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Historisch versus modern: Identität durch Imitat?

ISBN 978-3-86859-506-2 https://www.jovis.de/de/buecher/details/product/historisch-versus-modern-identitaet-durch-imitat.html

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historisch<br />

<strong>versus</strong><br />

MODERN<br />

<strong>Identität</strong> <strong>durch</strong> <strong>Imitat</strong>?<br />

Barbara Engel (Hg.)<br />

mit<br />

Johannes Blechschmidt<br />

Max Mütsch<br />

Philine Schneider


Wiederaufbau nach Verlust<br />

Wiederherstellung von Geschichte<br />

Kopierte Räume<br />

Nachahmung als städtebauliches Prinzip<br />

14 Central District Beirut<br />

Antike Stadt der Zukunft<br />

26 Altstadt Elbing<br />

Umgestaltung <strong>durch</strong> Retroversion<br />

70 Anting Neustadt und Thames Town<br />

Satellitenstädte als Städtekopien<br />

90 Hallstatt<br />

Duplitecture in China<br />

36 Dom-Römer-Areal Frankfurt<br />

Schöpferisches Nachbauen<br />

48 Quartier Nr. 130 Irkutsk<br />

Wiederentdeckung historischer Qualitäten<br />

130<br />

118<br />

144<br />

Neue alte Städte<br />

Erfundene Vergangenheit<br />

Transformation von Geschichte<br />

Zwischen Erneuerung und Zerstörung<br />

108 Datong<br />

Altstadt im neuen Design<br />

118 Haverleij<br />

Post<strong>modern</strong>er Historismus in den<br />

Niederlanden<br />

130 Poundbury<br />

Neotraditionelle Modellstadt<br />

176 Skopje 2014<br />

Mazedonische Antiquisierung<br />

186 Tarlabasi 360 Istanbul<br />

Illusion von Geschichte<br />

200 Corredor Cultural Rio de Janeiro<br />

Bewahrung <strong>durch</strong> Veränderung<br />

144 Mercado District Tucson<br />

Rückkehr zur Tradition<br />

156 The Old Town Dubai<br />

Orientalische Kulissen<br />

200


26<br />

48<br />

36<br />

176<br />

186<br />

108<br />

14<br />

70<br />

156<br />

90<br />

Glossar<br />

62 A–E<br />

Altstadt / Attrappe / Baukultur / Charakter / Dekoration /<br />

Denkmalpflege / Dialog / Erbe<br />

100 H–I<br />

historisch / Ideal / Identifikation / Ideologie /<br />

Ikonografie / Illusion / Image / <strong>Imitat</strong> / Interpretation<br />

168 K–S<br />

Konservierung / Kontext / Kosmetik / Monument /<br />

Nostalgie / Original / Reflexion / Relikt / Repräsentation /<br />

Reproduktion / Sehnsucht<br />

210 S–Z<br />

Symbol / Verlust / Wert / Wiederaufbau / zeitgenössisch /<br />

Zitat


HISTORISCH<br />

VERSUS MODERN<br />

<strong>Identität</strong> <strong>durch</strong> <strong>Imitat</strong>?<br />

6


Fortschreitende Globalisierung und das damit verbundene<br />

Gefühl der Entwurzelung führen in den Städten vermehrt zur<br />

Suche nach den jeweiligen individuellen <strong>Identität</strong>en der Stadt.<br />

Wie wichtig diese Stadtidentitäten sind, zeigt die vielerorts zu<br />

beobachtende Hinwendung zum <strong>Historisch</strong>en. Zwar bilden nicht<br />

nur historische Muster <strong>Identität</strong>en in der Stadt aus, doch sind<br />

die Zeitschichten eines Ortes, seine historische Entwicklung und<br />

Bedeutung, das heißt die Lesbarkeit von Stadtgeschichte,<br />

wesentliche Identifikationsebenen für die Menschen. <strong>Historisch</strong>e<br />

