EDUCATION 5.17
Hauptthema: Lehrplan 21
Hauptthema: Lehrplan 21
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Thema | Dossier<br />
Lehrplan 21<br />
«Ein Schuljahr ohne Zeugnis?<br />
Das kann doch nicht sein.»<br />
Elterninformationsabend an der Schule Bethlehemacker, Aula Gäbelhus<br />
Reportage von Mathias Marti<br />
Fotos: Christian Knörr<br />
Es ist Donnerstagabend, Ende November. Kalt<br />
und feucht fühlt es sich an, draussen im Quartier<br />
Bethlehem, in Berns Westen. Die Hochhäuser<br />
ragen in den Himmel und versprühen Grossstadtflair.<br />
Doch das Quartier steht bei den Bernerinnen<br />
und Bernern nicht im besten Ruf – viele Ausländer<br />
habe es dort, die Schulsituation schwierig. Bis zu<br />
100 Prozent Kinder mit Migrationshintergrund<br />
hat es in den Klassen, sagt dazu Schulleiter Sebastian<br />
Teuscher unprätentiös. «Aber im Schnitt sind<br />
es eher zwei Drittel». Schwierig? Nein, schwierig<br />
sei diese Situation nicht. Herausfordernd vielleicht.<br />
Und der Ruf des Schulkreises Bethlehem<br />
hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert<br />
– wo man sich auch umhört.<br />
In einer halben Stunde erwarten die Schulleiter Eltern<br />
zum Informationsabend «Lehrplan 21». «Ich habe mit Sebastian<br />
gewettet, dass etwa 30 Personen kommen werden»,<br />
orakelt Co-Schulleiter Daniel Kohli. «Ich denke, es<br />
werden eher gegen 40 sein», meint Kollege Teuscher. Die<br />
Präsentation der kantonalen Erziehungsdirektion wird<br />
vorbereitet, viele zusätzliche Informationsmaterialien sind<br />
auf einem Tisch ausgebreitet. Stühle für rund 80 Personen<br />
stehen bereit. Gegen 18.45 Uhr, eine Viertelstunde vor Beginn<br />
der Veranstaltung, treten die ersten Eltern in die Aula<br />
Gäbelhus. Ein karger Betonbau mit einer Art Kronleuchtern<br />
und grosser Bühne. Architekturstil der 70er-Jahre<br />
halt. Sebastian Teuscher lässt es sich nicht nehmen, jede<br />
einzelne Person am Eingang persönlich zu begrüssen.<br />
Während sein Kollege Kohli sich noch mit den letzten<br />
Handgriffen der Präsentation und dem Verteilen von Broschüren<br />
beschäftigt.<br />
Nach und nach füllen sich die Plätze – und rasch<br />
wird klar, dass Kohli seine nicht ganz ernst gemeinte<br />
Wette verlieren wird. Ganz im Gegenteil zu den Erwartungen<br />
strömen mehr und mehr Eltern in den Saal. Stühle<br />
müssen zusätzlich aus dem Réduit geholt werden. Was<br />
auffällt: Es hat sehr viele Frauen, einige Eltern haben auch<br />
ihre jüngeren Kinder dabei. Das Nationalitäten-Geflecht<br />
entspricht ziemlich genau der von Teuscher angegebenen<br />
Klassenzusammensetzung. Die beiden Schulleiter sind<br />
sichtlich erfreut, dass sich so viele Personen zum Informationsabend<br />
eingefunden haben. Schliesslich werden<br />
es deutlich über 100 Personen sein. Und Kohli weist bei<br />
der Begrüssung mit einem Schmunzeln auf die verlorene<br />
Wette hin und verleiht seiner Freude über das hohe Aufkommen<br />
Ausdruck.<br />
Was stimmt hier nicht?<br />
Sebastian Teuscher nimmt das Heft in die Hand und führt<br />
routiniert durch die vom Kanton bereitgestellte Präsentation.<br />
Zunächst geht es darum, den Eltern zu erklären,<br />
welche Funktion ein Lehrplan überhaupt hat. Und weshalb<br />
man diesen Lehrplan, der doch eigentlich immer<br />
noch tauge, überhaupt anpassen müsse. Ein Raunen geht<br />
durch das Publikum, als zum ersten Mal eine Folie mit<br />
den neuen Beurteilungen aufgezeigt wird.<br />
Doch davor ist einer aufmerksamen Mutter nicht<br />
entgangen, dass mit einer Folie etwas nicht stimmen<br />
könne. «Sie haben soeben erzählt, dass sich die Solothurner<br />
und Berner für Frühfranzösisch, nicht für Englisch wie<br />
in Zürich entschieden haben. Stand da auf der Folie eben<br />
nicht etwas anderes?» Tatsächlich hat sich ein kleiner<br />
Fehler eingeschlichen, der aber von Sebastian Teuscher<br />
gekonnt und mit einer Prise Humor aufgelöst wird.<br />
Bei der Präsentation der neuen Beurteilungsbogen<br />
erklärt Teuscher, dass die Eltern auf einer A4-Seite<br />
alle wesentlichen Informationen erhalten. Speziell an der<br />
neuen Regelung ist die Tatsache, dass es in der dritten<br />
Klasse (gemäss Harmos sprechen wir vom fünften Schuljahr)<br />
kein Zeugnis geben wird. Eine Mutter meldet sich<br />
spontan: «Ein Schuljahr ganz ohne Zeugnis? Das kann<br />
ich beim besten Willen nicht verstehen». Der Tenor in<br />
dieser Frage ist eindeutig: Es herrscht bei den Anwesenden<br />
Konfusion, weshalb ausgerechnet im fünften Schuljahr<br />
kein Zeugnis ausgestellt werde. Teuscher zeigt<br />
Empathie für die Anliegen der Eltern. «Ja, es stimmt. Das<br />
ist eine etwas spezielle Situation. Wir hätten das vermutlich<br />
auch nicht so entschieden. Aber im Zuge der Harmonisierung<br />
mussten Kompromisse bei den Kantonen gemacht<br />
werden.» Kohli ergänzt ihn: «Generell müssen auch<br />
wir Lehrpersonen zunächst Erfahrungen mit dem neuen<br />
System machen.» «Wer kommt denn auf uns zu, wenn<br />
es mit dem Kind nicht gut läuft in der Schule oder wenn<br />
es ungenügend ist?», möchte ein Vater wissen. «Es ist<br />
eigentlich egal, wer zuerst den Kontakt sucht», meint<br />
Kohli dazu. Sobald eine Seite – Schule oder Elternhaus –<br />
Fragen hätten oder unsicher seien, sollen sie ruhig Kon-<br />
20<br />
<strong>EDUCATION</strong> <strong>5.17</strong>