2008-04
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Inhaltsübersicht / Aus der Redaktion<br />
Aus der Redaktion 03<br />
Gressdachs-Blätzjer 05<br />
Geschänke schänke 05<br />
Meine Advents- und Weihnachtszeit 1944 06<br />
Ein ungewöhnlicher Weihnachtsmorgen 08<br />
Das Fenster zur Stille 09<br />
Unser Krönchen 10<br />
Festlich war das Bild der Eintracht 12<br />
Die Hochseilartistenfamilie Johann Traber 14<br />
Senioren leben auch im Siegerland gefährlich 20<br />
Wie der Herr der Bienen die Zufriedenheit gewann 22<br />
Die Honigbiene 24<br />
Der etwas andere Laden 25<br />
Philipp Melanchthon 26<br />
Apollo spielt jetzt auch nachmittags 30<br />
Zum Kuckuck noch mal – Die verflixte Winterzeit! 31<br />
Das Ei und Ich 32<br />
Der Kommentar 33<br />
Dortmund – Dresden und zurück 35<br />
Kunstausstellung 39<br />
Gedächtnistraining 40<br />
Letzte Ausfahrt Heim 42<br />
Das erste Jahr 44<br />
Festtagszeit 44<br />
Friedhof: Stätte der Begegnung und der Trauer 46<br />
Eindrücke meiner Reise nach St. Petersburg 48<br />
Demnächst: „Tafel auf Rädern“ 50<br />
Wenn 351 Euro zum Leben reichen müssen 50<br />
Millennium in London 55<br />
Leserbriefe 56<br />
Es fiel uns auf / Lösungen 58<br />
Zu guter Letzt / Impressum 58<br />
Wir hatten zuerst die Bilder, danach fiel die Entscheidung dazu auch eine Geschichte<br />
zu machen. Gottfried Klör, der für viele gute Fotos und Titel im durchblick verantwortlich<br />
ist, brachte Bilder der Hochseilartisten Traber, die er während der diesjährigen SILA<br />
aufgenommen hatte. Wir wussten auch von dem schweren Unglück, das die Familie im<br />
Mai 2006 ereilt hatte. In Form eines Interviews wollten wir mit den Trabers die Frage<br />
klären: „Was veranlasst Eltern, die eigenen Kinder in lebensgefährliche Situationen zu<br />
bringen?“ Einer Einladung folgend, lernten wir die ungewöhnliche Familie kennen.<br />
Wir waren überrascht von dem herzlichen Empfang. An einem Sonntagvormittag<br />
Anfang September, bei strahlender Sonne, stellten Inge Göbel, Friedhelm Eickhoff<br />
und Eberhard Freundt die Fragen und versuchten die Antworten zu verstehen. Beeindruckt<br />
waren sie, mit welchem Respekt vor dem Leben diese Familie ihre Arbeit<br />
verrichtet. „Wir machen nichts was gefährlich ist“, so das Familienoberhaupt, „alle<br />
Nummern müssen absolut sicher sitzen, bevor wir sie auf dem Seil zeigen, und vor<br />
allem, wir sind stets so gesichert, dass eigentlich nichts Gefährliches passieren kann.“<br />
Aus dem Interview wurde ein Bericht, den Eberhard Freundt abgefasst hat (ab Seite 14).<br />
Ihnen fröhliche, besinnliche Weihnachten, einen guten Rutsch, ein schönes neues<br />
Jahr und, um im Jargon zu bleiben, „Hals und Beinbruch“.<br />
Jetzt aber viel Freude beim Lesen des neuen durchblick.<br />
durchblick 4/<strong>2008</strong> 3
Siegener<br />
Weihnachtsmarkt<br />
24.11. - 23.12.<strong>2008</strong><br />
vor dem Unteren Schloss<br />
mit großer Eislaufbahn<br />
4 durchblick 4/<strong>2008</strong>
Gressdachs-Blätzjer<br />
Afgeschbelt hät sech de Geschechde medde de<br />
drissicher Joarn em foarige Joarhondert;<br />
doch hozedach kennet noch genau so sinn,<br />
dänn net nuer Froue sin schnuckerich of Sesichkaide.<br />
Ain fa dä fenf Schwäsdern fa minner Modder,<br />
„os Wisset“ genannt, wail ät fast wisse Hoarn<br />
hadde, woar min Dande Leni.<br />
Usser, dat det „Wisset“ „Wissnäerai“ geloart hadde,<br />
och det Nämädche en d’r Familje woar,<br />
konn ät noch wane got Ko’che backe.<br />
Ech glauwe, d’r Fritz, d’r Ma fa äm, hädde och<br />
sost net em ät gefräjjt.<br />
Hä woar nämlich e arich groas „Schnuckmull”.<br />
Alles, wat met Zucker ze do hadde, wossde hä<br />
genesslich ze genese.<br />
Am Schlemmsde woar dat,<br />
wann d’r Hearbst sech agesät hadde on<br />
Gressdach neme witt.<br />
Bi dänn wuern nämlich schoa Afang Okdower de<br />
earschde Gressdachs-Blätzjer gebacke.<br />
Min Dande wossde genau, dat hä emmer so<br />
schnuckerich do drof woar,<br />
on feng dearwäje fre genoch mem Backe a.<br />
No hadde d’r Fritz so sin äjene A’gewonhaide.<br />
Äm schmackden de Gressdachs-Blätzjer am<br />
allerbesde, wann hä se stibitze konn.<br />
Dearwäje lefe da en dä Zitt och schdännich<br />
em ganze Huss rem,<br />
guckde en all Äcke, sochde on sochde, em dat<br />
Debbe met de Gressdachs-Blätzjer ze fenne.<br />
Dä Kennerschbass mossde hä dobi aifach ha.<br />
Am lebsde hädde hä det ganze Joar<br />
ewer Gressdach gehat.<br />
Dauernd wuer gebacke, dauernd e anner<br />
Fer’schdeck gesocht, on dauernd<br />
woar dat Blätzjes-Debbe leer. Mänchmo säde det<br />
Leni: „Hädden m’r doch bal Oasdern!“<br />
Nuer e par Dach foar Gressdach schannde min Dande:<br />
„Ma! Loss noch wat ewerich foar de Faierdache,<br />
sost grijjsdet met mier ze do.“<br />
Wat si domet no mainde, hät se ni ferroare,<br />
awer d’r Fritz zog nuer de Schollern hoch on<br />
grinsde woalwessend foar ser hin.<br />
Aimo, kuerz foar de Faierdache, do wossde det<br />
Leni sech neme annerscht ze helfe,<br />
als dat Debbe met de lätzde Gressdachs-Blätzjer<br />
onne em Huss em Wäschkässel end<br />
Fuerloch ze schdälln.<br />
En däm Joar hät d’r Fritz do dat Debbe net gefonne.<br />
Awer och nuer en däm Joar.<br />
Gerda Greis<br />
Geschänke schänke<br />
Mama, was soll ich Joachim zu Weihnachten schenken? Besorgst du was?<br />
Mama, was soll ich Wolfgang zu Weihnachten schenken? Besorgst du was?<br />
So geng dat jedes Joar foar Gressdach. Ni wossden de Jonge wat se sech zo Gressdach<br />
orrer och zom Gebuertsdach schänke sollden.<br />
E däm Joar, als d‘r Jengsde drutze on dä anner achze woar, do hadde ech foar jeden wat Besonnerschdes ussgesocht.<br />
D‘r Helje Owend kom, de Bescherong woar sowitt foarbi, nuer de zwai Jonge mossden sech noch<br />
beschänke. Ainer gob da huerdich d‘m annern sin Päckelche on zo glicher Zitt wuer ussgepackt.<br />
Itzend guckden baide sech ganz ferwonnert on merrem arich domme Gedsechde a.<br />
Se hadden sech gäjesaidich det „Otto-Boch“ geschänkt.<br />
All ha m‘r lache mosse, on ech bru‘chde fa do a niks me ze besorge.<br />
Gerda Greis<br />
durchblick 4/<strong>2008</strong> 5
Siegen<br />
Meine Advents- und Weihnachtszeit 1944<br />
von Else Diezemann *Gläser<br />
Im Dezember 1944 befand ich mich zur Ausbildung<br />
in einem Kinderheim im Sauerland. Man lebte ständig in<br />
Angst vor Bomben-Angriffen. Aber dort – etwas abgelegen<br />
– fühlten wir uns einigermaßen sicher. So machte ich mir<br />
auch gar keine zu großen Sorgen, als ich in der allgemeinen<br />
Unterhaltung – ein eigenes Radio besaß ich natürlich nicht<br />
– erfuhr, dass am Samstag, dem 16. Dezember, ein Angriff<br />
auf Siegen stattgefunden hatte.<br />
Das Elternhaus der Autorin,<br />
nahe der AOK<br />
Hilfstrupps, DRK, SA, Technisches Hilfswerk und wie sie<br />
alle hießen. In wenigen Stunden wurden die Toten und auch<br />
ein Schwerverletzter herausgeholt.<br />
Am Mittwoch fuhren meine Mitschülerin und ich nach<br />
Siegen zurück. Meine Gefühle beim Anblick eines ungeheuren<br />
Trümmerhaufens anstelle meines großen Elternhauses<br />
– in der Nähe der AOK – kann ich nicht schildern.<br />
Am nächsten Tag fand in kleinstem Kreis die Beerdigung<br />
unserer beiden lieben Toten statt, die mein Bruder selbst<br />
auf einem Leiterwagen zum Lindenberg-Friedhof hinaufgebracht<br />
hatte – eine im Sarg, die andere nur in einer Holzkiste!<br />
– ; dazu bliesen die Sirenen schon wieder Voralarm.<br />
Mein Bruder und ich fanden provisorischen Unterschlupf<br />
bei lieben netten Menschen in der damaligen Waldstraße am<br />
Fischbacherberg. Von Verwandten oder Nachbarn, alle selbst<br />
schwer geschädigt, konnten wir keine Hilfe erwarten.<br />
Unser Tagesprogramm verlief folgendermaßen: zu<br />
Fuß – PKW gab es praktisch für Privat-Menschen nicht<br />
– also alles zu Fuß vom Fischbacherberg hinunter zur<br />
Trümmerstätte bei der AOK; da es nicht gebrannt hatte,<br />
wurden noch tagelang von einigen sehr zuverlässigen Männern<br />
aus den Hilfs-Trupps noch viele Gegenstände ausgegraben,<br />
die sie zum Teil in der Turnhalle des damaligen<br />
Lyzeums (wo sie später verbrannten), zum Teil in anderen<br />
Kellern abstellten, zum Teil sogar in unserer Badewanne,<br />
die noch wochenlang auf dem Bürgersteig stand.<br />
Aber dann war ich verwundert und zutiefst erschüttert,<br />
als am Dienstagnachmittag eine gute, sehr besorgte<br />
Mitschülerin aus Siegen mich im Heim aufsuchte und mir<br />
mitteilte, dass durch eine Luftmine meine Mutter und eine<br />
Schwester in unserem total zerstörten Haus getötet worden<br />
waren; mit ihnen noch sechs weitere Menschen. Mein Vater<br />
war schon 1937 gestorben. Telefonisch hätte man mich<br />
ja schon gar nicht mehr erreichen können, und die Post<br />
lief auch schon sehr unregelmäßig. Also hatte sie sich nach<br />
Rücksprache mit meinem älterem Bruder, den sie auf den<br />
Trümmern arbeiten sah, einfach aus Nächstenliebe in den<br />
Zug gesetzt, um mich – trotz sehr umständlicher Verkehrsverbindungen<br />
– persönlich benachrichtigen zu können.<br />
Meinem älterer Bruder war schon an der Front der rechte<br />
Ellenbogen durchschossen worden, wodurch sein Arm<br />
weitgehend gelähmt blieb, dadurch konnte er seinen Bürodienst<br />
in Siegen wieder aufnehmen. Am 16. Dezember war<br />
er eingeteilt worden, mit der Büchse auf der Straße für die<br />
„Winterhilfe“ zu sammeln. Bei dem Bombenalarm gegen<br />
15 Uhr suchte er Schutz in einem Bunker in Bahnhofs-Nähe.<br />
Als er nach der „Entwarnung“ „nach Hause“ kam, fand er<br />
nur noch ein steinernes Chaos vor. Zu seiner Erleichterung<br />
kamen sehr bald gut organisierte Sanitäts- und technische<br />
Von dem Elternhaus blieb nur noch ein ungeheurer<br />
Trümmerhaufen übrig.<br />
Dazwischen gab es immer wieder Alarm, und man musste<br />
sich entscheiden, ob man – mit Angst – bei der Arbeit blieb<br />
oder in den Stollenbunker im Häusling lief. Behörden, die<br />
sich oft in ganz anderen Dienstgebäuden als gewohnt befanden,<br />
mussten benachrichtigt werden, telefonisch ging<br />
gar nichts mehr. Lebensmittel besaßen wir natürlich nicht<br />
mehr. Für Brot, Milch, Butter, Fleisch, Gemüse usw. musste<br />
man mit Lebensmittelmarken vor den wenigen noch vor-<br />
6 durchblick 4/<strong>2008</strong>
Siegen<br />
Heutige Spandauer Straße, hier steht das Gebäude,<br />
in dem später die Landeszentralbank untergebracht war<br />
handenen Bäckereien und Geschäften in langen Schlangen<br />
anstehen, manchmal letzten Endes vergebens! Zum Glück<br />
gab es von der NSV, der Frauenschaft und dem DRK Küchen<br />
und Ausgabestellen, wo man warmes Essen, warme<br />
Getränke, belegte Brote usw. bekam. Wir waren ja sowieso<br />
– infolge der jahrelangen knappen Lebensmittelzuteilungen<br />
auf Karten – schon unterernährt und hatten natürlich immer<br />
Hunger. Hinzu kam die kalte Witterung; es hatte schon<br />
leicht geschneit und es waren Minus-Temperaturen. Man<br />
fror. Zum Glück hatte ich noch warme Kleidung bei mir,<br />
was nicht für alle Menschen zutraf. Man bekam ja schon<br />
seit Jahren Kleidungsstücke nur auf Zuteilungskarten. Dasselbe<br />
galt für Schuhe: 1 Paar Schuhe für ein Jahr! Vielleicht<br />
haben damals viele Menschen – zu allem anderen Kummer<br />
– gefroren und auch oft kalte und nasse Füße bekommen.<br />
Abends trafen wir uns, weil wir beide oft verschiedene<br />
Dinge erledigen mussten, müde und erschöpft in unserer<br />
gemeinsamen Unterkunft, innerlich angefüllt vom Kummer<br />
vieler Menschen und mit den Bildern der vielen zertrümmerten<br />
Häuser.<br />
Am Heiligen Abend hörten wir am Radio der Hausbesitzerin<br />
gemeinsam der Goebbels-Rede zu – das Übliche:<br />
große laute Worte mit Pathos, Aufforderung zum Durchhalten<br />
und immer wieder Siegesversprechungen!<br />
Kein Weihnachtsbaum, keine<br />
Weihnachtskerzen, keine Weihnachtsgeschenke!<br />
Keine Weihnachtsstimmung!<br />
Aber ein „Geschenk“<br />
erhielten wir am Morgen<br />
des 2. Weihnachtsfeiertages: Unser<br />
jüngerer Bruder, von dem wir schon<br />
seit Wochen keine Nachricht mehr<br />
„aus dem Westen“ erhalten hatten,<br />
stand auf unseren Haustrümmern<br />
und wartete auf uns. Ihm war in<br />
seinem militärischen Unterstand<br />
am späten Heiligabend von seinem<br />
Vorgesetzten die Nachricht von<br />
unserem Unglück überbracht und<br />
14 Tage Bomben-Heimaturlaub erteilt<br />
worden. Von unserer ältesten<br />
Schwester, die mit Ehemann und<br />
einem Säugling in Hinterpommern<br />
lebte, erhielten wir noch eine Antwort<br />
auf unsere Unglücksnachricht,<br />
3 Fotos aus Familienbesitz Else Piegemann<br />
ehe sie selbst von der Ostfront überrollt wurden, zum Glück<br />
ohne größeren Schaden. Im Januar 1946 kehrten die drei als<br />
Vertriebene in den Kreis Siegen zurück.<br />
Mich bewegte später die Frage, warum wir wohl an<br />
Heiligabend nicht zum Gottesdienst gegangen waren, der<br />
wirklich noch in einer Kirche stattgefunden hat. Heute<br />
möchte ich einmal alle Schwierigkeiten aufzählen, mit denen<br />
wir damals zu kämpfen hatten: unendliche Traurigkeit,<br />
kein „Zuhause“, Hunger, Erschöpfung, Scheu vor Kälte<br />
und Nässe, Angst vor wiederholtem Alarm und etwaigem<br />
erneutem Luftangriff, keinerlei Fahrmöglichkeiten, dazu<br />
noch demolierte Straßen, teilweise mit Schutt bedeckt, und<br />
anbefohlene vollständige Verdunkelung, nachtschwarze<br />
Dunkelheit auf den Straßen, die wir uns bei der heutigen<br />
übergrellen Weihnachtsbeleuchtung überhaupt nicht mehr<br />
vorstellen können.<br />
Ein anderes „Geschenk“ tauchte für uns in Gestalt<br />
eines früheren Arbeitskollegen auf, der als sehr praktischer<br />
Handwerker in diesen Tagen in wenigen Stunden aus den<br />
zerfetzten Resten unserer eigenen guten Mahagoni- und<br />
Nussbaummöbel einige Kisten zimmerte, die wir dann auf<br />
einem – mit seiner Hilfe zauberhaft irgendwie herbei organisiertem<br />
– LKW bei mehreren Verwandten und Bekannten<br />
in Siegerländer Dörfern unterbringen konnten. Nach vielen<br />
Monaten konnten wir sie wohlbehalten zurückholen. Doch<br />
das war wirklich sehr viel später; wir mussten ja erst wieder<br />
ein sicheres Dach über dem Kopf haben und etwas zuversichtlicher<br />
in die Zukunft blicken.<br />
Meine so gute, menschenfreundliche Mitschülerin wurde<br />
später die Ehefrau meines Bruders; und wir konnten<br />
dann später zwei eigene Wohnhäuser auf das ehemalige<br />
Trümmergrundstück bauen.<br />
Der jüngere Bruder ist 1946 in einem russischen Gefangenenlazarett<br />
gestorben.•<br />
Kein Feinstaubfilt er<br />
nöti g !<br />
DIREKT VOM HERSTELLER<br />
durchblick 4/<strong>2008</strong> 7
Weihnachten<br />
Ein ungewöhnlicher Weihnachtsmorgen<br />
Es war ein kalter, aber freundlicher Dezembertag. Die<br />
Sonne ließ die vielen kleinen Kristallsterne, die in der Nacht<br />
zu Boden gefallen waren, funkeln, wie tausend Diamanten<br />
es nicht schöner vermögen. Es war der Tag vor Heiligabend.<br />
Voller Vorfreude machten die Menschen in Reichenbach<br />
und Engelbach ihre letzten Besorgungen, grüßten einander<br />
freundlich und zogen weiter ihres Weges. Es war ein Tag<br />
wie kein anderer im Jahr, voller Stimmung und Frieden,<br />
und selbst die Tiere schienen gebannt von dieser bezaubernden<br />
Atmos phäre .<br />
Doch dann zerbrach ein markerschütternder Schrei die<br />
weihnachtliche Stille, die Zeit schien für einen Moment zu<br />
erstarren, und das Gefühl des Schreckens überfiel Mensch und<br />
Tier wie ein Eiseshauch. In diesem Augenblick fuhr Engel Gabriel,<br />
genauso erschrocken, aus seinem Himmelsthron hoch.<br />
Ahnungsvoll ging er eiligen Schrittes zur weihnachtlich,<br />
prunkvoll geschmückten Himmelspforte. Weit öffnete er<br />
das Tor. Eisiger Wind und dichtes Schneetreiben schlugen<br />
ihm ins Gesicht. Sie ließen kaum einen Blick zur Erde zu.<br />
Verzweifelt wollte er das Tor wieder schließen, doch seine<br />
Kräfte verließen ihn. Ehe er sich versah, packte eine gewaltige<br />
Windböe eine unter ihm schwebende Wolke und ließ<br />
ihn trudeln, wie in einem aufgewühlten Meer. Voller Angst<br />
versuchte er der mächtigen Gewalt Herr zu werden und<br />
steuerte auf eine riesige Wolkenwand zu, die ihn im letzten<br />
Moment wie eine Schutzhülle umgab.<br />
Wie von Geisterhand gestoppt ließ der Sturm nach. Vorsichtig<br />
setzte er einen Schritt vor den anderen. und lauschte.<br />
Unheimliche Stille umfing ihn. Plötzlich teilte sich eine<br />
Wolke unter ihm und ließ den Blick zur Erde frei. Das, was<br />
er sah, ließ ihn erstarren. Im hellen Schein der Sterne sah er<br />
die goldene Himmelsleiter. Vereist und kaum begehbar.<br />
Wollte nicht heute das Christkind zur Erde?, dachte er.<br />
Alle goldenen Schlitten, mit sechs weißen Hirschen bespannt,<br />
waren im Einsatz! Es musste also die Himmelsleiter<br />
nehmen, um pünktlich zum Fest die Pakete auszuliefern!<br />
Ich muss zur Erde!, hämmerte es in ihm. Es muss etwas<br />
Schreckliches passiert sein! Sein verzweifelter Hilfeschrei<br />
Am Dicken Turm<br />
Peter Müller | Kölner Straße 48 | 57072 Siegen | 0271 53616<br />
ging durchs gesamte Himmelreich, der von den vielen<br />
kleinen Engeln, die im Weihnachtslagerraum arbeiteten,<br />
vernom men wurde. Urplötzlich war Engel Gabriel von<br />
einer großen Engelschar umgeben. Entsetzen machte sich<br />
auf den kleinen, zarten Gesichtern breit, als sie die vereiste<br />
Himmelsleiter erblickten.<br />
„Ja, das Christkind wollte heute zur Erde!“, bestätigten<br />
sie erschüttert. „Nach Reichenbach und Engelbach!“ Ungestüm<br />
liefen sie zu ihren Wolkenkammern, schlüpften in<br />
ihre weichen, weißen Fellmäntelchen und setzten sich auf<br />
ihre zugeteilten Wolken. Engel Gabriel nahm ebenso auf<br />
einer Wolke Platz und steuerte auf das große, hell erleuchtete<br />
Himmelstor zu. Ein leichter Windhauch trug sie, der<br />
goldenen Himmelsleiter entlang, zur Erde.<br />
Vor einem tief verschneiten Wäldchen in Engelbach<br />
schwebten sie auf eine Lichtung. Erschrocken hielten sie inne.<br />
Überall im Schnee verstreut lagen bunt verpackte Päckchen.<br />
Leises Wimmern war zu hören. Engel Gabriel erstarrte.<br />
Da lag doch vor seinen Füßen im weichen Pulverschnee, rot<br />
angefroren, fast leblos, das Christkind. Behutsam hob er es<br />
heraus und setzte es auf seine Wolke. Leise kamen die anderen<br />
Engel hinzu und rieben die kleinen, erkalteten Glieder mit<br />
ihren Händen warm. Langsam öffnete es seine Äuglein und<br />
schaute erstaunt um sich. Zaghaft fasste es an seine goldenen<br />
zerzausten Flügel und strich über sein völlig zerknittertes<br />
goldbestäubtes Kleidchen. Sein zartes, mit feinen Locken<br />
umrahmtes Gesichtchen, lächelte. „Gott sei Dank!“, riefen<br />
die Engel erleichtert, „unser Christkind lebt!“ Aber was war<br />
geschehen? Ehe Engel Gabriel fragen konnte, erzählte das<br />
Christkind, dass es von der vereisten Himmelsleiter gefallen<br />
war. „Ich muss doch meine Aufgabe erfüllen! In diesem Jahr<br />
muss ich so viele Kinder bescheren, dass ich bei jedem Gang<br />
zur Erde mehr mitgenommen habe als ich eigentlich tragen<br />
kann!“, entschuldigte es sich leise. „Wir werden dir helfen,<br />
liebes Christkind! Wir bringen die Pakete zur Weihnachtssammelstelle,<br />
und das Verteilen der Geschenke übernehmen<br />
wir auch, dann kannst du dich etwas ausruhen!“, meinten die<br />
Engel spontan. Gemeinsam gruben sie die Päckchen aus dem<br />
glitzernden Schnee, luden sie auf ihre weichen, flauschigen<br />
Wolken und schwebten zur Sammelstelle, die ganz verborgen<br />
hinter dem Wäldchen lag.<br />
Glücklich nahm Engel Gabriel das noch ein wenig<br />
erschöpfte Christkind in den Arm, und beide folgten der<br />
himmlisch singenden Engelschar. Ihre zarten Stimmen<br />
klangen so rein, so überirdisch schön, dass die Men schen<br />
und Tiere, die sie in ihrem Ohr vernahmen, sich aus ihrer<br />
starren Schreckenshaltung lösten und andächtig lauschten.<br />
Der stimmungsvolle weihnachtliche Frieden kehrte langsam<br />
in ihre Herzen zurück.<br />
Und die Menschen in Reichenbach und Engelbach<br />
verbrachten ein Weih nachtsfest, wie es nicht schöner und<br />
glanzvoller hätte sein können. Edith Maria Bürger<br />
8 durchblick 4/<strong>2008</strong>
Winter<br />
Das Fenster zur Stille<br />
von Edith Maria Bürger<br />
Gestern noch konnt’ ich es öffnen,<br />
das Fenster zur Stille – ganz weit.<br />
Gestern noch konnt’ ich es öffnen,<br />
zur Zeit der Besinnlichkeit.<br />
Dienstag, 4. November <strong>2008</strong><br />
DIE GALANACHT DER DEUTSCHEN TENÖRE<br />
Zauber der Musik<br />
Donnerstag, 4. Dezember <strong>2008</strong><br />
Weihnachten mit<br />
den Kastelruther<br />
Spatzen<br />
Sah draußen die Schneeflocken gaukeln<br />
im Takte des säuselnden Windes,<br />
sah Engel in Baumwipfel schaukeln<br />
und drinnen die leuchtenden Augen des Kindes.<br />
Freitag, 16. Januar 2009<br />
Das Überraschungsfest<br />
der Volksmusik<br />
präsentiert von Florian<br />
Silbereisen<br />
Sie saßen beim Kerzenlichte,<br />
das Kind in der Mutter beschützenden Arm,<br />
es andächtig lauschte der Weihnachtsgeschichte,<br />
verschwunden war Kummer und Harm.<br />
Ich öffne das Fenster zur Stille,<br />
heute, zur nächtlichen Stund’,<br />
ein Schwirren, ein Klirren empfängt mich,<br />
ein Hämmern, ein Pochen aus riesigem Schlund.<br />
Wo bist Du? Fenster zur Stille?<br />
Wo warst Du? Zu welcher Zeit?<br />
Öffne Dich, Fenster zur Stille!<br />
Zur Zeit der Besinnlichkeit!<br />
Die Antwort geht unter in schmerzlichen Lauten,<br />
versinkt im Dunkel der Nacht,<br />
ringsherum düster die steinernen Bauten,<br />
ein einsamer Wanderer lacht.<br />
Die Äste wie Krallen gen Himmel sich heben,<br />
gespenstisch erscheint mir des Nachbarn Baum,<br />
in meiner Brust verspür ich ein Beben.<br />
Das Fenster zur Stille – war nur ein Traum?<br />
Helene Fischer<br />
live mit Band<br />
Dienstag, 20. Januar 2009<br />
Donnerstag, 12. März 2009<br />
BAP<br />
Radio-Pandora-<br />
Tournee<br />
Donnerstag, 26. März 2009<br />
HELMUT LOTTI<br />
Tournee 2009<br />
Infos: www.siegerlandhalle.de<br />
Eintrittskarten erhältlich bei allen<br />
CTS-Vorverkaufsstellen.<br />
Telefonischer Kartenservice: 0271 5940-350<br />
durchblick 4/<strong>2008</strong> 9
Siegen<br />
Unser Krönchen<br />
Foto: Fritz Fischer<br />
Siegen – Alt Nassaus „Aug und Zier“<br />
Hoch schwebt ein Krönchen über dir!<br />
Aus Eisen ward es einst gemacht,<br />
Das kam aus deiner Berge Schacht.<br />
Mit Schmiedekunst der Kranz verziert,<br />
Darin ein Pfeil das Wetter führt.<br />
So dauert es im Sturm der Zeit<br />
Wie Kreuz und Krone, Leid und Freud.<br />
(W. K. 1950)<br />
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Ihr Fachgeschäft in Siegen für den Bereich:<br />
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Nachdem Johann Moritz von Nassau-Siegen 1652<br />
vom Grafen in den kaiserlichen Fürstenstamm erhoben<br />
wurde, schien ihm der rechte Augenblick gekommen, seinem<br />
Stande und seinem Lande ein Denkmal zu setzen. Es<br />
sollte weithin erkennbar sein. Er ließ von Weidenauer Hüttenleuten<br />
und Schmieden im Haardter Hammer eine große<br />
schmiedeeiserne Krone anfertigen, anschließend vergolden<br />
und am 17. August 1658 auf den Turm der Nikolaikirche<br />
aufsetzen. Für alle Zeiten hat der Fürst damit dokumentiert,<br />
dass ihm Siegen und das Siegerland besonders am Herzen<br />
gelegen haben. Er schenkte, vielleicht unbewusst, der<br />
Stadt und dem Land ein Symbol, das in späteren Zeiten als<br />
„Krönchen“ das Wahrzeichen der Stadt wurde. Diese Krone<br />
sollte nicht nur von der Standeserhöhung Kunde geben,<br />
sondern eine Zierde der Kirche, ja der ganzen Stadt sein.<br />
Das „Krönchen“ stellt eine Fürstenkrone dar, die in der<br />
Heraldik als Laubkrone bezeichnet wird. Die Krone hat eine<br />
Höhe von 1,90 m. Ihr Durchmesser beträgt oben an den<br />
Zacken 2,35 m, unten am Kronenrand 1,35 m. Die Kugel,<br />
auf der sie ruht, ist aus Kupferblech hergestellt und hat einen<br />
Durchmesser von 1,50 m. Im Innern der Kugel ist eine<br />
Inschrift angebracht, die in deutscher Übersetzung besagt:<br />
„Johann Moritz, Fürst von Nassau, Katzenelnbogen,<br />
Vianden und Diez, Herr zu Beilstein, Meister des Orden<br />
Sankt Johannis, ließ mich auf seine Kosten anfertigen und<br />
aufstellen im Jahre 1658.“<br />
Über der Krone dreht sich im Winde eine 3,5 m langer<br />
Wetterpfeil. Der Windpfeil symbolisiert, dass auch Fürstenkronen<br />
der Macht dessen unterstellt sind, der Wolken<br />
Luft und Winden Wege, Lauf und Bahn gibt. Der Stabeisen-<br />
Wetterpfeil mit einem aus acht Doppelblättern hergestellten<br />
Schweif dreht sich um ein Kugellager, das mit 19 Achatkugeln<br />
ausgestattet ist.<br />
Wind und Wetter haben unzählige Male die Krone umtobt.<br />
Ihr Äußeres war von Eis und Schnee, Hitze und Regen<br />
angegriffen und mancherlei Ausbesserungen mussten im<br />
Laufe der Zeit vorgenommen werden, immer aber behielt<br />
sie die Bedeutung als Wahrzeichen der Stadt Siegen.<br />
Im Sommer 1829 erhielt der Nikolaikirchturm einen<br />
neuen Pfeil, der den Bürgern Siegens die Windrichtung anzeigen<br />
sollte. Es war damals ein großes Wagnis, die Arbeiten<br />
durchzuführen. Dem Schieferdecker Prinz aus Siegen nebst<br />
seinen Gesellen vertraute man die schwierige Arbeit an.<br />
Der Pfeil selbst wurde – mit bunten Bändern geziert – im<br />
festlichen Zuge durch die Straßen der Stadt getragen, bevor<br />
man ihn in die Höhe hinaufschaffte.<br />
„Sehet hier den Pfeil vom Thurme!<br />
Hoch in Lüften soll er schweben.<br />
Von dem Winde, von dem Sturme<br />
Wird er treue Kunde geben.<br />
Aecht prophetisch klingt sein Wort:<br />
Osten, Westen, Süd und Nord.<br />
Werden einst die Enkel fragen:<br />
Welchem Kühnen ward’s gegeben,<br />
Diesen Pfeil zur Höh’ zu tragen?<br />
Sagt, wer wagte so sein Leben?<br />
Prinz, Steffe, Römer, Vogel sind bekannt,<br />
Sie beschirmte Gottes Hand.“<br />
(F. E. Steffe)<br />
Auch im Jahre 1889 gab es größere Reparaturarbeiten.<br />
Das Krönchen wurde ausgebaut und zur Erde geholt. Die<br />
Siegener Firma Friedrich Hinderthür baute eine Blitzschutzanlage<br />
ein. In eine Kapsel legten die Handwerker<br />
ein Dokument mit folgendem Text:<br />
„Im Jahre des Heils Eintausend achthundert neun und<br />
achtzig am neunten Tage des Monats Julius unter der Regierung<br />
des Deutschen Kaisers Wilhelms des Zweiten, als<br />
A. Delius Bürgermeister von Siegen war, wurde durch den<br />
Bürger Friedrich Hinderthür, Meister des Klempnergewerbes,<br />
diese Turmspitze nebst Wetterfahne und Blitzableiter<br />
angefertigt und die Aufstellung derselben durch dessen<br />
Sohn Gustav ausgeführt. Möge die Stadt Siegen, auf welche<br />
diese Turmspitze von hoher Warte herabsieht, wachsen,<br />
blühen und gedeihen bis in die fernsten Zeiten. Das walte<br />
Gott und wünscht: Friedrich Hinderthür.“<br />
Der Luftangriff auf die Innenstadt am 16. 12. 1944 zerstörte<br />
auch die Kirche mit Ausnahme ihres Turmes. Dass<br />
den Turm keine Bombe traf, war ein Glücksfall. Auf den<br />
Tag genau 10 Jahre nach ihrer Zerstörung konnte die Ni-<br />
10 durchblick 4/<strong>2008</strong>
Foto: Fritz Fischer<br />
Die Krone auf dem Turm ist eine Nachbildung, das<br />
„echte“ Krönchen steht im Eingangsbereich der Kirche.<br />
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kolaikirche am 16. 12. 1954 wieder von der Gemeinde in<br />
Gebrauch genommen werden.<br />
Im Mai 1955 wurde das Krönchen mit einem echten<br />
24-karätigen Naturblattgold in allen seinen Feinheiten neu<br />
vergoldet. Zu diesem Anlass ließ die Ev. Kirchengemeinde<br />
Siegen weitere Schriftstücke und Zeitdokumente in eine<br />
Kapsel einlegen. Sie nennen die Mitglieder des damaligen<br />
Presbyteriums der Kirchengemeinde und skizzieren<br />
die Art der Erneuerungsarbeiten mit dem Namen der fünf<br />
beteiligten Firmen.<br />
„Möge die schützende und segnende Hand des allmächtigen<br />
Gottes fernerhin und alle Zeiten über diesem Gotteshaus<br />
und der Stadt Siegen walten und sie bewahren vor<br />
Krieg und vor neuer Zerstörung.“<br />
Das ist die Bitte, mit der diese Urkunde vom 7. Juni 1955<br />
schließt.<br />
Bei der Renovierung der Kirche im Jahr 1993 wurde<br />
festgestellt, dass die Krone Beschädigungen aufwies, die<br />
nicht repariert werden konnten. Die Krone wurde erst abgenommen<br />
und eine originalgetreue Nachbildung angefertigt<br />
und auf den Turm gebracht. Das „echte“ Krönchen steht<br />
heute im Eingangsbereich der Kirche und kann dort besichtigt<br />
werden.<br />
Zeitdokumente zeugen von der Sorgfalt und Liebe der<br />
Siegener Bürger um ihr Krönchen, das sie als ein ehrwürdiges<br />
Zeichen der Siegener Vergangenheit betrachten und<br />
pflegen. Auch die liebevolle Bezeichnung „Krönchen“ beweist,<br />
wie vertraut und befreundet die Siegerländer mit der<br />
Zier des Nikolaikirchtums sind, mit dem Symbol ihrer Heimat,<br />
das weit über deren Grenzen hinaus bekannt ist.<br />
Dorothea Istock<br />
Ein Paar auf die Ohren?<br />
Viel hören - Wenig verstehen?<br />