<strong>Identität</strong>en bilden – gerade in einer Zeit zunehmender Dynamisierung<br />

und Unsicherheiten – wichtige gesellschaftliche und<br />

kulturelle Wertmaßstäbe. Im Zeitalter rasanten Stadtwachstums<br />

wächst offensichtlich der Wunsch nach Beständigkeit und Vertrautheit.<br />

Der Rückgriff auf vermeintlich historische Strukturen<br />

– auch wenn sie nur im Gewand des <strong>Historisch</strong>en daherkommen<br />

und eigentlich völlig neu sind – rührt möglicherweise auch daher,<br />

dass neue Architekturen und Stadtensembles bisweilen nicht in<br />

der Lage sind, angemessene Stadtbilder zu produzieren und nur<br />

ungenügend Raum für Identifikation, Erlebnis und Aneignung<br />

bieten.<br />

Gerade in Deutschland kann man seit den letzten Jahren heftige<br />

Diskussionen zum breit gefächerten Thema des Historismus<br />

in Architektur und Städtebau verfolgen. Dabei stehen die Meinungen<br />

der Bürgerschaft, die sich mehrheitlich für einen Wiederaufbau<br />

beziehungsweise einen historisierenden Neubau aussprechen,<br />

meist der Fachmeinung von Denkmalpflegern, Stadtplanern und<br />

Architekten diametral gegenüber. Nicht nur in Frankfurt/Main<br />

sprach sich ein Großteil der Stadtbevölkerung für eine Rekonstruktion<br />

des Hühnermarkts mit detailgetreuen Fassaden aus.<br />

7


WIEDERAUFBAU<br />

NACH VERLUST<br />

Wiederherstellung von Geschichte


Kriegszerstörungen und Naturkatastrophen haben immer wieder<br />

in Städten zum Verlust von historischer Bausubstanz geführt.<br />

Mit dem erlittenen Verlust stellt sich die Frage der Kompensation.<br />

Die Leere belassen oder die Lücke baulich schließen? Und<br />

wenn gebaut werden soll, was und wie soll gebaut werden – das<br />

Alte wiederherstellen oder die Chance für etwas Neues nutzen?<br />

Für die Rekonstruktion von bedeutenden zerstörten Gebäuden<br />

und ganzer Quartiere gibt es viele berühmte Beispiele mit einer<br />

großen Bandbreite unterschiedlicher Dimensionen. Das Portfolio<br />

reicht von der Rekonstruktion des Stadtgrundrisses über<br />

die Aufnahme der Blockstrukturen in ihrer Kubatur bis hin zur<br />

Wiederherstellung von erhaltenen Teilelementen und dem Wiederaufbau<br />

von historischen Gebäuden in ihrer Fassaden- und<br />

Grundrissstruktur.<br />

Beirut und Elbing, das Dom-Römer-Areal in Frankfurt/Main und<br />

das Quartier Nr. 130 in Irkutsk stehen beispielhaft für Rekonstruktionsprojekte,<br />

die sich am historischen Stadtbild orientieren.<br />

Können mit den rekonstruierten Gebäuden verlorengegangene<br />

<strong>Identität</strong>en wiedergewonnen werden? Täuschen die Wiederaufbauprojekte,<br />

die einen ausgewählten Geschichtslayer zum<br />

Maßstab des Stadtgedächtnisses machen, nicht über die Vielschichtigkeit<br />

der Stadtgeschichte hinweg? Die vorgestellten<br />

Projekte dokumentieren die Versuche unterschiedlicher Arten<br />

und Weisen, Erinnerungsräume (wieder-)herzustellen.


