschiedenen, spezifischen Landschaften entwickeln, <strong>der</strong> zu einer künftig<br />
routinierten Anwendung des Landschaftsmodulors ebenso beitragen würde, wie<br />
eine Typologie von allgemeinen Strukturen und Strukturelementen.<br />
287
BAUSTEINE EINES NEUEN LANDSCHAFTSVERTRAGS<br />
voN SöreN SchöBeL<br />
(verweise ohne Jahreszahl beziehen sich auf Beiträge in diesem Buch)<br />
In diesem Buch geht es um die Frage, wie in suburbanen und ruralen Räumen<br />
statt des hier vorherrschenden Prinzips <strong>der</strong> Funktionstrennung eine vergleichbare<br />
Wertschätzung gegenüber gewachsenen Raumzusammenhängen zu erlangen wäre,<br />
wie sie seit den 1970er Jahren in den städtischen Diskurs- und Planungskulturen<br />
<strong>der</strong> <strong>kritischen</strong> <strong>Rekonstruktion</strong> und behutsamen Erneuerung <strong>der</strong> Europäischen Stadt<br />
entstanden ist. Ließe sich analog zu jenem neuen Stadtvertrag ein neuer <strong>Landschaftsvertrag</strong><br />
aushandeln, um den ungelösten und wachsenden Problemen <strong>der</strong><br />
Zwischenstadt und des Landes zu begegnen, indem auch hier nach sozialen, ökonomischen<br />
und ökologischen Vorzügen historisch gewachsener Raumstrukturen<br />
gesucht wird?<br />
Eine solche gemeinsame Betrachtung suburbaner und ländlicher Räume erscheint<br />
zunächst ungewohnt, weil die Zwischenstadt üblicherweise doch aus <strong>der</strong><br />
urbanen Perspektive gesehen wird (Sieverts 1997). Wohl deswegen haben die meisten<br />
Beiträge in diesem Buch sich wie<strong>der</strong>um eher auf das Land konzentriert <strong>–</strong> bzw. auf<br />
das, was „davon übrig geblieben“ ist (hoffmann-axthelm). Doch haben suburbane Lebensformen<br />
inzwischen eine <strong>der</strong>art weite räumliche Ausdehnung erlangt, dass es<br />
nahe liegt, nicht mehr nur danach zu fragen, wie viel Stadt, son<strong>der</strong>n auch, wieviel<br />
Land ihnen fehlt und was sie <strong>–</strong> entgegen des ihnen zugrundeliegenden Prinzips <strong>der</strong><br />
funktionalen und räumlichen Trennung (Lefèbvre 1972) <strong>–</strong> zusammenhalten könnte.<br />
Deswegen ist hier auch die Perspektive urbaner Landschaften einzunehmen, nicht<br />
nur aus analytischen, son<strong>der</strong>n auch aus konzeptionellen Gründen. Es bleibt gar<br />
nichts an<strong>der</strong>es übrig, als das Hybrid von beiden Seiten zu betrachten.<br />
Angesichts des laufenden gesellschaftlichen Strukturwandels und notwendiger<br />
globaler Transformationen ist es, wie in <strong>der</strong> Einleitung begründet wurde, jedenfalls<br />
nicht mehr vertretbar, in Stadt, Zwischenstadt und Land auf grundsätzlich<br />
verschieden wertige Lebensformen, Lebenschancen und Raumverantwortungen<br />
zu verweisen. Das im allgemeinen „Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“<br />
(held) formulierte Ziel einer kollektiven ökologischen, demokratischen<br />
und Zukunftsverantwortung betrifft ohnehin alle Raumtypen. So sind: urbane<br />
Lebensformen, Zivilisationsprozesse, soziale Integrationsfähigkeit, kreative Inno-<br />
289<br />
Bild 1 (li.): europäische kulturlandschaft als relikt: transsilvanien. Foto: Schöbel
StruktureN uND BauSteINe eINeS LaNDSchaftSvertragS<br />
schaften des öffentlichen Raumes getroffen werden. Die Durchmischung soll auch<br />
durch eine Heraufsetzung von Lärmgrenzwerten erreicht werden.<br />
Anstatt auf dem Land den Urbanen Gebieten vergleichbare Regelungen zu schaffen,<br />
die eine niedrigschwellige Nutzungsmischung nicht nur ermöglichen, son<strong>der</strong>n<br />
för<strong>der</strong>n, wurde hier eine befristete Vereinfachung <strong>der</strong> Ausweisung von Baugebieten<br />
eingeführt, die genau das Gegenteil för<strong>der</strong>t, nämlich Einfamilienhausgebiete<br />