Von diesem Problem mit dem Gehör ist annähernd jeder<br />
Siebte betroffen. Der Anfang: Angestrengtes Verstehen und<br />
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geht. Meist sind beide Ohren<br />
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durchblick 4/<strong>2008</strong> 11
Buchbesprechung<br />
Festlich war das Bild der Eintracht<br />
Leonhard Philipp Gläser (1797–1875) – Leben und Werk des Siegener Sozialreformers<br />
Leonhard Gläser,<br />
Gemälde vor dem<br />
Gläsersaal<br />
der Siegerlandhalle<br />
Foto: Fritz Fischer<br />
Die Liste derjenigen, deren<br />
Ideen während ihrer Lebzeiten von<br />
den Mitmenschen ignoriert, belächelt<br />
oder gar bekämpft wurden,<br />
ist endlos lang. Viele von ihnen hat<br />
man vergessen, das Wirken einiger<br />
erfährt hingegen erst Generationen<br />
später die entsprechende Würdigung.<br />
Zu Letzteren gehört ganz<br />
ohne Zweifel Leonhard Philipp<br />
Gläser (1797–1875).<br />
So erwähnt Heinrich von<br />
Achenbach, dessen umfangreiche<br />
„Geschichte der Stadt Siegen“ etliche<br />
Jahre nach dem Tod Gläsers<br />
aufgelegt wurde, seinen Zeitgenossen<br />
mit keinem Wort. Erst im 20. Jahrhundert erinnerten<br />
zunächst Fritz Fickeler (1911), Hans Kruse (1915) und Paul<br />
Fickeler (1950) in diversen Artikeln an Siegens inzwischen<br />
berühmten Wohltäter. Nach und nach wurde aus dem einstigen<br />
Saulus in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit ein<br />
wahrhafter Paulus, dessen Name vor allem wegen seiner<br />
Eintracht-Stiftung vielen Bewohnern der Krönchen-Stadt<br />
geläufig ist. Neben dem in der Siegerlandhalle von den<br />
meisten Einheimischen wohl schon einmal aufgesuchten<br />
Gläsersaal erinnern im Stadtgebiet gleich vier Straßen an<br />
ihn. Es sind dies die Gläserstraße und die Gläserswende<br />
sowie die Eintrachtstraße und die Parkstraße.<br />
Dass Gläser zu seiner Zeit von vielen Städtern nicht<br />
so ganz ernst genommen wurde, lag zum Teil an seinen<br />
körperlichen Defiziten. Er hatte einen schaukelnden Gang<br />
und wurde darum „D’r schockelije Gläser“ genannt. Dazu<br />
war er schwerhörig und stotterte ein wenig. Andererseits<br />
beweisen die von ihm verfassten Schriftstücke eine hohe<br />
Intelligenz und eine überdurchschnittliche Bildung. Und<br />
gerade aus diesen Schriftstücken – Zeitungsartikel, Leserbriefe<br />
und Anzeigen – erfährt der Leser viel von dem, was<br />
Mitte des 19. Jahrhunderts Gläser und die Siegener umtrieb.<br />
Als exemplarische Stichworte seien genannt: Volksfest für<br />
Siegen, Bürgerverein „Eintracht“, Volksbühne, Zoologischer<br />
Garten, Wasserleitungen, Turnhallenbau, rollende<br />
Sparbüchsen sowie Brandwache auf dem Turm der Nikolaikirche.<br />
Weil viele seiner Ideen auf spontanen Widerspruch<br />
stießen und im Intelligenz-Blatt für die Kreise Siegen,<br />
Wittgenstein und Altenkirchen (später: Siegener Kreisblatt<br />
und Siegener Zeitung) in der Regel den Beiträgen Gläsers<br />
prompt ein Contra-Leserbrief folgte (und umgekehrt), ging<br />
es mitunter wochenlang munter hin und her.<br />
Aber nicht nur diese Leserbriefe machen Christian<br />
Brachthäusers Buch „Festlich war das Bild der Eintracht“<br />
über das Leben und Werk des Sozialreformers interessant<br />
und lesenswert. Zwar ist das Werk keine Biografie im üblichen<br />
Sinne (und sollte es gemäß Angabe des Verfassers<br />
auch nicht sein). Dennoch lernt der Leser durch die zahlreichen<br />
Dokumente viel vom Leben Gläsers kennen – aber<br />
auch von den Zuständen in der Stadt. 602(!) Fußnoten auf<br />
den 340 Seiten unterstreichen den immensen Fleiß des Verfassers.<br />
Mannigfaltige Hintergrundinformationen ergänzen<br />
die Schriftstücke.<br />
Ein Exkurs über Stiftungen<br />
im Allgemeinen und über die<br />
Eintracht-Stiftung Gläsers im Besonderen<br />
sowie der Epilog über<br />
die Historie des Eintracht-Geländes<br />
bis zum Bau der Siegerlandhalle<br />
vervollständigen das Buch.<br />
Jedem, der für die Siegerländer<br />
Geschichte Interesse aufbringt,<br />
kann das Werk empfohlen werden.<br />
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Die Hochseilartistenfamilie Johann Traber<br />
Ein Leben ohne Netz und doppelten Boden<br />
14 durchblick 4/<strong>2008</strong><br />
Foto und Bearbeitung: Gottfried Klör
Im Rahmen der diesjährigen Siegerlandschau Ende<br />
August war auch die „Original Johann Traber<br />
Show“ nach langer Zeit wieder einmal zu Gast in<br />
unserer Krönchenstadt. Anlass und Gelegenheit für<br />
den durchblick, der Familie Johann Traber einen Besuch<br />
abzustatten, um mit ihr über ihr Leben und den schweren<br />
Schicksalsschlag zu reden, der die Familie am 21. Mai 2006<br />
in Hamburg ereilte, als Johann Traber junior während einer<br />
spektakulären artistischen Darbietung auf dem 52 Meter<br />
hohen Peitschenmast vor den Augen von 100.000 Menschen<br />
plötzlich in die Tiefe stürzte. Die Spitze des Mastes<br />
war abgebrochen.<br />
Wir von der Redaktion haben uns gefragt: Was sind das<br />
für Menschen, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen,<br />
indem sie ihr Leben riskieren durch halsbrecherische Darbietungen<br />
in schwindelerregender Höhe? Was sind das für<br />
Eltern, die das Leben ihrer Kinder aufs Spiel setzen, indem<br />
sie sie auf nur 14 Millimeter starke Drahtseile und<br />
riesig hohe biegsame Masten schicken, um für ein bisschen<br />
Ruhm und Beifall die Sensationslust und den Nervenkitzel<br />
von uns „normalen Menschen“ zu befriedigen? Wäre es<br />
nicht ratsamer, einem weniger gefährlichen bürgerlichen<br />
Beruf nachzugehen? Warum dieses hochriskante Spiel mit<br />
dem Leben, ohne Netz und doppelten Boden? Mit dieser<br />
etwas vorgefassten Einstellung und vielen Fragen im Kopf<br />
gingen wir zum vereinbarten Gesprächstermin und waren<br />
überrascht von der natürlichen Offenheit und Liebenswürdigkeit,<br />
mit der wir empfangen wurden. Im Nachfolgenden<br />
eine Beschreibung über den Eindruck und die Erkenntnis,<br />
die wir aus diesem Gespräch gewonnen haben.<br />
Artisten sind anders<br />
Es ist schnell zu erkennen: Menschen, die zwischen<br />
Himmel und Erde ihr Brot verdienen und dabei ihr Leben<br />
riskieren, sind anders. Man muss in diese Welt der Artistik,<br />
insbesondere in die Welt der Hochseilartistik, schon hineingeboren<br />
werden, um sie mit allem Für und Wider zu verstehen<br />
und lieben zu lernen. „Schon als kleines Kind lernst du<br />
den Respekt vor dem Beruf des Seiltänzers – ich lebe seit<br />
ich denken kann nur in der Welt der Hochseilartistik. Sie ist<br />
den meisten Menschen verschlossen, doch es ist eine außerordentliche<br />
Welt“, schreibt Johann Traber senior in seinem<br />
2007 erschienenen und lesenswerten Buch: „Absturz ins<br />
Leben“ – Glanz und Schicksal einer Artistenfamilie. 1)<br />
Artisten leben von der Sensation, vom Nervenkitzel<br />
der Zuschauer. Je höher, weiter, schneller und riskanter sie<br />
ihr Handwerk ausüben, umso besser. „Wir leben von der<br />
Sensation, das ist ein Gesetz, und mein Vater wusste das<br />
wie kein anderer. Die Leute kommen zu den Trabers, um<br />
Sensationen geboten zu bekommen, die ihresgleichen suchen.<br />
Dafür bezahlen sie, nicht weil sie eine Artistengruppe<br />
unterstützen wollen“ 1) und diese Sensationsdarstellungen<br />
der Familie Traber auf dem Hochseil können sich wahrlich<br />
sehen lassen. „Weltweit auf Draht“, so lautet ihr Slogan und<br />
dies zu Recht, wenn man bedenkt, wo auf den berühmten<br />
Plätzen dieser Erde sie mit ihren artistischen Hochseildarbietungen<br />
schon aufgetreten sind. Hochseilakrobatik, bei<br />
Gesellschaft<br />
dessen Anblick den meisten Zuschauern überall in der Welt<br />
ein kalter Schauer über den Rücken läuft und viele bei dem<br />
riskanten Spiel mit dem Leben hoch oben auf dem Seil oder<br />
dem Mast gar nicht hinschauen können.<br />
Dabei wird die Sicherheit, soweit dies im Beruf des<br />
Hochseilkünstlers möglich ist, so groß wie nur möglich<br />
geschrieben. Neben der körperlichen Fähigkeit, sich auf<br />
einem nur ca. 1,5 cm starken Drahtseil zu bewegen, eine<br />
Leistung, die nur durch eine jahrelang harte Arbeit und eiserne<br />
Disziplin zu erreichen ist, hat die Überprüfung der<br />
Materialbeschaffung eine herausragende Bedeutung. An<br />
diesen beiden Faktoren, dem Zustand der körperlich-geistigen<br />
Fitness des Artisten und der intakten Beschaffenheit<br />
des Materials, hängt das Leben des Artisten, wenn er in<br />
schwindelerregender Höhe seine Seilkunst darbietet. Auch<br />
wenn er nach vielen Jahren viel Erfahrung und Können<br />
aufzuweisen hat. „... kein Seiltänzer, und mag er noch so<br />
routiniert sein, kann die Einsamkeit auf dem Seil ignorieren“<br />
und diese Einsamkeit hoch auf dem Seil ist es auch,<br />
die die zuschauenden und staunenden Menschen anrührt<br />
und „... lässt sie den Atem anhalten und sie vergessen<br />
ihren Alltag, der immer so unsensationell gleich abläuft.<br />
Wir sind ihre Sensationsmacher, aber natürlich keine, die<br />
ihr Leben für ein bisschen Ruhm und Beifall riskieren, im<br />
Gegenteil. Wenn wir auf dem Seil und auf dem Mast arbeiten,<br />
geschieht dies immer im Respekt vor dem Leben,<br />
im Respekt vor unserem Beruf, der uns bei jedem Auftritt<br />
höchste Präzision abverlangt. Ich bete oft auf dem Seil,<br />
hoch oben über den Menschen. Ich bete, dass Gott mir, dass<br />
er uns beisteht, ich bete genauso wie ein Landwirt, der um<br />
eine gute Ernte bittet. Wir sind dem Himmel beide sehr nah.<br />
Vielleicht nennt man das Gottvertrauen.“ 1)<br />
Eine starke Familie mit langer Tradition<br />
Wenn man unter dem Begriff „Beruf“ eine Tätigkeit versteht,<br />
mit dem ein Mensch unter Aneignung bestimmter Fähigkeiten<br />
seinen Lebensunterhalt verdient, so ist der Beruf<br />
des „Seiltänzers“ wohl mit einer der Ältesten. Die Anfänge<br />
des Seiltanzes liegen im Altertum vermutlich in China und<br />
Indien vor ca. 4000 Jahren. Spuren des Seiltanzes finden<br />
sich schon bei den Griechen und Römern vor ca. 3000 Jahren<br />
und später in Frankreich, England und Deutschland.<br />
Von der schon in frühester Zeit hoch entwickelten Kunst<br />
des Seiltanzes geben Ausgrabungen (Abbildungen auf Vasen,<br />
Wandbilder und Münzen) ein eindrucksvolles Bild. So<br />
ist es kein Wunder, dass auch die Geschichte der Familie<br />
Traber weit zurückreicht. Im Jahre 1406 wird der Name<br />
Traber als Artistenfamilie erstmals nachweislich erwähnt,<br />
und im Jahr 1512 hat der damalige Landgraf des Elsass<br />
einen Wandergewerbeschein auf den Namen Traber ausgestellt.<br />
Als gesichert gilt, dass die Artistentradition der<br />
Familie Johann Traber mindestens bis 1799 zurückreicht.<br />
Seit mehr als 300 Jahren wird die Kunst des Seiltanzes von<br />
Generation zu Generation weitergetragen und fortgesetzt.<br />
So wie in früheren Zeiten die Bauern ihre Höfe immer an<br />
den ältesten Sohn weitervererbt haben, so vererbten und<br />
vererben die Trabers bis heute die Kunst des Seillaufens<br />
an die nachfolgende Generation. Die Hochseilartistik <br />
durchblick 4/<strong>2008</strong> 15
Gesellschaft<br />
der Familie Traber hat eine lange Tradition aus Stolz und<br />
Leidenschaft, die über Jahrhunderte hinweg nur aufrechterhalten<br />
werden konnte, weil ein tiefes und festes Familienband<br />
aus Vertrauen und Erfahrung von Generation zu<br />
Generation geknüpft wurde. Ein Zusammenhalt, der von<br />
jedem Familienmitglied von Kindheit an eine eiserne Disziplin,<br />
harte Arbeit mit viel Fleiß und Ausdauer und eine verantwortungsbewusste<br />
Zuverlässigkeit verlangt, um die stets<br />
präsenten hohen Risiken, die mit der vielfältigen Kunst der<br />
Hochseilartistik verbunden sind, kalkulierbar und damit so<br />
gering wie möglich zu halten. Auch wenn in der langen<br />
Tradition dem Ruf der Hochseilartistik nicht jedes Familienmitglied<br />
gefolgt ist, der bedingungslose Zusammenhalt<br />
innerhalb der Familie Traber, das Füreinander-da-sein, das<br />
sich hundertprozentig auf den anderen verlassen können,<br />
all diese Eigenschaften sind Familientugenden, die in unserer<br />
heutigen Gesellschaft aus vielerlei Gründen zunehmend<br />
verloren gehen. Von daher gesehen steht die Familie<br />
Traber in unserer Zeit beispielhaft für ein gut funktionierendes,<br />
intaktes und gelebtes Familienleben. „Wir Trabers<br />
haben den Beruf des Seilkünstlers gewählt, ganz recht: Die<br />
Familie hat ihn gewählt und alle sitzen in einem Boot. Das<br />
gemeinsame Schicksal, sich auf den anderen zu verlassen,<br />
dieses Band hält uns stärker zusammen, als dies vielleicht<br />
bei einer Familie der Fall ist, in der jeder jeden Tag etwas<br />
anderes erlebt.“ 1) An dieser Stelle sei erwähnt, dass es<br />
heute zwei Traberfamilien gibt, die das Hochseilerbe weiterführen,<br />
die Familie Johann Traber, bei der wir zu Gast<br />
waren, mit ihrer „Original Johann Traber Show“, und die<br />
Familie Falko Traber, ein Bruder von Johann Traber senior,<br />
mit der „Falko Traber Hochseilshow“. (Nachzulesen unter<br />
www.traber-show.de sowie www.sky-walker.de)<br />
Ein Leben mit der Angst<br />
„Das Außerordentliche ist das Normale, das ist, glaube<br />
ich, eine zutreffende Einordnung für das, was wir tun.“ 1)<br />
Und zu diesem außerordentlichen Normalen zählt auch die<br />
Angst. Sie ist der ständige Wegbegleiter der Hochseilartisten<br />
und somit auch der Familie Johann Traber. In seinem<br />
Buch spricht Johann Traber senior ganz offen über diese<br />
Angst. Und sie ist begründet, hat er doch in seiner über<br />
50-jährigen Berufserfahrung als Hochseilartist nicht nur<br />
Hunderte von Beinahe-Abstürze erlebt, sondern auch ungezählte<br />
Unfälle mit schweren körperlichen Verletzungen,<br />
bis hin zu tödlichen Abstürzen. Den letzten tödlichen Absturz<br />
erlebte die Familie Traber 1995 in Baden-Baden. Der<br />
befreundete Artist Lutz Schreyer, der, ausgestattet mit einer<br />
Helmkamera, hinter dem Bruder von Johann Traber, Falko,<br />
lief, um den neuen Längenweltrekord auf dem Seil „live“<br />
zu filmen, plötzlich strauchelte und 24 Meter in die Tiefe<br />
stürzte. „... es sind natürlich auch die Abstürze, die unser<br />
Artistenleben prägen. Die Unwägbarkeit, sicher übers<br />
Seil zu kommen, diese Unwägbarkeit gibt es. Es ist ein<br />
verdammt gefährliches Spiel, das wir treiben, auch wenn<br />
man viel Routine hat.“ ... „machen wir uns nichts vor. Wir<br />
können Abstürzen nicht ausweichen, auch wir nicht, die<br />
wir strikt professionell arbeiten“ .... „Auch als Vater und<br />
Trainer meiner Kinder ist die Angst für mich ein ständiger<br />
Begleiter ... sind unsere Kinder auf dem Seil unterwegs,<br />
besteht ein unsichtbares Band zwischen uns. Doch wir haben<br />
Angst, natürlich haben wir Angst. Wir wollen uns nie<br />
loslassen, denn wir können nur als Familie überleben.“ 1)<br />
Menschen wie die Familie Johann Traber, die ständig im<br />
Grenzbereich zwischen Leben und Tod, zwischen buntem<br />
Artistenkostüm und weißem Totenhemd ihren Lebensunterhalt<br />
verdienen, müssen es von Kindheit an lernen mit<br />
dieser Angst umzugehen. Sie in den Griff zu bekommen ist<br />
ein ständiger Prozess, der nie endet, solange der Beruf des<br />
Hochseilartisten ausgeübt wird, und nicht selten verbirgt<br />
sich hinter der Aussage des Artisten, er habe „Respekt vor<br />
der Höhe“ in Wahrheit die Angst vor der Tiefe. „Hochseilartistik<br />
ist ein ganz besonderes Geschäft – und das ist<br />
keine Hochstapelei. Wenn ich manchmal über Aktionen<br />
16 durchblick 4/<strong>2008</strong>
Gesellschaft<br />
nachdenke, die ich gemacht habe, packt mich manchmal<br />
noch im Nachhinein die Angst. Schließlich sind wir keine<br />
Supermänner, sondern auch nur Menschen.“ 1)<br />
Absturz ins Leben 1)<br />
Tatort: Hamburg, Datum: 21. Mai 2006, Uhrzeit: 17.28<br />
Uhr, Wetter: typisch norddeutsches Schmuddelwetter. Ort,<br />
Datum und Zeitpunkt, an dem die Welt der Familie Johann<br />
Traber plötzlich stillsteht. „Papa schau mal, der Johann“.<br />
Mit einer Stimme, wie er sie von seiner Tochter Katharina<br />
so noch nie gehört hatte, wurde Johann Traber senior<br />
aufmerksam auf das, was kurz zuvor geschehen war. Während<br />
einer routinemäßigen artistischen Darbietung seines<br />
Sohnes Johann Traber junior auf dem 52 Meter hohen<br />
Peitschenmast war die Spitze des Mastes plötzlich abgebrochen.<br />
Sein Sohn Johann war, nur an einem Sicherungsseil<br />
hängend, in die Tiefe gestürzt und mit voller Wucht<br />
gegen den Stahlmast geknallt. Als Johann Traber senior<br />
hochblickte, sah er seinen Sohn leblos am Mast hängen.<br />
Er, der Senior, hatte bereits damit begonnen, sich aus dem<br />
aktiven Geschäft auf dem Hochseil und dem Peitschenmast<br />
zurückzuziehen und die artistischen Geschicke der<br />
„Original Johann Traber Show“ seinem Sohn überlassen.<br />
Er konnte dies ohne Bedenken tun, war doch sein Sohn<br />
auf dem Weg, die Tradition der Familie Traber als ein hervorragender<br />
Hochseilartist fortzuführen. Und nun hing die<br />
hoffnungsvolle Zukunft der Familie Johann Traber leblos<br />
am Sicherungsseil. Alles, was sich danach und in den darauf<br />
folgenden Monaten ereignete, wie eine Artistenwelt<br />
drohte zusammenzubrechen, wie die Familie eisern zusammenhielt<br />
und die große und gemeinsame Sorge um das<br />
Leben des schwerstverletzten Johann junior beschreibt Johann<br />
Traber senior eindrucksvoll in seinem Buch. Und die<br />
Familie, das ist die starke und stille Frau an seiner Seite,<br />
Maria-Vera, genannt Mitzi, die nie ein Hochseil betreten<br />
hat, und seine beiden Töchter Anna und Katharina, beide<br />
ebenfalls Hochseilartisten. Hier einige kurze Buchpassagen:<br />
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stockender Stimme einen Satz stammeln, den ich nie sagen<br />
wollte, einen Satz, der einer Mutter das Herz zerreißt: Es<br />
kann sein, dass wir ihn verlieren. Ihn, ein Kind, das sie geboren<br />
hat ...Wir wollen beten an diesem Mittwochnachmittag in<br />
Hamburg, beten wollen auch die, denen das eher fern liegt.<br />
Wir fahren durch die große Stadt, die wir ja ganz gut kennen.<br />
Die Kirchen in Hamburg sind geschlossen, jedenfalls finden<br />
wir an diesem ganz normalen Mittwochnachmittag kein<br />
offenes Gotteshaus. Ich habe dann gesagt: Lasst uns doch<br />
unter freiem Himmel beten. Unter freiem Himmel, dort wo<br />
wir Seilkünstler arbeiten, wo Johann immer gearbeitet hat.<br />
In Glinde, dem Hamburger Stadtteil, wo wir Quartier aufgeschlagen<br />
haben, beten wir. Und an diesem trüben Tag geht<br />
tatsächlich der Himmel auf. Vielleicht wollen wir es auch nur<br />
so sehen, aber es wurde tatsächlich hell. Eine Helligkeit, die<br />
sich auch in uns ausbreitete“ 1) .<br />
Und wirklich, es grenzt schon an ein Wunder, dass Johann<br />
Traber junior diesen schweren Unfall überlebt hat,<br />
bedenkt man die Diagnose: doppelter Schädelbasisbruch,<br />
Schädel-Hirn-Trauma. Linkes Jochbein, linkes Kiefer- <br />
4 Fotos: Gottfried Klör<br />
durchblick 4/<strong>2008</strong> 17
Foto: Gottfried Klör<br />
Die Artistenfamilie<br />
Dieses Buch ist im Buchhandel erhältlich<br />
gelenk, sämtliche Rippen links, linker Oberschenkel und Unterschenkel<br />
gebrochen. Das Leben von Johann Traber hing<br />
lange Zeit an einem seidenen Faden. Bei unserem Gespräch<br />
spricht Johann selbst von einem „Totalschaden“, den er erlitten<br />
hat. Zwei Monate lag er im künstlichen Koma. Seine<br />
Familie wich nicht von seiner Seite und blieb in Hamburg.<br />
Alle Termine wurden abgesagt. Seine Mutter Mitzi und seine<br />
Schwester Anna führten heimlich und unabhängig voneinander<br />
ein Tagebuch. Sollte Johann doch später einmal wissen<br />
und nacherleben, was alles geschehen war.<br />
Neben dem Hoffen und Bangen um das Leben und die<br />
Genesung von Johann darf nicht unerwähnt bleiben, dass<br />
die Traber-Familie nicht nur auf dem Hochseil ohne Netz<br />
und doppelten Boden arbeitet, sondern auch im wirtschaftlichen<br />
Alltag. Keine Versicherung ist bereit, das Risiko<br />
eines Artisten auf dem Hochseil zu versichern, und ohne<br />
Engagement kein Geld, obwohl die Kosten, wie in jedem<br />
Betrieb und in jeder Familie, weiterlaufen. „Wir durchleben<br />
schlimme Phasen, auch Phasen der Depression und<br />
Verzweiflung. Was soll aus uns werden? Unsere wirtschaftliche<br />
Basis bröckelt rasant, geplante Auftritte, die die Kasse<br />
hätten füllen sollen, platzen. Wie sollen wir unsere Sensationskunststücke<br />
fröhlich präsentieren, wenn unser Johann<br />
im Wachkoma liegt? Er ist doch unser Hoffnungsträger.<br />
So denken wir, so drehen sich unsere Gedanken im Kreis.<br />
Es sind trübe Gedanken, gemischt mit Hoffnungen. Erst<br />
allmählich erreicht uns in diesen Wochen die Realität. Die<br />
Realität heißt: Ihr Trabers, ihr seid Artisten und ihr müsst<br />
zeigen, dass ihr nicht aufgebt. Gerade jetzt nicht. Das hat<br />
schließlich auch Johann nicht verdient. Wir brauchen ja<br />
schlicht auch Geld zum täglichen Leben ... und wir erkennen:<br />
Es wird weitergehen, es muss weitergehen. Die Basis<br />
unseres Lebens sind das Komödiantentum und unsere Fähigkeit,<br />
als Hochseilartisten Sensationen bieten zu können,<br />
Trübsal blasen gehört nicht dazu.“ 1)<br />
Und sie schaffen es, schließlich ist die Familie Johann<br />
Traber eine starke Artistenfamilie, die fest und bedingungslos<br />
zusammenhält, in guten wie in schlechten Zeiten. Tochter<br />
Anna hat den Part auf dem Peitschenmast mit großer<br />
Bravour übernommen und Vater Johann sitzt wieder auf<br />
dem Motorrad, unter ihm auf dem Trapez Tochter Katharina.<br />
Johann junior ist in den Kreis der Familie zurückgekehrt<br />
und arbeitet hart und eisern an seinem Comeback. Seine<br />
Rehabilitation macht langsam, aber stetig Fortschritte und<br />
mit seinem starken Willen, seiner zielstrebigen Sturheit und<br />
nicht zuletzt durch die Unterstützung seiner tollen Familie<br />
wird ihm dieses Comeback auf das Hochseil auch gelingen.<br />
Wir von der durchblick-Redaktion drücken dazu ganz fest<br />
die Daumen.<br />
Zum Abschluss noch ein Zeichen dafür, dass die Familienmitglieder<br />
von Johann Traber nicht nur bei ihrer Arbeit<br />
auf dem Hochseil dem Himmel nahe sind, sondern auch in<br />
ihren Herzen. Es ist der geplante Bau einer kleinen öffentlichen<br />
Kapelle auf ihrem Grundstück am Kaiserstuhl „... in<br />
der jeder beten kann, der das Bedürfnis hat, vielleicht auch,<br />
weil ihn ähnliche Sorgen bewegen, wie wir sie durch Johanns<br />
Absturz haben. Es ist nicht verrückt, es ist der angemessene<br />
Dank an den Schöpfer, der verhindert hat, dass wir unseren<br />
Sohn als 22-Jährigen verloren haben. Es ist der Dank an<br />
Gott, der ihm seinen 23.Geburtstag geschenkt hat und noch<br />
viele weitere schenken wird“. Die Kapelle soll den Namen<br />
Sankt-Georgs-Kapelle erhalten. Sankt Georg ist nicht nur<br />
der Schutzpatron der Artisten, sondern auch der Name des<br />
Hamburger Krankenhauses, in dem die Rettung von Johann<br />
begonnen hat. Die Pläne sind fertig und der Grundstein wurde<br />
bereits gelegt. Artisten sind eben anders.<br />
Wir danken der Familie Traber herzlich für das offene<br />
und freundliche Gespräch und die Genehmigung, Textpassagen<br />
aus dem Buch „Absturz ins Leben“ zu verwenden.<br />
Im Namen aller Redaktionsmitglieder<br />
Eberhard Freundt<br />
18 durchblick 4/<strong>2008</strong>
Anzeiger<br />
Teilnehmer für Hörgerätetest gesucht<br />
Neue HörSysteme aus den USA streben nach der Perfektion des natürlichen<br />
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Mehr als 15 Millionen Bundesbürger<br />
haben Hörprobleme<br />
und können gesprochene<br />
Worte nur sehr schwer<br />
richtig verstehen. Besonders<br />
schwierig wird es in wechselnden<br />
Hörsituationen, von<br />
laut zu leise oder vom normalen<br />
Gespräch zum Telefonat.<br />
Probleme beim Verstehen<br />
entstehen oft dadurch, dass<br />
das Hörvermögen bei hohen<br />
Tönen nachlässt. Die<br />
Alterung des Gehörs ist eine<br />
Ursache, aber auch Lärmbelastung<br />
und mangelnde<br />
Durchblutung führen zu<br />
einem Hochtonverlust. Die<br />
Folge: gesprochene Sprache<br />
klingt undeutlich dumpf und<br />
Konsonanten wie s, f, t, k, p,<br />
h und g sind schlecht zu verstehen<br />
und werden dadurch<br />
verwechselt. Wenn noch<br />
viele Hintergrundgeräusche<br />
dazu kommen, wird das Verstehen<br />
noch schwieriger.<br />
Das Heimtückische dabei:<br />
Da die meisten Betroffenen<br />
eines Hochtonverlusts tiefe<br />
Töne noch sehr gut hören<br />
können, empfinden sie sich<br />
oft gar nicht als schwerhörig.<br />
Wenn sie ihren Gesprächspartner<br />
nicht verstehen, wird<br />
das mit einer zu lauten Hörsituation<br />
oder der undeutlichen<br />
Aussprache begründet.<br />
Diese Entschuldigung<br />
muss vor allem in größeren<br />
Gesprächsrunden oder beim<br />
Telefonieren herhalten. Die<br />
Betroffenen wollen sich oft<br />
nicht eingestehen, dass sie<br />
bereits erhebliche Schwie-<br />
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durchblick 4/<strong>2008</strong> 19
Brutale Übergriffe nehmen zu:<br />
Senioren leben auch im Siegerland gefährlich<br />
Aber die älteren Mitbürger drehen oft den Spieß einfach um …<br />
Else (Name geändert) zum Beispiel. Den 20. März <strong>2008</strong><br />
wird sie nicht vergessen. Nichts ahnend betritt die auf den<br />
Rollator angewiesene Siegenerin den Flur eines Siegener<br />
Mehrfamilienhauses. Plötzlich wird sie von hinten angefallen<br />
und brutal zu Boden gestoßen. Schwer verletzt liegt<br />
die Frau neben ihrer Roll-Gehhilfe. Glücklicherweise wird<br />
sie kurze Zeit später von einem Hausbewohner gefunden.<br />
Dann geht alles sehr schnell: notärztliche Erstversorgung.<br />
Die Frau steht unter Schock. Die Täter hatten es auf Bargeld<br />
abgesehen. Die Handtasche ist weg. – Nur einer von vielen<br />
Fällen im Siegerland.<br />
Unter Seniorinnen und Senioren geht die Angst um.<br />
Trotz fieberhaften Einsatzes der Polizei kommt es zu immer<br />
neuen derartigen Delikten. Eines haben alle Fälle gemeinsam:<br />
Fast ausschließlich sind auf Gehhilfen (Krückstock<br />
oder Rollator) angewiesene ältere Mitbürgerinnen von den<br />
skrupellosen Übergriffen betroffen. Speziell die „Altersklasse“<br />
von 75 bis 88 (!) Jahren ist betroffen. Und ausgerechnet<br />
jene, denen das Schicksal gesundheitlich ohnehin<br />
keine Sonnenseiten mehr beschert. Gerade sie trifft es wie<br />
am Fließband.<br />
In allen Fällen haben es die meist unbekannt gebliebenen<br />
und jüngeren Täter auf Handtaschen mit vermuteten<br />
Wertgegenständen bzw. Bargeld abgesehen.<br />
Begonnen hat alles schon im Februar dieses Jahres. Da<br />
wird einer alten Dame im Hausflur zu ihrer Wohnung die<br />
Kriminalität<br />
Handtasche weggerissen. Täter und Komplizin türmen mit<br />
der Beute in Richtung Bismarckplatz. Die Zeugenaussagen<br />
haben Gehalt, ja, sind so dicht, dass die Polizei sogar ein<br />
Phantombild anfertigen kann. Aber: Fahndung ergebnislos.<br />
Ein paar Wochen später reißt ein Unbekannter einer gehbehinderten<br />
Frau einen Stoffbeutel vom Körper. Wie im<br />
Fall davor am helllichten Nachmittag.<br />
Brutal zu Boden gerammt<br />
Wenige Tage später dann das nächste Delikt. So gegen<br />
17.30 Uhr im Hainer Weg: Die Täter rammen eine Seniorin<br />
von hinten überaus brutal zu Boden. Die Frau erleidet<br />
schwere Verletzungen. Folge: stationäre Behandlung im<br />
Krankenhaus. Die Täter können sich absetzen. Verschwinden<br />
in Windeseile in Richtung Oberstadt. Und: Sie werden<br />
nicht nur von Zeugen gesichtet sondern auch von einer Videokamera<br />
gefilmt. Dennoch, wie gehabt: Fahndung überaus<br />
kompliziert.<br />
Schon einen Tag später der nächste Übergriff. Noch<br />
rund 15 Minuten, dann schlägt es 18 Uhr. In der Giersbergstraße<br />
liegt ein Dunkelmann auf der Laurer. Er erspäht<br />
sein Opfer, schleicht sich von hinten an, reißt ihm<br />
die Handtasche weg.<br />
Ja, und wenige Tage später dann: Der geschilderte brutale<br />
Überfall auf die Frau mit dem Rollator im Hausflur.<br />
Die Serie ist unheimlich. Die Angst<br />
nimmt zu. Die Polizei stellt sich immer<br />
wieder die Frage: Werden die Delikte<br />
vom gleichen Täterkreis ausgeführt?<br />
Und wenn ja, reisen die Räuber von<br />
außerhalb an oder kommen sie aus Siegen?<br />
Eine Belohnung für Hinweise, die<br />
zur Ergreifung der Täter führen sollen,<br />
wird ausgesetzt. Bringt alles nichts. Es<br />
ist wie verhext. Die Ermittler der Siegener<br />
Kripo treten auf der Stelle. Ins<br />
Visier der Fahnder geraten u. a. zwei<br />
mutmaßliche Täter aus Osteuropa.<br />
Foto (gestellt): Dieter Gerst<br />
Vorsicht: Speziell in dunklen Eingangsbereichen zu Haus oder Wohnung können Kriminelle<br />
auf der Lauer liegen, die ihren Opfern mit raschem Griff die Handtasche entreißen.<br />
Auch ein psychischer Knacks<br />
Die meisten Opfer erleiden neben<br />