Wiederaufbau nach Verlust<br />

CENTRAL DISTRICT<br />

BEIRUT<br />

Antike Stadt der Zukunft<br />

BEIRUT<br />

14


CENTRAL DISTRICT<br />

1 km<br />

Land<br />

Libanon<br />

Stadt<br />

Beirut<br />

Projektentwickler<br />

Solidere s.a.l.<br />

Realisierungszeit<br />

Phase 1: 1994–2004<br />

Phase 2: 2005–2020<br />

Größe<br />

191 ha<br />

Referenz<br />

Französische Mandatszeit, westliche<br />

Globalarchitektur<br />

15


Wiederaufbau nach Verlust<br />

Perspektiven für Beirut<br />

Das Gebiet um die Place de<br />

l’Etoile wurde in der französischen<br />

Mandatszeit nach<br />

bewährtem Pariser Muster<br />

angelegt und im Krieg nur<br />

gering zerstört – heute erstrahlt<br />

es in neuer Pracht.<br />

2014 © Barbara Engel<br />

In den letzten Jahren haben sich viele an der<br />

Stadtentwicklung interessierte Bürger zu NGOs<br />

zusammengeschlossen und fordern die Berücksichtigung<br />

ihrer Interessen, mehr Transparenz<br />

der Planungsprozesse und Teilhabe an der Gestaltung<br />

ihrer Stadt. Eine NGO ist Save Beirut<br />

Heritage, 2010 gegründet, die für den Erhalt historischer<br />

Gebäude eintritt. Eine weitere, Nahnoo,<br />

versucht, mit intensiver Kommunikation und Information<br />

über die neuen Medien die Menschen<br />

in Beirut für die Belange ihrer Wohnumwelt und<br />

des öffentlichen Raumes zu mobilisieren und<br />

der Gleichgültigkeit in der Gesellschaft entgegenzuwirken. Neben Save Beirut<br />

Heritage und Nahnoo gibt es eine Vielzahl weiterer Organisationen, Interessensverbände<br />

und Vereine, die sich in die Stadtentwicklung Beiruts einmischen<br />

und einbringen wollen – ihre Zahl wächst.<br />

Vielleicht ist das beginnende bürgerschaftliche Engagement, der sich formierende<br />

und zunehmend wahrnehmbare Mitgestaltungswille von Bürgern<br />

Beiruts, das als wichtigstes zu bezeichnende Resultat der städtebaulichen Entwicklungen<br />

in der libanesischen Hauptstadt – eröffnet es doch möglicherweise<br />

die Option einer neuen Diskussion über Perspektiven und Planung der Stadt<br />

und damit auch die Verständigung über die <strong>Identität</strong> Beiruts. Im Spannungsfeld<br />

zunehmender sozialer Polarisierungen, der Ausdifferenzierung von Lebensstilen<br />

und der Globalisierung stellt sich die Frage nach der <strong>Identität</strong> der Stadt und<br />

ihrer Gesellschaft für Beirut neu. Immer noch befindet sich die Stadt im Ausnahmezustand,<br />

in dem sie sich mit nimmermüdem Lebenswillen und enormer<br />

Kreativität behauptet.<br />

Wird Beirut eine „antike Stadt der Zukunft“ werden, wie es Solidere in seinen<br />

zahlreichen Marketingbroschüren verspricht? In vielen Teilen der Stadt sind<br />

historische Spuren und wertvolle Gebäude vernichtet worden – teils aus ökonomischem<br />

Interesse, teils der Korruption und Spekulation des Systems geschuldet,<br />

aber auch aufgrund der Gleichgültigkeit der Gesellschaft. Vielleicht spielen dabei<br />

auch der Mangel an historischem Bewusstsein oder ein fehlendes Vermögen der<br />

Stadtbewohner, Geschichte zu bewerten und damit das bauliche Erbe wertzuschätzen,<br />

eine Rolle. Über eine solche Einschätzung gesellschaftlichen Konsens<br />

herzustellen, ist ungleich schwieriger in einer kosmopolitisch-orientalischen<br />

Metropole, die über Jahrhunderte von Christen, Drusen, sunnitischen wie schiitischen<br />

Muslimen geprägt wurde und in der die vielen nationalen und religiösen<br />

<strong>Identität</strong>en kaum eine Gemeinsamkeit zu haben scheinen. Bis heute kann man<br />

sich nicht auf eine Geschichte einigen und die widersprüchlichen <strong>Identität</strong>en<br />

sind offensichtlich ein Charakteristikum der Beiruter Stadtgesellschaft.<br />

9 Vgl. Salibi 1971, S. 80–85;<br />

Leder, 09.04.2014.<br />

24


Central District Beirut<br />

Vielleicht bietet jedoch diese <strong>Identität</strong>skrise auch eine Chance für eine Neubestimmung.<br />

Die Mühelosigkeit, mit der in Beirut bisweilen mit fundamentalen<br />

Problemen umgegangen wird, die freiheitliche Gesinnung, die Gegensätzlichkeit<br />

von Lebensstilen und Lebensauffassungen, die nebeneinander geduldet werden<br />

– all dies lässt sich auch als eine besondere Form der heute vielerorts beschworenen<br />

städtischen Resilienz deuten, einer gelebten, ganz einmaligen Widerstandsfähigkeit<br />

gegen Krisen. 9 Darin steckt ein Stück Genialität, die Beirut hoffentlich<br />

für seine zukünftige Entwicklung zu nutzen versteht.<br />

• AWADA-JALU, SAWSAN: „Der Wiederaufbau von Beirut oder das verlorene Maß“. In: Stadtbauwelt<br />