suburbanen Typs an den Ortsrän<strong>der</strong>n. Eine Mischung als Voraussetzung für gelingende<br />
Integration lässt sich aber eben nicht vom äußeren Rande her, son<strong>der</strong>n nur<br />
aus dem gewachsenen Kern heraus aufrechterhalten o<strong>der</strong> entwickeln.<br />
Im Dialog zu einem <strong>Landschaftsvertrag</strong> sollte daher darüber nachgedacht werden,<br />
ob und wie so viele und verschiedene Menschen wie möglich direkt und indirekt<br />
von o<strong>der</strong> mit einer wie auch immer gearteten Landnutzung leben können.<br />
Das soll keineswegs eine neue Subsistenzwirtschaft anstreben, aber so etwas wie<br />
eine Mischung aus <strong>der</strong> südwestdeutschen Tradition einer durch Kleinteiligkeit <strong>der</strong><br />
Flur nahe gelegten Nebenerwerbslandnutzung mit <strong>der</strong> in urbanen Migrantenquartieren<br />
sich entfaltenden Kleingewerbewirtschaft. So wie im Urbanen Gebiet die soziale<br />
Dichte verschiedenste Formen von Handel, Dienstleistungen und kultureller<br />
Produktion erlauben soll, so können in einer entsprechend als Rurales Gebiet zu<br />
bezeichnenden Kategorie Formen von Primärproduktion, Veredelung, Vermarktung<br />
und Kultur geför<strong>der</strong>t werden. Die notwendige Begrenzung von Bautypen,<br />
Grundflächenzahlen und Erschließungen würde über das oben beschriebene erweiterte<br />
Einfügegebot in <strong>der</strong> <strong>Kulturlandschaft</strong> getragen (Schöbel 2017).<br />
raumorDNuNgSgeSetz rog uND regIoNaLPLaNuNg<br />
Der Bauleitplanung vorgängig sind die Regelungen <strong>der</strong> Raumordnung zur Raumverträglichkeit.<br />
Nach <strong>der</strong> üblichen Praxis unterliegen dabei Stadtkerne einem<br />
beson<strong>der</strong>en Schutz, <strong>der</strong> etwa in peripheren Gewerbeflächen zu Maximalgrößen<br />
und Sortimentsbeschränkungen für tägliche Bedarfsgüter führen kann, damit Einzelhandel<br />
und Kleingewerbe in den Innenbereichen und damit die tissue urbaine<br />
lebensfähig bleibt. Vergleichsweise schutzlos sind dagegen rurale und suburbane<br />
Landschaften, obwohl diese unter den Dimensionssprüngen, <strong>der</strong> Dominanz von<br />
Monostrukturen genauso leiden wie kleinräumige Innenstädte.<br />
304<br />
Bild 4: Landschaften und Planungsregionen in Deutschland als kleinste maßstabsebene — größter räumlicher<br />
umgriff — eines <strong>Landschaftsvertrag</strong>s. grundlage topografie: 3D relief map of germany, arid ocean<br />
maps, Planungsregionen nach raumordnungsbericht 2005 und karte raumordnungsregionen 2011, Bundesamt<br />
für Bauwesen und Raumordnung. zusammenstellung: Daniel czechowski
Schöbel . Bausteine eines neuen <strong>Landschaftsvertrag</strong>s<br />
305
LaNDSchaftSvertrag<br />
314<br />
Im üBerBLIck | EUROPÄISCHES LANDSCHAFTSÜBEREINKOMMEN<br />
(euroPeaN LaNDScaPe coNveNtIoN)<br />
Präambel<br />
Die mitgliedstaaten des europarats, die dieses übereinkommen unterzeichnen —<br />
in <strong>der</strong> erwägung, dass es das ziel des europarats ist, eine engere verbindung zwischen seinen<br />
mitglie<strong>der</strong>n herbeizuführen, um die Ideale und grundsätze, die ihr gemeinsames erbe<br />
bilden, zu wahren und zu för<strong>der</strong>n, und dass dieses ziel insbeson<strong>der</strong>e durch den abschluss<br />
von übereinkünften auf wirtschaftlichem und sozialem gebiet verfolgt wird;<br />
in dem Wunsch, eine nachhaltige entwicklung auf <strong>der</strong> grundlage eines ausgewogenen und<br />
harmonischen verhältnisses zwischen gesellschaftlichen Bedürfnissen, wirtschaftlicher tätigkeit<br />
und <strong>der</strong> umwelt zu erreichen;<br />
im hinblick darauf, dass die Landschaft auf kulturellem, ökologischem, umweltpolitischem<br />