ihren körperlichen Verletzungen auch<br />
einen psychischen Knacks. Bedürfen<br />
einer speziellen Betreuung. Eine<br />
Sprecherin des „Weißen Ringes“ (Organisation<br />
zu Betreuung von Kriminalitätsopfern)<br />
weiß: „Seniorinnen und<br />
Senioren, die überfallen worden sind,<br />
haben Angst, auf die Straße zu gehen.<br />
Das schränkt die Lebensqualität außer-<br />
20 durchblick 4/<strong>2008</strong>
Kriminalität<br />
ordentlich ein. Wir wollen dabei helfen, diese Ängste abzubauen,<br />
um das Leben der Betroffenen wieder lebenswert<br />
zu machen.“<br />
Zwischendurch meldet die Polizei auch Fahndungserfolge.<br />
Wie beispielsweise in Erndtebrück. Dort hatten zwei<br />
Heranwachsende einer Seniorin die Handtasche geraubt<br />
und waren geflüchtet. Auf einer Landstraße wird einer der<br />
Burschen von einer Polizeistreife gestellt. Gerade mal 15<br />
Jahre alt. Sein Komplize geht einer weiteren Streifenwagenbesatzung<br />
kurze Zeit später ins Netz. Ein 14-Jähriger.<br />
Und der gesteht sofort, das Delikt mit seinem ein Jahr<br />
älteren Kumpel begangen zu haben.<br />
Wichtig: Ängste abbauen<br />
Wie können sich nun ältere Menschen vor Übergriffen<br />
schützen? Das „Kommissariat Vorbeugung“ der Siegener<br />
Polizei (Telefon 0271/70994300 oder E-Mail zkb-kv.siegen@polizei.nrw.de)<br />
hält jede Menge Tipps bereit und betreibt<br />
in großem Umfang Aufklärung.<br />
Wichtig ist es auf jeden Fall, die Ängste abzubauen.<br />
„Denn“, so eine Expertin: „Wer das nicht tut, der lässt sich<br />
außer der Handtasche auch ein Stück Lebensqualität rauben.“<br />
Der Gang zur Bank sollte in keinem Fall allein erfolgen.<br />
Immer in Begleitung (Freundin oder Freund z. B.)<br />
Fachleute: „Nur wer allein unterwegs ist, wird von Tätern<br />
als leichte Beute angesehen.“ Schlägt doch ein Räuber zu,<br />
sollte „man nicht den Helden spielen“. Ist klar: Nichts ist<br />
wertvoller als die Gesundheit. Grundsätzlich sollten Frauen<br />
beim Bummel oder Einkauf auf die Handtasche verzichten.<br />
Wertsachen, Ausweispapiere oder Bargeld sind am besten<br />
in sicheren Innentaschen von Jacken oder Mänteln aufgehoben.<br />
Wer auf die Handtasche allerdings nicht verzichten<br />
möchte, sollte sie „nur mit Krimskrams“ füllen. Ein solcher<br />
Verlust ist leichter zu verschmerzen.<br />
Tipps von der Polizei: Beim Abheben von Bargeld<br />
Umsicht walten lassen. Vor allen Dingen: Bankgeschäfte<br />
nicht an Rentenzahltagen (in der Regel der 1. oder 15. eines<br />
jeden Monats) tätigen. Grund: An derartigen Stichtagen liegen<br />
Handtaschen-Diebe und Räuber an Geldautomaten oft<br />
auf der Lauer und warten auf ihre Chance. Eine Polizistin:<br />
„Bitte, diese Stichtage umgehen. Und Geld nur in kleinen<br />
Portionen abholen – dann ist im Falle eines Falles nur ein<br />
Teil der Rente futsch.“ – Das sind an dieser Stelle nur einige<br />
Hinweise. Näheres beim „Kommissariat Vorbeugung“<br />
(Kontaktmöglichkeit siehe oben).<br />
Mit Knüppel Rente aufgebessert<br />
Jetzt ist es beileibe nicht so, dass Ruheständler stets nur<br />
Opfer sind. Sie sind auch kriminell aktiv. So wurde quer<br />
durch die Republik beobachtet, dass ältere Zeitgenossen<br />
mit „Ballermann“ oder solidem Holzknüppel ihre knappe<br />
Rente aufbessern. Der Leiter des Münchener Raubdezernates<br />
sagt klipp und klar: „Wir werden uns in Zukunft mehr<br />
mit älteren Tätern auseinandersetzen müssen.“ Das sagte<br />
der Fachmann vor dem Hintergrund folgenden Falles:<br />
Ein 72-jähriger Opa-Räuber marschiert in einen Schleckermarkt,<br />
sackt mehrere Hundert Euro ein und verschwindet.<br />
München ist ein teures Pflaster – und mit ein<br />
paar Hundert Euro kommt man nicht weit. Opa weiß das,<br />
und: macht in einem weiteren Schleckermarkt Kasse. Beim<br />
dritten Coup wird er schließlich festgenommen. Bei seiner<br />
Vernehmung gibt er an, „gleich ein ungutes Gefühl gehabt“<br />
zu haben. Und tatsächlich: Als er den Laden samt fetter<br />
Beute verlässt, wartet schon die Polizei mit Handschellen.<br />
Ende mit Kasse machen. Beim Prozess braucht er ohnehin<br />
keinen „Zaster“. Da ist der Eintritt frei.<br />
Und noch etwas: Es sind nicht nur Jugendliche oder Heranwachsende,<br />
die gegen ältere Menschen Gewalt anwenden.<br />
Umgekehrt kracht es auch schon mal gewaltig. Und<br />
wie! Ein erstaunlich prächtiges Beispiel ruheständlerischer<br />
Schlagfertigkeit lieferte ein überaus rustikales Altersheim-<br />
Trio kürzlich ab. Ausgerechnet in einer U-Bahn-Station<br />
blies die „Truppe“ im Alter von 79 bis 86 Jahren zum<br />
Roundup. Angesichts eines jungen Mannes, der rauchend<br />
dastand, legten die Opas Hexenschuss, Rheuma, Zipperlein<br />
und Jacketts ab. Die brennende Zigarette in der Hand<br />
des 19-Jährigen hatte das Blut der Altersheimer derart aufschäumen<br />
lassen, dass sie den jungen Mann nach Strich und<br />
Faden vermöbelten. Rentner Heinz B. sah sich im Recht:<br />
„Der hat es nicht anderes verdient. Bevor die uns verprügeln,<br />
schlagen wir zu.“ Weniger dämlich die Antwort des<br />
verletzten „Rauchopfers“ (Knochenbrüche und Schädeltrauma):<br />
„Ich rauche nie wieder in der U-Bahn.“<br />
… sieben, acht, neun, aus die Maus!<br />
Na ja, es gibt sogar Kurse für ältere Herrschaften, wie<br />
man glimpfliche Situationen „schlagartig“ bereinigen kann.<br />
Das DRK in Norderstedt beispielsweise, lernte in Zusammenarbeit<br />
mit der Polizei Senioren an, mit der asiatischen<br />
Kampfsportart WingTsun „zur Selbstbehauptung zu gelangen“.<br />
Selbst für Rollstuhlfahrer sei das eine angemessene<br />
Methode, einen eventuellen Gegner mit geringem<br />
Kraftaufwand ins Reich der Träume zu schicken. Einziger<br />
Trick sei dabei, die „Arme der Gegner so schnell wie möglich<br />
zu neutralisieren“. Allerdings wurde der Vorsitzenden<br />
des Norderstedter Seniorenbeirates angesichts mehrerer<br />
demonstrierter Neutralisierungsprozesse nicht nur leicht<br />
schummerig, sondern regelrecht angst und bange. Die<br />
Beirätin des guten Jahrgangs 1927 stellte derartige vom<br />
asiatischen Flair geprägte Kurse zunächst grundsätzlich<br />
infrage, ruderte dann jedoch ein wenig zurück: So sollte<br />
aber mindestens bei derart spektakulären Neutralisierungsbemühungen<br />
auf jeden Fall „ein Arzt anwesend sein“. Hoffentlich<br />
haben sie den Mediziner jetzt nicht im Eifer des<br />
Gefechtes ganz fürchterlich neutralisiert. Ringrichter sind<br />
ja öfter schon mal auf die Gegenfahrbahn geraten, wo ihnen<br />
plötzlich mit Volldampf ein unbeleuchteter Boxhandschuh<br />
entgegenkam … sieben, acht, neun, aus die Maus!<br />
Dieter Gerst<br />
durchblick 4/<strong>2008</strong> 21
Personen<br />
Wie der Herr der Bienen die Zufriedenheit gewann<br />
Erhard Groß vor seinem Bienenstöcken<br />
„Es war einmal ein reicher König ...“<br />
Wenn ich an Erhard Groß denke, kommt mir stets die<br />
Geschichte vom Hemd des Zufriedenen in den Sinn. Warum<br />
ist das so? Erhard Groß besitzt doch jede Menge Hemden.<br />
Im Moment trägt er eines, das rot und weiß kariert ist.<br />
Es ist Dienstagnachmittag in der Dreisbach-Siedlung.<br />
Die Septembersonne strahlt mit voller Kraft vom wolkenlosen<br />
Himmel, so, als wolle sie einen verregneten Sommer<br />
vergessen machen. Wir sitzen am gedeckten Küchentisch.<br />
Hausherrin Therese hat uns Kaffee gekocht. „Wir tun immer<br />
einen Löffel Honig in die Tasse“, sagt sie und ich stelle<br />
fest, dass das eine gute Empfehlung ist. Es ist ein paar Wochen<br />
her, da wurde ein Beitrag in der „Aktuellen Stunde“<br />
über den Imker Erhard Groß gesendet. Was er dort sagte<br />
gefiel mir. Ich wollte mehr wissen, rief an, fand ihn aufgeschlossen<br />
und wir vereinbarten das Treffen. Nun sitzen<br />
wir uns gegenüber und er fragt: Womit fangen wir an? Und<br />
antwortet: Am besten mit der Krankheit.<br />
Anfang 2001 ist sie unumgänglich geworden, die Bypass-Operation.<br />
Die Herzkranzgefäße sind in einem entsprechend<br />
schlechten Zustand. Der damals 68-Jährige reist<br />
nach Bad Nauheim und wird in der dortigen Kerckhoff-<br />
Klinik operiert. Sein Zustand ist schnell stabil. „Prima, alles<br />
in Ordnung!“, sagt der hessische Professor und hat nichts<br />
gegen seine Verlegung ins Siegener Marienkrankenhaus<br />
einzuwenden. Und dort passiert das, was tief in sein Leben<br />
einschneidet. Und dass es gerade dort<br />
eintritt, ist pures Glück: „Wäre es nicht<br />
im Krankenhaus geschehen, dann gäbe<br />
es mich nicht mehr.“ Ein Blutgerinnsel<br />
hatte sich gebildet, war mit dem Blutstrom<br />
fortgespült worden und blieb im<br />
Gehirn stecken. Schlaganfall! Mit Medikamenten<br />
kann die Ursache beseitigt<br />
werden, doch eine Schädigung ist da.<br />
Als er wieder zu sich kommt, weiß er<br />
nichts mehr. Zumindest beinahe. „Das<br />
Erste und Einzige was ich denken<br />
konnte, war ,Biene‘. Dieses Wort kam<br />
mir unentwegt in den Sinn.“<br />
Sechs Wochen dauert die stationäre<br />
„Reha“ in Bad Berleburg. Erhard Groß<br />
lernt wie ein Kreis aussieht und wie<br />
ein Dreieck, kann irgendwann wieder<br />
schwarz und weiß unterscheiden. Wie<br />
eine Biene aussieht muss man ihm<br />
nicht beibringen. Das weiß er. Daheim<br />
übernimmt Gattin Therese die Rolle der<br />
Therapeutin, übt mit ihm, oft stundenlang.<br />
Er nennt sie seine unentbehrliche<br />
Helferin, ist ein lernbegieriger Schüler.<br />
Ein Mangel ist nicht zu beseitigen:<br />
„Dinge, die sich unmittelbar vor mir<br />
befinden, sehe ich wacklig.“ Obwohl er<br />
gestochen scharf schreiben kann, vermag er das Geschriebene<br />
nicht zu lesen. „Die Lieder, die wir im gemischten<br />
Chor neu einüben, muss ich zuvor auswendig lernen“,<br />
sagt er und auch bei dieser schwierigen Übung ist Gattin<br />
Therese, mit der er vor fünf Jahren die Goldene Hochzeit<br />
feierte, als „Eintrichterin“ gefragt. Er ist ein zielstrebiger<br />
Patient und er sagt: „Ich muss dem Herrgott danken, dass<br />
er mir den Willen zum Leben gegeben hat.“ Als er erstmals<br />
wieder auf dem Fahrrad sitzen kann und eine kleine Tour<br />
hinter sich hat, ist er grenzenlos glücklich. Seither radelt er<br />
beinahe täglich. Die Fahrrad-Herzsportgruppe, der er sich<br />
angeschlossen hat, wird in der Regel von einem Arzt mit<br />
Notfallkoffer begleitet.<br />
„Es war einmal ein reicher König, dem machte das Regieren<br />
so viel Sorgen, dass er darum nicht schlafen konnte<br />
die ganze Nacht.“<br />
Es war ein junger Mann in Seck, der heißt Erhard<br />
Groß. Seine Schulzeit auf dem Westerwald endet und er<br />
erlernt den schönen Beruf des Stuckateurs. Er ist kreativ<br />
und kann zupacken, dient sich in einer namhaften Firma<br />
hoch und ist schließlich Polier. Währenddessen heiratet<br />
er, baut ein Haus auf einer ehemaligen Schlackenhalde<br />
am Eichert, bekommt mit Therese drei Kinder. Als er ge-<br />
22 durchblick 4/<strong>2008</strong>
Personen<br />
meinsam mit seinem von ihm selbst ausgebildeten Sohn<br />
ein Stuck- und Putzgeschäft eröffnet, wird alles das,<br />
was bislang seinen ruhigen Gang hatte, unendlich viel<br />
schwieriger. Das kleine Familienunternehmen wagt sich<br />
an alle Herausforderungen, endlich sogar an historische<br />
Fassaden, bei denen viele andere zuvor das Handtuch<br />
geworfen hatten. Vater und Sohn verschaffen sich dank<br />
sauberer Ausführungen einen guten Ruf bei Architekten<br />
und Bauämtern. Dass eine Selbstständigkeit auch mancherlei<br />
Nachteile hat, zeigt sich indes recht bald. Die von<br />
der miesen Zahlungsmoral mancher Kunden angeführten<br />
Plagegeister stellen sich ein. Vor allem nachts sind sie<br />
unterwegs, die kleinen Unruhestifter. Sie machen ihm<br />
das Leben sauer, sie piesacken und sie drangsalieren ihn.<br />
Zuerst nur manchmal, dann immer häufiger. Mal wecken<br />
sie ihn um vier Uhr, bisweilen noch früher. Der Kampf<br />
um die Preise, der ständige Termindruck, die ewigen Anrufe<br />
der Bauherren und die anhaltende Hektik zermürben<br />
und machen dünnhäutig.<br />
„Es war einmal ein reicher König, dem machte das Regieren<br />
so viel Sorgen, dass er darum nicht schlafen konnte<br />
die ganze Nacht. Das ward ihm zuletzt so unerträglich, dass<br />
er seine Räte zusammenrief und ihnen sein Leid klagte. Es<br />
war aber darunter ein alter, erfahrener Mann, der erhob<br />
sich, da er vernommen, wie es um den König stand, von<br />
seinem Stuhle und sprach: Es gibt nur ein Mittel, dass wieder<br />
Schlaf in des Königs Augen kommt, aber es wird schwer<br />
zu erlangen sein; so nämlich dem Könige das Hemd eines<br />
zufriedenen Menschen geschafft werden könnte und er das<br />
beständig auf seinem Leibe trüge, so halte ich dafür, dass<br />
ihm sicherlich geholfen würde.“<br />
Schon als Kind und als Jugendlicher hat Erhard Groß<br />
eine Schwäche für die Imkerei. Es ist vierzig Jahre her,<br />
da meldet er sich bei einer Imkerschule in Bayern an und<br />
reist gen Süden. Bei Bad Birnbach erfährt er, wie man<br />
Imker wird, was man für den Anfang benötigt, welcher<br />
Aufwand ansteht und welche Utensilien erforderlich<br />
sind. Als er das notwendige Wissen besitzt, ziert schnell<br />
ein großes Bienenhaus den Garten. Das Schmuckstück<br />
zieht auf Anhieb die bewundernden Blicke der Imkerkollegen<br />
auf sich. Nach Feierabend verbringt Erhard Groß<br />
zahlreiche Stunden bei den Immen. Er kann das abwechslungsreiche<br />
Hobby recht gut neben der Arbeit betreiben.<br />
Irgendwann stehen zusätzliche „Beuten“ aus Kunststoff<br />
im Garten. So nennen die Imker einzeln aufgestellte Bienenstöcke.<br />
Und letztlich wird ein zweites Bienenhaus<br />
im Freudenberger Ortsteil Hohenhain erstellt. Der Honig<br />
vom dortigen Waldesrand schmeckt anders und die Erträge<br />
sind höher. Jetzt hat er rund vierzig Bienenvölker zu<br />
betreuen. Sofort merkt er, wenn in einem Stock irgendetwas<br />
nicht stimmt und er ist mächtig stolz darauf, dass<br />
ihm noch nie ein Volk eingegangen ist. Als er sich einmal<br />
mit seinem Honig an einem Qualitätswettbewerb beteiligt,<br />
erobert er prompt die Goldmedaille. Die Urkunde<br />
hierzu hängt auf dem Flur neben etlichen zum Verkauf<br />
bestimmten Gläsern mit Honig.<br />
Nach der Firmengründung ändert sich manches. An<br />
vielen Abenden fehlt zu seinem großen Leidwesen die<br />
notwendige Zeit für das Steckenpferd. Es muss doch<br />
klappen, denkt er, ich muss die Bienen doch versorgen.<br />
Er nimmt seine Liebhaberei, die eigentlich schon lange<br />
eine Leidenschaft ist, sehr ernst. Rasch wird an den<br />
Werktagen das erledigt, was unerlässlich ist. Alles andere<br />
bleibt viel zu häufig bis zu den Wochenenden liegen. Das<br />
macht zusätzlich unzufrieden, und die Unannehmlichkeiten<br />
des Arbeitstages gehen ohnedies nicht aus dem<br />
Kopf. Er hadert insgeheim oft mit den Gegebenheiten.<br />
Eine Besserung wird erst nach dem Eintritt in den Ruhestand<br />
möglich sein. Und tatsächlich beginnt ab diesem<br />
Tag die Wende.<br />
„Da das der König vernahm, beschloss er, dem Rate des<br />
klugen Mannes zu folgen und wählte eine Anzahl Männer,<br />
die sollten das Reich durchwandern und schauen, ob sie<br />
nicht ein Hemd finden könnten, wie es dem Könige Not<br />
tat. Sie fragten von Haus zu Haus, von Hütte zu Hütte, sie<br />
gingen in das nächste Dorf und weiter von da, sie kehrten<br />
bei Armen und bei Reichen ein, aber keinen fanden sie, der<br />
ganz zufrieden war. Da kehrten die Männer traurig wieder<br />
um und begaben sich auf den Heimweg.“<br />
Erhard Groß nimmt mich mit in den Garten. Hier steht<br />
das Bienenhaus und hier befinden sich auch etliche von<br />
oben zu öffnende Kunststoff-Beuten. Im Mund hat er eine<br />
Imkerpfeife<br />
und bläst den<br />
Rauch in eine<br />
der Beuten.<br />
Die sich vor<br />
Feuer fürchtenden<br />
Bienen<br />
nehmen<br />
den Rauch<br />
rasch wahr,<br />
sie beginnen<br />
instinktiv,<br />
sich auf eine<br />
Flucht vorzubereiten<br />
und suchen<br />
eilends die<br />
Honigwaben<br />
auf. Eine<br />
dieser Waben<br />
nimmt<br />
Erhard Groß<br />
nun aus dem<br />
Gehäu- <br />
Der Imker bläst den Rauch in eine<br />
der Beuten<br />
2 Fotos: Uli Weber<br />
durchblick 4/<strong>2008</strong> 23
se. Sie ist von unzähligen Bienen bevölkert. Er fasst die Wabe<br />
vorsichtig am Rand an, um keine der Einwohnerinnen zu<br />
zerdrücken. Seine Bewegungen sind langsam und gemessen.<br />
Ganz anders die Bienen. Es ist ein quirliges Volk, jedes<br />
einzelne Insekt hat seine Aufgabe und will diese anscheinend<br />
so rasch wie möglich erledigen. Stechen gehört nicht<br />
zu den Gewohnheiten der Pollensammler. „Eine Biene, die<br />
auf einer ruhigen Hand sitzt, sticht nicht“, sagt Erhard Groß.<br />
Und das ist der Schlüssel. Jede schnelle oder hektische Bewegung<br />
beunruhigt<br />
das Volk. Bienen<br />
spüren den Stress<br />
eines Imkers, der<br />
unter Anspannung<br />
seine Aufgabe erledigt.<br />
Daher sind sie<br />
gute Lehrer in Sachen<br />
„Ruhe“. Der<br />
Umgang mit ihnen<br />
lehrt zwangsläufig<br />
ruhiges und<br />
konzentriertes Arbeiten.<br />
Zwar sind<br />
die Völker mittlerweile<br />
auf Sanftmut<br />
gezüchtet, doch das<br />
wird sich demjenigen<br />
verschließen,<br />
der mit ihnen nicht<br />
bedachtsam und<br />
wohlüberlegt umgeht.<br />
Und so ergibt<br />
sich unwillkürlich,<br />
dass der Imker Erhard<br />
Groß immer<br />
ausgeglichener<br />
wird und endlich<br />
vom Scheitel bis zur Sohle Gelassenheit ausstrahlt. Er weiß,<br />
warum das so ist: „Die Bienen haben mich erzogen.“<br />
„Auf dem Heimweg trafen die Männer auf einen Schweinehirten,<br />
der da gemächlich bei seiner Herde lag, vergnüglich<br />
sein Essen verzehrte und mit seinem Kinde spielte. Das<br />
sahen die Männer des Königs mit Erstaunen, traten herzu<br />
und fragten den Mann, wie es käme, dass er so vergnüglich<br />
wäre und hätte doch nur ein so geringes Auskommen?<br />
Meine lieben Herren, sprach der Sauhirt, das kommt daher,<br />
weil ich mit dem, was ich habe, zufrieden bin.“<br />
„Ich kann stundenlang im Garten sitzen und den Bienen<br />
zuschauen“, sagt Erhard Groß und ergänzt: „Hier ist es so<br />
schön, hier fühle ich mich wohl und hier habe ich ständige<br />
Erholung. Über jeden Tag kann ich mich freuen. Eine Urlaubsreise<br />
ist für mich ganz und gar überflüssig, weil ich<br />
nirgendwo so gut ausspannen kann wie hier daheim bei den<br />
Personen<br />
Die Honigbiene<br />
Betrachtungen von Erhard Groß<br />
Sie leben zu Zehntausenden auf engstem Raum zusammen und<br />
doch funktioniert ihr Miteinander reibungslos. Denn der Staat der<br />
Honigbiene wird unglaublich schnell und fein abgestimmt, über<br />
Duftmoleküle gesteuert, die die Königin der Biene aussendet.<br />
Das Leben einer Arbeiterin im Staat der Honigbiene ist kurz, aber<br />
abwechslungsreich. Während der ersten Wochen macht sie Innendienst<br />
im Bienenstock. Sie reinigt die Zellen, nimmt der Flugbiene<br />
die gesammelten Pollen ab, stampft diese Pollen und füttert die<br />
Brut. Später versieht sie Wächterdienste am Flugloch und übernimmt<br />
erste Flugübungen. Erst ab dem 22. Lebenstag darf sie den<br />
Stock verlassen, um Nektar und Honigtau zu sammeln.<br />
Ihre Kolleginnen unterrichten sie in der Bienensprache, dem<br />
Rund- und Schwänzeltanz, über die besten Nektarpflanzen. In<br />
einem Garten oder Park mit blühenden Sträuchern und Blumen<br />
kannst du sehen, dass eine Honigbiene immer nur die Blüten einer<br />
einzigen Pflanzenart besucht. Die Hummel dagegen bummelt von<br />
einer Pflanzenart zur anderen. Darum ist das Pollenhöschen der<br />
Biene immer einfarbig, das der Hummel manchmal kunterbunt.<br />
Und deswegen ist die Bienenzucht einer der schönsten und edelsten<br />
Freizeitgestaltungen, birgt sie doch in sich die Wunder der<br />
Natur und vermittelt uns das Empfinden unseres Schöpfers.<br />
Bienen.“ Vor einigen Jahren hat er einmal aufgeschrieben,<br />
was ihm bei seiner Passion wichtig erscheint. Er gibt mir<br />
die Aufzeichnungen mit den Worten: „Eigentlich wollte ich<br />
das den hiesigen Zeitungen zusenden, doch daraus ist bisher<br />
nichts geworden.“<br />
Etwas bedrückt ihn trotz der vorherrschenden Fröhlichkeit:<br />
„Der Nachwuchs fehlt und ich fürchte, die Bienenzucht<br />
geht in den Keller.“ Derlei Mitgliederklagen sind heute bei<br />
vielen Freizeitbeschäftigungen nicht ungewöhnlich. Für<br />
den einen oder anderen<br />
mag ein Nachteil<br />
sein, dass die Imkerei<br />
in der Natur<br />
stattfindet und unabhängig<br />
vom Wetter<br />
ausgeübt werden<br />
muss. Wer sich daher<br />
in der Natur nicht<br />
wohlfühlt oder gar<br />
Angst vor krabbelnden<br />
Tieren hat, kann<br />
kein Imker sein.<br />
So ist es gut,<br />
wenn die Bienenzüchter<br />
zusammenhalten.<br />
Sie wissen<br />
um die Wichtigkeit<br />
ihrer Passion. Als<br />
Erhard Groß durch<br />
seine Krankheit ausfällt,<br />
übernehmen<br />
zwei Kollegen viele<br />
Monate lang wie<br />
selbstverständlich<br />
die Arbeit an seinen<br />
mittlerweile noch<br />
zwanzig Völkern.<br />
„Die Stöcke müssen erhalten bleiben und du musst weiter<br />
Imker sein“, so lautete ihre Begründung.<br />
Die Geschichte vom Hemd des Zufriedenen endet nicht<br />
so gut wie die Geschichte von Erhard Groß. Zwar hatten<br />
die ausgesandten Männer endlich einen Zufriedenen gefunden,<br />
doch dann stellte sich heraus, dass dieser gar kein<br />
Hemd besaß:<br />
„So gern ich Euch, meine lieben Herren, in Eurem Anliegen<br />
möchte zu Willen sein, so ist es mir doch nicht möglich;<br />
denn Zufriedenheit habe ich wohl, aber kein Hemd am<br />
Leibe. Als die Männer diese Worte des Sauhirten vernahmen,<br />
erschraken sie und gaben nun ganz die Hoffnung auf,<br />
ein Hemd zu finden, wie es dem Könige Not tat. So musste<br />
denn der König seine Sorgen ferner tragen und voll Unruhe<br />
oft Nächte lang auf seinem Bette liegen, ohne dass der<br />
Schlaf in seine Augen kam, und konnte ihm nicht geholfen<br />
werden.“<br />
Ulli Weber<br />
24 durchblick 4/<strong>2008</strong>
se. Sie ist von unzähligen Bienen bevölkert. Er fasst die Wabe<br />
vorsichtig am Rand an, um keine der Einwohnerinnen zu<br />
zerdrücken. Seine Bewegungen sind langsam und gemessen.<br />
Ganz anders die Bienen. Es ist ein quirliges Volk, jedes<br />
einzelne Insekt hat seine Aufgabe und will diese anscheinend<br />
so rasch wie möglich erledigen. Stechen gehört nicht<br />
zu den Gewohnheiten der Pollensammler. „Eine Biene, die<br />
auf einer ruhigen Hand sitzt, sticht nicht“, sagt Erhard Groß.<br />
Und das ist der Schlüssel. Jede schnelle oder hektische Bewegung<br />
beunruhigt<br />
das Volk. Bienen<br />
spüren den Stress<br />
eines Imkers, der<br />
unter Anspannung<br />
seine Aufgabe erledigt.<br />
Daher sind sie<br />
gute Lehrer in Sachen<br />
„Ruhe“. Der<br />
Umgang mit ihnen<br />
lehrt zwangsläufig<br />
ruhiges und<br />
konzentriertes Arbeiten.<br />
Zwar sind<br />
die Völker mittlerweile<br />
auf Sanftmut<br />
gezüchtet, doch das<br />
wird sich demjenigen<br />
verschließen,<br />
der mit ihnen nicht<br />
bedachtsam und<br />
wohlüberlegt umgeht.<br />
Und so ergibt<br />
sich unwillkürlich,<br />
dass der Imker Erhard<br />
Groß immer<br />
ausgeglichener<br />
wird und endlich<br />
vom Scheitel bis zur Sohle Gelassenheit ausstrahlt. Er weiß,<br />
warum das so ist: „Die Bienen haben mich erzogen.“<br />
„Auf dem Heimweg trafen die Männer auf einen Schweinehirten,<br />
der da gemächlich bei seiner Herde lag, vergnüglich<br />
sein Essen verzehrte und mit seinem Kinde spielte. Das<br />
sahen die Männer des Königs mit Erstaunen, traten herzu<br />
und fragten den Mann, wie es käme, dass er so vergnüglich<br />
wäre und hätte doch nur ein so geringes Auskommen?<br />
Meine lieben Herren, sprach der Sauhirt, das kommt daher,<br />
weil ich mit dem, was ich habe, zufrieden bin.“<br />
„Ich kann stundenlang im Garten sitzen und den Bienen<br />
zuschauen“, sagt Erhard Groß und ergänzt: „Hier ist es so<br />
schön, hier fühle ich mich wohl und hier habe ich ständige<br />
Erholung. Über jeden Tag kann ich mich freuen. Eine Urlaubsreise<br />
ist für mich ganz und gar überflüssig, weil ich<br />
nirgendwo so gut ausspannen kann wie hier daheim bei den<br />
Personen<br />
Die Honigbiene<br />
Betrachtungen von Erhard Groß<br />
Sie leben zu Zehntausenden auf engstem Raum zusammen und<br />
doch funktioniert ihr Miteinander reibungslos. Denn der Staat der<br />
Honigbiene wird unglaublich schnell und fein abgestimmt, über<br />
Duftmoleküle gesteuert, die die Königin der Biene aussendet.<br />
Das Leben einer Arbeiterin im Staat der Honigbiene ist kurz, aber<br />
abwechslungsreich. Während der ersten Wochen macht sie Innendienst<br />
im Bienenstock. Sie reinigt die Zellen, nimmt der Flugbiene<br />
die gesammelten Pollen ab, stampft diese Pollen und füttert die<br />
Brut. Später versieht sie Wächterdienste am Flugloch und übernimmt<br />
erste Flugübungen. Erst ab dem 22. Lebenstag darf sie den<br />
Stock verlassen, um Nektar und Honigtau zu sammeln.<br />
Ihre Kolleginnen unterrichten sie in der Bienensprache, dem<br />
Rund- und Schwänzeltanz, über die besten Nektarpflanzen. In<br />
einem Garten oder Park mit blühenden Sträuchern und Blumen<br />
kannst du sehen, dass eine Honigbiene immer nur die Blüten einer<br />
einzigen Pflanzenart besucht. Die Hummel dagegen bummelt von<br />
einer Pflanzenart zur anderen. Darum ist das Pollenhöschen der<br />
Biene immer einfarbig, das der Hummel manchmal kunterbunt.<br />
Und deswegen ist die Bienenzucht einer der schönsten und edelsten<br />
Freizeitgestaltungen, birgt sie doch in sich die Wunder der<br />
Natur und vermittelt uns das Empfinden unseres Schöpfers.<br />
Bienen.“ Vor einigen Jahren hat er einmal aufgeschrieben,<br />
was ihm bei seiner Passion wichtig erscheint. Er gibt mir<br />
die Aufzeichnungen mit den Worten: „Eigentlich wollte ich<br />
das den hiesigen Zeitungen zusenden, doch daraus ist bisher<br />
nichts geworden.“<br />
Etwas bedrückt ihn trotz der vorherrschenden Fröhlichkeit:<br />
„Der Nachwuchs fehlt und ich fürchte, die Bienenzucht<br />
geht in den Keller.“ Derlei Mitgliederklagen sind heute bei<br />
vielen Freizeitbeschäftigungen nicht ungewöhnlich. Für<br />
den einen oder anderen<br />
mag ein Nachteil<br />
sein, dass die Imkerei<br />
in der Natur<br />
stattfindet und unabhängig<br />
vom Wetter<br />
ausgeübt werden<br />
muss. Wer sich daher<br />
in der Natur nicht<br />
wohlfühlt oder gar<br />
Angst vor krabbelnden<br />
Tieren hat, kann<br />
kein Imker sein.<br />
So ist es gut,<br />
wenn die Bienenzüchter<br />
zusammenhalten.<br />
Sie wissen<br />
um die Wichtigkeit<br />
ihrer Passion. Als<br />
Erhard Groß durch<br />
seine Krankheit ausfällt,<br />
übernehmen<br />
zwei Kollegen viele<br />
Monate lang wie<br />
selbstverständlich<br />
die Arbeit an seinen<br />
mittlerweile noch<br />
zwanzig Völkern.<br />
„Die Stöcke müssen erhalten bleiben und du musst weiter<br />
Imker sein“, so lautete ihre Begründung.<br />
Die Geschichte vom Hemd des Zufriedenen endet nicht<br />
so gut wie die Geschichte von Erhard Groß. Zwar hatten<br />
die ausgesandten Männer endlich einen Zufriedenen gefunden,<br />
doch dann stellte sich heraus, dass dieser gar kein<br />
Hemd besaß:<br />
„So gern ich Euch, meine lieben Herren, in Eurem Anliegen<br />
möchte zu Willen sein, so ist es mir doch nicht möglich;<br />
denn Zufriedenheit habe ich wohl, aber kein Hemd am<br />
Leibe. Als die Männer diese Worte des Sauhirten vernahmen,<br />
erschraken sie und gaben nun ganz die Hoffnung auf,<br />
ein Hemd zu finden, wie es dem Könige Not tat. So musste<br />
denn der König seine Sorgen ferner tragen und voll Unruhe<br />
oft Nächte lang auf seinem Bette liegen, ohne dass der<br />
Schlaf in seine Augen kam, und konnte ihm nicht geholfen<br />
werden.“<br />
Ulli Weber<br />
24 durchblick 4/<strong>2008</strong>
Im November 1997 lernte ich in einem<br />
Seminar eine junge Lehrerin kennen, die mir<br />
von ihrem Engagement im Eine-Welt-Laden<br />
der St.-Michael-Gemeinde in Siegen erzählte.<br />
Da ich Zeit erübrigen konnte, begeisterte<br />
ich mich sofort für diese Idee und erweiterte<br />
unsere Begegnung, indem ich mich dieser<br />
Gruppe anschloss. Ihre 20 Mitglieder beeindrucken<br />
mich durch ihren Einsatz, ihre hohe<br />
Motivation und ihren fürsorglichen Umgang<br />
mit ihren Mitmenschen, der Umwelt und ihren<br />
finanziellen Mitteln. Ich fühle mich dort<br />
gut aufgehoben. Die Räumlichkeiten des<br />
Ladens sind in die St.-Michael-Kirche integriert,<br />
vor Kurzem neu gestaltet, präsentieren<br />
sie sich hell und einladend.<br />
Das hehre Ziel des Vereins ist es, im Rahmen<br />
der Entwicklungshilfe, die Lebensbedingungen<br />
von Menschen zu verbessern, die<br />
durch die wirtschaftlichen Strukturen ihres<br />
Landes oder durch die Weltwirtschaft benachteiligt werden.<br />
Schwerpunkte der ehrenamtlichen Tätigkeit sind die<br />
Informations- und Öffentlichkeitsarbeit, Stände, sowie<br />
Veranstaltungen mit Gästen. Die Einkäufe werden, überwiegend,<br />
bei der Gepa, der Gesellschaft zur Förderung der<br />
