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THOMAS WARK<br />
Mein „Friedensschluss“<br />
mit dem <strong>Rheingau</strong><br />
Aus dem <strong>Rheingau</strong> musst Du weg, bevor Dich diese Behäbigkeit erdrückt.<br />
Manchmal glaube ich, diese <strong>ganz</strong>e Gegend hier hat sich gegen die Jugend verschworen.<br />
Unser Jugendzentrum in Geisenheim will die Stadt aus politischen<br />
Gründen nicht weiter genehmigen, im Club in Eltville darfst Du nicht rauchen<br />
und aus den Kneipen fliegst Du raus, wenn Du nicht ausgiebig konsumierst. Beim alten<br />
Oettinger in Erbach sitzen die Städter aus Wiesbaden und Mainz und beschweren sich, sobald<br />
wir etwas lauter werden. In Rüdesheim triffst Du nur auf angetrunkene Schunkeltouristen<br />
und überhaupt: Wo immer wir hingehen, werden lange Haare sofort als sicheres Indiz für<br />
Drogenmissbrauch gedeutet. Wenn Du nicht in einem der Dörfer geboren bist, wirst Du auf<br />
ewig ein ‚Zugezogener‘ bleiben. Manchmal habe ich das Gefühl, dass der <strong>Rheingau</strong> unter<br />
Thomas Wark<br />
einer dichten Schicht aus Mehltau liegt. Den Leuten hier ging es immer schon<br />
besser als in anderen Gegenden, weil sie neben dem Weinbau noch Arbeit bei<br />
der Bahn und der Post hatten, aber dieser Wohlstand hier hat die Leute träge<br />
geboren 1957 in Viersen/Rheinland, aufgewachsen in Erbach<br />
gemacht. Was kannst Du als junger Mensch hier schon erleben? Nicht mal<br />
und Hattenheim, verheiratet, zwei Kinder / Studium der<br />
eine Schallplatte kannst Du hier kaufen! Das Beste am <strong>Rheingau</strong> ist die Bahnstrecke<br />
nach Wiesbaden und Frankfurt, aber 1 Mark und 20 Pfennige für eine<br />
Anglistik und Amerikanistik in Mainz / von 1983 bis 1987<br />
Sportjournalist beim NDR in Hamburg, seit 1988 beim ZDF einfache Fahrt nach Wiesbaden ist natürlich ein stolzer Preis. Eines kann ich<br />
Dir sagen: Sobald ich mit der Schule fertig bin, werde ich hier abhauen.“<br />
in Mainz / hat als Live-Reporter und Moderator von neun<br />
olympischen Spielen und sieben Fußball-Weltmeisterschaften Soweit der Auszug aus einem flammenden Brief des damals 16-jährigen<br />
berichtet, außerdem über rund 1.000 Bundesligaspiele im Thomas Wark an eine Freundin. Fast 43 Jahre später ist die ausdrücklich<br />
vor einem Umzug in den <strong>Rheingau</strong> gewarnte Freundin immer noch Frau<br />
„Aktuellen Sportstudio“ / Drehbuchautor und Verfasser von<br />
Wark und lebt mit mir, einem längst überzeugten <strong>Rheingau</strong>er, mittendrin in<br />
Autobiografien / 2017 wird sein erster Roman erscheinen, diesem Landkreis. Als ich den Brief vor ein paar Tagen noch einmal las,<br />
der ausdrücklich nicht vom Sport handelt, sondern einen Teil fragte ich mich, was zum Friedensschluss mit dem <strong>Rheingau</strong> geführt hatte.<br />
seiner Reiseerlebnisse zum Inhalt hat („Goa-Lisboa“)<br />
Wie kam es, dass wir Hamburg Mitte der 80er-Jahre verließen und in den<br />
<strong>Rheingau</strong> zurückkehrten? Wir hätten auch nach Berlin oder München gehen<br />
können, aber da war dieses Bauchgefühl, das uns werdende Eltern den<br />
<strong>Rheingau</strong> als neuen Familienstandort wählen ließ. Hatte ich mich verändert oder war diese<br />
so einzigartige Gegend anders geworden? Es dauerte nicht lange und wir bekamen erste<br />
Eindrücke von der Qualität öffentlicher Einrichtungen, die uns die nächsten Jahre begleiten<br />
würden: Kindergärten, Schulen, Sportvereine, Reitstall, Jugendfreizeiten, Volkshochschule,<br />
Kirche. Dass unsere Kinder auf der <strong>Rheingau</strong>schule mit den Erblasten ihres Vaters<br />
konfrontiert wurden, machte die Erziehung nicht leichter, frischte aber den Kontakt zu ein<br />
paar Lehrern auf, die ich 20 Jahre zuvor noch verflucht hatte. Der <strong>Rheingau</strong>, den wir<br />
durch unsere Kinder auf eine neue Weise entdeckten, machte es einem leicht, Freunde zu<br />
finden. Der Wandel der Dörfer war unverkennbar, neue Baugebiete brachten Menschen<br />
von überall her. Die EBS mit ihren Studenten aus aller Welt sorgte für ein Klima der Offenheit,<br />
das ich früher so nicht gekannt hatte. Im Gegenteil: Als wir 1964 aus Mainz nach<br />
Erbach zogen, mussten wir Kinder uns den Respekt der Dorfjugend noch sehr hart erarbei-