und gesellschaftlichem Gebiet eine wichtige Rolle im öffentlichen Interesse spielt und eine<br />
die wirtschaftliche tätigkeit för<strong>der</strong>nde ressource darstellt, <strong>der</strong>en Schutz, Pflege und Planung<br />
zur Schaffung von arbeitsplätzen beitragen können;<br />
in dem Bewusstsein, dass die Landschaft zur herausbildung lokaler kulturen beiträgt und<br />
dass sie ein grundlegendes element des europäischen Natur- und kulturerbes darstellt<br />
und somit zum Wohlergehen <strong>der</strong> menschen und zur festigung <strong>der</strong> europäischen Identität<br />
beiträgt;<br />
in anerkennung dessen, dass die Landschaft überall einen wichtigen teil <strong>der</strong> menschlichen<br />
Lebensqualität darstellt: in städtischen gebieten und auf dem Land, in beeinträchtigten<br />
gebieten ebenso wie in gebieten von hoher Qualität, in beson<strong>der</strong>s schönen gebieten ebenso<br />
wie in gewöhnlichen gebieten;<br />
in <strong>der</strong> erkenntnis, dass die entwicklungen im Bereich <strong>der</strong> Land- und forstwirtschaft, <strong>der</strong> Produktionsverfahren<br />
in Industrie und Bergbau, <strong>der</strong> regional- und Stadtplanung, des verkehrswesens,<br />
<strong>der</strong> Infrastruktur, des tourismus und <strong>der</strong> freizeit sowie, ganz allgemein, weltwirtschaftliche<br />
verän<strong>der</strong>ungen in vielen fällen den Wandel von Landschaften beschleunigen;<br />
in dem Bestreben, dem Wunsch <strong>der</strong> öffentlichkeit nach qualitativ hochwertigen Landschaften<br />
und nach aktiver Beteiligung an <strong>der</strong> Landschaftsentwicklung zu entsprechen;<br />
in <strong>der</strong> überzeugung, dass die Landschaft für das Wohl des einzelnen und <strong>der</strong> gesellschaft<br />
ein Schlüsselelement darstellt und dass ihr Schutz, ihre Pflege und ihre Planung rechte und<br />
Pflichten für alle mit sich bringen;<br />
unter Berücksichtigung <strong>der</strong> vorhandenen völkerrechtlichen übereinkünfte im Bereich des<br />
Schutzes und <strong>der</strong> Pflege des Natur- und kulturerbes, <strong>der</strong> raumordnung, <strong>der</strong> kommunalen<br />
Selbstverwaltung und <strong>der</strong> grenzüberschreitenden zusammenarbeit [...];<br />
in anerkennung dessen, dass die Qualität und vielfalt <strong>der</strong> europäischen Landschaften ein<br />
gemeinsames gut darstellen und dass es wichtig ist, zu seinem Schutz, seiner Pflege und<br />
seiner Planung zusammenzuarbeiten;<br />
in dem Wunsch, eine neue übereinkunft zu schaffen, die ausschließlich dem Schutz, <strong>der</strong><br />
Pflege und <strong>der</strong> Planung aller Landschaften in europa dient —<br />
sind wie folgt übereingekommen:
Im üBerBLIck | euroPäIScheS LaNDSchaftSüBereINkommeN<br />
5 | SIeBeN gruNDregeLN<br />
Kapitel I Allgemeine Bestimmungen<br />
Artikel 1 Begriffsbestimmungen<br />
Im Sinne dieses übereinkommens bedeuten<br />
a) „Landschaft“ ein gebiet, wie es vom menschen wahrgenommen wird, dessen charakter<br />
das ergebnis <strong>der</strong> Wirkung und Wechselwirkung von natürlichen und/o<strong>der</strong> menschlichen faktoren<br />
ist;<br />
b) „Landschaftspolitik“ von den zuständigen staatlichen Stellen formulierte allgemeine<br />
grundsätze, Strategien und Leitlinien, auf grund <strong>der</strong>en spezifische maßnahmen zum<br />
Schutz, zur Pflege und zur Planung von Landschaften ergriffen werden können;<br />
c) „Landschaftsqualitätsziel“ in Bezug auf eine bestimmte Landschaft die von den zuständigen<br />
staatlichen Stellen formulierten Ansprüche <strong>der</strong> Öffentlichkeit an die Landschaftsmerkmale<br />
ihrer umgebung;<br />
d) „Landschaftsschutz“ maßnahmen zur erhaltung und Pflege <strong>der</strong> maßgeblichen o<strong>der</strong> charakteristischen<br />