Partnerschaft mit der Dritten Welt, getätigt. Diese GmbH<br />
hat sich dem Fairen Handel verpflichtet.<br />
Kriterien des Fairen Handels sind:<br />
Arbeitsrechtliche und ökologische<br />
Mindeststandards<br />
Verbot der Zwangs- und Kinderarbeit<br />
Gesunde Arbeitsbedingungen<br />
Demokratisch kontrollierte Organisationen<br />
Unabhängige Gewerkschaften<br />
Gewährung von Sozialleistungen<br />
Die Gepa fördert dies durch:<br />
Zahlung fairer Preise<br />
Beratung bei Produktentwicklung<br />
Förderung ökologischer Produktionsmethoden<br />
Aufbau von langfristigen Handelsbeziehungen<br />
Ehrenamt<br />
Der etwas andere Laden<br />
Öffnungszeiten des Eine-Welt-Ladens sind:<br />
Mo. bis Fr. von 16.30 bis 18.30 und So. nach dem Gottesdienst in der<br />
St.-Michael-Kirche in Siegen in der Kampenstraße<br />
und Glasentwürfe, echter Schmuck und Modeschmuck,<br />
Trommeln und eine sehr aparte Auswahl an Papierwaren.<br />
In der Adventszeit bieten wir geschmackvolle Weihnachtsartikel.<br />
Wir haben unser Angebot erweitert mit Geschenkkörben<br />
für Jubiläumsfeiern und dergleichen.<br />
Der Ladendienst macht Spaß und vermittelt das Gefühl<br />
einer sinnvollen Tätigkeit. Mehr Andrang wünschen wir<br />
uns oft. Auch werden immer wieder Mitglieder gesucht<br />
Erika Krumm<br />
GARDINEN<br />
UND TEPPICHE<br />
Foto:Fritz Fischer<br />
Der Gewinn, der im fairen Handel erwirtschaftet<br />
wird, geht in Projekte, bei uns zurzeit in ein Schulprojekt,<br />
ein Frauenprojekt in Peru und in die Behindertenarbeit.<br />
Die Palette der Produkte geht über Standard-<br />
Lebensmittel, wie Reis, Nudeln, Honig, Gewürze,<br />
Schokolade, Tee, Kaffee, Kakao, Saft und Wein hin<br />
zu Artikeln wie Seidentüchern, Tischdecken, Kerzen,<br />
Lederwaren Holzspielzeug, moderne Keramik<br />
BERATUNG · ANGEBOT · MUSTERSERVICE · MONTAGE<br />
Siegen-Geisweid • Marktstraße 29<br />
Telefon: 02 71/8 30 41 • www.mackenbach.de<br />
durchblick 4/<strong>2008</strong> 25
Historisches aus dem Siegerland<br />
Humanist und Reformator<br />
Philipp Melanchthon (1497–1560)<br />
Sein Einfl uss auf das Schulwesen und Religion in Siegen<br />
Wir sind zum<br />
Gespräch miteinander<br />
geboren.<br />
Melanchthon (Bild)<br />
Die Kirchenreformation bedeutete Erneuerung der Kirche<br />
unter Rückgriff auf die Ursprünge. Grundgedanke war<br />
die Erneuerung der Kirche im Sinne urchristlicher Reinheit<br />
zur Überwindung der Missstände. Sie führte, gegen<br />
die Absicht der Reformatoren, zur Spaltung der universalen<br />
mittelalterliche Kirchen in vom Papsttum unabhängige<br />
Kirchengemeinschaften.<br />
Es ging ein neuer<br />
Geist durch die<br />
Welt. Das griechische<br />
Menschheitsideal<br />
(humanitas) war in<br />
Italien plötzlich wiedererstanden<br />
beim<br />
Lesen der Schriften<br />
der griechischen Denker<br />
und Dichter, beim<br />
Betrachten der griechisch-römischen<br />
Bauten und Bildwerke. Renaissance und<br />
Humanismus traten ihre Herrschaft an. Und diese Geistesströmungen<br />
drangen von den Fürstenhöfen Italiens zu Beginn<br />
des 16. Jahrhunderts über die Alpen auf die deutschen<br />
Universitäten, und von den Universitäten, sobald diese erst<br />
humanistische Lehrer ausgebildet und ins Leben gesandt<br />
hatten, auch in Schulen und Haus. Gleichzeitig entstand in<br />
Deutschland die durch Martin Luther ausgelöste religiöse<br />
Bewegung, gegen das Papsttum und kirchliche Institutionen<br />
für eine „reformierte“ Kirche. Humanismus und Reformation<br />
wirkten sich nachhaltig auf die politisch- soziale<br />
Entwicklung, die intellektuelle Kultur und selbst auf das<br />
Alltagsleben von Bauern, Bürgern und Adel der deutschen<br />
Gesellschaft aus. Renaissance und Humanismus bedeutete<br />
das Wiederaufleben des klassischen Altertums, bedeutete<br />
die Anerkennung des Menschen als eines Berechtigten und<br />
als des Höchsten in der Welt, forderte das Recht der Individualität<br />
und ihre Befreiung vom scholastischen Denken<br />
des Mittelalters. Sie brachten das Aufhören der mittelalterlichen<br />
Gebundenheit, bisher gültige Bindungen an Staat<br />
und Kirche lockerten sich und die Betonung der menschlichen<br />
Individualität, nach dem Vorbild der Antike, setzte<br />
sich durch. Die Renaissance drückte sich vor allem in den<br />
Künsten aus, die die Sinne ansprechen: Architektur und Malerei.<br />
Der Humanismus bezeichnete die wissenschaftliche,<br />
literarische Seite dieser Strömung. Für die Humanisten galt<br />
das antike Kultur- und Menschenbild als Wunsch und Zielvorstellung.<br />
Durch das Studium antiker Literatur und Philosophie<br />
glaubten die Humanisten zu den Quellen echten<br />
Menschentums zurückgekehrt zu sein. Sprachliche Bildung<br />
galt für sie als Weg zu diesem Menschentum.<br />
Einer der bedeutendsten deutschen Humanisten des 16.<br />
Jahrhunderts war Philipp Melanchthon. Er wurde 1497 als<br />
Philipp Schwarzerd in Bretten in der Kurpfalz geboren. An<br />
der Stelle des Geburtshauses wurde zwischen 1897 und 1903<br />
ein Gedächtnishaus im neugotischen Stil gebaut. Nach dem<br />
Tod des Vaters, eines kurfürstlichen Waffenmeisters, kam<br />
Philipp mit elf Jahren zu seiner Großmutter nach Pforzheim<br />
und stand dort unter der Obhut seines Großonkels, dem<br />
berühmten Humanisten Johannes Reuchlin (1455–1522),<br />
der ein hervorragender Kenner des Griechischen und Hebräischen<br />
war. Philipp war sehr sprachenbegabt, mit zwölf<br />
Jahren las und sprach er Latein, Griechisch und konnte Hebräisch.<br />
Reuchlin gab Philipp als Anerkennung für seine<br />
Sprachkenntnisse den Humanistennamen „Melanchthon“<br />
(griechische Übersetzung für „schwarze Erde“). Mit zwölf<br />
Jahren hörte er Vorlesungen über fast alle Wissensgebiete<br />
an der Heidelberger Universität, studierte später in Tübingen,<br />
mit sechzehn Jahren gab er eine griechische Grammatik<br />
heraus, mit siebzehn Jahren hielt er an der Universität<br />
Vorlesungen und im Jahre 1518, als er 21 Jahre alt war,<br />
erhielt er einen Ruf als Griechischprofessor an die Philosophischen<br />
Fakultät, der im Jahre 1502 vom Kurfürst Friedrich<br />
III., der Weise, gegründeten Universität in Wittenberg.<br />
Bis zu seinem Tod wirkte er hier als Erzieher und Lehrer,<br />
reformierte die Universität im humanistischen Sinne und<br />
wurde Mitstreiter und engster Mitarbeiter von Martin Luther,<br />
der auch ein Mann humanistischer Bildung war. Seit<br />
1509 war Martin Luther Professor der Theologie an der<br />
Universität von Wittenberg und wurde 1517, als er seine<br />
Thesen gegen den Ablass veröffentlichte – eine revolutionäre<br />
Kampfschrift gegen die römische Kirche – zum Mittelpunkt<br />
des geistlichen Lebens. Der Freundesbund Luthers<br />
und Melanchthons hat das deutsche Geistesleben umgestaltet.<br />
Luther wirkte mehr für Kirche und Staat, Melanchthon<br />
mehr für Universität und Schule.<br />
Melanchthon betrachtete die Bildung und Erziehung der<br />
Jugend als seine wichtigste Aufgabe. Er war der Meinung,<br />
dass Bildung nur durch sprachlich-literarische Ausbildung<br />
erreicht werden kann. Nur sie bringt den Menschen eruditio<br />
(„Bildung“, wörtlich übersetzt: „Ent-Rohung“). Durch<br />
sie vermag der Mensch geordnet zu denken und sich klar<br />
und sachgemäß auszudrücken. Ein gebildeter Mensch wird<br />
26 durchblick 4/<strong>2008</strong>
Historisches aus dem Siegerland<br />
auch anständig handeln, sprachlich-literarische Bildung<br />
vermittelt also auch Sittlichkeit. Bildung führt zu Humanität,<br />
das heißt der Mensch erkennt die allgemein-menschlichen<br />
Moralgesetze an. Er fühlt sich verantwortlich für<br />
seine Mitmenschen und respektiert ihre Gewissensfreiheit.<br />
Er nimmt sich selbst zurück und versucht Konflikte durch<br />
Kommunikation und Gespräche zu überwinden. Alle Studenten<br />
sollten eine bessere sprachlich-literarische Bildung<br />
bekommen. Die philosophische Fakultät sollte deshalb<br />
durch neue Fächer wie Griechisch, Hebräisch, Dichtkunst<br />
und Geschichte ergänzt werden. Ziel dieser humanistischen<br />
Reform war die Rückkehr zu den Quellen. Melanchthon<br />
hielt Vorlesungen über die griechischen Philosophen der<br />
Antike (Aristoteles, Platon, Sokrates) und über römische<br />
Staatsmänner und Schriftsteller wie Cicero, Seneca und<br />
hielt die Studenten an, selber die Schriften dieser Männer<br />
zu lesen.<br />
„Widmet den Griechen einige Nebenstunden. Ihr werdet<br />
dabei gewahr werden, wie viel das Wortverständnis der<br />
Sprache zum Verständnis der heiligen Wahrheit selbst beiträgt,<br />
was für ein Unterschied ist zwischen einem Erklärer,<br />
der Griechisch versteht, und einem, der es nicht versteht.<br />
Habt den Mut der Einsicht!“ – So rief Melanchthon seinen<br />
Wittenberger Studenten zu.<br />
Die Studenten übten sich unter Anleitung Melanchthons<br />
in Disputationen und Festreden, um ihr Sprachvermögen<br />
zu entwickeln. Sie studierten Dialektik und Rhetorik, denn<br />
durch das Studium dieser Fächer wird nicht nur die Sprache<br />
verfeinert, sondern auch die Wildheit und Barbarei des<br />
menschlichen Geistes zivilisiert und gezähmt.<br />
Melanchthon war ein Universalgelehrter. Er beherrschte<br />
viele Disziplinen, schrieb Lehrbücher dafür und verfasste<br />
auch Schulbücher. Wegen seines Einsatzes für umfassende<br />
Bildung ehrte man ihn schon damals als „Lehrer Deutschlands“.<br />
Melanchthon prägte nicht nur die Universität Wittenberg,<br />
er selbst erhielt dort eine besondere Prägung. Er studierte<br />
seit seiner Berufung 1518<br />
Theologie bei Martin Luther<br />
und hielt selbst auch<br />
Vorlesungen an der Theologischen<br />
Fakultät. Auch<br />
für die Theologie nutzte<br />
er humanistische Methoden.<br />
Er betrachtete die<br />
Lektüre des hebräischen<br />
und griechischen Urtextes<br />
der Bibel als notwendige<br />
Voraussetzung für das theologische<br />
Studium. Das<br />
Studium der Bibel in ihren<br />
Ursprachen brachte viele<br />
Theologen zu einem radikalen<br />
Bruch mit der mittelalterlichen<br />
Theologie und machte sie zu Anhängern der<br />
Reformation. Die humanistische Wissenschaft gab Luther<br />
die Mittel in die Hand, zu den Quellen des Christentums<br />
im Alten und Neuen Testament zurückzugehen. Das war<br />
ohne ein eingehendes Studium des Griechischen und Hebräischen<br />
nicht möglich. Melanchthon als ein guter Kenner<br />
dieser Sprachen unterstützte Luther bei der Bibelübersetzung<br />
in deutscher Sprache. 1522 erschien in Übersetzung<br />
das Neue Testament und 12 Jahre später das Alte Testament.<br />
Da die Bibel zu einem Lesebuch für immer breitere<br />
Schichten wurde und in den protestantischen Schulen sich<br />
der gesamte Unterricht darauf stützte, trug Luthers und<br />
Melanchthons Übersetzung wesentlich zur Schaffung der<br />
Grundlagen einer neuhochdeutschen Schriftsprache bei.<br />
Weil alle Menschen die Bibel selbstständig lesen sollten,<br />
forderten Melanchthon und Luther Volksschulen, worin<br />
jedes Mädchen, jeder Knabe so viel lernen soll, um die Bibel<br />
selbst lesen zu können. Sie betrachteten den Schulunterricht<br />
als notwendige Grundlage des öffentlichen Lebens,<br />
aus dem die Kirche nicht wegzudenken war. Insbesonderes<br />
setzte sich Melanchthon für Lateinschulen ein.<br />
Im Jahr 1530 verlangte der Kaiser von den Anhängern der<br />
Reformation, dass sie sich auf dem Reichstag in Augsburg<br />
verantworteten. Im Auftrag des Kurfürsten von Sachsen<br />
und der anderen evangelischen Stände stellte Melanchthon<br />
eine Verteidigungsschrift zusammen. Darin zeigte er, dass<br />
reformatorische Glaubensüberzeugung und das Bemühen<br />
um Kirchenreform keine „ketzerischen“ Neuheiten sind. Sie<br />
sind biblisch begründet und deshalb allgemein-christlich.<br />
Humanistische Bildung und reformatorische Gesinnung<br />
kommen im Augsburger Bekenntnis zu einer eindrucksvollen<br />
Synthese. Der friedliche Weg, den Melanchthon im<br />
Bekenntnis zur Wiederherstellung der kirchlichen Einheit<br />
vorgeschlagen hatte, und auch seine weiteren Versuche, den<br />
Kaiser und die katholischen Fürsten um der Einheit willen<br />
zu einer Reform der Kirche zu bewegen blieben erfolglos.<br />
Melanchthon hat sich immer bemüht, Reformation und Humanismus,<br />
Bildung und Glauben zusammenzuhal- <br />
Foto: Fritz Fischer<br />
durchblick 4/<strong>2008</strong> 27
Historisches aus dem Siegerland<br />
Erasmus Sarcerius, Begründer des heutigen Siegener<br />
Gymnasiums am Löhrtor<br />
ten. Humanismus und Religion, Bildung und Glaube – das<br />
war sein erfolgreiches Programm. Spuren und Wirkungen<br />
dieses Programms finden wir in allen Regionen Europas.<br />
Mit diesem Programm – so seine Überzeugung – ließen sich<br />
Grenzen überwinden und kriegerische Konflikte beenden.<br />
Auch nach einem halben Jahrtausend sind seine Visionen<br />
immer noch aktuell. Daran anzuknüpfen, Grenzen zu überwinden,<br />
die Religion mit dem „Humanum“ zu verbinden,<br />
ist heute uns allen auferlegte Aufgabe.<br />
Wie haben Humanismus und Reformation auf die weitere<br />
Entwicklung des Siegener Schulwesens gewirkt?<br />
Junge Siegerländer, die an den Universitäten Erfurt,<br />
Marburg und Wittenberg studierten, kamen mit der Lehre<br />
Luthers und Melanchthons schon früh in Berührung und<br />
brachten sie auch ins Siegerland. Der Landesherr Graf<br />
Wilhelm der Reiche von Nassau (regierte die nassauischen<br />
Lande von 1516 bis 1559) billigte die neue Lehre. Seit<br />
1531 hörte der katholische Gottesdienst in Siegen auf, in<br />
demselben Jahr berief der Graf den ersten lutherisch gesinnten<br />
Pfarrer Leonhard Wagner aus Kreuznach nach Siegen<br />
an die St.-Martin-Kirche (Martinikirche), führte 1533<br />
die Nürnberger Kirchenordnung ein, die in der Hauptsache<br />
auf Luthers Katechismus und Lehre beruhte, und löste 1534<br />
das Franziskanerkloster auf. Die Reformation im Siegerland<br />
war in vollem Gang. Mit der Kirchenreform hielt die<br />
Reform des Schulwesens gleichen Schritt, denn zwischen<br />
Humanismus und Reformation bestehen die engsten Verbindungen.<br />
Schüler Melanchthons, die als Schulmänner<br />
nach Siegen kamen, richteten die Schule nach humanistischen<br />
Grundsätzen ein. Die Lehrbücher und Schriften<br />
Melanchthons übten dabei den größten Einfluss auf die<br />
Gestaltung des Schulwesens aus.<br />
Der erste Rektor der Siegener Lateinschule, Johannes<br />
Thys, war ein Schüler Melanchthons. Er leitete die Schule<br />
von 1530–1533. Eine Lateinschule gab es in Siegen seit<br />
dem 14. Jahrhundert. Aber erst durch die humanistische<br />
Bildung der Lehrer und der Reformation wurde einem geordneten,<br />
höheren Schulwesen der Weg bereitet.<br />
Sein Nachfolger Jost Hammer, ebenfalls ein Schüler<br />
Melanchthons, leitete die Schule von 1533–1536. Er förderte<br />
vor allem die lateinische Sprachfertigkeit, sodass er<br />
mit seinen Schüler ein lateinisches Schauspiel im Rathaussaale<br />
aufzuführen wagte, zur Freude der Stadtväter. Beide<br />
Schulmänner suchten humanistische Bildung, wie sie bei<br />
Melanchthon gelernt hatten, auch der Siegener Jugend zu<br />
vermitteln. Der Humanismus war anfangs stark vom Geiste<br />
der Reformation geprägt und so war das nächste Ziel der<br />
Siegener „Reformschule“ gewiss nur das Verständnis des<br />
Neuen Testaments im Urtext (griechisch). Im Jahre 1536<br />
stellte Graf Wilhelm der Reiche die städtische Lateinschule<br />
unter seinen gräflichen Schutz und berief den von Melanchthon<br />
empfohlenen Magister Erasmus Sarcerius als<br />
Rektor der Lateinschule. Das Jahr 1536 kann als Anfang<br />
und Ausgangspunkt des heutigen Städtischen Gymnasiums<br />
in der Oranienstraße angesehen werden. Der Forderung<br />
Luthers entsprechend war es Sache des Landesherren, und<br />
nicht mehr der Stadt, das Schulwesen in die Hand zu nehmen.<br />
Dem Rektor waren noch zwei Unterlehrer unterstellt.<br />
Unterrichtsfächer waren Latein und „andere gebräuchliche<br />
Sprachen“, ferner die freien Künste und gute Sitten. Man<br />
kann annehmen, dass unter den anderen gebräuchlichen<br />
Sprachen Griechisch und unter freien Künsten Rhetorik<br />
und Logik zu verstehen waren. Der Unterricht in der Lateinschule<br />
dauerte 6–7 Jahre. Sarcerius war ein besonders<br />
begabter Pädagoge und Schriftsteller, hat viele pädagogische<br />
und theologische Schriften in Siegen verfasst. Sarcerius<br />
wurde mit der Einrichtung der Schule betreut, die sich<br />
jetzt evangelisches Pädagogium nannte. Er führte die von<br />
Melanchthon verfasste erste evangelische Schulordnung<br />
ein, die sogenannte kursächsische Schulordnung. Im Jahr<br />
1538 zog er nach Dillenburg und nahm das geistliche Aufsichtsamt<br />
des Superintendenten an und wurde der bedeutendste<br />
Reformator in der Grafschaft Nassau. Er arbeitete<br />
sehr gut mit Melanchthon und Luther zusammen, man kann<br />
sagen, die Reformation in Nassau-Dillenburg war ein Kind<br />
der Wittenberger Reformation. In den von ihm abgehaltenen<br />
Synoden fand er das richtige Mittel, die Lehre Luthers im<br />
Sinn Melanchthons derart zu festigen und übte auf die Glaubenstreue,<br />
Bildung und den Lebenswandel der Geistlichen<br />
einen nachhaltigen Einfluss aus. Des Sarcerius Verdienste<br />
um das höhere Schulwesen der Grafschaft sind:<br />
28 durchblick 4/<strong>2008</strong>
Historisches aus dem Siegerland<br />
– die innere und äußere Umgestaltung der Siegener<br />
Lateinschule,<br />
– seine pädagogische und theologische Schriftstellerei,<br />
– die Gründung der Landesstipendien,<br />
– die Leitung der Synoden und Kirchen und<br />
Schulvisitation.<br />
Ein Bildnis des Sarcerius steht heute an erster Stelle<br />
in einer Reihe bedeutender Schulmänner im Städtischen<br />
Gymnasium in der Oranienstraße. Er gilt als Begründer<br />
dieser Anstalt.<br />
Der zweite Nachfolger Sarcerius war wieder ein Schüler<br />
Melanchthons, der dreizehn Jahre lang von 1540 bis<br />
1553 die Schule leitete, Magister Georgius Aemylius (zu<br />
deutsch: Oemeler). Er war Kenner des Griechischen, Lateinischen,<br />
Hebräischen, Französischen, dazu Freund der<br />
deutschen Sprache und selbst deutscher Liederdichter.<br />
Unter des Aemylius Rektorat verließen viele Absolventen<br />
die Schule, die später berühmt geworden sind. Zu nennen<br />
ist der Siegener Bürgersohn Tilmannus Stella, der spätere<br />
berühmte Geograf und Kartenzeichner, er ist der erste Kartograf<br />
Deutschlands.<br />
Im Jahre 1542 verfasste Aemylius die erste Geschichte<br />
der Lateinschule.<br />
Als Melanchthon am 3. Mai im Jahre 1543 Siegen besuchte,<br />
überreichte Aemylius seinem Universitätslehrer<br />
diese Schrift als Ehrung und gewissermaßen als Rechenschaftsbericht.<br />
Ob Melanchthon damals die Schule besucht<br />
hat, darüber fehlen leider die Nachrichten. Zum Empfang in<br />
Siegen waren der Bürgermeister, Magister Aemylius, und<br />
als Vertreter des Grafen Wilhelm dessen Sekretär Knutelius<br />
anwesend. Die Begrüßung erfolgte vor dem Rathaus,<br />
wo dem hohen Gaste mit seiner Begleitung auf Stadtkosten<br />
12 Ratskannen Wein ausgeschänkt wurden. Im Hause des<br />
Wilhelm Knutelius in Dillenburg fand Melanchthon Unterkunft.<br />
Seine Söhne studierten bei Melanchthon in Wittenberg.<br />
Wilhelm Knutelius begleitete Melanchthon am<br />
folgenden Tage, dem 3. Mai 1543, über die Berge westwärts<br />
nach Bonn und Köln. Sarcerius reiste ebenfalls zu<br />
Melanchthon nach Köln zur Mitarbeit an der Kölnischen<br />
Kirchenordnung. Nachdem Melanchthon die neue Kirchenund<br />
Schulordnung herausgegeben hatte, fuhr er von Bonn<br />
am 28. Juli zurück nach Wittenberg. Mit dem Grafen Wilhelm<br />
blieb Melanchthon auch von Bonn und Köln aus in<br />
regem Briefwechsel. Der Eindruck, den Melanchhon bei<br />
seinem kurzen Besuch von den kirchlichen Verhältnissen in<br />
Nassau-Dillenburg gewann, war äußerst positiv. Noch aus<br />
Bonn bedankte er sich herzlich für die ihm in Dillenburg<br />
erwiesene Gastfreundschaft. Auch in der Folgezeit blieben<br />
die Beziehungen zwischen Siegen und Wittenberg lebendig.<br />
Nicht wenige Siegener kamen nach Wittenberg, einige<br />
studierten unter Melanchthon. Johann der Ältere, der zweite<br />
Sohn des Grafen, studierte auch bei Melanchthon. Von<br />
Graf Johann ist bekannt, dass er ein sehr eifriger Beschützer<br />
und Freund des Schulwesens war. Im Jahre 1584 gründete<br />
er die Hohe Schule in Herborn.<br />
Melanchthon förderte die siegen-nassauischen Studenten,<br />
einige erhielten auf seine Fürsprache beim Grafen<br />
Stipendien, andere erhielten Einführungsbriefe, wie zum<br />
Beispiel Tillmann Stella, als er zum Absatz seiner Karte<br />
von Palästina auf die Wanderung zog.<br />
Im Laufe der Zeit änderte die Lateinschule ihren Namen<br />
in Pädagogium, Realschule, Höhere Bürgerschule,<br />
Realschule erster Ordnung, Realgymnasium, Reformrealgymnasium<br />
mit Realschule, Oberschule für Jungen und<br />
schließlich Gymnasium am Löhrtor an der Oranienstraße.<br />
Ebenso hatte die Schule verschiedene Standorte. Im ersten<br />
Jahrzehnt seit dem Amtsantritt von Sarcerius war die Schule<br />
in dem leer stehenden Franziskanerkloster untergebracht,<br />
danach jahrhundertelang in der Nikolaikirche, der Speicher<br />
wurde dazu ausgebaut, 36 Jahre lang am unteren Schlosshof<br />
im Marstallgebäude, und am 2. Mai 1873 erfolgte der<br />
feierliche Einzug in das Haus an der Oranienstraße, das im<br />
Krieg zerstört und wieder an derselben Stelle in der heutigen<br />
Form aufgebaut wurde.<br />
Melanchthon gab für den Ausbau der höheren Schule<br />
das Beste, was die Zeit kannte: das Studium der griechischrömischen<br />
Literatur. Denn die Gelehrtenschulen sollten zunächst<br />
zum Studium der Theologie vorbereiten, die damals<br />
ebenso den Mittelpunkt des gesamten Geistesleben bildete,<br />
wie heutzutage die Naturwissenschaft und die soziale<br />
Frage. Es wäre kurzsichtig, an dem, was einst nützliche<br />
„Reform“ war, für alle Zeiten festzuhalten.<br />
Die Diskussion über Reformpläne und das Bemühen,<br />
die Schule als Spiegelbild unserer Gesellschaft in ihrer<br />
Bildungsaufgabe den Erfordernissen der Zeit anzupassen,<br />
haben nicht aufgehört. Sie sind in jüngster Zeit umso lebhafter<br />
aufgeflammt. Die Entwicklung des Schulwesens ist<br />
ein fortdauernder Prozess.<br />
Der wissenschaftliche Ruf, der unter den Schülern Melanchthons<br />
von der alten Siegener Lateinschule ausging, ist<br />
durch alle Zeitläufe bis heute geblieben.<br />
Dorothea Istock<br />
Öffnungszeiten:<br />
11.00 - 14.00 Uhr<br />
17.30 - 24.00 Uhr<br />
Ruhetag: Montag und Samstagnachmittag<br />
Talblick 15<br />
57080 Siegen<br />
Tel. 0271/3 17 72 78<br />
Fax 0271/3 17 72 79<br />
durchblick 4/<strong>2008</strong> 29
Frage: Wird im Apollo jetzt rund um die Uhr gespielt?<br />
Es gab ja in Siegens neuem Theater schon Vormittags-,<br />
Mittags- und sogar Mitternachtsveranstaltungen. Jetzt<br />
kommen noch Nachmittagsvorstellungen dazu. Warum?<br />
Reitschuster: Wir<br />
haben auf den<br />
immensen Ansturm<br />
zu Beginn der<br />
zweiten Apollo-<br />
Spielzeit mit einer<br />
ganzen Reihe von<br />
Zusatzvorstellungen<br />
reagiert, einfach<br />
weil wir niemanden<br />
abweisen möchten.<br />
Einige dieser<br />
Vorstellungen<br />
sind allerdings nur<br />
nachmittags zu<br />
realisieren. Da haben<br />
wir uns gesagt,<br />
wir probieren das<br />
Magnus Reitschuster, Intendant einfach einmal aus.<br />
Das könnte doch<br />
beispielsweise<br />
interessant sein für Menschen nach der<br />
Berufsphase oder für Leute, die beruflich ihre<br />
Zeit freier planen können. Außerdem finden diese<br />
Nachmittagsvorstellungen – mit einer Ausnahme – alle<br />
an Wochenenden oder Feiertagen statt.<br />
Theater<br />
Komödie – Musical – Tanztheater<br />
APOLLO spielt jetzt auch nachmittags<br />
Frage: Wäre es denn für Sie nicht viel werbewirksamer,<br />
möglichst oft das „Ausverkauft“-Schild an die<br />
Theaterkasse zu hängen?<br />
Reitschuster: Mag sein. Aber so kalkulieren wir im<br />
Apollo nicht. Unser Auftrag ist Theater, Oper, Konzert,<br />
Kindervorstellungen – und zwar auf bestmöglichem<br />
Niveau und für alle, die es möchten. Uns ist es viel lieber,<br />
wenn ein paar Sessel frei sind, als dass wir jemanden<br />
abweisen müssten. Das ist bislang übrigens kaum je<br />
passiert. Auch wer abends ganz kurz entschlossen ins<br />
Theater kommt, hatte beste Chancen – oft sogar zu „Last-<br />
Minute“-Preisen.<br />
Das hängt damit zusammen, dass wir die Plätze, die<br />
gebucht sind, aber dann aus irgendeinem Grund doch<br />
nicht besetzt werden, in den letzten zehn Minuten vor<br />
einer Vorstellung verkaufen können.<br />
Frage: Das Apollo-Theater ist ja wirklich<br />
„angekommen“. Hat Sie das überrascht?<br />
Reitschuster: Vor allem freut es mich sehr. Und wir<br />
arbeiten hart daran, dass unser Publikum sich im<br />
Apollo richtig wohlfühlt und sich aufs Wiederkommen<br />
freut: zum Beispiel mit unserem allabendlichen<br />
„Apollo begrüßt“ vor den Vorstellungen, mit einem<br />
freundlichen Abenddienst, vor allem mit einem<br />
überzeugenden Spielplan – und natürlich mit der ersten<br />
Siegener Biennale, die ab Karfreitag 23 Tage lang<br />
die großstädtischen Ensemble mit ihren wichtigsten<br />
Inszenierungen ins Apollo holt.<br />
Nachmittagsvorstellungen<br />
Mittwoch, 31. Dezember, 18 Uhr:<br />
Silvestervorstellung: „ABBA jetzt!“<br />
Eine unverschämte Hommage mit Tilo Nest,<br />
Hanno Friedrich und Alexander Paeffgen<br />
Sonntag, 1. Februar, 15 Uhr:<br />
„Cabaret“<br />
Musical von Joe Masteroff, John Kander<br />
und Fred Ebb<br />
Mittwoch, 22. April, 17 Uhr:<br />
„Carmen“<br />
Ballett von Peter Breuer mit dem Ballett des<br />
Salzburger Landestheaters<br />
Karten für diese und alle weiteren Vorstellungen<br />
gibt es an der Theaterkasse im Foyer des<br />
Apollo-Theaters an der Morleystraße 1<br />
(Tel. 021/770277-0, Öffnungszeiten: Dienstag<br />
bis Freitag: 13 – 19 Uhr, Samstag: 10 – 14 Uhr)<br />
sowie bei den Vorverkaufsstellen in der Region<br />
Bühnenbild<br />
von Carmen<br />
2 Fotos: APOLLO-Theater Siegen<br />
30 durchblick 4/<strong>2008</strong>
Glosse<br />
Zum Kuckuck noch mal – Die verflixte Winterzeit!<br />
Wenn sich der Hans zur nächtlichen Stunde aus der aktiven<br />
Sommerzeit in die träge Winterzeit schleicht, dann<br />
macht er kleine Schritte, um nix zu vergessen. Verflixt akribisch<br />
ist der Hans. Der stellt alles um, was tickt oder gerade<br />
noch als Uhr durchgeht. Freunde behaupten, dass er sogar<br />
seine Eieruhr umstellt. Vom Küchentisch<br />
auf die Anrichte. Mehr<br />
geht ja nicht. Oder haben Sie<br />
schon mal rieselnden Sand um<br />
eine Stunde zurückgedreht?!<br />
Auch die Kuckucksuhr<br />
(Nussbaum aus dem Schwarzwald)<br />
stellte Hans um. Und damit<br />
begann das ganze Fiasko.<br />
Also, der Holz-Kuckuck, den<br />
Hans liebevoll Spätzchen nennt,<br />
blieb immer zwischen seinem<br />
Um Pannen wie bei Hans auszuschließen,<br />
sollten Kuckucksuhren nur vom Experten<br />
repariert werden. Wie auf unserem Foto vom<br />
Uhrenfachmann Walter Linschmann.<br />
Häuschen und der Klappe, durch<br />
die er zu jeder vollen Stunde<br />
herausschießen wollte, hängen.<br />
Das „Kuckuck“ kam zögerlich<br />
krächzend und die Klappe<br />
klappte ganz langsam wieder zu.<br />
Spätzchen halb drin, halb draußen. Das wollte Hans ändern.<br />
Zunächst ölte er den ganzen Kuckuck mit kaltgepresstem<br />
Bio-Olivenöl ein, damit er besser flutschte. Erfolg: Spätzchen<br />
glänzte wie eine Speckschwarte – blieb aber zur vollen<br />
Stunde wieder hängen. Bekam einfach den Ablauf nicht<br />
hin: raus, rein, Klappe zu.<br />
Hans ging der Sache jetzt mit Uhrenschraubenzieher und<br />
Pinzette auf den Grund. Vorsichtig öffnete<br />
er die kleine Luke. Ein kleines Spannfederchen<br />
– so groß wie ein Spiralnüdelchen –<br />
zammelte herum. In dem Augenblick, als<br />
Hans es einhängen wollte, legte der Kuckuck<br />
los. Schrie aus Leibeskräften und<br />
fegte wie der geölte Blitz aus dem Häuschen.<br />
Zack – und Hans hatte einen Vogel:<br />
direkt auf dem Auge! Klasse platziert.<br />
Im Spiegel sah er, dass das Auge seinem<br />
Schicksal entgegenschwoll und auch farblich<br />
an Reife gewann. Hans wusste: Rohes<br />
Fleisch auf die Beule packen, das hilft. Die<br />
Rouladen aus dem Eisfach? Erfrierungen<br />
zweiten Grades wären vorprogrammiert.<br />
Aber: Im Kühlschrank stand eine Schüssel<br />
mit Hackfleisch, halb und halb. Zwei<br />
Esslöffel davon klopfte Hans in ein Papiertaschentuch<br />
und rollte es zusammen. Diese<br />
gefüllte Papierwurst drückte sich Hans<br />
aufs Auge. Dass das Hackfleisch bereits<br />
angemacht war (kleingehackte Charlotten,<br />
Salz, Pfeffer…) war Hans egal. Schließlich<br />
war er ein Notfall! Zum Kuckuck noch mal! Damit die<br />
Met-Packung an Ort und Stelle blieb, pflückte Hans ein<br />
Gästehandtuch mit Veilchenmuster und dem zarten Duft indischer<br />