1993, Heft 36. Gütersloh, S. 1872–1877.<br />

• GAVIN, ANGUS; MALUF, REMEZ: Beirut Reborn: The Restauration and Development of the Central<br />

District. London 1996.<br />

• GAVIN, ANGUS: „Heart of Beirut: Making the Master Plan for the Renewal of the Central District“. In:<br />

Rowe, Peter und Sarkis, Hashim: Projecting Beirut: Episodes and Reconstrcution of a Modern City.<br />

München; New York; London 1998, S. 217–233.<br />

• GEBHARDT, HANS; KÖGLER, OLIVER: „Das Beispiel Libanon: Kulturelles Erbe und aktueller Stadtumbau“.<br />

In: Meyer, G. (Hg.): Die Arabische Welt im Spiegel der Kulturgeographie. Mainz 2004,<br />

S. 101–127.<br />

• LEDER, STEFAN, zitiert in: Greszyk, Tabea: „Phönizier, Osmanen, Araber: Die schwierige Geschichte<br />

des Libanon“, Deutschlandfunk Kultur, Beitrag vom 09.04.2014, http://www.deutschlandfunkkultur.de/nahost-phoenizier-osmanen-araber.984.de.html?dram:article_id=282425,<br />

letzter Zugriff:<br />

09.09.2017.<br />

• SALAM, ASSEM: „The Role of Government in Shaping the Built Environment“. In: Rowe, Peter und<br />

Sarkis, Hashim: Projecting Beirut: Episodes in the Construction and Reconstruction of a Modern City.<br />

München; New York; London 1998. S. 122–139.<br />

• SALIBA, ROBERT; SOLIDERE (Hg.): Beirut City Center Recovery: The Foch-Allenby and Etoille Conservation<br />

Area. Göttingen 2004.<br />

• SALIBI, KAMAL: „The Lebanese Identity“. In: Journal of Contemporary History, Vol. 6, 1971, S. 80–85.<br />

• SCHMID, HEIKO: „Solidere, das globale Projekt: Wiederaufbau im Beiruter Stadtzentrum“. In: INAMO,<br />

Nr. 20/99, S. 9–14.<br />

• SCHMID, HEIKO: Der Wiederaufbau des Beiruter Stadtzentrums: ein Beitrag zur handlungsorientierten<br />

politisch-geographischen Konfliktforschung. Heidelberg 2002.<br />

25


Wiederaufbau nach Verlust<br />

DOM-RÖMER-AREAL<br />

FRANKFURT<br />

Schöpferisches Nachbauen<br />

BERLIN<br />

FRANKFURT<br />

36


DOM-RÖMER-AREAL<br />

1 km<br />

Land<br />

Deutschland<br />

Stadt<br />

Frankfurt/Main<br />

Masterplan<br />

schneider+schumacher Architekten<br />

Projektentwickler und Vermarktung<br />

DomRömer GmbH<br />

Realisierungszeit<br />

2012–2017 (geplant)<br />

Größe<br />

0,7 ha, 35 Gebäude<br />

Nutzung<br />

Gastronomie, Einzelhandel, Wohnen,<br />

Hotels<br />

Referenz<br />

Vorkriegsbebauung aus dem Mittelalter<br />

37


Wiederaufbau nach Verlust<br />

Gestaltungssatzung<br />

Der Neubau „Zu den drei<br />

Römern“, Markt 40. Jordi &<br />

Keller Architekten, Berlin.<br />

2017 © Sabine Tastel<br />

„Neu, aber nicht zu <strong>modern</strong>. An der Geschichte orientiert, aber nicht altbacken.<br />

Wohnlich, qualitativ hochwertig, individuell und doch homogen im Zusammenspiel.<br />

Typisch Frankfurt, typisch Altstadt, typisch Dom-Römer-Quartier“<br />

5 – so beschreibt die DomRömer GmbH auf ihrer Website die gestalterischen<br />

Anforderungen. Um ein einheitliches Gesamtbild zu erhalten, wird eine verbindliche<br />