merkmale einer Landschaft, die durch den kulturhistorischen Wert <strong>der</strong> Landschaft<br />
begründet sind, <strong>der</strong> auf ihr natürliches erscheinungsbild und/o<strong>der</strong> die tätigkeit des<br />
menschen zurückzuführen ist;<br />
e) „Landschaftspflege“ unter dem aspekt <strong>der</strong> nachhaltigen entwicklung durchgeführte maßnahmen<br />
zur gewährleistung <strong>der</strong> erhaltung einer Landschaft, damit durch gesellschaftliche,<br />
wirtschaftliche und ökologische Prozesse hervorgerufene verän<strong>der</strong>ungen gesteuert und aufeinan<strong>der</strong><br />
abgestimmt werden können;<br />
f) „Landschaftsplanung“ maßnahmen von ausgeprägt zukunftsweisen<strong>der</strong> Natur, die Landschaften<br />
aufwerten, wie<strong>der</strong>herstellen o<strong>der</strong> gestalten sollen.<br />
Artikel 2 Geltungsbereich<br />
vorbehaltlich des artikels 15 gilt dieses übereinkommen für das gesamte hoheitsgebiet <strong>der</strong><br />
vertragsparteien und erstreckt sich auf natürliche, ländliche, städtische und verstädterte<br />
gebiete. es schließt Landflächen, Binnengewässer und meeresgebiete ein. es betrifft Landschaften,<br />
die als außergewöhnlich betrachtet werden können, ebenso wie als alltäglich zu<br />
bezeichnende o<strong>der</strong> beeinträchtigte Landschaften.<br />
Artikel 3 Ziele<br />
ziel dieses übereinkommens ist die för<strong>der</strong>ung von Landschaftsschutz, -pflege und -planung<br />
sowie die organisation <strong>der</strong> europäischen zusammenarbeit in Landschaftsfragen.<br />
Kapitel II Nationale Maßnahmen<br />
Artikel 4 Verteilung <strong>der</strong> Zuständigkeiten<br />
Jede vertragspartei führt dieses übereinkommen, insbeson<strong>der</strong>e die artikel 5 und 6, nach<br />
maßgabe ihrer eigenen zuständigkeitsverteilung, im einklang mit ihren verfassungsgrundsätzen<br />
und ihrer verwaltungsorganisation, unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips und<br />
unter Berücksichtigung <strong>der</strong> Europäischen Charta <strong>der</strong> kommunalen Selbstverwaltung durch.<br />
unbeschadet <strong>der</strong> Bestimmungen dieses übereinkommens stimmt jede vertragspartei die<br />
Durchführung dieses übereinkommens mit ihrer eigenen Politik ab.<br />
Artikel 5 Allgemeine Maßnahmen<br />
Jede vertragspartei verpflichtet sich,<br />
a) Landschaften als wesentlichen Bestandteil des Lebensraums <strong>der</strong> menschen, als ausdruck<br />
<strong>der</strong> vielfalt ihres gemeinsamen kultur- und Naturerbes und als grundlage ihrer Identität<br />
rechtlich anzuerkennen;<br />
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LaNDSchaftSvertrag<br />
Der Herausgeber<br />
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Sören Schöbel ist Doktor <strong>der</strong> Ingenieurwissenschaften und Landschaftsarchitekt. Nach dem<br />
Studium <strong>der</strong> Landschaftsplanung an <strong>der</strong> Technischen Universität Berlin arbeitete er freiberuflich<br />
in <strong>der</strong> entwurfsplanung, in <strong>der</strong> Projektentwicklung und in <strong>der</strong> objektplanung. von<br />
1998 bis 2003 war er Wissenschaftlicher mitarbeiter an <strong>der</strong> tu Berlin bei Prof. Jürgen Wenzel,<br />
lehrte entwerfen und promovierte über Qualität und Quantität — Perspektiven städtischer<br />
freiräume. Seit September 2005 leitet er die Professur für Landschaftsarchitektur<br />
regionaler freiräume (Lareg) an <strong>der</strong> technischen universität münchen. Sören Schöbel ist<br />
mitglied <strong>der</strong> Bayerischen architektenkammer, <strong>der</strong> Deutschen akademie für Städtebau und<br />
Landesplanung DASL sowie <strong>der</strong> Akademie Ländlicher Räume Bayern ALR.