Blumenseife aus dem Kloraum und wickelte es sich<br />
halbschräg um den Kopf. Den Kuckuck, der immer noch<br />
völlig hilflos aus der Schwarzwälder<br />
„Voliere“ baumelte, würdigte er keines<br />
Blickes. Wie auch?!<br />
Am nächsten Tag: Sicher ist sicher<br />
denkt Hans und geht in seinem<br />
Piraten-Outfit zum Arzt. Der entfernt<br />
das Gehacktes-Röllchen ohne<br />
örtliche Betäubung vom lädierten<br />
Auge und warf es ungeöffnet in den<br />
Abfalleimer. Dafür bekam Hans eine<br />
mittlere Portion Kamillensalbe<br />
samt nachtschwarzer Kunstleder-<br />
Augenklappe mit Gummizug. Passform<br />
o. k., Gummizug ein bisschen<br />
stramm.<br />
„Übrigens“, sagte der Arzt beim<br />
Abschied, „Ihr Kuckuck ist offenbar<br />
ein sehr komischer Kauz.“<br />
„Wie bitte?“<br />
„Na ja, dem Geruch nach muss er vor der Landung auf<br />
Ihrem Auge mächtig viele Zwiebeln gefressen und hinterher<br />
mit Seife gegurgelt haben.“<br />
Da beschloss Hans, den Kuckuck mit einem gezielten<br />
Hammerschlag von allen Pflichten zu entbinden.<br />
Dieter Gerst<br />
durchblick 4/<strong>2008</strong> 31<br />
Foto: Dieter Gerst
Der Capri verweigerte jede Verlässlichkeit<br />
Es war schon in den Anfängen eine gestörte Beziehung.<br />
Für mich galt immer: Geist beherrscht Materie. Ich kann<br />
die unterschiedlichen Geräte ja bedienen, aber die Chemie<br />
scheint nicht zu stimmen, wir finden einfach nicht zu einander.<br />
Die ersten dahingehenden Erfahrungen sammelte ich mit<br />
unzulänglichen Radioapparaten und Schallplattenspielern.<br />
Entweder ließ sich die Lautstärke nicht adäquat einstellen,<br />
ließen sich die Sender nicht scharf trennen, funktionierte<br />
die Antenne nicht oder das Kassettenfach erklärte sich für<br />
nicht zuständig.<br />
In meiner Eigen- und Leidenschaft als Autofahrerin<br />
sprengte ich auch den Rahmen der Normalität. 23 Jahre lang.<br />
Das tolle VW-Käfer-Cabrio, cremefarben mit schwarzem<br />
Verdeck, innig geliebt, entpuppte sich als Montagsauto.<br />
Ständiger Rostfraß, alle paar Jahre Komplett-Lackierung.<br />
Sein Nachfolger, ein roter Capri, versank zwar nicht im<br />
Meer, aber verweigerte sich jeder Verlässlichkeit. Über<br />
Jahre hinweg musste mich der ADAC immer wieder abschleppen.<br />
Batterien wurden erneuert, Lichtmaschinen ausgetauscht.<br />
Mein Hinweis auf unzulängliche Benzinzufuhr<br />
aufgrund eines defekten Kabels wurde negiert, bis letzteres<br />
verschmorte und man es wegen seines infernalischen Gestankes<br />
nicht mehr ignorieren konnte. Ein schwarzer Alfa<br />
Romeo war das Sahnehäubchen. Ich verliebte mich auch<br />
noch in den Verkäufer. Das Auto war schlicht undicht. Panik<br />
meinerseits begleitete jeden Regenguss, da sich sein<br />
Wasser hinter meinen Vordersitzen zu sammeln pflegte.<br />
Nach zwei Jahren erst und ungezählten Werkstattaufenthalten<br />
erkannte ein pfiffiger Meister, dass die Abflussrinnen<br />
des Sonnenverdecks verstopft waren. Mir war nur eine kurze<br />
Atempause vergönnt. Ein junger Mann wusste es nicht<br />
besser und verursachte Totalschaden an meinem Gefährt.<br />
Ich gehorchte endlich der inneren Stimme, die immer wieder<br />
gemahnt hatte: Du sollst nicht Auto fahren, es frisst dir<br />
die Haare vom Kopf.<br />
Philosophische Betrachtung<br />
Das Ei und Ich<br />
Meine Beziehung zur Technik<br />
Acht lange Jahre war ich nun technikabstinent. Die technischen<br />
Widerstandskräfte hatten Zeit zur vollen Wucht heranzureifen.<br />
Ich bin zwar immer noch autofrei, aber nun<br />
Laptop-bestückt. Ich wusste um meine Vorbelastung und<br />
verweigerte mich dem Surfen im Internet lange Zeit. Dann<br />
stellte die Redaktion des „durchblick“ einen alten Laptop<br />
zur Verfügung. Er funktionierte gelegentlich. Immer wieder<br />
überholt, sollte der Fehler beim Modem liegen. Sein<br />
Nachfolger mit integriertem Modem verhielt sich nicht<br />
minder bockig. DSL-Anschluss hieß das Zauberwort aus<br />
aller Munde. Ganz im Sinne dieser Aufforderung erhielt<br />
ich beinahe wöchentlich ein verlockendes Angebot meiner<br />
Kabelfirma Unitymedia. Man beachte den Namen. Ich tat<br />
den folgenschweren Schritt „Gesang der Geister über den<br />
Wassern“ – Vorhang auf zu dieser Tragödie. Techniker Nr. 1<br />
hatte seinen Auftritt. Die Installation schien zu gelingen,<br />
abgesehen vom digitalen Fernsehen. Sein Versprechen<br />
beim Abgang, nach einer Wartezeit von 60 Minuten würde<br />
sich jeder Sender frei schalten, klang wie nackter Hohn.<br />
Dennoch glücklich schaute ich immer wieder auf den Lichterbaum,<br />
der mir anzeigte, was alles funktionierte. Nach<br />
drei Stunden brach die Herrlichkeit zusammen. Mein Ich-<br />
Gefühl schrumpfte bis zur Nichtigkeit. War diese Wohnung<br />
wirklich verhext? Was mir hier schon alles geboten wurde.<br />
Wieder im Wartestand wie vor drei Jahren beim Einbau<br />
meiner Terrassentür. Es waren exakt die gleichen Monate.<br />
Meine Tage standen wieder unter dem Banne eines Vorganges,<br />
dem ich hilflos ausgeliefert war.<br />
Techniker Nr. 2 betrat die Bühne. Es waren glühend heiße<br />
Sommertage. Für sein Verständnis war die Hitze schuld<br />
an diesem Desaster. Dem Verstärker auf dem Dachboden<br />
waren die Temperaturen zu hoch. Er schlug die Komplett-<br />
Isolierung des Dachbodens vor oder die Verlegung des Verstärkers<br />
in die Wohnung meiner Nachbarin, die meinige lag<br />
nicht im Bereich der Einflugschneise. Ich sah meine Felle<br />
wegschwimmen bei diesen utopischen Überlegungen. Da<br />
würde doch nie etwas draus werden. Er schraubte hier und<br />
bohrte dort, das Ergebnis blieb das Gleiche. Drei Stunden<br />
pro Tag durfte ich die Segnungen der Technik genießen,<br />
falls mir der Sinn noch danach stand.<br />
Techniker Nr. 3 versetzte alles wieder in seinen Urzustand.<br />
Als er sich, zusätzlich, noch an der Außenbuchse<br />
des Verstärkers versuchen wollte, bremste ein Wespennest<br />
seinen Eifer. Mein zufällig anwesender Vermieter wedelte<br />
mit Tüchern, sprühte Insektentod, doch der junge Mann war<br />
nicht mehr zu halten.<br />
Es nahte der Tag, vor dem ich mich schon lange fürchtete:<br />
die Umstellung des Telefons, das Einzige, was bis jetzt noch<br />
funktionierte und mich aufrechthielt. Götterdämmerung.<br />
Zehn Tage lang im Niemandsland, lebendig begraben.<br />
Im Telefonhäuschen ließ ich schon Euro 10,- nur in der<br />
Warteschleife. Ich erwarb ein Handy, dessen Guthaben<br />
32 durchblick 4/<strong>2008</strong>
Philosophische Betrachtung<br />
schon verrauchte, bevor ich es richtig angeschaut hatte. Ein<br />
junger Mieter aus dem Haus nahm sich meiner an. Er logiert<br />
in einer Junggesellenbude, sitzen konnte ich nirgends, stehen<br />
nur unter Vorbehalt, da ein riesiger Vogelkäfig die Maße<br />
des Raumes sprengte. Als ich zu telefonieren ansetzte,<br />
hob der Papagei mit lautem Gekrächze an. Es war stickig<br />
heiß und meine Nerven lagen blank<br />
Irgendwann, vorbei an diversen Terminabsprachen,<br />
tauchte ein Techniker- Duo auf. Sie hatten viel zu tun,<br />
bauten einen Verstärker vor den Verstärker, verstärkten die<br />
Fernsehbuchse, verstärkten hier, verstärkten dort. Das Ergebnis<br />
war auch ein starkes. Es war vollbracht, wenn auch<br />
das digitale Fernsehen hier und da leicht verzerrt ist. Das<br />
kann ja auch einen exotischen Reiz haben.<br />
Ich empfinde die Geschäftskultur in unserem Lande als<br />
total verwahrlost. Ich kann niemanden mehr haftbar machen,<br />
kein Chef ist mehr zu erreichen. Ich werde weiter<br />
gereicht, wenn, endlich, aus dem Off eine Stimme ertönt,<br />
verliere mich in einer virtuellen Welt, in der ich nirgends<br />
landen kann. Schriftliche Anfragen werden ignoriert. Ich<br />
werde keinen Vertrag mehr abschließen, es sei denn, es<br />
ginge um Leben oder Tod. Ich bin geknebelt, in völliger<br />
Abhängigkeit.<br />
Mein Kontoauszug weist eine erhöhte Abbuchung vonseiten<br />
besagter Firma aus, keine Mitteilung wieso und warum.<br />
Verweigere ich jetzt die Zahlung, stellen sie mir nicht nur das<br />
Kabelfernsehen ab, sondern auch Internet und Telefon. Gestern<br />
war ich erneut fassungslos. Nach acht Wochen erhielt ich<br />
einen Anruf von Unitymedia. Ein junger Mann fragte nach<br />
meiner Zufriedenheit. Meine Klagen gingen wieder ins Leere,<br />
da er ausgerechnet für die Art derselben nicht zuständig war.<br />
Nachdem er verkündet hatte, er würde sie weiterleiten, trat<br />
eine Störung auf und verschluckte ihn. Ich blieb, ebenfalls,<br />
verstört zurück ob dieser unerwarteten, wenn auch unvollständigen,<br />
menschlichen Geste.<br />
Erika Krumm<br />
Alles aus<br />
einer Hand:<br />
Mahlzeitendienst<br />
Hausnotrufdienst<br />
Fahrdienst<br />
Reisedienst<br />
Wir beraten Sie gern. Telefon 02738 / 17 17<br />
Ihr Malteserteam<br />
In einer Wohnanlage in Hamburg wurde vor Kurzem ein<br />
Rentner erst nach zehn Tagen tot gefunden. Der 73 Jahre<br />
alte Hans Josef H. war tot in seinem Badezimmer zusammengebrochen<br />
und erst zehn Tage später gefunden worden.<br />
Wie konnte so etwas passieren? In der Seniorenanlage der<br />
katholischen Kirche, die mit dem Begriff „Betreutes Wohnen“<br />
wirbt, war die einzige ständige Ansprechpartnerin,<br />
eine Sozialberaterin, im Urlaub, es gab keine Vertretung.<br />
Die Empörung war groß, wahrscheinlich auch weil es die<br />
Kirche betraf. In Leserbriefen wurde beklagt, dass sie das<br />
in sie gesetzte Vertrauen nicht einlöse.<br />
Nun muss man sicher von den Kirchen und anderen kirchenverwandten<br />
Trägern erwarten, dass sie gemäß ihrem<br />
christlichen Anspruch sich besonders den Menschen zuwenden.<br />
Aber der „Fall“ zeigt ein anderes Dilemma auf. In dieser<br />
Anlage für Betreutes Wohnen, in der rund achtzig Senioren<br />
in Ein-und Zweizimmerappartements wohnen, gibt es eine<br />
Betreuerin mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von zwanzig<br />
Stunden. So musste sich denn auch der Vertreter der Kirche<br />
fragen lassen, ob man hier noch von betreutem Wohnen<br />
sprechen könne. Es gab keinen hausinternen Notruf.<br />
Der Kommentar<br />
Das darf nicht passieren<br />
Deutlich werden an diesem Beispiel die ökonomischen<br />
Zwänge. Auf den ersten Blick erscheint das Argument des<br />
knappen Geldes unabweisbar. Die Kirchen und andere Träger<br />
von Seniorenanlagen weisen darauf hin, dass man infolge<br />
von Geldmangel weiteres Betreuungspersonal nicht<br />
einstellen könne. Aber es<br />
geht hier um Menschen,<br />
die Hilfe und Zuwendung<br />
brauchen. Von den<br />
Kirchen und humanitären<br />
Institutionen muss<br />
man erwarten, dass sie –<br />
wo die Bereitschaft, für<br />
Kranke, Alte, Schwache<br />
Geld auszugeben, abnimmt<br />
– sich um diese<br />
Menschen kümmern. Es<br />
wäre gut, wenn deutlicher<br />
würde: Wir sind zuerst für<br />
jene Menschen da, das ist<br />
unser Auftrag.<br />
Heute von Horst Mahle<br />
durchblick 4/<strong>2008</strong> 33
Philosophische Betrachtung<br />
schon verrauchte, bevor ich es richtig angeschaut hatte. Ein<br />
junger Mieter aus dem Haus nahm sich meiner an. Er logiert<br />
in einer Junggesellenbude, sitzen konnte ich nirgends, stehen<br />
nur unter Vorbehalt, da ein riesiger Vogelkäfig die Maße<br />
des Raumes sprengte. Als ich zu telefonieren ansetzte,<br />
hob der Papagei mit lautem Gekrächze an. Es war stickig<br />
heiß und meine Nerven lagen blank<br />
Irgendwann, vorbei an diversen Terminabsprachen,<br />
tauchte ein Techniker- Duo auf. Sie hatten viel zu tun,<br />
bauten einen Verstärker vor den Verstärker, verstärkten die<br />
Fernsehbuchse, verstärkten hier, verstärkten dort. Das Ergebnis<br />
war auch ein starkes. Es war vollbracht, wenn auch<br />
das digitale Fernsehen hier und da leicht verzerrt ist. Das<br />
kann ja auch einen exotischen Reiz haben.<br />
Ich empfinde die Geschäftskultur in unserem Lande als<br />
total verwahrlost. Ich kann niemanden mehr haftbar machen,<br />
kein Chef ist mehr zu erreichen. Ich werde weiter<br />
gereicht, wenn, endlich, aus dem Off eine Stimme ertönt,<br />
verliere mich in einer virtuellen Welt, in der ich nirgends<br />
landen kann. Schriftliche Anfragen werden ignoriert. Ich<br />
werde keinen Vertrag mehr abschließen, es sei denn, es<br />
ginge um Leben oder Tod. Ich bin geknebelt, in völliger<br />
Abhängigkeit.<br />
Mein Kontoauszug weist eine erhöhte Abbuchung vonseiten<br />
besagter Firma aus, keine Mitteilung wieso und warum.<br />
Verweigere ich jetzt die Zahlung, stellen sie mir nicht nur das<br />
Kabelfernsehen ab, sondern auch Internet und Telefon. Gestern<br />
war ich erneut fassungslos. Nach acht Wochen erhielt ich<br />
einen Anruf von Unitymedia. Ein junger Mann fragte nach<br />
meiner Zufriedenheit. Meine Klagen gingen wieder ins Leere,<br />
da er ausgerechnet für die Art derselben nicht zuständig war.<br />
Nachdem er verkündet hatte, er würde sie weiterleiten, trat<br />
eine Störung auf und verschluckte ihn. Ich blieb, ebenfalls,<br />
verstört zurück ob dieser unerwarteten, wenn auch unvollständigen,<br />
menschlichen Geste.<br />
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In einer Wohnanlage in Hamburg wurde vor Kurzem ein<br />
Rentner erst nach zehn Tagen tot gefunden. Der 73 Jahre<br />
alte Hans Josef H. war tot in seinem Badezimmer zusammengebrochen<br />
und erst zehn Tage später gefunden worden.<br />
Wie konnte so etwas passieren? In der Seniorenanlage der<br />
katholischen Kirche, die mit dem Begriff „Betreutes Wohnen“<br />
wirbt, war die einzige ständige Ansprechpartnerin,<br />
eine Sozialberaterin, im Urlaub, es gab keine Vertretung.<br />
Die Empörung war groß, wahrscheinlich auch weil es die<br />
Kirche betraf. In Leserbriefen wurde beklagt, dass sie das<br />
in sie gesetzte Vertrauen nicht einlöse.<br />
Nun muss man sicher von den Kirchen und anderen kirchenverwandten<br />
Trägern erwarten, dass sie gemäß ihrem<br />
christlichen Anspruch sich besonders den Menschen zuwenden.<br />
Aber der „Fall“ zeigt ein anderes Dilemma auf. In dieser<br />
Anlage für Betreutes Wohnen, in der rund achtzig Senioren<br />
in Ein-und Zweizimmerappartements wohnen, gibt es eine<br />
Betreuerin mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von zwanzig<br />
Stunden. So musste sich denn auch der Vertreter der Kirche<br />
fragen lassen, ob man hier noch von betreutem Wohnen<br />
sprechen könne. Es gab keinen hausinternen Notruf.<br />
Der Kommentar<br />
Das darf nicht passieren<br />
Deutlich werden an diesem Beispiel die ökonomischen<br />
Zwänge. Auf den ersten Blick erscheint das Argument des<br />
knappen Geldes unabweisbar. Die Kirchen und andere Träger<br />
von Seniorenanlagen weisen darauf hin, dass man infolge<br />
von Geldmangel weiteres Betreuungspersonal nicht<br />
einstellen könne. Aber es<br />
geht hier um Menschen,<br />
die Hilfe und Zuwendung<br />
brauchen. Von den<br />
Kirchen und humanitären<br />
Institutionen muss<br />
man erwarten, dass sie –<br />
wo die Bereitschaft, für<br />
Kranke, Alte, Schwache<br />
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34 durchblick 4/<strong>2008</strong>
Dortmund – Dresden und zurück<br />
von Wilma Frohne<br />
Mittwochabend, 21.00 Uhr. Mein Sohn holte mich zu<br />
einer Fahrt nach Dresden mit der 420 PS starken Scania-<br />
Zugmaschine ab. Bevor wir losfuhren, führte Timmy mir<br />
stolz alle Lichtquellen vor. Er schaltete die Positionslampen<br />
in Stopfstange und Sonnenblende an, danach die Scheinwerferpaare<br />
über, in und unter der Stoßstange und als Krönung<br />
die Dachscheinwerfer. Welch eine Helligkeit. Ich war<br />
beeindruckt. Ein Lastwagen donnerte vorbei. Unsere Fahrerkabine<br />
schaukelte. Mir wurde angst und bange.<br />
„Na, dann wollen wir mal“, sagte Timmy und drehte<br />
den Zündschlüssel. Die Fahrerkabine erzitterte. „Was zischt<br />
da?“, fragte ich. „Die Sitze werden angehoben, du schwebst<br />
gleich“, erklärte er und setzte die Blinker.<br />
„Ich kann in die Fenster im ersten Obergeschoss sehen“,<br />
sagte ich. „Fast überall das gleiche Bild in den Wohnzimmern.<br />
An einer Wand der Schrank mit Fernseher und gegenüber<br />
die Sitzgruppe. Wie der Wind Fahnen zu einer Seite<br />
weht, so halten die Leute ihre Köpfe in eine Richtung.“ An<br />
der Ampel die nächste Überraschung. Sonst starrte ich zu<br />
den Signalen hinauf, jetzt leuchteten sie in Augenhöhe und<br />
so grell! Selbst das begehrte Grün war sehr unangenehm.<br />
„Ob die Brücke wirklich 4,30 m hoch ist? Der Auflieger<br />
hat eine Höhe von 4,20 m.“ Timmy „kroch“ vorwärts. Timmy<br />
wollte beim geringsten Widerstand des Verdecks halten<br />
können. Wir kamen durch.<br />
Auf der Autobahn schaltete Timmy den CB-Funk ein.<br />
„Hallo, kann mir einer der Kollegen sagen, wie es am Kreuz<br />
Dortmund-Unna aussieht?“ „Alles frei!“, antwortete eine<br />
Stimme. „Danke. Und wie ist die Kasseler Bahn?“ „An der<br />
Baustelle wird es langsamer, sonst ist alles frei. Wohin willst<br />
du?“ „Nach Dresden, aber erst nur bis Erfurt.“ „Wenn‘s so<br />
bleibt, wirst du es in fünf Stunden schaffen.“ „Dank dir!“<br />
„Mach’s gut und halt die Stoßstange sauber.“<br />
In unserer Fahrerkabine herrschte eine angespannte Atmosphäre.<br />
Timmy hatte schon bis mittags gearbeitet und<br />
durfte vor Erfurt weder von Polizei noch BAG, der Bundesanstalt<br />
für Güterfernverkehr, angehalten werden. „Falls<br />
wir gestoppt werden“, sagte mein Sohn zu mir, „der Fahrer<br />
ist an der letzten Raststätte ausgestiegen und hat vergessen,<br />
seine Tachoscheibe herauszunehmen.“ „Hoffentlich<br />
verheddere ich mich nicht. – Warum machst du denn keine<br />
Pause?“ „Ich würde zu lange schlafen. Ich parke in Erfurt<br />
vor dem Fabriktor, werde vom Hochziehen wach und kann<br />
sofort in die Halle fahren.“<br />
Gleichmäßig summte der Motor. Die Scheinwerfer<br />
zeigten uns den Weg über das schwarze Asphaltband der<br />
Straße. Auf der Gegenfahrbahn fuhren oft fantasievolle<br />
bunt strahlende Königskronen, Burgen, Schiffe oder Raubtiere<br />
heran. In der Nähe waren an den so geschmückten<br />
Lastern jedoch Ladung und Aufbauten zu erkennen und die<br />
Illusion vorbei.<br />
Leserseite<br />
„Auch das noch!“, sagte Timmy. „Was?“ „Da vor uns!<br />
Fahrzeuge mit Überbreite und Geleitschutz.“ Ich antwortete:<br />
„Die Polizei hat bei der Begleitung von Fahrzeugen<br />
keine Zeit andere Lkws anzuhalten.“ „Stimmt! Es sei denn,<br />
dass sie gerade ablösen und noch eben einen rausfischen<br />
wollen.“ Timmy zündete eine Zigarette an. Er raucht bestimmt<br />
viel zu viel.<br />
Timmy stöhnte: „Die Blitze der gelben Rundumleuchten<br />
an den Lastwagen dringen bis in den hintersten Winkel des<br />
Gehirns; die blauen Leuchten der Polizei sind dagegen<br />
richtig harmlos.“ Wir passierten unbehelligt den Konvoi.<br />
Wieder eine Zigarette – diese wegen Erleichterung.<br />
Der Mond war fast voll und leuchtete die Umgegend<br />
herrlich aus. Es war romantisch – doch auch gespenstisch.<br />
„Wir verlassen gleich die A 7 und fahren durchs Ulfetal“,<br />
sagte Timmy und fügte hinzu: „Hoffentlich kommt uns auf<br />
der engen Straße kein Auto entgegen.“ „Glaubst du daran?“<br />
Er schüttelte den Kopf. „Pkws sind nicht schlimm, aber<br />
so was Breites wie wir! Zwischen den Außenspiegeln hat<br />
oft nur eine Zeitung Platz. Manche Fahrer sind trotzdem<br />
ziemlich schnell.“ „Warum fährst du denn nicht weiter auf<br />
der Autobahn?“ „Wir erreichen auf dieser Strecke schneller<br />
die E 40.“<br />
Timmy trank Kaffee und rauchte; rauchte und trank Kaffee.<br />
Ich gähnte verstohlen. Unser Topliner fuhr, eingehüllt in<br />
sein eigenes Licht, gleichmäßig brummend Kilometer um Kilometer.<br />
In Erfurt ließ Timmy den Lkw vor dem Werktor der<br />
Anlieferfirma ausrollen, stellte den Motor ab und machte es<br />
sich auf den Sitzen bequem. Ich kletterte in die Schlafkabine<br />
und kroch in den Schlafsack.<br />
Zuerst sah ich nach dem Schließen der Augen nur Straßen,<br />
hatte das Gefühl, immer noch gewiegt zu werden. Doch<br />
dann träumte ich von Nebelschwaden, durch die Pappeln ihre<br />
langen Finger streckten, von Birkenkronen, die nur bis zur<br />
Hälfte sichtbar waren, einer kurvigen Straße am Fluss, in dem<br />
Trauerweiden ihre Zweige badeten und einem Berg mit angestrahlter<br />
Burg. – Über alldem stand der Mond und wachte.<br />
Wie vorausgesagt, weckte uns das Quietschen des Werktores.<br />
Verschlafen blinzelte ich und rutschte aus der Kabine.<br />
Timmy ließ den Motor an und fuhr in die Halle. Er griff<br />
nach den Arbeitshandschuhen, sprang aus dem Wagen und<br />
zog die Halteleine der Plane aus den Ösen. Danach schob er<br />
das Verdeck auf und kam wieder zu mir. Er hatte die Frachtpapiere<br />
abgegeben und wartete jetzt auf das Abladen. Wir<br />
frühstückten. Frische Brötchen und Kaffee gab es nicht,<br />
aber der Saft und die geschmierten Brote schmeckten uns.<br />
Am anderen Tor fuhren blaue Wagen rein und bald wieder<br />
raus. „Das sind die werkseigenen Fahrzeuge. Die werden<br />
immer dazwischengeschoben. So ist es nun mal.“<br />
Endlich waren wir dran. Als ich allein im Führerhäuschen<br />
saß, beobachtete ich Laufkran, Gabelstapler,<br />
hörte dem Geschepper hinter mir auf der<br />
<br />
durchblick 4/<strong>2008</strong> 35
Leserseite<br />
Ladefläche zu und sah unten im Meisterbüro auf dem<br />
Monitor Zahlenkolonnen laufen.<br />
„Ich ziehe jetzt vor, mache Platz für einen anderen Lkw<br />
und dann koche ich Kaffee.“ „Das Abladen ging aber flott“,<br />
stellte ich fest. Timmy nickte. „Die Warterei dauert immer<br />
länger als das Abladen.“ Er parkte den Wagen im Hof und<br />
wir stiegen beide aus. Ich kletterte vorsichtig die Tritte herunter.<br />
Meinen Waschbeutel hatte ich vorher auf den Boden<br />
des Fahrerhauses gestellt, denn bis auf den Sitz hätte ich<br />
von der Erde aus nicht reichen können.<br />
Mein Sohn holte Wasser und während er die Plane<br />
schloss, blubberte die Kaffeemaschine. „Buh, ist der stark!“<br />
sagte ich. „Ich hab schon weniger Kaffeemehl genommen<br />
als sonst.“ Er füllte noch den Kaffee in die Thermoskanne,<br />
verstaute alles sicher und drehte den Zündschlüssel.<br />
Auf der E 40 erkundigte Timmy sich über Funk: „Hallo,<br />
Kollegen! Wie ist das Hermsdorfer Kreuz? Ich ...“ „In welche<br />
Richtung?“, fragte prompt jemand. „Nach Dresden.“<br />
„Und wo bist du jetzt?“ „Erfurt Ost aufgefahren.“ „Als ich<br />
vorhin durchs Kreuz fuhr, war alles frei.“ „Danke!“ Die<br />
Stimme erzählte weiter. „Bei Jena, auf deiner Gegenbahn,<br />
ist ein schwerer Unfall gewesen. Der Stau ist schon weg,<br />
aber Neugierige fahren noch langsam. Lass dich nicht ärgern.<br />
Gute Fahrt.“ „Wenn wir gut durchkommen, sind wir<br />
um halb eins, vielleicht sogar schon um zwölf, in Dresden.“<br />
„Meinst du, dass es trotz des Unfalls möglich ist?“<br />
„Da ist der Unfall!“ „Ach du meinte Güte!“ Das Heck<br />
eines Tiefladers steckte bis zur vorderen Achse unter einem<br />
Doppelstockbus. Von unserem hohen Sitz konnten wir gut die<br />
Unfallstelle einsehen. „So wie es da aussieht, hat es aber nur<br />
Blechschaden gegeben.“ Die ineinander verkeilten Blechriesen<br />
ließen mich an sich beißende Ungeheuer denken.<br />
Die Autobahn verlief zwischen saftig grünen Wiesen,<br />
durch die sich Bäche schlängelten, Felder und Waldstücke.<br />
Als ich den Förderturm einer Zeche, genau wie im Ruhrgebiet,<br />
entdeckte, glaubte ich meinen Augen nicht trauen zu<br />
können. Industrie, in dieser herrlichen Landschaft! Weiter<br />
hinten sah ich nun auch große Fabrikhallen, auf deren Dächern<br />
sich die Sonne spiegelte. Wir lieferten ja Rohmaterial,<br />
doch das hatte ich vergessen. Für mich war es ein Ausflug.<br />
Die E 40, Hauptverbindung zwischen Ost und West, war<br />
frei; die Stadt nicht. Timmy rutschte auf dem Sitz hin und<br />
her und sagte: „Hoffentlich können wir vor der Mittagspause<br />
abladen, damit wir nicht so viel Zeit verlieren.“ Kurz vor<br />
eins waren wir da. Timmy parkte am Straßenrand.<br />
„Hoffentlich ist der Lademeister nicht weg.“ Mit den<br />
Frachtpapieren in der Hand sprang er vom Wagen und verschwand<br />
im Pförtnerhaus. Ein Gabelstapler sirrte heran.<br />
Timmy hob die Plane an einer Stelle, und der Stapler schob<br />
seine Greifer unter eine Gitterbox von 85 x 125 cm, zog sie<br />
vor, fasste nach, setzte zurück und rumpelte mit ihr davon.<br />
Timmy kletterte zu mir in das Fahrerhaus. „War das schon<br />
alles?“, fragte ich. „Ja, die kriegen immer so Kleinzeug.“<br />
„Sah ja richtig mickerig aus gegen die Rohre und Bleche,<br />
die bei der anderen Firma abgeladen wurden.“<br />
Weiter ging’s nach Radebeul, vorbei an Fachwerkhäusern,<br />
umgeben von Blumengärten, Liguster- oder Hainbuchenhecken<br />
und einem Schild „Radfahrerparadies“. Ha!<br />
Rad fahren neben einem solchen Brummer? Was sollte da<br />
Paradiesisches dran sein? Und die Straßen aus Katzenkopfpflaster,<br />
stückweiser Teerdecke mit kreisrunden Löchern<br />
und tief liegenden Gullys. An der Kreuzung wurde die Straße<br />
enger statt breiter und durch spitzwinklige Einmündung<br />
schlecht einsehbar. „Das ist die Hauptstraße?“, fragte ich.<br />
Timmy nickte. Wir durften geradeaus weiter, doch an der<br />
nächsten Kreuzung mussten wir wegen Bauarbeiten links<br />
abbiegen und mit dem riesigen Lkw durch Altstadtgassen<br />
fahren. Wegen der gewölbten Straße neigte sich der Auflieger<br />
zur Seite und das Gestänge der Plane kratzte fast die<br />
Dachrinne eines Hauses. Über eine großzügig angelegte<br />
Zufahrt erreichten wir dann die Anlieferfirma, brauchten<br />
diesmal nicht auf das Abladen zu warten. Trotzdem war es<br />
aber für unseren nächsten Kunden schon sehr spät. Timmy<br />
rief dort an, gab durch, wo wir zurzeit standen und bat, dass<br />
man auf ihn warten möge.<br />
„Geschafft“, sagte Timmy erleichtert, als er sich wieder<br />
hinter sein Lenkrad setzte. „Nur noch Chemnitz.“ „Chemnitz?<br />
Warum hast du da nicht morgens abgeladen?“ „Öfter<br />
ist von hier was zu dem Werk dort mitzunehmen. Heute habe<br />
ich allerdings nichts bekommen.“ „Wenn du das gewusst hättest!“<br />
„Ich wäre genauso gefahren. Die Bleche für Chemnitz<br />
und das andere Material ließen sich nur so packen.“<br />
Wieder auf die E 40, aber Richtung Westen. Der Heimweg<br />
begann, obwohl wir noch bei einem Kunden anliefern<br />
mussten. „Hallo, Kollegen! Ich bin gerade Dresden-Altstadt<br />
aufgefahren. Wie sieht die E 40 Richtung Chemnitz aus?“<br />
„Oh Junge! Da hast du was vor dir. An der Großbaustelle<br />
Chemnitz-Nord haben sich auf der provisorischen Fahrspur<br />
zwei Personenwagen geküsst. Kein Blut, aber der Verkehr<br />
staut in alle Richtungen. Der Abschleppwagen steckt auch<br />
fest.“ „Dank dir und bleib sauber.“<br />
„Können wir da nicht drumrum?“ fragte ich. „Schlecht.<br />
Wenn wir ausfahren, müssen wir zu viel über Landstraßen<br />
und das dauert auch. Ich lasse mal den Funk eingeschaltet.<br />
Vielleicht erfahren wir was.“ Im Schneckentempo kamen<br />
wir voran, in Chemnitz war dadurch bereits Feierabendverkehr.<br />
Bergab auf eine Ampel zu, stehen – anfahren;<br />
stehen – anfahren. Bergauf genauso. Ich sorgte mich, dass<br />
die Bremsen unser Gewicht nicht halten könnten. Endlich<br />
erreichten wir uns Ziel. Timmy zog seinen Overal über und<br />
kletterte auf die Ladefläche. Ein Deckenkran rasselte heran,<br />
ließ seinen Haken herunter und nahm einige Bleche<br />
von der Ladefläche. Sie schaukelten beim Straffziehen der<br />
Drahseile und ich erwartete, dass sie fallen würden. Aber<br />
es passierte nichts. Langsam leerte sich der Laster. Timmy<br />
legte Kanthölzer und Spanngurte zusammen, schob das<br />
Verdeck zu und klemmte sich hinter sein Steuerrad. „So,<br />
jetzt geht’s nach Hause.“ „Bis du nicht müde?“ „Nein, ich<br />
bin richtig froh.“ Er log nicht. Man merkte ihm die Erleichterung<br />
an. Irgendwie hatte er Feierabend. „Und was ist<br />
36 durchblick 4/<strong>2008</strong>
Leserseite<br />
mit deiner Fahr- und Pausenzeit?“ „Ich hatte doch Pause“,<br />
grinste er und fragte, „fahren wir denselben Weg aus der<br />
Stadt raus oder anders herum?“ „Wieso fragst du mich?<br />
Ich habe doch keine Ahnung.“ „Ich weiß, aber sag doch<br />
einfach was.“ „Möchtest du wie früher Pinnchen ziehen,<br />
wie rum wir fahren?“ Kurze Zeit später Stau. Blaulicht.<br />
Diesmal freuten wir uns über die Polizei. Sie sorgte an einer<br />
Kreuzung für fließenden Verkehr.<br />
Hinter dem Chemnitzer Dreieck schaltete Timmy Truckermusik<br />
ein und sang mit. Keine Terminfracht, kein Zeitdruck<br />
– nur Kapitän der Landstraße. Hobby: Autofahren!<br />
Ich kramte Schokolade, Erdnüsse und Saft aus dem Rucksack.<br />
Wir feierten eine Party!!!<br />
„Sieh mal die Lastwagenschlange“, sagte ich. Er hatte<br />
sie natürlich längst gesehen, antwortete: „Überholverbot für<br />
Lkws; vorn ist ein Langsamer.“ „Du könntest sie mit den 420<br />
PS gut am Berg überholen.“ „Natürlich. Ich schaffe leicht<br />
100 km/h. Mancher Pkw-Fahrer würde sich wundern.“ Ich<br />
hörte, wie gern er ein Rennen gefahren wäre. Vor uns Lastwagen,<br />