Gestaltungssatzung erarbeitet, die sich an der historischen Bebauung<br />

orientiert – neben der Verwendung von rotem Mainsandstein und Naturschiefer<br />

spielt auch der Bezug zu historischen Merkmalen eine wichtige Rolle, um<br />

ein harmonisches Zusammenspiel zwischen den Nach- und den Neubauten zu<br />

schaffen. Die Entwürfe sollen formale Bezüge zu den historischen Gebäuden<br />

aufweisen, trotzdem sollen die Gebäude zeitgenössisch aussehen. Darüber hinaus<br />

sollen die Bauten einen individuellen Charakter haben, um sich von ihren<br />

Nachbarn zu unterscheiden – sei es <strong>durch</strong> Höhe, Geschossigkeit oder Material.<br />

Eine sensible Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Grundstück, seiner Geschichte<br />

und seinen Anforderungen, wird vorausgesetzt. So sind steil geneigte<br />

Satteldächer mit Schiefereindeckung ebenso vorgeschrieben wie Traufhöhe und<br />

Lochfassaden. Für die Sockelzonen ist der für die Frankfurter Gegend typische<br />

Sandstein vorgesehen und die Obergeschosse sind entweder zu verputzen oder<br />

mit Schiefer oder Holz zu verkleiden. Vor allem auf die Gestaltung repräsentativer<br />

Fassaden wird großer Wert gelegt.<br />

2010 erfolgt der Abriss des Technischen Rathauses, im Januar 2012 die<br />

Grundsteinlegung für das neue Quartier. Ende 2012 sind die Keller der künftigen<br />

Altstadthäuser fertiggestellt. Zu Beginn des Jahres 2013 wird mit dem Bau<br />

des Stadthauses angefangen. Im Herbst 2014 wird für das Stadthaus Richtfest<br />

gefeiert. Seit Dezember 2014 werden die übrigen Altstadthäuser errichtet. Die<br />

Fertigstellung ist für Ende 2017 geplant.<br />

Von den rund 21.000 Quadratmetern Bruttogeschossfläche,<br />

die auf dem Dom-Römer-Areal neu bebaut werden,<br />

entfallen 12.000 Quadratmeter auf den Bereich Wohnen.<br />

Es entstehen ausschließlich Eigentumswohnungen und<br />

Einfamilienhäuser. Die Erdgeschossflächen, insgesamt<br />

6000 Quadratmeter, sind Gewerbe und Gastronomie vorbehalten,<br />

3000 Quadratmeter sind für kulturelle Nutzung<br />

vorgesehen. 6<br />

44


Dom-Römer-Areal Frankfurt<br />

1939<br />

Markt (Krönungsweg) −<br />

Nordseite um 1939 und die<br />

geplante Rekonstruktion<br />

2017<br />

Schnitt mit Blick auf das<br />

„Goldene Lämmchen“<br />

Debatte und Kritik<br />

5 DomRömer GmbH o.J.<br />

6 Vgl. Köhler 2011, S. 10.<br />

7 Oswalt, zitiert nach Weber<br />

2012.<br />

Die Debatte zwischen den Traditionalisten und den Befürworten der Moderne<br />

spiegelt sich auch in den Entwurfsergebnissen beziehungsweise ihrer<br />

Bewertung wider: Manch einem Entwurf wird angekreidet, zu wenig <strong>modern</strong>e<br />

Elemente verwendet zu haben, andere Entwürfe wiederum werden für ihren<br />

mangelnden Rekonstruktionswillen kritisiert. Viele, daneben auch der frühere<br />

Planungsdezernent Olaf Cunitz, sehen die Rekonstruktion der Altstadt als ein<br />

„Projekt der Erinnerungskultur“, um die Geschichte im Baulichen sichtbar und<br />

somit auch erlebbar zu machen. Anderen geht die Rückbesinnung entschieden<br />

zu weit. Bauhaus-Direktor Philipp Oswalt bezeichnet die Frankfurter Pläne als<br />

ein „absurdes, eigenartiges Projekt“ 7 . Der Architekt und Stadtplaner Michael<br />

