29.11.2017 Aufrufe

2008-03

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Philosophischer Essay<br />

Bildquelle: Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO)<br />

dizinische Voraussage auf den nahen und unabwendbaren<br />

Tod? Belegt sie nicht eher die Irreversibilität des Sterbens?<br />

Das könnte ich ja verstehen. Aber dann ist der Patient kein<br />

Toter, sondern ein Sterbender, also ein Lebender. Das wiederum<br />

wirft die Frage auf, wird durch die Hirntoddiagnose<br />

der Todeszeitpunkt eines sterbenden Menschen nicht vorverlegt,<br />

eben zum Zweck der Organentnahme? Diese kritische<br />

Frage hat schon der weise Philosoph Hans Jonas vor<br />

vielen Jahren gestellt, als er in einem seiner letzten Briefe,<br />

fast flehentlich, die Mediziner aufforderte: „Lasst sie zuerst<br />

sterben“. 11)<br />

„tot ist tot“, aber wie lebendig ist<br />

ein Hirntoter?<br />

Zu all diesen beklemmenden Fragen kommt noch erschwerend<br />

hinzu, dass die Kriterien zur Feststellung des<br />

Hirntodes nicht einheitlich sind. Weltweit gibt es schon seit<br />

1978 über 30 verschiedene Kriteriengruppen. 4) Das wiederum<br />

bedeutet, dass ein Patient an einem bestimmten Ort auf<br />

der Welt, nach den dort bestehenden Kriterien für tot erklärt<br />

wird, nicht aber an einem anderen Ort, wo nach anderen<br />

Kriterien entschieden wird. Hier tot, dort lebendig. Außerdem<br />

haben Änderungen der Kriterien die Tendenz, weniger<br />

strikt zu sein als die früheren 4) . So setzten die Harvard-<br />

Kriterien von 1968 noch eine völlige Reflexlosigkeit für<br />

den Nachweis des Hirntodes voraus. Nach diesen Kriterien<br />

wäre die Diagnose des Hirntodes in Deutschland heute in<br />

den meisten Fällen gar nicht haltbar. 4) Inzwischen gelten in<br />

Europa und den USA bestimmte Reflexe und Bewegungen<br />

mit dem Status einer Leiche als durchaus vereinbar, davon<br />

17 bei Männern (darunter die Erektion des Penis) und 14<br />

bei Frauen. „Lt. Statistik der Transplantationsmedizin sind<br />

75 Prozent aller Hirntoten noch in der Lage sich zu bewegen.<br />

Dazu gehören beispielsweise Reflexe der unteren<br />

Extremitäten, der Fußsohle, der Achillesferse, Nacken-,<br />

Finger-, Rumpf-Beugereflexe sowie Bauch-, Vaginal-, Unterleib-<br />

oder Analreflexe, wovon 11 durch Stiche ausgelöst<br />

werden.“ 5) Viele dieser oder anderer Bewegungen und Reflexe<br />

sind laut der Transplantationsmedizin nur noch (!)<br />

„spinale Reaktionen“ des Rückenmarks. Trotzdem irritieren<br />

sie immer wieder, auch erfahrenes OP-Personal. Unter<br />

ihnen auch das sogenannte „Lazarus-<br />

Syndrom“, bei dem sich der Hirntote<br />

mit seinem Oberkörper aufrichtet und<br />

Umarmungsbewegungen macht. Wie<br />

fragwürdig die Definition ist, der Hirntod<br />

sei der Tod des ganzen Menschen,<br />

wird besonders dadurch deutlich, dass<br />

hirntote Schwangere in der Lage sind,<br />

gesunden Kindern Leben zu schenken.<br />

Die längste Schwangerschaft einer<br />

Hirntoten betrug 107 Tage. Sie wurde<br />

durch Kaiserschnitt von einem gesunden<br />

Jungen entbunden, der sich normal<br />

entwickelte. 4) Von einer anderen,<br />

hirntoten Schwangeren ist bekannt, dass ihr Körper nach<br />

der Geburt begann, Muttermilch zu produzieren und die<br />

Brustwarzen anzuregen. Eine Funktion, die nur durch ein<br />

Signal im Gehirn (einer bestimmten Gehirnregion) ausgelöst<br />

werden kann. 6) Wie immer man zu der Schwangerschaft<br />

einer hirntoten Frau auch stehen mag, sicher ist, nur<br />

ein lebender Organismus kann Leben weitergeben. Welche<br />

Zweifel hochkarätige Experten am Hirntodkonzept haben,<br />

mögen die Aussagen zweier renommierter Hirnforscher<br />

verdeutlichen. Prof. Dr. Detlef Linke, Bonn ( + 2005) stellte<br />

schon vor Jahren die Frage: „Kann ein Mensch für tot<br />

angesehen werden, wenn 97 % seiner Körperzellen noch<br />

funktionieren, aber nur 3 %, die sein Gehirn ausmachen,<br />

ausgefallen sind“? (...) der Organismus stirbt während der<br />

Operation (Explantation) im Rahmen der Kochsalzdurchspülung<br />

des Kreislaufsystems ab.“ 7) Prof. Dr. Gerhard Roth,<br />

Bremen, sagte bei einer Expertenanhörung des Bundestagsausschusses<br />

für Gesundheit bereits im Jahr 1995 u.a.:<br />

„Die Aussage, der Tod eines Menschen sei dann eingetreten,<br />

wenn seine gesamte Hirnfunktionen irreversibel ausgefallen<br />

sind, ist aus physiologischer Sicht nicht haltbar<br />

(....). Der Ausfall der gesamten Hirnfunktionen kann mit<br />

den heute angewandten Verfahren nicht zweifelsfrei festgestellt<br />

werden (...). Eine wirkliche Leiche ist für eine Organentnahme<br />

ungeeignet. Will man Organtransplantation,<br />

dann muss man akzeptieren, dass man die Organe einem<br />

lebenden Menschen entnimmt, dessen Hirn irreversible<br />

geschädigt ist“ 7) . Von einem Neurophysiologen stammt die<br />

Aussage: Ohne Gehirn ist alles nichts, aber das Gehirn ist<br />

nicht alles. Hinter diesem (nur scheinbar) lapidaren Satz<br />

tut sich ein weites Feld interessanter und nachdenkenswerter<br />

Fragen auf, die es wert sind, dass man ihnen einmal<br />

nachgeht, auch und gerade im Umfeld der Hirntoddiagnostik.<br />

Die Organentnahme (Explantation)<br />

Dieses Kapitel berührt mich, ich gebe es ehrlich zu, am<br />

heftigsten. Aber es gehört zu meinen kritischen Gedanken<br />

dazu, denn gerade im Ablauf der Organentnahme wird für<br />

mich die ganze Fragwürdigkeit einer Organtransplantation<br />

und mit ihr die Glaubwürdigkeit der Hirntoddefinition be-<br />

44 durchblick 3/<strong>2008</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!