2008-03
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Philosophischer Essay<br />
Bildquelle: Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO)<br />
dizinische Voraussage auf den nahen und unabwendbaren<br />
Tod? Belegt sie nicht eher die Irreversibilität des Sterbens?<br />
Das könnte ich ja verstehen. Aber dann ist der Patient kein<br />
Toter, sondern ein Sterbender, also ein Lebender. Das wiederum<br />
wirft die Frage auf, wird durch die Hirntoddiagnose<br />
der Todeszeitpunkt eines sterbenden Menschen nicht vorverlegt,<br />
eben zum Zweck der Organentnahme? Diese kritische<br />
Frage hat schon der weise Philosoph Hans Jonas vor<br />
vielen Jahren gestellt, als er in einem seiner letzten Briefe,<br />
fast flehentlich, die Mediziner aufforderte: „Lasst sie zuerst<br />
sterben“. 11)<br />
„tot ist tot“, aber wie lebendig ist<br />
ein Hirntoter?<br />
Zu all diesen beklemmenden Fragen kommt noch erschwerend<br />
hinzu, dass die Kriterien zur Feststellung des<br />
Hirntodes nicht einheitlich sind. Weltweit gibt es schon seit<br />
1978 über 30 verschiedene Kriteriengruppen. 4) Das wiederum<br />
bedeutet, dass ein Patient an einem bestimmten Ort auf<br />
der Welt, nach den dort bestehenden Kriterien für tot erklärt<br />
wird, nicht aber an einem anderen Ort, wo nach anderen<br />
Kriterien entschieden wird. Hier tot, dort lebendig. Außerdem<br />
haben Änderungen der Kriterien die Tendenz, weniger<br />
strikt zu sein als die früheren 4) . So setzten die Harvard-<br />
Kriterien von 1968 noch eine völlige Reflexlosigkeit für<br />
den Nachweis des Hirntodes voraus. Nach diesen Kriterien<br />
wäre die Diagnose des Hirntodes in Deutschland heute in<br />
den meisten Fällen gar nicht haltbar. 4) Inzwischen gelten in<br />
Europa und den USA bestimmte Reflexe und Bewegungen<br />
mit dem Status einer Leiche als durchaus vereinbar, davon<br />
17 bei Männern (darunter die Erektion des Penis) und 14<br />
bei Frauen. „Lt. Statistik der Transplantationsmedizin sind<br />
75 Prozent aller Hirntoten noch in der Lage sich zu bewegen.<br />
Dazu gehören beispielsweise Reflexe der unteren<br />
Extremitäten, der Fußsohle, der Achillesferse, Nacken-,<br />
Finger-, Rumpf-Beugereflexe sowie Bauch-, Vaginal-, Unterleib-<br />
oder Analreflexe, wovon 11 durch Stiche ausgelöst<br />
werden.“ 5) Viele dieser oder anderer Bewegungen und Reflexe<br />
sind laut der Transplantationsmedizin nur noch (!)<br />
„spinale Reaktionen“ des Rückenmarks. Trotzdem irritieren<br />
sie immer wieder, auch erfahrenes OP-Personal. Unter<br />
ihnen auch das sogenannte „Lazarus-<br />
Syndrom“, bei dem sich der Hirntote<br />
mit seinem Oberkörper aufrichtet und<br />
Umarmungsbewegungen macht. Wie<br />
fragwürdig die Definition ist, der Hirntod<br />
sei der Tod des ganzen Menschen,<br />
wird besonders dadurch deutlich, dass<br />
hirntote Schwangere in der Lage sind,<br />
gesunden Kindern Leben zu schenken.<br />
Die längste Schwangerschaft einer<br />
Hirntoten betrug 107 Tage. Sie wurde<br />
durch Kaiserschnitt von einem gesunden<br />
Jungen entbunden, der sich normal<br />
entwickelte. 4) Von einer anderen,<br />
hirntoten Schwangeren ist bekannt, dass ihr Körper nach<br />
der Geburt begann, Muttermilch zu produzieren und die<br />
Brustwarzen anzuregen. Eine Funktion, die nur durch ein<br />
Signal im Gehirn (einer bestimmten Gehirnregion) ausgelöst<br />
werden kann. 6) Wie immer man zu der Schwangerschaft<br />
einer hirntoten Frau auch stehen mag, sicher ist, nur<br />
ein lebender Organismus kann Leben weitergeben. Welche<br />
Zweifel hochkarätige Experten am Hirntodkonzept haben,<br />
mögen die Aussagen zweier renommierter Hirnforscher<br />
verdeutlichen. Prof. Dr. Detlef Linke, Bonn ( + 2005) stellte<br />
schon vor Jahren die Frage: „Kann ein Mensch für tot<br />
angesehen werden, wenn 97 % seiner Körperzellen noch<br />
funktionieren, aber nur 3 %, die sein Gehirn ausmachen,<br />
ausgefallen sind“? (...) der Organismus stirbt während der<br />
Operation (Explantation) im Rahmen der Kochsalzdurchspülung<br />
des Kreislaufsystems ab.“ 7) Prof. Dr. Gerhard Roth,<br />
Bremen, sagte bei einer Expertenanhörung des Bundestagsausschusses<br />
für Gesundheit bereits im Jahr 1995 u.a.:<br />
„Die Aussage, der Tod eines Menschen sei dann eingetreten,<br />
wenn seine gesamte Hirnfunktionen irreversibel ausgefallen<br />
sind, ist aus physiologischer Sicht nicht haltbar<br />
(....). Der Ausfall der gesamten Hirnfunktionen kann mit<br />
den heute angewandten Verfahren nicht zweifelsfrei festgestellt<br />
werden (...). Eine wirkliche Leiche ist für eine Organentnahme<br />
ungeeignet. Will man Organtransplantation,<br />
dann muss man akzeptieren, dass man die Organe einem<br />
lebenden Menschen entnimmt, dessen Hirn irreversible<br />
geschädigt ist“ 7) . Von einem Neurophysiologen stammt die<br />
Aussage: Ohne Gehirn ist alles nichts, aber das Gehirn ist<br />
nicht alles. Hinter diesem (nur scheinbar) lapidaren Satz<br />
tut sich ein weites Feld interessanter und nachdenkenswerter<br />
Fragen auf, die es wert sind, dass man ihnen einmal<br />
nachgeht, auch und gerade im Umfeld der Hirntoddiagnostik.<br />
Die Organentnahme (Explantation)<br />
Dieses Kapitel berührt mich, ich gebe es ehrlich zu, am<br />
heftigsten. Aber es gehört zu meinen kritischen Gedanken<br />
dazu, denn gerade im Ablauf der Organentnahme wird für<br />
mich die ganze Fragwürdigkeit einer Organtransplantation<br />
und mit ihr die Glaubwürdigkeit der Hirntoddefinition be-<br />
44 durchblick 3/<strong>2008</strong>