Guntersdorf, Geschäftsführer der DomRömer GmbH, ist „von der Vielfalt<br />

45


Wiederaufbau nach Verlust<br />

stehen die kleinen Häuser doch der Entwicklung einer höheren baulichen Dichte<br />

und damit einer wirtschaftlicheren Ausnutzung des Bodens entgegen.<br />

Vermehrt sind Brandstiftungen im Stadtzentrum zu verzeichnen – im Zeitraum<br />

2009 bis 2014 wurden circa 40 Objekte zerstört. Allein für das Jahr 2014<br />

wurden 25 Brandstiftungen an alten Holzhäusern gezählt. 5 Darüber hinaus verhindert<br />

das Föderale Gesetz „Über die Objekte des kulturellen Erbes der Völker<br />

der Russischen Föderation“, das im Jahr 2002 in Kraft trat, 6 eine geordnete städtebauliche<br />

Entwicklung da<strong>durch</strong>, dass bei Zerstörung eines Gebäudes die zerstörten<br />

Gebäudeteile auf dem Grundstück erhalten werden müssen. So bestimmen<br />

mehrere verwahrloste Grundstücke, auf denen verkohlte Ruinen stehen,<br />

das Stadtbild.<br />

Stadt in der Transformation – Neue funktionale Anforderungen<br />

Seit Ende der Sowjetunion <strong>durch</strong>läuft die Stadt tief greifende Transformationsprozesse<br />

auf sozioökonomischer Ebene, die sich auch in der Stadtgestalt<br />

niederschlagen. So haben in den letzten zehn Jahren vor allem Geschäfte, Gastronomie<br />

und Dienstleistungseinrichtungen ins Stadtzentrum Einzug gehalten.<br />

Gebäude und in Teilen ganze Quartiersstrukturen werden umgebaut und verändert.<br />

Der Nachholbedarf an Nutzungen für die ehemals sowjetische Stadt ist<br />

enorm und es steht zu erwarten, dass der Bedarf in Bezug auf weitere funktionale<br />

Ergänzungen weiter anhält. Bislang vollzieht sich die funktionale Verdichtung<br />

nahezu ohne Kontrolle – sowohl in Bezug auf die Bebauungsstrukturen als auch<br />

auf das architektonische Erscheinungsbild. Die Erdgeschosszonen werden mit<br />

Werbeflächen bis zur Unkenntlichkeit verhängt, die oft grellen Farben beeinträchtigen<br />

das Erscheinungsbild der historischen Fassaden enorm.<br />

Durch die steigende Motorisierung wird das Stadtzentrum zunehmend<br />

<strong>durch</strong> Durchgangsverkehr und verstärkten Parkdruck belastet. 7 Lärm- und Abgasemissionen<br />

mindern die Wohn- und Aufenthaltsqualität, die grünen Innenhöfe<br />

im Umfeld der Holzhäuser werden zugeparkt. Der öffentliche Personennahverkehr<br />

mit Straßenbahnen, Trolleybussen, Bussen und Minibussen ist zu<br />

uneffektiv und unkomfortabel, um hier Entlastung zu schaffen.<br />

Der Umgang mit dem bauhistorischen Erbe<br />

– Denkmalschutz in Irkutsk<br />

5 Golowina 2014.<br />

6 Rossijskaja Federazija 2002.<br />

7 Lewaschew, 12.04.2011.<br />

Der russische Denkmalschutz vergibt Schutzstatuten in drei Kategorien: für<br />

Einzeldenkmäler, für Ensembles und für städtebaulich größere Bereiche, sogenannte<br />

Sehenswürdigkeitsorte/-plätze, und auf drei Ebenen: der staatlichen, regionalen<br />

und städtischen. Je nach Klassifizierung des Denkmalstatus sind sämtliche<br />

Maßnahmen mit den Behörden auf staatlicher, regionaler oder städtischer<br />

Ebene abzustimmen. Auf staatlicher Ebene existieren Förderprogramme, die<br />

finanzielle Unterstützung für Instandsetzung, Sanierung und Restaurierung in<br />