hinter uns Lastwagen, so krochen wir in der Schlange<br />
den Berg hinauf. „Oben veranstalten die Großen ein Wettrennen.“<br />
Timmy schüttelte den Kopf. „Da ist zwar kein Überholverbot,<br />
aber oft stehen da wegen der Geschwindigkeitsbegrenzung<br />
die grünweißen Abfangjäger.“<br />
„Hallo, ihr zwei!“, sagte eine Stimme im Lautsprecher.<br />
Pause. „Seid ihr sehr beschäftigt?“ Nach kurzer Zeit wieder.<br />
„Hallo! Rotweißer, bist du schwerhörig?“ „Der meint<br />
uns!“, sagte mein Sohn und griff nach der Sprechmuschel<br />
des Funkgerätes. „Ja? Was ist?“ „Du bist ja heute nicht<br />
allein?“ „Was dagegen?“ „Nein, aber was hälst du von Licht<br />
einschalten?“ Wir sahen uns an. „Hab ich gar nicht mitgekriegt,<br />
danke. Mach’s gut.“ „Mach’s besser.“<br />
Es wurde dunkel. Über den eingeschalteten Funk<br />
hörten wir gespenstische Stimmen, eine müde – und eine<br />
beschwörend. „Hör mal zu“, sagte mein Sohn und<br />
stellte lauter. „Was hast du denn?“, fragte eine dunkle<br />
Stimme. „Ich bin so müde. Ich kann nicht mehr.“ „Junge,<br />
fahr raus, mach Pause.“ „Ich habe Terminfracht.“ Die<br />
laute Frage: „Wo musst du denn noch hin?“ übertönte die<br />
Musik. „Nach Aachen?“ „Wie lange bist du denn schon<br />
unterwegs?“ „Dreißig Stunden.“ „Bist du verrückt! Fahr<br />
raus. Schlaf.“ „Neieiein, ich schaffe es schon.“ Ruhe!<br />
Dann wieder: „Hallo, Vero! Hallo, Vero! Wo bist du?“<br />
Ich konnte nicht mehr still sitzen. „Hör“, sagte Timmy.<br />
„Der Müde erklärt jemandem seinen Lkw. Er ist nicht<br />
allein.“ „Als wenn ich dein Auto fahren könnte.“ „Wenn<br />
es sein müsste, würdest du es bestimmt schaffen.“ Ich<br />
fühlte mich geschmeichelt. Energisch tönte es: „Hallo,<br />
Vero! Fahr aus! Nimm den Parkplatz bei km 252. Ich<br />
komme auch.“ „Die sind kurz vor uns“, sagte Timmy.<br />
Aber „Vero“ stand nicht auf dem nächsten Parkplatz, als<br />
wir vorbeifuhren.<br />
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durchblick 4/<strong>2008</strong> 37
Truckerglück: Manchmal findet man sogar noch freie Stellflächen auf einem Rastplatz.<br />
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„Vero, fahr nicht weiter“, sagte die dunkle Stimme.<br />
„Nimm den nächsten Parkplatz, mach Pause!“ Keine Antwort.<br />
„Vero! – Vero!“ „Jaaa? – Ich – fahre – gleich – raus.“<br />
„Gut! Komm, erzählt mir was bis dahin.“ „Der will den<br />
wach halten“, sagte Timmy.<br />
„Wenn ich mir vorstelle, wie lange du oft unterwegs bist<br />
und wenn mir dann das hier einfällt!“ „Ich mache Pause,<br />
wenn ich müde bin.“ „Ja, behauptest du jetzt. Wie oft hast<br />
du erzählt, dass du Schlangenlinien gefahren bist oder vor<br />
Müdigkeit die Abstände der Lampen nicht erkennen konntest?“<br />
„War immer halb so wild.“ Auf dieser Strecke liegen<br />
die Parkplätze nur wenige Kilometer auseinander, aber am<br />
nächsten Parkplatz hielten wir vergeblich Ausschau nach<br />
dem Vero-Wagen. Sollten wir ihn übersehen haben?<br />
„Vero!“ tönte es laut aus dem Lautsprecher. „Warum<br />
bist du nicht ausgefahren? Jetzt mach hinne. Raus mit dir.“<br />
Beim nächsten Parkplatz rief Timmy erleichtert: „Da steht<br />
er! Gut, dass der Kollege so drängelte. So was habe ich<br />
noch nicht erlebt.“ Die Lust auf Truckermusik war uns vergangen,<br />
doch der Topliner brummte gleichmäßig weiter.<br />
„Was ist denn da schon wieder los?“, fragte ich. „Hinter<br />
der Kurve ist bestimmt ein Unfall.“ „Wo siehst du<br />
eine Kurve?“ „Ich fahre die Strecke öfter“, strahlte Timmy<br />
mich an. Er fuhr langsam und ganz rechts auf den Stau<br />
zu. Von der für diesen Abschnitt zuständigen Funkstation<br />
kam die Durchsage. „Unfall von Pkw und Lkw. Eine Fahrbahn<br />
gesperrt, geringes Verkaufsaufkommen. Jung’s, fahrt<br />
aufmerksam und ganz rechts, damit der Abschleppwagen<br />
durch kann.“ Ein Kickser. „Der Laster hatte Seifenpulver<br />
geladen. Drückt die Daumen, dass es keinen Regen gibt,<br />
sonst werdet ihr eingeschäumt oder die Bahn wird wegen<br />
Rutschgefahr gesperrt.“ „Was hat die Durchsage da<br />
noch gesagt?“ „Schrott- und knitterfreien Flug.“„Wie viel<br />
Unfälle haben wir eigentlich gesehen?“ „Ich weiß nicht,<br />
jedenfalls eine Menge.“<br />
In weitem Bogen fuhren wir auf eine Autoschlange zu.<br />
Wieder ein Stau. „Aber sieht die Lichterkette nicht herrlich<br />
aus?“, sagte ich. „Die hellen Lichter sind Wachsperlen und<br />
die roten Rubine.“ Wir rollten nur. Pkws überholten. Ärgerlich<br />
blickten wir ihnen nach. „Die fädeln sich vorn rechts<br />
ein und daher geht es für uns nur langsam weiter.“ „Schließ<br />
doch jemand hinten die Lücke“, tönte es aus dem Laut-<br />
sprecher. Timmy zog links raus wie beim Überholen. Der<br />
Fahrer neben uns grinste und winkte. „Und jetzt?“, fragte<br />
ich. „Nichts. Es ist auch eigentlich verboten, aber ...“<br />
Ich seufzte, war durstig, müde und der Weg noch weit.<br />
„Schaffst du es noch bis zur Raststätte?“ Ich nickte. Einladend<br />
grüßten uns die Lichter der Raststätte Eisenach, ein<br />
Motel mit Panorama-Café, Brückenrestaurant, Truckerstube<br />
und Snack-Bar. Zwischen zwei Lastwagen fanden wir<br />
einen Parkplatz. Glück gehabt. Die großen Züge standen<br />
dicht an dicht mit zugezogenen Gardinen. Schlafenszeit!<br />
In der Truckerstube fühlte ich mich im Jogginganzug<br />
nicht wohl, stakste draußen ein paar Schritte. Timmy, das<br />
zusammengerollte Handtuch unter den Arm geklemmt,<br />
sagte beim Zurückkommen: „Eigentlich wollte ich mir nur<br />
die Hände waschen, habe dann aber doch kurz geduscht.<br />
Möchtest du was trinken?“ „Trinken ja, aber nicht hier sitzen.“<br />
Er kaufte ein paar Dosen Cola, Zigaretten und eine<br />
Schildkröte aus Plüsch. Die Schildkröte sollte ich seiner<br />
Nichte als Mitbringsel von ihm geben. Im Lkw zog Timmy<br />
trockene Wäsche an, trank Cola, steckte eine Zigarette an<br />
und inhalierte. „Jetzt geht es mir besser.“<br />
Die Scheinwerfer des Topliners beleuchteten für uns<br />
die Straße und gleichmäßig summten Motor und Räder.<br />
Wie auf dem Hinweg kamen uns auf der Gegenbahn geschmückte<br />
Laster entgegen. Neben mir klickte immer<br />
wieder das Feuerzeug. „Hallo, Kollegen! Wie sieht es am<br />
Kreuz Dortmund-Unna aus?“ „Alles frei“, kam die Antwort,<br />
„halte dich aufrecht.“<br />
Timmy unterdrückte ein Gähnen und sah mich an. „Wir<br />
haben es gleich geschafft.“ „Ja, ich bin gleich da, aber du?!“<br />
„Ich brauche auch nicht viel weiter.“<br />
Timmy parkte an der Haltestelle, denn um 1.15 Uhr fährt<br />
kein Linienbus. Er brachte mich in die Wohnung, trank<br />
Sprudel, drückte mich und ging. Vom Fenster sah ich ihm<br />
nach, beobachtete, wie er in den Lkw stieg, einmal alle<br />
Lichter für mich aufleuchten ließ und abfuhr.<br />
Lange starrte ich in die Dunkelheit. Ich wusste, er ist<br />
müde und fährt, würde noch bis zu seiner Firma fahren und<br />
sich dort zum Schlafen wieder vors Tor stellen.<br />
Bisher kannte ich die Sorgen des Fernfahrers nur vom<br />
Erzählen. Doch jetzt! Die Angst um meinen Sohn war wesentlich<br />
größer als vor dieser Fahrt.•<br />
38 durchblick 4/<strong>2008</strong>
Die erste Kunstausstellung im Kulturbahnhof Kreuztal<br />
ist beim Publikum auf so große Resonanz gestoßen, dass<br />
sie um einen Monat verlängert wird. Wie viel Spaß die Besucher<br />
an der Kunstschau haben, belegen die zahlreichen<br />
Einträge ins Gästebuch. In Zukunft werden im Rahmen<br />
des Ausstellungskonzeptes „Szenenwechsel“ jährlich bis<br />
zu vier Ausstellungen von regionalen und überregionalen<br />
Künstlern präsentiert werden. So werden ab 07. November<br />
<strong>2008</strong> Werke von Annette Besgen unter dem Ausstellungstitel:<br />
IM VORBEI präsentiert.<br />
Kultur im Norden<br />
Kunstausstellung<br />
Ulrich Langenbach und Annette Besgen haben bereits<br />
Anfang des Jahres ihre Ateliers im renovierten Bahnhof bezogen.<br />
Beide gehören zu den renommiertesten Siegerländer<br />
Künstlern. Aber auch weit über die Grenzen unserer Region<br />
hinaus finden ihre Arbeiten Anerkennung.<br />
Annette Besgen absolvierte von 1977 bis 1984 ein<br />
Kunststudium in Siegen mit dem Schwerpunkt Malerei.<br />
1995 erhielt sie das Paris –Stipendium der Bundesrepublik<br />
und des Landes NRW. Mehrer Arbeitsaufenthalte in New<br />
York, Omaha und Rom folgten bis zum Jahr 20<strong>04</strong>. Die<br />
Künstlerin hält ihre Motive zunächst fotografisch fest, nutzt<br />
die Kamera wie in vergangenen Zeiten der Künstler den<br />
Skizzenblock. Es entstehen keine fotorealistischen Bilder,<br />
sondern eigenständige Bildwelten in vielen Formaten, für<br />
die die Faszination von Licht und Schatten von entscheidender<br />
Bedeutung ist.<br />
Ulrich Langenbach hingegen beschäftigt sich mit Installationen,<br />
Malerei, Zeichnungen, Fotos, Musik, Texten<br />
und auch Büchern. Er erhielt 1993 den Ida-Gerhardi-Preis<br />
der Stadt Lüdenscheid und zwei Jahre später ein Arbeitsstipendium<br />
des Kunstfonds Bonn. Er erfüllte Lehraufträge<br />
und Gastprofessuren an verschiedenen Universitäten. Seine<br />
fotografierten und gezeichneten Geschichten bestechen<br />
durch die Genauigkeit des Ungesagten und die Trivialität<br />
des Gesagten.<br />
Holger Glasmachers<br />
durchblick 4/<strong>2008</strong> 39
Seltsame Regeln<br />
Ein Buchstabe in jedem Wort passt nicht und muss<br />
ausgetauscht werden – dann weiß jeder, welche Regeln<br />
für alle Besucher des Parks gelten!<br />
Beispiel: Rekeln = Regeln<br />
Trainiert werden Wortfindung und Konzentration.<br />
Gedächtnistraining<br />
Futter fürs Gehirn<br />
Tiere gesucht<br />
Welche Tiere sind hier einzusetzen, damit sinnvolle<br />
Wörter entstehen?<br />
Trainiert wird Denkflexibilität.<br />
Die Buchstaben in den Kästchen ergeben einen Begriff, der den<br />
verantwortlichen Umgang mit unserer Tierwelt beschreibt.<br />
__ __ __ __ __ __ __ __ __ __<br />
40 durchblick 4/<strong>2008</strong>
Gedächtnistraining<br />
Logisches Denken: Tier-Master-Mind<br />
Es werden Tiere oder Fachbegriffe aus der Tierwelt mit<br />
einer jeweils vorgegebenen Anzahl von Buchstaben gesucht.<br />
Um herauszufinden, welche Buchstaben jeweils gebraucht<br />
werden, muss man das folgende Schema anwenden:<br />
Die Ziffer im grau unterlegten Feld nennt die Anzahl<br />
der Buchstaben, die auf dem richtigen Platz stehen.<br />
Die Ziffer im weißen Feld nennt die Anzahl der<br />
Buchstaben, die im gesuchten Wort vorkommen, aber<br />
nicht auf dem richtigen Platz stehen.<br />
Beispiel:<br />
Alle 5 Buchstaben kommen vor,<br />
suche die richtige Reihenfolge<br />
3 Buchstaben stehen auf dem richtigen<br />
Feld, das können nur GER sein<br />
4 Buchstaben stehen richtig, das<br />
können nur TI und ER sein<br />
Aufgabe 2<br />
Aufgabe 1<br />
Alten- und<br />
Pflegeheime<br />
Diakonische Altenhilfe<br />
Siegerland<br />
Haus Höhwäldchen<br />
Höhwäldchen 3<br />
57234 Wilnsdorf<br />
(0 27 39) 4 78 - 0<br />
Vermittlung von<br />
Seniorenwohnungen<br />
u. Service-Wohnen<br />
ganzjährig 12<br />
Kurzzeitpflegeplätze<br />
2 Seniorenwohnungen<br />
Altenzentrum Freudenberg<br />
Lagemannstr. 24<br />
51 Seniorenwohnungen<br />
57258 Freudenberg<br />
(0 27 34) 2 77 - 0<br />
Aufgabe 3<br />
Fliedner-Heim<br />
Luisenstr. 15<br />
57076 Siegen<br />
(02 71) 48 84 - 0<br />
Sophienheim<br />
Südstr. 11<br />
57074 Siegen<br />
(02 71) 66 03 - 0<br />
Seniorenresidenz<br />
Känerbergstr.<br />
26 Wohnungen<br />
24 Seniorenwohnungen<br />
Aufgabe 4<br />
Haus Obere Hengsbach<br />
Hengsbachstr. 156 12 Plätze für an<br />
57080 Siegen<br />
Demenz erkrankte<br />
BewohnerInnen<br />
(02 71) 77 0 19 - 0<br />
Aufgabe 5<br />
Alle Übungen gefunden<br />
beim Bundesverband<br />
Gedächtnistraining e.V.<br />
www.bvgt.de, zusammengestellt<br />
von<br />
Barbara Kerkhoff<br />
Diakonische Altenhilfe<br />
Siegerland<br />
Weitere Informationen im Internet unter<br />
www.diakonie-suedwestfalen.de<br />
durchblick 4/<strong>2008</strong> 41
Diese Seiten stehen dem Seniorenbeirat der Stadt Siegen zur Verfügung. Die Redaktion des „durchblick“ hat keinen Einfl uss auf die Auswahl der Beiträge.<br />
Aus dem Seniorenbeirat<br />
Das Interview<br />
Letzte Ausfahrt Heim<br />
Die Zwischenstationen sind (nach-) gefragt<br />
Dr. Wolfgang Bauch berät mit Kopf, Herz und Hand.<br />
Dr. Horst Bach, Pressesprecher des Seniorenbeirates.<br />
befragt den Leiter des Arbeitskreises 3, Dr. med. Wolfgang<br />
Bauch, zum Thema „Leben und Wohnen im Alter“<br />
Was ist die ideale Lebenssituation im Alter?<br />
Die ideale Lebenssituation im Alter ist, dass beide Lebenspartner<br />
körperlich und geistig gesund sind und ihr Leben<br />
in allen Situationen gemeinsam planen und verwirklichen.<br />
Wenn ein Partner kränkelt, springt der andere ein, bis der<br />
vorherige Zustand wieder erreicht ist. Wenn aber einer der<br />
Partner dauerhaft durch Krankheit und Pflegebedürftigkeit<br />
ausfällt, übernimmt der andere sämtliche Funktionen, auch<br />
die bisher ungewohnten und wesensfremden, und führt den<br />
Haushalt allein weiter nach seinen selbstbestimmten Kriterien.<br />
In schwierigen Situationen kann er dann auf die Hilfe<br />
der Familie zurückgreifen.<br />
Was geschieht, wenn sich der Pflegebedarf erhöht?<br />
Um bei erhöhtem Pflegebedarf wunschgemäß noch in<br />
der eigenen Wohnung verbleiben zu können, gibt es die<br />
Möglichkeiten der Wohnungsanpassung und Umgestaltung<br />
wie z.B. Vermietung einzelner Räume an Helfende (Projekt<br />
Hilfe für Wohnen). Es bestehen viele Möglichkeiten,<br />
die häusliche Pflege verantwortungsbewusst und fachlich<br />
korrekt durchzuführen. Eine barrierefreie und angepasste<br />
Wohnung kann bei körperlicher Einschränkung den Umzug<br />
in ein Pflegeheim verhindern und die Selbstständigkeit<br />
erhalten.<br />
Welches sind die Kriterien für eine altersgerechte Wohnung?<br />
Antwort: Wohnungsanpassung oder barrierefreier<br />
Umbau werden durch staatliche Hilfen gefördert. Das<br />
Prinzip der Barrierefreiheit ist nicht hauptsächlich auf<br />
Foto: Dr. Horst Bach<br />
die Zielgruppe von behinderten Menschen gerichtet.<br />
Gutachten stellen immer wieder heraus,<br />
dass die Herstellung von Barrierefreiheit im Interesse<br />
aller Menschen und nicht einer bestimmten<br />
Personengruppe mit besonderen Anforderungen<br />
erfolgt. So ist bekannt, dass eine barrierefrei zugängliche<br />
Umwelt für etwa 10 % der Behinderten<br />
zwingend notwendig ist, für etwa 20–40 %<br />
notwendig und für 100 % komfortabel und wünschenswert.<br />
Kann gemeinschaftliches Wohnen gegen Krankheit<br />
und Pflegebedürftigkeit vorbeugen?<br />
Antwort: Diesen gemeinschaftlichen Wohnprojekten<br />
liegt die Idee zugrunde, ein selbstbestimmtes Leben<br />
und Wohnen in einer Gemeinschaft zu haben. Es ist<br />
eine innovative Wohnform, eine Alternative zum Alleinsein<br />
oder zum Leben in einem Pflegeheim. Der Idealtyp des gemeinschaftlichen<br />
Wohnens im Alter ist die selbst geplante<br />
und verwaltete Wohn- oder Hausgemeinschaft mit einer<br />
überschaubaren Anzahl älterer Menschen. Das aktive Gemeinschaftsleben<br />
beugt vor gegen Vereinzelung, gegen Depressionen<br />
und gegen Demenz, denn Einsamkeit ist ein wesentlicher<br />
Risikofaktor für die Entwicklung einer Demenz.<br />
Wohnung teilen und Wohnung gegen Hilfe, was sagen Sie<br />
zu diesen Konzepten?<br />
Es leben immer mehr ältere Menschen in zu groß gewordenen<br />
Wohnungen oder Häusern, die sie aber nicht<br />
aufgeben möchten. Viele vermissen das gute Gefühl, dass<br />
außer ihnen noch jemand im Hause ist oder wünschen sich<br />
einfach mehr Gesellschaft und Leben um sich herum. Der<br />
Gedanke war, dass ältere hilfebedürftige Menschen einen<br />
Wohnraum zur Verfügung stellen und dafür im Alltag von<br />
jungen Menschen unterstützt werden. Bisherige Erfahrungen<br />
haben gezeigt, dass das Modell dann funktioniert,<br />
wenn beide Beteiligten ein ehrliches Interesse an der Wohnpartnerschaft<br />
haben, wenn die Angehörigen in die Entscheidung<br />
mit einbezogen werden, die Wohnpartnerschaften<br />
sorgfältig ausgewählt und begleitet werden, Beratung durch<br />
Fachkräfte erfolgt, die Erwartungen beider Beteiligten im<br />
Vorfelde geklärt und die Bedingungen klar definiert und<br />
schriftlich festgelegt wurden.<br />
Wie funktionieren ambulant betreute Wohngruppen?<br />
Antwort: Das Grundkonzept ambulant betreuter Wohngruppen<br />
ist es, dass ungefähr 6 bis 12 Hilfe- und Pflegebe-<br />
42 durchblick 4/<strong>2008</strong>
Verantwortlich für deren Inhalt ist nach dem Presserecht Dr. Horst Bach, der Pressesprecher des Seniorenbeirats der Stadt Siegen.<br />
Aus dem Seniorenbeirat<br />
dürftige in einem gemeinsamen Haushalt zusammenleben<br />
und von Betreuungskräften unterstützt werden. Es gibt<br />
zwei Wohnbereiche, private Räume und gemeinschaftlich<br />
genutzte Räume. Jeder Bewohner hat sein privat genutztes<br />
Wohn/Schlafzimmer von etwa 30 qm, das er nach eigenem<br />
Geschmack einrichtet und gestaltet. Gemeinsam werden<br />
ein großes Wohnzimmer – Mindestgröße 30 qm –, ein<br />
Speiseraum, die Küche und das Bad benutzt. Eine Betreuungskraft<br />
begleitet die Bewohner tagsüber, gegebenenfalls<br />
auch nachts. Diese Begleitperson ist zuständig für die Organisation<br />
des Haushaltes und des Gruppenzusammenlebens.<br />
Das ambulant betreute Wohnen soll eine Alltagsvertrautheit<br />
und individuelle Lebensgestaltung ermöglichen,<br />
die Selbstständigkeit und Selbstbestimmung so weit wie<br />
möglich auch bei schwerer Hilfe- und Pflegebedürftigkeit<br />
erhalten und eine Versorgungssicherheit und Wohlbefinden<br />
gewährleisten.<br />
Betreutes Wohnen – Können Sie kurz diese Wohnform<br />
erläutern?<br />
Die Grundidee des betreuten Wohnens ist es, selbstständig<br />
in der eigenen Wohnung zu leben und bei Bedarf<br />
schnell und zuverlässig so viel Hilfe in Anspruch nehmen<br />
zu können, wie es nötig ist. Betreute Wohnungen sind in<br />
der Regel barrierefrei, altersgerecht ausgestattet und in eine<br />
Wohnanlage integriert, deren Architektur die Kontakte der<br />
Bewohner untereinander fördert. Abrufbare Serviceleistungen<br />
wie Pflege- und Reinigungsdienste, medizinische<br />
Versorgung sowie Gemeinschaftseinrichtungen gehören<br />
zum Angebot. Über eine Hausnotrufanlage kann Hilfe angefordert<br />
werden, wenn es nötig sein sollte.<br />
Wann lohnt sich ein solcher Umzug?<br />
Der Umzug in ein betreutes Wohnen lohnt sich dann,<br />
wenn die Lage und Ausstattung der neuen Wohnung plus<br />
die angebotenen Betreuungs- und Serviceleistungen eine<br />
deutliche Verbesserung gegenüber der bisherigen Wohnund<br />
Lebenssituation darstellen. Man muss sich über die<br />
eigenen Wünsche und Vorstellungen im Klaren sein und<br />
seine Ansprüche mit dem tatsächlichen Angebot messen.<br />
Dennoch ist der Umzug in ein Pflegeheim oft unumgänglich.<br />
Nennen Sie die Vorteile einer solchen Maßnahme.<br />
Für viele ältere Menschen kann die Vollversorgung in einem<br />
Heim trotz der Unterstützung durch die Angehörigen und professioneller<br />
anderer Hilfen große Erleichterung bedeuten. Sie sind<br />
von ihrer täglichen Sorge befreit, wie sie allein zurechtkommen<br />
sollen und wer ihnen dabei hilft. Medizinische Betreuung und<br />
pflegerische Unterstützung sind Tag und Nacht gewährleistet,<br />
es bestehen Kontaktmöglichkeiten und Freizeitangebote. Man<br />
sollte das Beste aus der schwierigen Situation machen, auch<br />
wenn der Umzug nicht immer aus freien Stücken erfolgt.<br />
durchblick 4/<strong>2008</strong> 43
Verantwortlich für deren Inhalt dieser Seite ist nach dem Presserecht Dr. Horst Bach, der Pressesprecher des Seniorenbeirats der Stadt Siegen.<br />
Aus dem Seniorenbeirat<br />
Das erste Jahr<br />
Foto: Sabine Völkel<br />
Bernd Alberts, Vorsitzender des<br />
Siegener Seniorenbeirats<br />
Eine Bestandsaufnahme<br />
des ersten Jahres<br />
intensiver Arbeit für die<br />
älteren Mitbürger stand<br />
auf der Tagesordnung<br />
der neunten Sitzung<br />
des Siegener Seniorenbeirats.<br />
Wie groß das<br />
Interesse der Entscheidungsträger<br />
des Kreises<br />
Siegen-Wittgenstein<br />
und der Stadt Siegen an<br />
der Arbeit des bei einer<br />
Wahlbeteiligung von<br />
nahezu 40 % mit hoher<br />
Legitimation der Bevölkerung<br />
ausgestatteten<br />
Gremiums ist, machten<br />
die Gäste deutlich, die Beiratsvorsitzender Bernd Alberts<br />
begrüßen konnte. Neben Fachbereichsleiter Horst Fischer<br />
und der neuen Sozialdezernentin Brigitta Radermacher<br />
von der Stadt Siegen war erstmals auch Helmut Kneppe,<br />
der Sozialdezernent des Kreises Siegen-Wittgenstein, zu<br />
einer Sitzung des Siegener Seniorenbeirats erschienen.<br />
Und was die Gäste aus dem Munde der Arbeitskreissprecher,<br />
Bezirksvorsitzenden und Ausschussmitglieder der<br />
Seniorenvertretung zu hören bekamen, war in der Tat bemerkenswert.<br />
Den ausführlichsten Jahresrückblick hatte Günter Heinbach,<br />
der Sprecher des Arbeitskreises „Bauen und Wohnen“,<br />
zusammengestellt. Das Beiratsmitglied aus Obersetzen<br />
machte eindrucksvoll deutlich, wie intensiv die Anregungen<br />
des Seniorenbeirates im Hinblick auf altengerechten Wohnungsbau<br />
in die kommunalpolitischen Gremien Eingang gefunden<br />
haben. Auch Dr. Wolfgang Bauch, für die Bereiche<br />
soziale Infrastruktur, Heime und Pflege zuständig, konnte<br />
deutlich machen, mit welch großer Akzeptanz die Pflegeeinrichtungen<br />
der Seniorenbeiratsarbeit gegenüberstehen. In<br />
drei ganz unterschiedlich strukturierten Alteneinrichtungen<br />
konnten die Mitglieder des Arbeitskreises wichtige und<br />
durchweg positive Erfahrungen machen. Für den Bereich<br />
Öffentlichkeitsarbeit und Veranstaltungen konnten Ernst<br />
Göckus auf die eintägige Präsentation in der City-Galerie,<br />
die Mitarbeit beim Siegener „Tag der Begegnung“ sowie<br />
die erfolgreiche Kooperation mit dem Apollo-Theater verweisen.<br />
Die Einrichtung eines nachmittäglichen Neujahrskonzertes<br />
für Senioren und die damit verbundenen ermäßigten<br />
Eintrittspreise für Bedürftige sowie die Fortführung<br />
des Theatertaxis sind in der Tat Erfolge einer zielgerichteten<br />
Seniorenarbeit, die man vor einem Jahr kaum erwarten konnte.<br />
Wie man im Alter durch Sport und Bewegung gesund<br />
bleiben kann, machte Arbeitskreissprecher Heinz Rösner an<br />
den zahlreichen Wanderungen und Radfahrtouren deutlich,<br />
die inzwischen einen festen Platz im Veranstaltungskalender<br />
des Siegener Seniorenbeirats gefunden haben.<br />
Um die Sicherheit und Mobiliät der Siegener Senioren<br />
ist seit vielen Jahren mit großem Engagement der stellv.<br />
Beiratsvorsitzende Helmut Plate tätig. Insbesondere im<br />
Hinblick auf eine Verbesserung des Aufzugs am Weidenauer<br />
Bahnhof sowie des maroden Kofferbandes am Siegener<br />
Hauptbahnhof will der agile Seelbacher Seniorenvertreter<br />
nicht lockerlassen. Astrid E.Schneider, die Leiterin der<br />
Regiestelle Leben im Alter bei der Stadt Siegen, erläuterte<br />
die umfangreichen Planungen für die 2. Siegener Seniorenmesse,<br />
während Kreis-Sozialdezernent Helmut Kneppe die<br />
aktuelle Situation der Pflegeeinrichtungen auf Kreiebene<br />
darstellte. Eine würdevolle und liebevolle Pflege bei angemessener<br />
Einbeziehung des ehrenamtlichen Engagements<br />
sind für den erfahrenen Sozialpolitiker nach eigenen Worten<br />
wichtiger als angeblich pflichtbewusste Angebote von<br />
Billiganbietern im Pflegebereich.<br />
Zum Abschluss der gut dreistündigen Veranstaltung<br />
wurde auf Vorschlag der neuen Dezernentin Brigitta Radermacher<br />
eine Neustrukturierung der künftigen Abläufe<br />
der Seniorenbeiratssitzungen beschlossen, zu denen zeitnah<br />
für die Bevölkerung auch wieder aktuelle Fachvorträge von<br />
seniorenrelevantem Interesse angeboten werden sollen.<br />
Dr. Horst Bach<br />
Festtagszeit<br />
von Helga Düringer<br />
Wenn im Advent ein Lichtlein brennt,<br />
das alte Jahr – es rennt und rennt,<br />
dann ist es wieder mal so weit,<br />
Lichterglanz zur Weihnachtszeit.<br />
Tannenbäume reich geschmückt,<br />
voll Kugeln, Glanz und Glimmer,<br />
der Weihnachtsmarkt hat uns entzückt<br />
mit Mandelduft und Kerzenschimmer.<br />
Von fern hört man ein Glöckchen klingen,<br />
Kinder Weihnachtslieder singen,<br />
das Christkind scheint schon eingetroffen,<br />
denn alle auf Geschenke hoffen.<br />
Jeden hat es wohl bedacht,<br />
die Frohe Botschaft überbracht;<br />
Mistelzweig und Engelhaar<br />
begleiten uns ins neue Jahr.<br />
44 durchblick 4/<strong>2008</strong>
Fahrbarer Mittagstisch<br />
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Lassen Sie sich<br />
verwöhnen!<br />
Wenn ...<br />
· das Herz stolpert<br />
· die Beine streiken<br />
· der Zucker entgleist<br />
· der Blutdruck schwankt<br />
· die Knochen schmerzen<br />
· das Gedächtnis nachlässt<br />
· das Gewicht zur Last wird<br />
Wir begleiten Sie fachärztlich und hausärztlich,<br />
damit die Richtung wieder stimmt.<br />
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Friedhof: Stätte der Begegnung und der Trauer<br />
Bestattungsformen wandeln sich<br />
Wenn ein Mensch stirbt, so sind dessen Angehörige,<br />
Verwandte und Freunde zunächst sehr betroffen. Das gilt<br />
umso mehr, wenn es sich bei dem Verstorbenen um einen<br />
jungen Menschen handelt. Eine Welt zerbricht und die<br />
nächsten Angehörigen verfügen am wenigsten über einen<br />
klaren Kopf um wichtige Entscheidungen zu treffen. Um<br />
solchen Situationen vorzubeugen, schließen manche Menschen<br />
schon zu Lebzeiten ein individuelles Leistungs- und<br />
Vorsorgepaket ab. Die Hinterbliebenen müssen dann nur<br />
noch das Unternehmen über den Todesfall informieren.<br />
Ein Sache, die ansteht, ist die Frage der Grabstätte.<br />
Friedhöfe als Stätten der letzten Ruhe sind Orte der Trauer<br />
und Stille, aber auch der Hoffnung. Im Friedhofswegweiser<br />
der Stadt Siegen werden sie sogar als Orte des Lebens und<br />
der Begegnung bezeichnet: „Viele Menschen schätzen insbesondere<br />
aufgrund des alten Baumbestandes die Siegener<br />
Friedhöfe als grüne Erholungsräume …“ Es vollziehen sich<br />
Begegnungen zwischen Trauernden und Spaziergängern.<br />
Auch ein Teil der Stadtgeschichte wird auf den Stadtteilfriedhöfen<br />
lebendig.<br />
Der Seniorenbeirat unserer Stadt hat sich im März dieses<br />
Jahres in einer seiner Sitzungen mit dem Thema „Sterbefall<br />
– was ist zu tun?“ beschäftigt. Mitarbeiter der städtischen<br />
Friedhofsverwaltung informierten zu den Siegener Friedhöfen<br />
sowie den Kosten und Gebühren für den Trauer- und Bestattungsfall.<br />
Auch wurde über die neuesten Entwicklungen<br />
informiert. So ist die Zahl der Urnenbeisetzungen erneut<br />
gestiegen und machte im vergangenen Jahr 59 % der Bestattungen<br />
im Siegener Stadtgebiet aus. Auch der demogra-<br />
Gesellschaft<br />
Andachtsplatz in dem Friedhofswald am Hermelsbacher Friedhof<br />
fische Wandel macht sich bemerkbar.<br />
Da die Kinder oft wegziehen, können<br />
sie sich nicht mehr um die Grabpflege<br />
kümmern. Das hat zur Folge, dass die<br />
Nachfrage nach Familiengräbern abnimmt,<br />
dafür aber die Erdbestattung in<br />
Reihengräbern zugenommen hat. Auch<br />
Rasengräber werden immer beliebter,<br />
eine anonyme Bestattung ist nur auf<br />
dem Lindenbergfriedhof möglich.<br />
Eine relativ neue Möglichkeit ist der<br />
Platz unter Bäumen: ein Friedhofswald,<br />
manchmal auch Friedwald genannt. So<br />
gibt es in Siegen seit 2007 diese Bestattungsmöglichkeit<br />
in einem Wald<br />
oberhalb des Hermelsbacher Friedhofs.<br />
Der Friedhofswald liegt in einem alten<br />
Rotbuchenbestand mit einigen Eichen<br />
und Kirschbäumen und stellt von seiner<br />
Lage her eine Oase der Ruhe dar.<br />
Wesentlich für den Friedhofswald ist,<br />
dass er einen pietätvollen Ort der Stille<br />
für Bestattungen anbietet. Im Siegener<br />
Friedhofswald wird ein Andachtsplatz freigehalten, auf<br />
dem ein Holzkreuz als christliches Symbol steht.<br />
Die neuartige Bestattungsform, ursprünglich eine Idee<br />
aus der Schweiz, spricht hierzulande immer mehr Menschen<br />
jeden Alters an. So können sich einer neueren Umfrage<br />
zufolge 57 % der Bevölkerung vorstellen, außerhalb<br />
eines herkömmlichen Friedhofs beigesetzt zu werden. Die<br />
Demoskopen folgern daraus: „Dieses Ergebnis zeigt deutlich,<br />
dass einer der traditionsreichsten Bereiche menschlichen<br />
Lebens hinsichtlich der Rituale und Wertvorstellungen<br />
in starkem Umbruch begriffen ist.“ Ein Kriterium sich<br />
für eine solche Beerdigungsform zu entscheiden ist auch,<br />
dass man ein Grab nicht pflegen kann oder möchte – diese<br />
Aufgabe übernimmt hier die Natur. Auch die Kosten spielen<br />
eine Rolle: Eine Baumbestattung kann deutlich preiswerter<br />
ausfallen als ein klassisches Begräbnis. So spricht eine Befragte<br />
aus, was heute offensichtlich viele denken: „Ich halte<br />
die klassische Grabpflege für wenig zeitgemäß. Und wird<br />
sie nicht häufig weniger im Andenken an einen Verstorbenen<br />