5 | SIeBeN gruNDregeLN<br />
Professur für Landschaftsarchitektur regionaler Freiräume<br />
— Technische Universität München<br />
Seit ihren Anfängen arbeitet Landschaftsarchitektur neben <strong>der</strong> Gartenkunst auch mit an<br />
<strong>der</strong> Entwicklung größerer räumlicher Zusammenhänge von Städten und <strong>Kulturlandschaft</strong>en:<br />
¬ mit Programmen zur sozialen, ökologischen und ästhetischen aufgabe von freiräumen<br />
(freiraumtheorie)<br />
¬ mit räumlichen Strukturkonzepten zur verteilung <strong>der</strong> grün- und freiräume im Stadtgebiet<br />
(freiraumplanung) und<br />
¬ mit Plänen zu ästhetischen und ökologischen verbesserungen in <strong>der</strong> kulturlandschaft<br />
(Landschaftsentwicklung).<br />
Während man im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t Stadt und freiraum, Landschaft und Siedlung als einheit<br />
begriff, konzentrierten sich die grünplaner im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t auf die Sicherung quantitativer<br />
und funktionaler Standards von freiflächen. Ihre konzepte suchten freiraum als<br />
ein autonomes System darzustellen, das <strong>der</strong> Stadt in ihrem Wachstum (verdichtung und<br />
ausdehnung) zu wi<strong>der</strong>stehen hat. Damit ist es gelungen, den anteil von freiräumen zu<br />
steigern. Nicht gelungen ist es, die zersiedelung <strong>der</strong> Landschaft (d. h. eine flächen- und<br />
ressourcenfressende Siedlungsentwicklung) und eine verlandschaftlichung <strong>der</strong> Siedlungen<br />
(d. h. eine auflösung <strong>der</strong> städtischen räume) zu verhin<strong>der</strong>n.<br />
heute wird deutlich, dass fachplanerische optimierungen (Infrastruktur, verkehr, energie,<br />
Naturschutz etc.) isoliert betrieben keine sozial, ökologisch und ästhetisch akzeptablen<br />
Verhältnisse schaffen können. Die Blicke richten sich auf Freiraum und Landschaft als Strukturgeber<br />
für neue urbane Lebenswelten:<br />
¬ freiraum als qualitatives grundgerüst in <strong>der</strong> revitalisierung <strong>der</strong> europäischen Stadt ><br />
Freiraumstrukturen<br />
¬ Landschaft als Prinzip für die Qualifizierung des suburbanen raums > urbane Landschaften<br />
¬ Landschaft als Prinzip für die Integration neuer Landnutzungen und Infrastrukturen ><br />
Energielandschaften<br />
Die Professur erforscht und lehrt das konzeptionelle, gestaltgebende Entwerfen von<br />
Freiraum und Landschaft.<br />
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Landschaftsarchitektur regionaler Freiräume - LAREG<br />
Emil-Ramann-Str. 6<br />
D - 85354 freising<br />
www.LAREG.ar.tum.de