als vielmehr zur Zufriedenheit anderer Grabbesucher<br />
betrieben? Eine Grabstätte im Wald, ruhen am Fuß eines<br />
Baumes, über die Asche wieder in die Natur eintreten – das<br />
gefiel uns viel besser.“<br />
Oft wird gesagt, der Friedhof sei ein Ort für Tote, doch<br />
für die Hinterbliebenen spielt er ebenfalls eine erhebliche<br />
Rolle. Am Grab hat der Trauernde die Möglichkeit seinem<br />
Schmerz durch aufwendige Grabpflege Ausdruck zu verleihen.<br />
Dabei muss er sich jedoch an gewisse Vorschriften<br />
halten, die in den Friedhofssatzungen festgelegt sind. Das<br />
46 durchblick 4/<strong>2008</strong><br />
Foto: Grünflächenamt der Stadt Siegen
Friedhof: Stätte der Begegnung und der Trauer<br />
Bestattungsformen wandeln sich<br />
Wenn ein Mensch stirbt, so sind dessen Angehörige,<br />
Verwandte und Freunde zunächst sehr betroffen. Das gilt<br />
umso mehr, wenn es sich bei dem Verstorbenen um einen<br />
jungen Menschen handelt. Eine Welt zerbricht und die<br />
nächsten Angehörigen verfügen am wenigsten über einen<br />
klaren Kopf um wichtige Entscheidungen zu treffen. Um<br />
solchen Situationen vorzubeugen, schließen manche Menschen<br />
schon zu Lebzeiten ein individuelles Leistungs- und<br />
Vorsorgepaket ab. Die Hinterbliebenen müssen dann nur<br />
noch das Unternehmen über den Todesfall informieren.<br />
Ein Sache, die ansteht, ist die Frage der Grabstätte.<br />
Friedhöfe als Stätten der letzten Ruhe sind Orte der Trauer<br />
und Stille, aber auch der Hoffnung. Im Friedhofswegweiser<br />
der Stadt Siegen werden sie sogar als Orte des Lebens und<br />
der Begegnung bezeichnet: „Viele Menschen schätzen insbesondere<br />
aufgrund des alten Baumbestandes die Siegener<br />
Friedhöfe als grüne Erholungsräume …“ Es vollziehen sich<br />
Begegnungen zwischen Trauernden und Spaziergängern.<br />
Auch ein Teil der Stadtgeschichte wird auf den Stadtteilfriedhöfen<br />
lebendig.<br />
Der Seniorenbeirat unserer Stadt hat sich im März dieses<br />
Jahres in einer seiner Sitzungen mit dem Thema „Sterbefall<br />
– was ist zu tun?“ beschäftigt. Mitarbeiter der städtischen<br />
Friedhofsverwaltung informierten zu den Siegener Friedhöfen<br />
sowie den Kosten und Gebühren für den Trauer- und Bestattungsfall.<br />
Auch wurde über die neuesten Entwicklungen<br />
informiert. So ist die Zahl der Urnenbeisetzungen erneut<br />
gestiegen und machte im vergangenen Jahr 59 % der Bestattungen<br />
im Siegener Stadtgebiet aus. Auch der demogra-<br />
Gesellschaft<br />
Andachtsplatz in dem Friedhofswald am Hermelsbacher Friedhof<br />
fische Wandel macht sich bemerkbar.<br />
Da die Kinder oft wegziehen, können<br />
sie sich nicht mehr um die Grabpflege<br />
kümmern. Das hat zur Folge, dass die<br />
Nachfrage nach Familiengräbern abnimmt,<br />
dafür aber die Erdbestattung in<br />
Reihengräbern zugenommen hat. Auch<br />
Rasengräber werden immer beliebter,<br />
eine anonyme Bestattung ist nur auf<br />
dem Lindenbergfriedhof möglich.<br />
Eine relativ neue Möglichkeit ist der<br />
Platz unter Bäumen: ein Friedhofswald,<br />
manchmal auch Friedwald genannt. So<br />
gibt es in Siegen seit 2007 diese Bestattungsmöglichkeit<br />
in einem Wald<br />
oberhalb des Hermelsbacher Friedhofs.<br />
Der Friedhofswald liegt in einem alten<br />
Rotbuchenbestand mit einigen Eichen<br />
und Kirschbäumen und stellt von seiner<br />
Lage her eine Oase der Ruhe dar.<br />
Wesentlich für den Friedhofswald ist,<br />
dass er einen pietätvollen Ort der Stille<br />
für Bestattungen anbietet. Im Siegener<br />
Friedhofswald wird ein Andachtsplatz freigehalten, auf<br />
dem ein Holzkreuz als christliches Symbol steht.<br />
Die neuartige Bestattungsform, ursprünglich eine Idee<br />
aus der Schweiz, spricht hierzulande immer mehr Menschen<br />
jeden Alters an. So können sich einer neueren Umfrage<br />
zufolge 57 % der Bevölkerung vorstellen, außerhalb<br />
eines herkömmlichen Friedhofs beigesetzt zu werden. Die<br />
Demoskopen folgern daraus: „Dieses Ergebnis zeigt deutlich,<br />
dass einer der traditionsreichsten Bereiche menschlichen<br />
Lebens hinsichtlich der Rituale und Wertvorstellungen<br />
in starkem Umbruch begriffen ist.“ Ein Kriterium sich<br />
für eine solche Beerdigungsform zu entscheiden ist auch,<br />
dass man ein Grab nicht pflegen kann oder möchte – diese<br />
Aufgabe übernimmt hier die Natur. Auch die Kosten spielen<br />
eine Rolle: Eine Baumbestattung kann deutlich preiswerter<br />
ausfallen als ein klassisches Begräbnis. So spricht eine Befragte<br />
aus, was heute offensichtlich viele denken: „Ich halte<br />
die klassische Grabpflege für wenig zeitgemäß. Und wird<br />
sie nicht häufig weniger im Andenken an einen Verstorbenen<br />
als vielmehr zur Zufriedenheit anderer Grabbesucher<br />
betrieben? Eine Grabstätte im Wald, ruhen am Fuß eines<br />
Baumes, über die Asche wieder in die Natur eintreten – das<br />
gefiel uns viel besser.“<br />
Oft wird gesagt, der Friedhof sei ein Ort für Tote, doch<br />
für die Hinterbliebenen spielt er ebenfalls eine erhebliche<br />
Rolle. Am Grab hat der Trauernde die Möglichkeit seinem<br />
Schmerz durch aufwendige Grabpflege Ausdruck zu verleihen.<br />
Dabei muss er sich jedoch an gewisse Vorschriften<br />
halten, die in den Friedhofssatzungen festgelegt sind. Das<br />
46 durchblick 4/<strong>2008</strong><br />
Foto: Grünflächenamt der Stadt Siegen
Gesellschaft<br />
Recht der Toten auf Ruhe und die Trauer der Angehörigen<br />
stehen dabei im Mittelpunkt. Pressemitteilungen konnte<br />
man entnehmen, dass es über die Gestaltung, besonders die<br />
Anfertigung des Grabsteines, in letzter Zeit immer mal wieder<br />
Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen und den<br />
Friedhofsverwaltungen verschiedener Städte gab. So fordert<br />
Verbraucherinitiative Bestattungskultur Aeternitas die<br />
Friedhofsverwaltungen auf in ihren Satzungen Freiräume<br />
für farbenfrohe und formenreiche Grabmale einzuräumen.<br />
Jeder Mensch habe – im Rahmen der Pietät – Anspruch auf<br />
ein persönliches Grabmal. „Das Grabmal ist zentraler Bestandteil<br />
der Erinnerung an den Verstorbenen. In der Gestaltung<br />
sollte sich die Persönlichkeit widerspiegeln“, fordert<br />
Hermann Weber, der Vorsitzende der Initiative.<br />
Für die Trauerbewältigung und die Erinnerung an den<br />
verstorbenen Angehörigen mag es eher hilfreich sein, wenn<br />
man eine „Stätte des Tuns“ hat. Denn die Hinterbliebenen<br />
suchen in den Aufgaben rund um die Grabstätte auch Trost.<br />
So behauptet Günter Czasny, Autor der Broschüre „Erfolgreiche<br />
Friedhöfe …, die guttun“ – der kürzlich auch in der<br />
Siegerlandhalle zu diesem Thema gesprochen hat – dass<br />
Friedhöfe „eine nicht zu unterschätzende therapeutische<br />
Wirkung“ hätten.<br />
Mein persönliches Schlusswort: Bei der Beschäftigung<br />
mit diesem Thema hatte ich sehr ambivalente Gefühle. Auf<br />
der einen Seite ist es notwendig, dass man sich dem Thema<br />
Sterben und Bestattung stellt. Andererseits möchte man<br />
diese Gedanken selbst in meinem Alter (68) lieber wegschieben.<br />
Ich denke, dass es guttut, wenn man eine Stätte<br />
der Begegnung und der Trauer auf einem Friedhof hat. Ein<br />
bisschen fühlt man sich auch bei der Grabpflege dem Verstorbenen<br />
nahe und tut ihm einen letzten Liebesdienst.<br />
Horst Mahle<br />
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durchblick 4/<strong>2008</strong> 47
Reisen<br />
Eindrücke meiner Reise nach St. Petersburg<br />
Katharinen-Palast<br />
Eigentlich hatte ich diese Reise nicht eingeplant, aber es<br />
war ein Schnäppchen für mich, da ein Verwandter meinerseits,<br />
Herr Gerhard Weber, die Reiseleitung hatte. Ich wurde<br />
nicht enttäuscht; die Reise lief unter dem Motto „Kultur<br />
und Kontakte“. Unserer Reisegruppe, bestehend aus 12<br />
aufgeschlossenen Personen, wurden nicht nur Prunk- und<br />
Prachtpaläste und -kirchen der Stadt gezeigt, sondern wir<br />
hatten auch Einblicke in die Familien, deren Leben und<br />
Mentalität.<br />
St. Petersburg, ehemals „Leningrad“, ist seit 50 Jahren<br />
Partnerstadt der Stadt Hamburg. Die ersten Kontakte zwischen<br />
den beiden Städten entstanden 1954 durch Jugendaustausche<br />
seitens des CVJM (Christlicher Verein Junger<br />
Menschen). Ende der Sowjetunion durften private Kontakte<br />
entstehen, die dann auch durch Versendung von Paketen<br />
der Hamburger in Leningrader Familien immer mehr gefestigt<br />
wurden. Nach Umbenennung der Stadt „Leningrad“ in<br />
„St. Petersburg“ wurde diese ganze Aktion „Paketbrücke“<br />
und später auch „Briefbrücke“ genannt. Es entstanden viele<br />
private Freundschaften mit tiefen menschlichen Verbindungen.<br />
Wer einmal einen Russen zum Freund gewonnen<br />
hat, verliert ihn nicht wieder. Der Russe ist warmherzig,<br />
gastfreundlich, hilfsbereit und tief gläubig. Er gibt alles,<br />
wenn er dich als Freund gewonnen hat.<br />
Das konnten wir auf dieser Reise erfahren, da wir an<br />
einem Abend in unterschiedlichen Gastfamilien zum Essen<br />
eingeladen waren. Nach westlichem Standard sind die<br />
Wohnungen ärmlich ausgestattet. Der Tisch war reichlich<br />
gedeckt mit allem, was die Gastgeber erübrigen konnten.<br />
Dazu gehörte natürlich auch das Nationalgetränk, der „Wodka“.<br />
Dieser durfte nur getrunken werden, wenn einer der<br />
Anwesenden einen sogenannten „Toast“ gesprochen hatte;<br />
das heißt, man bedankte sich zum Beispiel für die Einladung,<br />
freute sich über die wiedergewonnene Freundschaft<br />
der beiden Nationalitäten, verabscheute Kriege zwischen<br />
den Ländern, die ja nur durch Politik hervorgerufen werden,<br />
man wünschte sich<br />
weiterhin Gesundheit<br />
und will die Freundschaft<br />
pflegen.<br />
Das Einkommen<br />
der Stadtbewohner ist<br />
sehr gering, obwohl<br />
die Preise für Lebensmittel<br />
und Obst in den<br />
Supermärkten teilweise<br />
höher liegen als bei<br />
uns. Eine Ärztin, so<br />
konnten wir erfahren,<br />
verdient 400 €.<br />
Die Menschen sind<br />
erstaunlich gut gekleidet,<br />
besonders die jungen<br />
Russinnen sind nicht nur hübsch, sondern auch gut „gestylt“.<br />
Gerne färben sie ihre Haare blond. Die alten Frauen<br />
dagegen tragen Kopftücher und einfache Stoffmäntel. In<br />
Russland treffen wir die ganz Reichen (Oligarchen), die<br />
Armen, aber keine gesunde Mittelschicht an. Die Rentner<br />
sind hier die Verlierer.<br />
Unter anderem besuchten wir die evangelisch-lutherische<br />
St.-Petri-Kirche, die während der Sowjetregierung<br />
zu einer „Schwimmhalle“ umgebaut wurde, jetzt aber wieder<br />
seiner eigentlichen Bedeutung dient. Der Boden der<br />
Kirche wurde seinerzeit tiefer gelegt, um die Tiefe für ein<br />
Schwimmbecken zu bekommen. An den Seiten brachte<br />
man Sitzränge an, die heute noch erhalten sind und jetzt<br />
als Sitzplätze für die Kirchenbesucher dienen. In den Katakomben<br />
dieser Kirche konnte man den tiefer gelegten<br />
Boden erkennen. Er wird jetzt durch Stahlgerüste zusammengehalten,<br />
damit die Kirche stabil bleibt. Ein russischer<br />
Künstler hat das Leben unter der sowjetischen Regierung<br />
an den Mauern in Bildern festgehalten. Die Kirchen wurden<br />
enteignet, Menschen nachts aus den Wohnungen geholt,<br />
verhaftet, verschleppt, – oft nach Sibirien – Kinder verloren<br />
die Eltern. Frauen, die meistens zurückblieben, beteten aber<br />
weiter in den Kellern und nahmen auch das Abendmahl.<br />
Die Kirche lebt ausschließlich von Spenden.<br />
Weiterhin konnten wir erfahren, dass auch heute noch<br />
sogenannte „Kommunalwohnungen“ existieren. Bis zu<br />
zehn Familien wird eine große Wohnung zugeteilt – eine<br />
gemeinsame Küche – ein gemeinsames Bad und ein privates<br />
Zimmer für jede Familie. Da staunt man nur! Diese<br />
Wohnungen sind oft in den großen, alten Häusern eingerichtet,<br />
die von außen vom Staat einigermaßen gepflegt<br />
werden. Durch eine Tür gelangt man in einen Hinterhof<br />
und von dort erreicht man dann ein altes Treppenhaus. Das<br />
Wasser der Dachrinnen wird durch dicke Rohre auf den<br />
Bürgersteig geleitet. Die Frostgrenze fällt nicht selten auf<br />
20 Grad unter Null und tiefer. Mit Salz und Sand rückt man<br />
Foto: Norbert Schulz<br />
48 durchblick 4/<strong>2008</strong>
Reisen<br />
dann dem Glatteis zu Leibe. Es fiel mir und auch anderen<br />
meiner Gruppe auf, dass bei den Prachtbauten diese dicken<br />
Rohre in den Erdboden geleitet werden.<br />
Seit dem Niedergang der Sowjetunion erlebt die russisch-orthodoxe<br />
Kirche eine Renaissance. Heute hat sie<br />
wieder 100 Mill. Mitglieder. Der Religionsunterricht in<br />
russischen Schulen ist seit 2006 wieder eingeführt.<br />
Sehr beeindruckt hat mich der Besuch einiger russischorthodoxen<br />
Kirchen. Ich erwähnte schon die tiefe Gläubigkeit<br />
der alten aber auch jungen Menschen. Sie beten<br />
versunken vor den Ikonen und Bildern der Heiligen, küssen<br />
diese mehrmals, verneigen sich ehrfurchtsvoll bis zum<br />
Boden und zünden Kerzen an im Gedenken an verstorbene<br />
oder auch noch lebende Menschen. Die Liturgie wird singend<br />
zelebriert. Ich lernte selbst einen Priester und seine<br />
Familie kennen. Dieser erzählte mir, dass der Priester nach<br />
der Qualität seiner Stimme ausgesucht wird. Der Refrain<br />
wird dagegen von Laien, auch mit besten Stimmvoraussetzungen,<br />
gesungen, die sich aber mehr im Hintergrund des<br />
Hochaltars aufhalten.<br />
Durch die privaten Kontakte des Herrn Weber hatten wir<br />
auch die Gelegenheit, ein Künstlerhaus zu besuchen und<br />
bekamen dort Einblicke in das Atelier eines Malers. Der<br />
Künstler selbst zeigte uns viele seiner Bilder beim hausgemachten<br />
Buffet.<br />
Jetzt noch ein paar Eindrücke über die Stadt als Prachtstadt<br />
mit ihren einzigartigen Kirchen, Schlössern und Palästen. Im<br />
Jahre 2003 feierte St. Petersburg den 300. Jahrestag seiner<br />
Gründung. Im Mündungsbereich der Newa wollte „Peter der<br />
Große“ eine Verbindung zum Westen schaffen. Doch schon<br />
sehr schnell merkte er, dass der Boden schwammig und aus<br />
Sumpf und Wäldern bestand und von vielen Kanälen durchzogen<br />
wird; daher auch der Name „Venedig des Nordens“.<br />
Die Architekten kamen aus Italien. Als Erstes entstand die<br />
„Peter-Paul-Festung“ und die Kathedrale mit der goldenen<br />
Spitze, die zum Wahrzeichen der Stadt wurde. Hier konnten<br />
wir auch die Zarengräber besichtigen. Peter der Große ließ<br />
vornehmlich zweckdienliche Gebäude errichten. Erst unter<br />
seiner Tochter Elisabeth, aus zweiter Ehe mit Katharina, einer<br />
deutschen Prinzessin, flossen Mittel in den Bau von Kirchen,<br />
Schlössern und Palästen. Am beeindruckendsten ist der<br />
„Katharinen-Palast“, ca. 30 km südlich von St. Petersburg.<br />
Es ist ein überaus prunkvoller Barockpalast in Blau, Weiß<br />
und Gold, der im Zweiten Weltkrieg vollkommen zerstört und<br />
akribisch wieder aufgebaut wurde. Im Inneren besticht der<br />
Palast durch großzügige Räume mit Spiegeln und Goldverzierungen.<br />
Irgendwann, ganz plötzlich, steht man dann im<br />
legendären, rekonstruierten „Bernsteinzimmer“. Mich hat<br />
es fast erdrückt durch seine Farbenvielfalt und die unendlich<br />
zahlreichen Bernsteine.<br />
Über die Jordanstreppe schritten einst die Zaren und heute<br />
die Touristen in die Eremitage. Die Prunkgemächer der Zaren<br />
sind überwältigend. „ Katharina die Große“ gründete einst die<br />
Kunstsammlung. Von den heute fast 2,7 Mill. Ausstellungsstücken<br />
werden Meisterwerke von Leonardo, Raffael, Tizian,<br />
Foto: Norbert Schulz<br />
Isaak-Kathedrale<br />
Michelangelo, Rubens (ein ganzes Zimmer), französischen<br />
und Malern aus aller Welt gezeigt. Den Höhepunkt bildet der<br />
Matisse-Raum. Er beherbergt die größte Matisse-Sammlung<br />
der Welt. Man kommt aus dem Staunen nicht heraus.<br />
Fazit dieser Reise: Sie hat alle Teilnehmer der Gruppe<br />
sehr begeistert und auch zum Nachdenken angeregt – müssen<br />
die Kluften zwischen „Arm und Reich“ so tief sein?<br />
Normale Reisegruppen sehen nur Pracht und Herrlichkeiten<br />
dieser Stadt und sind sehr beeindruckt von ihrer Schönheit,<br />
die der Staat mit großzügigen finanziellen Mitteln erhält. –<br />
jedoch: „Wie’s drinnen aussieht, geht keinen was an.“<br />
Helga Siebel-Achenbach<br />
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durchblick 4/<strong>2008</strong> 49
Gesellschaft<br />
Wenn 351 Euro zum Leben reichen müssen ...<br />
Armut ist in unserem Land wieder zum Thema geworden.<br />
Altersarmut ist bereits ein soziales Problem.<br />
Die Senkung des Rentenniveaus, die Zuzahlungen für<br />
die Gesundheitsleistungen und letztlich die Regelsätze<br />
der „Hartz-IV-Gesetzgebung“ im Amt für Grundsicherung<br />
(früher Sozialamt) haben auch in Siegen ältere Menschen<br />
materiell und psychisch in Not gebracht. In den vergangenen<br />
Monaten haben Kirche und Diakonie, Einrichtungen wie<br />
„ALTERAktiv“ und der „Seniorenbeirat“ einen Stadtrundgang<br />
„Auf den Spuren der Armut“ unternommen.<br />
Erich Kerkhoff, Vorsitzender des Vereins „ALTER-<br />
Aktiv“, verwies dabei auf den gravierenden Unterschied<br />
zwischen den Opfern der Altersarmut und den Menschen,<br />
die im Alter nicht davon betroffen sind. Dem Rückzug in<br />
Passivität und Vereinsamung, mit Folgen psychischer und<br />
gesundheitlicher Beeinträchtigung, steht die lebendige<br />
Teilnahme am öffentlichen Leben, Mut zum Neubeginn<br />
im „dritten Lebensalter“, gegenüber. Da gibt es ein breites<br />
Spektrum von Angeboten, zum Beispiel im Mehrgenerationenzentrum<br />
Martini in der St.-Johann-Straße, mit vielseitigem<br />
Programm von „ALTERAktiv“. Praktische Hilfen<br />
durch die Diakonie mit dem Kleiderladen stehen allen<br />
Seniorinnen und Senioren offen. Aber auch hier sind es<br />
die verschämten Armen, die sich aus Scheu nicht aus der<br />
Anonymität wagen und die letzte sich bietende Hilfe, den<br />
Antrag auf Grundsicherung, aus Unkenntnis, Hilflosigkeit,<br />
Scham und Resignation nicht in Anspruch nehmen. Verschämte<br />
Arme wurden auf den „Spuren der Armut“ – wie<br />
der Name bereits verrät – nicht aufgespürt.<br />
Wir werden immer älter: „Unser Leben währet 70 Jahre,<br />
wenn es hoch kommt währet es 80, und wenn es köstlich<br />
gewesen ist, dann ist es Mühe und Arbeit gewesen.“<br />
Ein Bibelwort, das durch die Jahrhunderte seine Gültigkeit<br />
behalten hat, könnte durch den demografischen Wandel<br />
in unserer Zeit anders betrachtet werden, zum Beispiel so:<br />
„Wenn es hoch kommt, währet es 90 oder 100 Jahre –<br />
und wenn es köstlich gewesen ist, dann war es nicht von<br />
der Hartz-IV-Gesetzgebung betroffen.“<br />
Unser Ex-Bundespräsident Rudolf Herzog unkte im<br />
Frühjahr in den Medien: „Ich fürchte, wir sehen die Vorboten<br />
einer Rentnerdemokratie, in der am Ende die Älteren<br />
die Jüngeren ausplündern.“<br />
Ein erstaunlicher Satz, vor allem bei dem Gedanken an<br />
Rentner, die Arbeitslosengeld II oder gebräuchliches Hartz<br />
IV erhalten.<br />
Der „durchblick“ sprach mit Horst Fischer, Leiter des<br />
Fachbereichs Soziales, Familien, Jugend, Wohnen. Er ist<br />
zugleich auch der Demografiebeauftragte der Stadt Siegen<br />
und kann zukunftsweisende Einblicke in die Entwicklung<br />
der Altersstruktur der Siegener Bevölkerung geben. Fischer<br />
dazu: „In weniger als 20 Jahren werden mehr als 50 % der<br />
Siegener Einwohnerschaft älter als 60 Jahre sein. In Siegen<br />
gibt es schon jetzt 4.000 Häuser, in denen der jüngste Be-<br />
Demnächst: „Tafel auf Räder?“<br />
Praktische Soforthilfe gegen Hunger kann nicht<br />
amtlich geregelt werden. Es gibt keine Behörde, die Essenskörbe<br />
verteilt oder Tische und Tafeln deckt, aber es<br />
gibt bundesweit 800 Tafeln, Einrichtungen gegen den<br />
Hunger. In Siegen füllen ehrenamtliche Helfer seit zehn<br />
Jahren Körbe, Taschen und andere Behälter von Menschen,<br />
die Hilfe brauchen mit Lebensmitteln. Etwa 4000<br />
Gäste kommen wöchentlich Dienstag und Donnerstag<br />
zum Fabrikgebäude am Hammerwerk 1 in Weidenau.<br />
Die Schlange vor der Ausgabestelle wird immer länger.<br />
Aber es gibt auch Bedürftige, die nicht in der Lage sind<br />
zu kommen um die Hilfe dieser segensreichen Einrichtung<br />
in Anspruch zu nehmen. Es sind Gehbehinderte,<br />
Rollstuhlfahrer, oder aus anderen Gründen ans Haus<br />
Gefesselte, darunter viele von Altersarmut Betroffene,<br />
die die Hilfe dieser Einrichtung nicht in Anspruch nehmen<br />
können. Der Vorstand der Tafel sucht nun gemeinsam<br />
mit „ALTERAktiv und dem Sozialamt motorisierte<br />
„Tafelfreunde“, die bereit wären den Paketboten zu spielen<br />
so dass auch hier geholfen werden kann. Im nächsten<br />
durchblick mehr dazu.<br />
An den immer länger werdenden Warteschlangen vor den Aus<br />
50 durchblick 4/<strong>2008</strong>
Gesellschaft<br />
wohner 75 Jahre oder älter ist, und die Zahl der über 80-Jährigen<br />
steigt beständig. Im Jahre 2020 wird voraussichtlich<br />
jeder 14. Siegener Bürger 80 Jahre oder älter sein, sodass<br />
sich die Zahl der Hochbetagten in einem kurzen Zeitraum<br />
verdreifacht.“<br />
Befragt zu der problematischen Situation vieler Empfänger<br />
von Arbeitslosengeld II fasste Fischer zunächst<br />
Grundsätzliches zur Gesetzgebung zusammen:<br />
In der Nachfolgestruktur des ehemaligen Sozialamtes,<br />
nunmehr u. a. als Abteilung für Grundsicherung im Alter,<br />
läuft ein Teil des Maßnahmenbündels aus dem sogenannten<br />
Hartz-IV-Paket zusammen.<br />
Zum 30.9.<strong>2008</strong> erhielten 926 Siegener Bürgerinnen und<br />
Bürger laufende Hilfe als sogenannte Grundsicherung im<br />
Alter bzw. wegen vorhandener Erwerbsminderung. Diese<br />
Hilfe können Rentner bekommen oder Erwachsene, die<br />
dauerhaft nicht voll arbeitsfähig sind. Dies ist eine Steigerung<br />
um 14 % gegenüber dem 1.1.2006. Daraus folgert<br />
der Fachbereichsleiter: „Schon dabei wird sichtbar, dass<br />
der Anteil der älteren Menschen, die jetzt und zukünftig<br />
auf Sozialhilfe angewiesen sind, steigen wird. Aufgrund der<br />
persönlichen Biografien eines jeden Einzelnen und der Entwicklung<br />
des Rentenrechtes – Stichwort: Rente mit 67 oder<br />
Rentenabschlag von bis zu 18 % bei vorzeitiger Inanspruchnahme<br />
– wird deutlich, dass insbesondere Frauen von der<br />
Altersarmut betroffen sind. Sparen fürs Alter, Rürup-Riester-Vorsorgeplanung,<br />
ist für viele nicht möglich gewesen<br />
und wird auch künftig nicht möglich sein, weil dazu einfach<br />
das vorhandene Einkommen nicht ausreichend ist.“<br />
Die Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe und der<br />
Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz<br />
war und ist – so Fischer – ein richtiger Ansatz gewesen.<br />
Insbesondere das Prinzip des Förderns und Forderns<br />
als Kernstück der Hartz-IV-Gesetzgebung ist unbestritten.<br />
Dann aber Kritik: „Eine Abfederung, gerade den Menschen<br />
gegenüber, die ihre Arbeit verloren haben und keine neue<br />
Arbeit finden können, ist aber mehr als reformbedürftig.<br />
Denn am Ende steht sehr oft, und damit unverschuldet. die<br />
Festlegung, von 351,00 € im Monat leben zu müssen. Hier<br />
kann man Arbeitsminister Laumann nur beipflichten, dass<br />
nach einem arbeitsreichen Leben niemand zum Bittsteller<br />
bei Vater Staat werden darf.“<br />
Zur Erläuterung der veränderten<br />
„Hilfe zum Lebensunterhalt“:<br />
Der notwendige Lebensunterhalt umfasst insbesondere<br />
Ernährung, Unterkunft, Kleidung, Körperpflege und Hausrat<br />
sowie persönliche Dinge des täglichen Lebens. Die dazu<br />
benötigten Mittel werden zum Teil durch pauschalierte<br />
Beiträge und zum Teil in tatsächlicher Höhe zur Verfügung<br />
gestellt. Danach erhält ein Alleinstehender einen Regelsatz<br />
von 351,00 €, zuzüglich der angemessenen Unterkunfts- und<br />
Heizungskosten und gegebenenfalls einem Mehrbedarfszuschlag<br />
wegen Behinderung. Davon ausgehend kann man<br />
hier als Durchschnittswert von einem Betrag von knapp<br />
900,00 € ausgehen. Demgegenüber ist eigenes Einkommen<br />
bzw. unter Umständen Vermögen zu berücksichtigen, so<br />
dass sich daraus dann der tatsächliche monatliche Hilfebetrag<br />
ergibt. So ist z. B. der aktuelle Anteil eines <br />
gabeschaltern der Siegener Tafel wird die Armut auch in Siegen sichtbarer.<br />
Foto: Dieter Gerst, bearbeitet: durchblick-Photoshop-Club<br />
durchblick 4/<strong>2008</strong> 51
Gesellschaft<br />
Foto: Gottfried Klör<br />
Leiter des Fachbereichs Soziales, Horst Fischer, im Gespräch<br />
mit unserer Redakteurin Maria Anspach<br />
Regelsatzes – bezogen auf Nahrungsmittel und Getränke<br />
– mit etwa 130,00 € pro Monat definiert. Horst Fischer hat<br />
da einen Vorschlag gemacht, den der durchblick gerne aufgegriffen<br />
hat (siehe Kasten): „Hierzu kann man nur jedem<br />
einmal empfehlen, in Form eines Selbstversuches zu klären,<br />
ob er tatsächlich seine Bedürfnisse nach Nahrung und<br />
Getränken mit täglich etwas mehr als 4,00 € sicherstellen<br />
kann.“<br />
In Zusammenhang mit der Situation der alten Menschen<br />
an der Armutsgrenze wird immer wieder die Frage nach<br />
der Unterhaltsverpflichtung der Kinder thematisiert. Dazu<br />
Horst Fischer: „Bei der Gewährung dieser Leistungen geht<br />
der Gesetzgeber von der Vermutung aus, dass das Einkommen<br />
der Unterhaltspflichtigen einen Betrag von 100.000 €<br />
jährlich nicht überschreitet. Erst dann würde es zu einer<br />
Heranziehung von Kindern führen.“<br />
In der Praxis gäbe es aber nach wie vor die Bewertung<br />
von „verschämten Armen“, die, obwohl sie ein Recht auf<br />
Sozialleistungen hätten, dieses aus Scham oder fehlender<br />
Kenntnis nicht in Anspruch nähmen. Die Aussage von älteren<br />
Menschen: „Ich will nicht zum Sozialamt gehen“,<br />
sei auch heute noch ein Satz, den die Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter der Sozialverwaltung oft hören. Manche<br />
heizen wieder nur den Wohnraum oder das Bad, weil sie<br />
ansonsten die Energiekosten nicht aufbringen können. Diese<br />
Menschen zu erfassen, die Bürgerinnen und Bürger zu<br />
beraten und ihnen zu helfen, einen Antrag auf Sozialhilfe<br />
zu stellen, sei auch heute noch – so Fischer – eine Aufgabe<br />
der Sozialverwaltung.<br />
Aber diese Behörde kennt auch die andere Seite, nämlich:<br />
Dass Hilfen beantragt werden, obwohl es darauf keinen<br />
Anspruch gibt, weil eben das vorhandene Einkommen<br />
oder Vermögen ausreichend ist, um den Lebensunterhalt<br />
selbst sicherzustellen.<br />
Insofern gehen immer mehr Sozialverwaltungen dazu<br />
über, den Anspruch auf Sozialleistungen durch entsprechende<br />
Überprüfungen vor Ort zu kontrollieren, um darum<br />
einem Missbrauch von Leistungen und somit<br />
dem Einsatz von Steuergeldern wirkungsvoll zu<br />
begegnen.<br />
Fischer zieht Bilanz: „Grundlage einer Sozialgesetzgebung<br />
muss es daher sein, den Zugang<br />
zu Sozialleistungen denen zu sichern, die Hilfe<br />
benötigen und somit auch verschämte Armut<br />
zu erfassen, zum anderen wirkungsvolle Mittel<br />
zu entwickeln, dass ein Missbrauch verhindert<br />
wird.“ Alte Menschen, die sich in ihrer Situation<br />
verstecken, bestehen nicht auf ihrem Anspruch<br />
und stellen auch keine Fragen. Wir müssen, so<br />
Fischer, auf sie zugehen. Dass passiert in hervorragender<br />
Weise schon jetzt durch den Seniorenbeirat<br />
und künftig durch die Senioren-Service-<br />
Stellen, die zurzeit für die Stadt Siegen aufgebaut<br />
werden Insoweit kann man dem NRW-Sozialminister<br />
Laumann nur beipflichten, dass nach einem<br />
arbeitsreichen Leben niemand mehr zum Bittsteller bei<br />
Vater Staat werden darf.<br />
Statistische Angaben:<br />
926 Siegenerinnen und Siegener erhalten gegenwärtig<br />
laufende Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung.<br />
Die Zahl hat sich seit 2006 mit 817 Empfängern regelmäßig<br />
erhöht. Die Höhe der gewährten laufenden Leistung<br />
betrug 2006 insgesamt weit mehr als 4,2 Millionen Euro.<br />
2007 erhöhte sich die Summe auf fast 5,3 Millionen Euro.<br />
Mit den Regelsätzen ist der gesamte notwendige Bedarf,<br />
ausgenommen Unterkunft, Heizkosten und eventueller<br />
Sonderbedarf im Einzelfall, abgegolten.<br />
Zur Verdeutlichung hier eine Auflistung der errechneten<br />
monatlichen Beträge des gesetzlichen Regelsatzes nach<br />
Vorgaben von 2006 (in Euro):<br />
Nahrungsmittel, Tabakwaren, Getränke: 130,25<br />
Kleidung und Schuhe: 32,70<br />
Wohnen: 26,76<br />
Einrichtungs-Haushaltgegenstände usw.: 26,15<br />
Gesundheitspflege: 12,25<br />
Post / Telefon / Internet: 27,67<br />
Freizeit / Unterhaltung / Kultur: 32,89<br />
Bildung: 0,00<br />
Bewirtung und Übernachtung: 10,36<br />
Verkehr: 26,07<br />
Andere Waren und Dienstleistungen: 24,65<br />
Gesamt: 349,76<br />
52 durchblick 4/<strong>2008</strong>
Gesellschaft<br />
Alle Hartz-IV-Empfänger, die nur auf diese<br />
Leistung angewiesen sind, auch diejenigen,<br />
die versuchen, das Beste aus ihrer Situation zu<br />
machen, kommen da in Bedrängnis. Der Regelsatz<br />
spricht für sich:<br />
Nur einmal zur Probe: Ich packe in meinen<br />
Warenkorb für einen Tag und für einen Monat:<br />
2 Margarinebrötchen 50 Cent<br />
2 Teebeutel aus Monatspackung 15 Cent<br />
1<br />
/3 Päckchen Quark 15 Cent<br />
1 Scheibe Wurst oder Käse 20 Cent<br />
Für das tägliche Frühstück also: 1 Euro<br />
macht im Monat 30 €<br />
Für den Mittagshunger leiste ich mir monatlich<br />
20-mal etwas für 2 Euro, also<br />
Da ist zum Beispiel manchmal<br />
eine ganze Bockwurst mit Beilage<br />
im Angebot. Das gönne ich mir<br />
nicht alle Tage. Zehn Tage müssen<br />
mittags noch überbrückt werden,<br />
zum Beispiel mit einer kleinen Portion<br />
Pommes oder Pellkartoffeln mit<br />
Quark (der Rest vom Frühstück). Für<br />
die Überbrückung also noch einmal<br />
1 Euro am Tag, somit weitere<br />
Für das Abendessen komme ich<br />
mit zwei Wurstbroten hin. Dauerwurst<br />
am Stück reicht für einen<br />
Monat. Dazu vielleicht alle 14 Tage<br />
ein halbes Hähnchen. Insgesamt<br />
müssten für 20 Abendessen je 1,50<br />
Euro genügen, macht:<br />
10 Tage werden wieder ausgespart,<br />
man muss ja nicht übertreiben.<br />
Nun fehlen noch die Getränke.<br />
Für zwei Kästen Mineralwasser müsste<br />
es reichen. Es genügt aber vielleicht<br />
auch ein Kasten. Aber lassen wir mal<br />
zwei Kästen, der Gesundheit wegen,<br />
alte Menschen sollen ja besonders viel<br />
trinken. (Zur Not täte es ja auch unser<br />
Kranwasser, das ist ja auch gesund).<br />
Das reicht bei dem Regelsatz von<br />
130,25 Euro. Nun habe ich noch<br />
10 Euro und 25 Cent<br />
zur freien Verfügung. Und die werde<br />
ich sinnlos verprassen oder ganz<br />
viel Obst essen oder besser: Ich lege<br />
sie für den nächsten Monat zurück!<br />
Ich komme schon irgendwie<br />
durch die Tage.<br />
40 €<br />
10 €<br />
30 €<br />
10 €<br />
macht:<br />
120 €<br />
Aber die Ernährung ist ja schließlich<br />
nicht alles, wenn das Leben sonst erfreulich<br />
ist: Ein Blick auf den Regelsatz: Da hole ich<br />
nur mal vier Beispiele aus dem Angebot:<br />
Für Freizeit, Unterhaltung und Kultur<br />
sind 32,89 Euro angesetzt. Damit lässt<br />
sich schon etwas unternehmen. Zum Beispiel<br />
eine Wochenendfahrt nach Köln zur<br />
Tochter. Das kostet 20 € Fahrgeld. Aber<br />
dann ist fast alles weg. Da bleiben 8 € für<br />
eine Kinokarte oder einmal Ausgehen mit<br />
Freunden. Vielleicht reicht es noch für drei<br />
oder vier Tageszeitungen. Für Bildung sind<br />
allerdings nur drei Nullen vermerkt. Macht<br />
nichts, für Vorträge und ähnliche Veranstaltungen<br />
ist eh kein Geld übrig. Aber für<br />
10,36 € kann ich zwei Gäste einladen, mit<br />
Bewirtung und Übernachtung. Das langt<br />
für zwei Frankfurter Würstchen mit Kartoffelsalat,<br />
dazu ein Bier und morgens ein<br />
Frühstücksbrötchen. Knapp wird es bei<br />
Gesundheits- und Körperpflege, die mit<br />
12,25 € vermerkt ist. Da bekomme ich zwei<br />
Stück Seife, Zahnpasta, eine Dose Nivea,<br />
Verbandzeug, Tabletten. Einen Sonderposten<br />
für Medikamente, die jeweils auch auf<br />
Rezept oft sehr teuer sind, gibt es nicht.<br />
Also muss ich möglichst gesund bleiben.<br />
Für Post, Telefon, Internet darf ich 27,67 €<br />
ausgeben. Damit ist immerhin auch die<br />
Grundgebühr vom Telefon bezahlt, vielleicht<br />
noch drei Ortsgespräche und Briefmarken<br />
für zwei Briefe und ein Päckchen,<br />
wobei ich gar nicht weiß, was ich ohne<br />
Geld auszugeben, da hineinpacken soll!<br />
Von den rund zehn verbleibenden Euro<br />
könnte ich nicht mal die Druckpatrone für<br />
den Computer kaufen, also kein Computer,<br />
kein Internet. Soweit die vier Beispiele.<br />
Ähnlich wird es nun auch mit den<br />
Restposten (Kleidung und Schuhe 32,70<br />
€, Wohnen 26,76 €, Einrichtungs-Haushaltgegenstände<br />
usw. 26,15 €, Verkehr<br />
26,07 €, andere Waren und Dienstleistungen<br />
24,65 €, also: 136,33 €). Mit den<br />
übrigen, hier bereits aufgeführten Beträgen<br />
(für Nahrung, Kleidung usw.) komme<br />
ich auf einen Endbetrag von ca. 350 Euro,<br />
der dem Regelsatz entspricht.<br />
Ich tröste mich: In der Sahel-Zone<br />
könnte ich mit dieser Summe ein königliches<br />
Leben führen, wenn ... mir das Geld<br />
dorthin überwiesen würde.<br />
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54 durchblick 4/<strong>2008</strong>
Als ich von Siegen fortging, war alles noch weihnachtlich<br />
geschmückt, und als ich in London ankam, empfing<br />
mich dort auch noch die gleiche Pracht, obwohl das Fest<br />
schon vorbei war und der Jahreswechsel kurz bevorstand.<br />
Ein besonderer Jahreswechsel, das Millennium! Ich war<br />
wieder mal Gast bei meiner Freundin, die mich auch am<br />
Flughafen abgeholt hatte.<br />
Zu Hause angekommen, ließen wir es ruhig angehen<br />
und suchten beizeiten unsere Betten auf, denn morgen wurde<br />
der Tag lang und aufregend.<br />
Am Silvestertag gings rund. Zuerst wurde ich von Paula<br />
(so heißt meine Freundin) entsprechend präpariert.<br />
Also: „Flache Schuhe, warme Strümpfe, Wollmütze“<br />
und an meinen Pelzmantel war gar nicht zu denken. Ich<br />
bekam Paulas Duffle Coat. Der war durch die vielen Taschen<br />
geeignet alles unterzubringen, was wir für die lange<br />
Nacht brauchten. Nun, in eine Tasche kam eine Banane,<br />
in die andere ein Sandwitch, Servietten, Taschentücher<br />
und die letzte Tasche wurde Träger eines kleinen Geheimnisses.<br />
– Einer handlichen Flasche „Apfelsaft“. „Warum<br />
Apfelsaft?“, widersprach ich, aber sie sagte mir: „Schnüffel<br />
dran!“ Oho, mir gingen die Augen und das Herz auf.<br />
Unser geliebter Gin!!! „Du Betrügerin“, sagte ich, aber<br />
sie lächelte nur. „Du wirst ihn noch lieben.“ Na, das tat<br />
ich jetzt schon, aber wir beherrschten uns. Wollten ja nicht<br />
schon mit einem Fähnchen ankommen. Natürlich war meine<br />
Freundin genauso ausgerüstet. Um 19 Uhr setzten wir<br />
uns in Marsch. Rundfunk und Fernsehen hatten Millionen<br />
Besucher angekündigt und je näher wir der City kamen,<br />
umso eher glaubten wir es gerne. Menschen, Menschen,<br />
Menschen. Alle Rassen, alle Hautfarben, alle Sprachen.<br />
Alles lief kreuz und quer, aber jeder hatte wohl sein festes<br />
Ziel. Man glaubte, die Stadt sei jetzt voll, aber die Busse<br />
karrten immer mehr Menschen an. Paula schien genau zu<br />
wissen, wo wir hin wollten, also trottete ich immer brav<br />
hinter ihr her. Mich wunderte nur, dass es nirgends einen<br />
Stau oder eine Rempelei gab. Nein, alles lief zügig und<br />
ohne besondere Hektik. Als Paula plötzlich rechts abdrehte,<br />
standen wir genau am Ufer der Themse. Da war sogar ein<br />
eisernes Geländer, für uns fantastisch zum Anlehnen. Der<br />
Anblick der beleuchteten Schiffe auf der Themse ließen mir<br />
den Atem stocken. So schön, so festlich!!! „Paula, du bist<br />
eine Zauberin!“, sagte ich, und drückte ihr einen Kuss auf<br />
die Wange. Bald waren wir umringt von lauter fröhlichen<br />
Menschen. Es wurde gelacht, gesungen und hin und wieder<br />
ging schon mal eine Rakete hoch, die von den Kindern, die<br />
auf Papas Schultern saßen, freundlich beklatscht wurden.<br />
Uns gegenüber, auf der anderen Seite des Flusses, war an<br />
einer Hauswand eine überdimensional große Uhr. So konnten<br />
wir den Jahrtausendwechsel gewiss nicht versäumen.<br />
Die Stunden vergingen und wir griffen immer mal wieder<br />
Unterhaltung<br />
Millennium in London<br />
Zwei „alte Damen“ mittendrin<br />
zu unserer „Apfelsaftflasche“. Die jungen Leute um uns<br />
herum hatten uns inzwischen als die ihren angenommen.<br />
Sie lachten und scherzten mit uns und ich hörte, wie ein<br />
junger Mann zu seiner Freundin sagte: „Guck mal, Darling,<br />
es geht auch ohne Alkohol, sieh dir nur mal die beiden alten<br />
Damen an, wie fröhlich und lustig die mit ihrem Apfelsaft<br />
sind!“ Oh – oh, wenn die gewusst hätten! Als ich das Paula<br />
sagte, mussten wir noch mehr lachen und unser Saft tat das<br />
Seine dazu.<br />
Die große Uhr gegenüber zeigte elf, also in Deutschland<br />
Mitternacht. Wir prosteten gen Westen und grüßten in Gedanken<br />
alle, die zu Hause waren.<br />
Allmählich steigerte sich die Stimmung überall. Es brodelte<br />
regelrecht in Erwartung auf das neue Jahrtausend. Unweit<br />
von uns sah man das neue Wahrzeichen, das „Londoner<br />
Eye“. Leider war es heute für Besucher geschlossen.<br />
Auf einmal zählte die Masse laut die letzten Minuten des<br />
Jahrtausends und dann erscholl der dumpfe Glockenschlag<br />
vom Big Ben – Mitternacht –. Jetzt fiel jeder jedem um<br />
den Hals. Die Bussis wurden verteilt, Glückwünsche gerufen,<br />
bis die Glocken der vielen Londoner Kirchen in dieses<br />
prächtige Konzert einfielen. Alles war traumhaft schön.<br />
Mich schauderte und dann lagen sich zwei alte Freundinnen<br />
in den Armen, als wollten sie sich nie mehr lösen.<br />
Inzwischen sind seit damals neun Jahre vergangen und<br />
ich wünsche Ihnen heute, liebe Leser, ein gutes 2009!<br />
Ihre Inge<br />
Inge Göbel<br />
durchblick 4/<strong>2008</strong> 55
Als ich von Siegen fortging, war alles noch weihnachtlich<br />
geschmückt, und als ich in London ankam, empfing<br />
mich dort auch noch die gleiche Pracht, obwohl das Fest<br />
schon vorbei war und der Jahreswechsel kurz bevorstand.<br />
Ein besonderer Jahreswechsel, das Millennium! Ich war<br />
wieder mal Gast bei meiner Freundin, die mich auch am<br />
Flughafen abgeholt hatte.<br />
Zu Hause angekommen, ließen wir es ruhig angehen<br />
und suchten beizeiten unsere Betten auf, denn morgen wurde<br />
der Tag lang und aufregend.<br />
Am Silvestertag gings rund. Zuerst wurde ich von Paula<br />
(so heißt meine Freundin) entsprechend präpariert.<br />
Also: „Flache Schuhe, warme Strümpfe, Wollmütze“<br />
und an meinen Pelzmantel war gar nicht zu denken. Ich<br />
bekam Paulas Duffle Coat. Der war durch die vielen Taschen<br />
geeignet alles unterzubringen, was wir für die lange<br />
Nacht brauchten. Nun, in eine Tasche kam eine Banane,<br />
in die andere ein Sandwitch, Servietten, Taschentücher<br />
und die letzte Tasche wurde Träger eines kleinen Geheimnisses.<br />
– Einer handlichen Flasche „Apfelsaft“. „Warum<br />
Apfelsaft?“, widersprach ich, aber sie sagte mir: „Schnüffel<br />
dran!“ Oho, mir gingen die Augen und das Herz auf.<br />
Unser geliebter Gin!!! „Du Betrügerin“, sagte ich, aber<br />
sie lächelte nur. „Du wirst ihn noch lieben.“ Na, das tat<br />
ich jetzt schon, aber wir beherrschten uns. Wollten ja nicht<br />
schon mit einem Fähnchen ankommen. Natürlich war meine<br />
Freundin genauso ausgerüstet. Um 19 Uhr setzten wir<br />
uns in Marsch. Rundfunk und Fernsehen hatten Millionen<br />
Besucher angekündigt und je näher wir der City kamen,<br />
umso eher glaubten wir es gerne. Menschen, Menschen,<br />
Menschen. Alle Rassen, alle Hautfarben, alle Sprachen.<br />
Alles lief kreuz und quer, aber jeder hatte wohl sein festes<br />
Ziel. Man glaubte, die Stadt sei jetzt voll, aber die Busse<br />
karrten immer mehr Menschen an. Paula schien genau zu<br />
wissen, wo wir hin wollten, also trottete ich immer brav<br />
hinter ihr her. Mich wunderte nur, dass es nirgends einen<br />
Stau oder eine Rempelei gab. Nein, alles lief zügig und<br />
ohne besondere Hektik. Als Paula plötzlich rechts abdrehte,<br />
standen wir genau am Ufer der Themse. Da war sogar ein<br />
eisernes Geländer, für uns fantastisch zum Anlehnen. Der<br />
Anblick der beleuchteten Schiffe auf der Themse ließen mir<br />
den Atem stocken. So schön, so festlich!!! „Paula, du bist<br />
eine Zauberin!“, sagte ich, und drückte ihr einen Kuss auf<br />
die Wange. Bald waren wir umringt von lauter fröhlichen<br />
Menschen. Es wurde gelacht, gesungen und hin und wieder<br />
ging schon mal eine Rakete hoch, die von den Kindern, die<br />
auf Papas Schultern saßen, freundlich beklatscht wurden.<br />
Uns gegenüber, auf der anderen Seite des Flusses, war an<br />
einer Hauswand eine überdimensional große Uhr. So konnten<br />
wir den Jahrtausendwechsel gewiss nicht versäumen.<br />
Die Stunden vergingen und wir griffen immer mal wieder<br />
Unterhaltung<br />
Millennium in London<br />
Zwei „alte Damen“ mittendrin<br />
zu unserer „Apfelsaftflasche“. Die jungen Leute um uns<br />
herum hatten uns inzwischen als die ihren angenommen.<br />
Sie lachten und scherzten mit uns und ich hörte, wie ein<br />
junger Mann zu seiner Freundin sagte: „Guck mal, Darling,<br />
es geht auch ohne Alkohol, sieh dir nur mal die beiden alten<br />
Damen an, wie fröhlich und lustig die mit ihrem Apfelsaft<br />
sind!“ Oh – oh, wenn die gewusst hätten! Als ich das Paula<br />
sagte, mussten wir noch mehr lachen und unser Saft tat das<br />
Seine dazu.<br />
Die große Uhr gegenüber zeigte elf, also in Deutschland<br />
Mitternacht. Wir prosteten gen Westen und grüßten in Gedanken<br />
alle, die zu Hause waren.<br />
Allmählich steigerte sich die Stimmung überall. Es brodelte<br />
regelrecht in Erwartung auf das neue Jahrtausend. Unweit<br />
von uns sah man das neue Wahrzeichen, das „Londoner<br />
Eye“. Leider war es heute für Besucher geschlossen.<br />
Auf einmal zählte die Masse laut die letzten Minuten des<br />
Jahrtausends und dann erscholl der dumpfe Glockenschlag<br />
vom Big Ben – Mitternacht –. Jetzt fiel jeder jedem um<br />
den Hals. Die Bussis wurden verteilt, Glückwünsche gerufen,<br />
bis die Glocken der vielen Londoner Kirchen in dieses<br />
prächtige Konzert einfielen. Alles war traumhaft schön.<br />
Mich schauderte und dann lagen sich zwei alte Freundinnen<br />
in den Armen, als wollten sie sich nie mehr lösen.<br />
Inzwischen sind seit damals neun Jahre vergangen und<br />
ich wünsche Ihnen heute, liebe Leser, ein gutes 2009!<br />
Ihre Inge<br />
Inge Göbel<br />
durchblick 4/<strong>2008</strong> 55
Leserbriefe<br />
Preußendrill im Reichspostamt 3/<strong>2008</strong><br />
Den Artikel von Maria Anspach las ich mit Interesse.<br />
Lange Zeit hielt ich Post und Bahn für normale<br />
Einrichtungen des Staates bzw. des Bürgers. Das hat<br />
sich leider geändert. Ihr Artikel befasst sich mit dem<br />
sogenannten Preußendrill um 1900. Die Wahrnehmung<br />
der hoheitlichen Pflichten im Beamtentum mutet uns<br />
heute seltsam an, spiegelt diese jedoch die Pflichtauffassungen<br />
unserer Vorfahren wider. Dienst und nicht<br />
Verdienst galten etwas.<br />
Das hat sich geändert und das bekommt die Allgemeinheit<br />
im wahren Sinne des Wortes zu spüren. Wären<br />
früher so Menschen wie ein Herr Zumwinkel unter dem<br />
sogenannten Preußendrill geduldet oder überhaupt auf<br />
die Gehaltsliste gekommen? Die Antwort ist ein klares<br />
Nein! Ein holländischer Spaßmacher im deutschen Fernsehen<br />
Namens Carell sagte vor Jahren: „Alles ist schlechter<br />
geworden, nur eins ist besser geworden, die Moral ist<br />
schlechter geworden.“ Dieser Mann hatte „durchblick“<br />
und die Zuschauer haben bravo gerufen, haben Postaktien<br />
gezeichnet, viel Geld verloren, mussten Zwangspensionierungen<br />
von „Unterbeamten“ hinnehmen, Verkauf<br />
von Postämtern erleben, Schließungen von Poststellen<br />
in ihrer Nähe dulden und neuerdings dem Verkauf der<br />
Postbank ohnmächtig zusehen. Bürgereigentum (siehe<br />
Preußen) und Bürgerrechte gehen verloren, werden „privatisiert“.<br />
Eberhard W. Jung, Siegen<br />
Lesertexte in 1/<strong>2008</strong><br />
Auf diesem Wege möchte ich ein Dankeschön schreiben<br />
an die Autorin Helga Licher. Sie hat zwei hervorragende<br />
Texte geschrieben. Gerne würde ich ihr das persönlich<br />
schreiben, habe aber leider keinerlei Daten dafür. So bitte<br />
ich Sie den Dank, wenn möglich, weiterzuleiten. Ich finde<br />
Ihre Zeitung „echt gut“, und habe danach immer „einen<br />
guten Durchblick“. Bin selbst 57 Jahre und alles andere als<br />
ein Seniorin. (Nur Geduld, es wird schon.)<br />
Inge Krause, per E-Mail<br />
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Elisabeth Koch 2/<strong>2008</strong><br />
Eure aktuelle Ausgabe habe ich bei meinen Eltern gelesen.<br />
Dabei ist mir aufgefallen, dass das Foto von Hotel<br />
Koch’s Ecke niemals von heute sein kann, wie es die Bildunterschrift<br />
verkündet. Auf dem Bild sind gleich zwei VW-<br />
Käfer zu sehen, also tippe ich mal, das Foto ist gute 30 Jahre<br />
alt. Aber ansonsten ist die Zeitschrift tatsächlich auch für<br />
„Nicht-Senioren“ gut zu lesen.<br />
Sylvester Schneider, per E-Mail<br />
Organspende 3/<strong>2008</strong><br />
Mit Interesse habe ich Ihren ausführlichen Artikel gelesen<br />
und hoffe, dass sich viele Personen die Zeit nehmen, ihn<br />
auch zu lesen, um zur Erkenntnis zu kommen, dass Organspende<br />
mit der Tötung eines im Sterbeprozess Befindlichen<br />
zu tun hat und abzulehnen ist.<br />
Zum Thema habe ich mir folgende Bücher gekauft:<br />
1. Herzloser Tod. Das Dilemma der Organspende; von<br />
Baureithel/Bergmann 2. Das Leben danach. Was mit uns<br />
geschieht, wenn wir sterben; von Bernard Jakoby. Letzteres<br />
befasst sich mit Informationen aus dem Jenseits. Da Sie in<br />
der Hospiz tätig sind, könnte ich es Ihnen sehr empfehlen.<br />
Nach meinen eigenen übersinnlichen, nicht nachweisbaren<br />
Wahrnehmungen und Empfindungen ist Organspende<br />
nicht gottgewollt und daher abzulehnen. Wer spendet,<br />
verlangt damit aktive Sterbehilfe und trägt zur Tötung eines<br />
anderen bei. Der Mensch ist ja mit dem Hirntod nicht tot,<br />
sondern erst dann, wenn ihm der Odem genommen wird und<br />
die für uns unsichtbare Silberschnur, die uns mit dem Jenseits<br />
verbindet, zerreißt. Nachzulesen in Prediger 12, Vers 6.<br />
Sie als Redakteur haben sicherlich öfter die Gelegenheit<br />
auf den Irrtum der Organspende – fälschlicherweise als<br />
Nächstenliebe angepriesen – hinzuweisen, hoffentlich mit<br />
Erfolg! Jedenfalls steht es uns nicht zu, unser irdisches Leben<br />
durch Tötung eines anderen zu verlängern. Der hier erscheinende<br />
biologische Mensch besitzt neben der Leibseele<br />
auch eine Geistseele. Leider ist der wahre Glaube an die<br />
Lehre Jesus Christus abhanden gekommen und die Macht<br />
des Mammons überrollt die ethischen Werte.<br />
Renate Thiel, Kirchen<br />
Ich möchte Herrn Freundt zu seinem ausgezeichneten<br />
Artikel, der eine Menge Recherchen enthält, beglückwünschen.<br />
Nur einem Punkt kann ich nicht zustimmen: der<br />
Behauptung, die Transplantationsmedizin sei eine „Erfolgsmedizin“.<br />
Diese Hypothese entspricht einem Wunschdenken,<br />
auch wenn die Werbung um Organspende anderes<br />
behauptet und in diesem Kontext ausschließlich die „glücklichen<br />
Fälle“ gezeigt werden. Keineswegs zufällig jedoch<br />
werden in sogenannten Informationsschriften immer nur<br />
die Sterbequoten auf der Warteliste, also die Todesfälle vor<br />
einer Transplantation genannt, nie aber einmal die Statistik<br />
der Überlebensraten von Organempfängern der Öffentlichkeit<br />
preisgegeben. So entwickeln z. B. in den ersten drei<br />
Monaten nach einer Herztransplantation etwa 90 Prozent<br />
56 durchblick 4/<strong>2008</strong>
Leserbriefe<br />
aller Patienten eine akute Abstoßungsreaktion – bei 20 bis<br />
40 Prozent dieser Patientengruppe tritt innerhalb von fünf<br />
Jahren eine Koronarsklerose – das heißt, es kommt dann<br />
zu einer sogenannten chronischen Abstoßung. Außerdem<br />
gehören zu den gängigen Nebenwirkungen einer Herztransplantation,<br />
mit denen auch andere Organempfänger<br />
zu rechnen haben: chronische Nieren- und Leberschädigungen;<br />
Wirbelkörperfrakturen; Hüftgelenknekrose oder<br />
das parkinsonähnliche Beschwerdebild des Zitterns; auch<br />
äußerliche Körperveränderungen wie z. B. übermäßige<br />
Körperbehaarung oder das sogenannte Vollmondgesicht.<br />
Zudem ist das Krebsrisiko wegen der tagtäglich und lebenslang<br />
durchzuführenden Unterdrückung der Immunabwehr<br />
durch die Einnahme von Medikamenten sehr hoch<br />
und steht daher im Katalog der Nebenwirkungen mit an<br />
erster Stelle. So hat kürzlich eine Untersuchung über die<br />
Krebsanfälligkeit von Organempfängern ergeben, dass<br />
sich das Risiko, an einem Hautkarzinom zu erkranken,<br />
bei Transplantatempfängern „im Vergleich zur übrigen<br />
Bevölkerung um das 65-Fache erhöht“. Es steige „mit der<br />
Dauer der immunsuppressiven Therapie“ noch erheblich<br />
an. (Vgl. Kempf, Werner: Hautveränderungen bei Transplantatempfängern.<br />
In: Deutsches Ärzteblatt 103, 2006,<br />
H. 34-35, S. A2245-A2249, hier S. A2245)<br />
Auch hat eine Studie der Abteilung für Thorax-, Herzund<br />
Gefäßchirurgie der Hamburger Universitätsklinik<br />
ergeben, dass in Deutschland die Therapie der Herztransplantation<br />
in zwei Drittel aller Fälle vorschnell angeboten<br />
wird. Über einen Zeitraum von acht und vierzehn Jahren<br />
wurden in diesen beiden Untersuchungen Transplantationskandidaten,<br />
die auf der Wartelisten standen, aber kein<br />
fremdes Herz erhielten, stattdessen mit Medikamenten<br />
behandelt. Ihre Überlebenschancen ohne Operation waren<br />
in den ersten zwei Jahren deutlich höher als die der<br />
transplantierten Patienten. Nach sechs Jahren war ein<br />
Unterschied zugunsten der medikamentös behandelten<br />
Patienten zwar weniger ausgeprägt, aber immer noch zu<br />
vermerken. Die konservative Therapie ohne Operation<br />
gestattet, so resümiert der Kardiologe Wilfried Rödiger<br />
diese Studie, „doch ein halbwegs normales, wenn auch<br />
kein belastbares“ Leben zu führen.<br />
Zwar hat sich im öffentlichen Bewusstsein die Vorstellung<br />
festgesetzt, dass die Transplantationsmedizin eine Erfolgstherapie<br />
sei, wenn wir jedoch nach Überlebensstatistiken<br />
der Organempfänger suchen, müssen wir feststellen,<br />
dass mit diesen Zahlen niemals Werbung gemacht wurde.<br />
Warum nicht? Weil sich dann die Behauptung, „durch Organspende<br />
Leben zu retten“ sehr schnell relativiert: Immerhin<br />
sterben gegenwärtig 20 Prozent aller Herzempfänger<br />
noch im ersten Jahr nach der Verpflanzung, nach fünf Jahren<br />
sind 32 von hundert und nach 10 Jahren 44 Prozent<br />
tot. Nach einer Lungentransplantation sterben weltweit<br />
noch im ersten Jahr 28 von 100 Organempfängern und die<br />
Fünfjahresüberlebensrate liegt bei 43 Prozent, d. h., 57 von<br />
hundert Patienten sind nach fünf Jahren tot und haben häufig<br />
eine leidvolle Geschichte bis zu ihrem Tod hinter sich.<br />
Ich habe selbst Kontakt zu Organempfängerfamilien, aber<br />
auch in der Fachliteratur sind die vielen Komplikationen<br />
beschrieben, mit denen jeder Organempfänger zu rechnen<br />
hat. Auch kenne ich Familien, in denen ein Angehöriger<br />
entweder sofort noch auf dem Operationstisch an der Transplantation<br />
gestorben ist oder eben schon nach einem Jahr<br />
an Krebs als Folgewirkung der Immunsuppression. Solche<br />
Krankheitsverläufe sind sehr dramatisch, weil zunächst viel<br />
Hoffnung auf ein heiles Weiterleben entsteht, das Damoklesschwert<br />
des Todes aber dennoch über diesen Familien<br />
schwebt.<br />
Nierenempfänger haben die höchsten Überlebensraten,<br />
und zwar nicht, weil es sich um eine Erfolgsmedizin handelt,<br />
sondern weil die Dialyse eine Kompensationsmöglichkeit<br />
bietet, eine Abstoßung und die Zeit ohne eine Transplantation<br />
zu überbrücken. Daher gibt es nicht wenige Nierenempfänger,<br />
die bereits eine zweite oder gar dritte Niere haben<br />
(z.B. Niki Lauda: erste Niere von seinem Bruder, die zweite<br />
von seiner Lebensgefährtin). Vor diesem Hintergrund kann<br />
ich die Meinung von Herrn Freundt nicht teilen, dass auf<br />
der einen Seite die glücklichen Organempfänger stehen und<br />
auf der anderen Seite die betrübten Familien der Organspender.<br />
Nichtsdestotrotz hat Herr Freundt einen sensiblen<br />
Beitrag zur Diskussion über die Organtransplantationsmedizin<br />
geleistet. Priv.-Doz. Dr. Anna Bergmann, Berlin<br />
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durchblick 4/<strong>2008</strong> 57
Unterhaltung / Impressum<br />
Es fiel uns auf …<br />
… dass der Gedanke ans Älterwerden den Menschen<br />
heute weniger Angst macht.<br />
In einer Umfrage des Institutes für Demoskopie<br />
Allensbach antworteten nur 18 Prozent der über<br />
59-Jährigen: „Ja, ich habe Angst älter zu werden.“<br />
Immerhin 78 Prozent sagen, dass sie keine Angst vor dem<br />
Älterwerden haben.<br />
… dass Reiche und Gebildete länger leben.<br />
Nicht die erbliche Veranlagung scheint in den meisten<br />
Fällen entscheidend für unsere Lebenserwartung zu<br />
sein, sie mache nur etwa 25 Prozent aus. Wichtiger ist<br />
der Lebensstil, der durch gute medizinische Versorgung,<br />
bessere Ernährung und Bildung geprägt ist.<br />
… dass Senioren ein hohes Risiko durch Stürze haben.<br />
Die Zahl von Stürzen im Haushalt durch Senioren nimmt<br />
zu, dabei sind alleine 4800 im Jahre 2005 gestorben.<br />
Tipps, wie Senioren einen Sturzunfall vermeiden können,<br />
gibt die aktualisierte Neuauflage der Broschüre „Sicher<br />
leben auch im Alter. Sturzunfälle sind vermeidbar“.<br />
Die Broschüre kann man bestellen bei: Aktion DSH,<br />
Stichwort Senioren, Holsteinischer Kamp 62,<br />
22081 Hamburg.<br />
… dass man manchmal selber schuld ist.<br />
Gemäß einem Gerichtsurteil bekommt man kein Schmerzensgeld,<br />
wenn man auf dem Parkplatz eines Supermarktes<br />
über einen ein Zentimeter herausragenden Pflasterstein<br />
stürzt. Begründung: Auf diesem Gelände ist mit Unebenheiten<br />
und anderen Hindernissen zu rechnen.<br />
Gedächtnistraining: Lösungen von Seite: Seite 40/41<br />
Seltsame Regeln: Regeln im Park 1.HUNDE BITTE<br />
AN DER LEINE HALTEN, 2.NUR AUF DEN WEGEN<br />
GEHEN, 3.KEINEN ABFALL AUF DEN WEG WERFEN,<br />
4.FUTTER NUR AUS DEM AUTOMATEN KAUFEN,<br />
5.NICHT LAUT RUFEN ODER SCHREIEN, 6.NICHT<br />
ALLE TIERE ANFASSEN, 7.KEIN FEUER MACHEN,<br />
8.ELTERN HAFTEN FÜR IHRE KINDER. Tiere gesucht:<br />
1.ABSTAUBEN, 2.EIGELB, 3.PAPIERKLEBER,<br />
4.DREHTÜR, 5.UNSAUBERKEIT, 6.PFENNIGFUCHSER,<br />
7.LEBENSPHASE, 8.SCHUNDROMAN, 9.GEGENTEIL,<br />
10.NERVENKITZEL, Lösungswort: TIERSCHUTZ. Was<br />
gehört zusammen: Heu-Pferd; Regen-Wurm, Feuer-Salamander,<br />
Turm-Falke, Kegel-Robbe, Zitronen-Falter, Hauben-Taucher,<br />
Mauer-Segler, Zwerg-Kaninchen, Kreuz-Otter, Nasen-Bär,<br />
Kaiser-Pinguin. Logisches Denken: 1.Pfau, 2.Fasan, 3.Amsel,<br />
4.Hirsch, 5.Fuchs.<br />
Zu guter Letzt:<br />
Anlässlich des Interviews zu unserem Bericht (Seite 14)<br />
sagte uns der Artist Johann Traber, der mit Motorradstunts<br />
auf dem Hochseil weltberühmt wurde: In meiner<br />
Familie hat niemand den Motorrad-Führerschein, Motorradfahren<br />
auf der Straße ist uns viel zu gefährlich.<br />
durchblick<br />
Herausgeber:<br />
durchblick-siegen Information und Medien e.V.,<br />
Im Auftrag der Stadt Siegen – Regiestelle Leben im Alter<br />
Anschrift der Redaktion:<br />
„Haus Herbstzeitlos“, Marienborner Str. 151, 57074 Siegen<br />
Telefon 0271 61647, Mobil: 0171 6206413<br />
E-Mail: redaktion@durchblick-siegen.de<br />
Internet: www.durchblick-siegen.de<br />
Öffnungszeiten:<br />
dienstags bis donnerstags von 10.00 bis 12.30 Uhr<br />
dienstags auch von 15.00 bis 17.00 Uhr<br />
Redaktion:<br />
Maria Anspach; Friedhelm Eickhoff (verantw.); Fritz Fischer;<br />
Eberhard Freundt; Dieter Gerst; Inge Göbel; Gerda Greis;<br />
Dorothea Istock; Erich Kerkhoff; Erika Krumm; Horst Mahle;<br />
Helga Siebel-Achenbach; Ulli Weber<br />
Bildredaktion:<br />
Thomas Benauer; Friedhelm Eickhoff; Gottfried Klör; Tessie Reeh;<br />
Agnes Spar; Peter Spar; Sabine Völkel<br />
Internet:<br />
Thomas Benauer<br />
An dieser Ausgabe haben ferner mitgewirkt:<br />
Barbara Kerkhoff; Edith Maria Bürger; Julian Felgitsch (S. 5);<br />
Dr. Horst Bach; Jan Vering (S.30); Else Diezemann; Wilma Frohne.<br />
Fotos/Zeichnungen/Grafik (soweit nicht im Bild angegeben):<br />
M. Anspach, D. Istock, E. Freundt, Fritz Fischer, Hartmut Reeh,<br />
D. Gerst, S. Völkel, A. Spar, Dr. H. Bach; G. Klör; H. Mahle,<br />
T. Benauer, H. Siebel-Achenbach, ,,durchblick-Photoshop-Club;<br />
Grünflächenamt der Stadt Siegen, Norbert Schulz.<br />
Hör-CD: Helmut Drabe (verantwortlich); Hans-Peter Gebhardt;<br />
Kruno Schmidt; Hildburg Heinrich; Ingrid Drabe; Siegbert Ullrich;<br />
Helga Siebel-Achenbach; Horst Ehrenspeck; Inge Göbel<br />
Gestaltung, Satz und Layout:<br />
durchblick – Lektorat<br />
Herstellung und Druck:<br />
Vorländer, Obergraben 39, 57072 Siegen<br />
Erscheinungsweise: März, Juni, September, Dezember<br />
Verteilung: Helga Siebel-Achenbach (Ltg.), alle Redakteure, Ellen<br />
Schumacher, Fred Schumacher, Hannelore Münch, Paul Jochum,<br />
Elisabeth Flöttmann, Helga Sperling, Hermann Wilhelm, Dieter<br />
Wardenbach, Ingrid Drabe<br />
Auflage: 10000 – Der durchblick liegt kostenlos in Sparkassen,<br />
Apotheken, Arztpraxen, Zeitungsverlagen, City-Galerie, Geschäften<br />
des Siegerlandzentrums und öffentlichen Gebäuden aus.<br />
Für die Postzustellung berechnen wir für vier Ausgaben jährlich 8 Euro.<br />
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben<br />
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58 durchblick 4/<strong>2008</strong>