Aussicht stellen. Bislang sind jedoch keine Gebäude in Irkutsk in ein Förderprogramm<br />

aufgenommen, um entsprechende Gelder in Anspruch nehmen zu<br />

können. So liegt die finanzielle Last allein bei den jeweiligen Eigentümern, die<br />

aus eigener Kraft die anspruchsvolle und kostenintensive Aufgabe der Instandhaltung<br />

und Sanierung oft nicht bewältigen können.<br />

52


Quartier Nr. 130 Irkutsk<br />

Staatliche Schutzzone<br />

für einzelne Denkmäler<br />

Staatliche Schutzzone<br />

für städtebauliche Ensembles<br />

Beantragte staatliche<br />

Schutzzone für städtebauliche<br />

Ensembles<br />

1 km<br />

In einem Schutzzonenplan<br />

ist festgehalten, welche<br />

Gebäude der Stadt in<br />

welchem Grad geschützt<br />

werden sollen.<br />

Ausgewiesen sind in Irkutsk bislang sechs verschiedene Schutzzonen, die<br />

unterschiedlichen Schutzstatus garantieren. Den restriktivsten Bereich bildet<br />

die Zone der historischen Denkmäler. Hier ist die Sanierung beziehungsweise<br />

Restaurierung der alten Gebäude vorgesehen – Neubauten in <strong>modern</strong>er Architektursprache<br />

sind nicht, respektive nur in Ausnahmefällen erlaubt. Sämtliche<br />

bauliche Maßnahmen wie die Gestaltung von Freianlagen, die Anbringung von<br />

Werbung oder die Platzierung von Stadtmöbeln sind mit dem Amt für Denkmalschutz<br />

abzustimmen. In der zweiten Schutzzone sind Neubauten erlaubt, jedoch<br />

mit stringenter Regulierung von Höhe, Dichte, Bautypologie und Proportionen<br />

in enger Anlehnung an die historischen Gebäude der Umgebung. Die dritte<br />

Schutzzone umfasst Bereiche, in denen nur circa 50 Prozent der Gebäude historisch<br />

wertvoll sind. Hierfür werden Bebauungspläne entwickelt, das heißt Art<br />

und Maß der Bebauung mit gestalterischen Vorgaben <strong>durch</strong> die Stadt festlegt.<br />

Darüber hinaus gibt es weitere Schutzzonen, die nur einen geringen Bestand<br />

an Denkmälern aufweisen, sie unterliegen nur geringen Planungsrestriktionen.<br />

53


Glossar<br />

A–E<br />

62


Altstadt<br />

Umgangssprachlich wie auch unter Fachleuten ist<br />

die Altstadt, mindestens im europäischen Kontext,<br />

der historische Stadtkern. Die wenigen barocken<br />

Stadtgründungen ausgenommen, wird darunter<br />

der Stadtbereich subsumiert, dessen ursprüngliche<br />

Besiedlung ins Spätmittelalter oder in die Renaissance,<br />

also zum Ende des 16. Jahrhunderts<br />

zurückreicht. Räumlich ist die Altstadt fast immer<br />

<strong>durch</strong> eine Stadtbefestigung abgegrenzt, von der<br />

noch mindestens der historische Verlauf ablesbar<br />

ist. Häufig prägen Mauern, Bastionen, Türme, Gräben<br />

oder Wallanlagen – die heute, sofern nicht<br />

überbaut, als öffentliche Grünanlagen gestaltet<br />

sind – die Grenzen der Altstadt.<br />

Wegen der Bombardements im Zweiten Weltkrieg<br />

sind die Altstädte der deutschen Großstädte mit<br />

wenigen Ausnahmen (z.B. Regensburg) vom Wiederaufbau<br />

der 1950er und 1960er Jahre geprägt.<br />

In der Altstadt wurde (und wird) der Disput zwischen<br />

Traditionalisten und Neutönern ausgetragen<br />

(z.B. Frankfurt/Main). Restauration, auch Retrodesign,<br />

oder Bekenntnis zur Moderne in der Architektursprache<br />

und der städtebaulichen Figuration?<br />

Für die Identifikation der Bürgerschaft spielt die<br />

Architektur und Einmaligkeit der Altstadt eine elementare<br />

Rolle, als Standort von Dom oder Münster<br />

und wegen der unverwechselbaren Gestalt der<br />

Gebäude und öffentlichen Räume. Die Nutzung<br />

hat sich gleichwohl stark verändert und ist sehr<br />

heterogen, je nachdem, welches Quartier der Altstadt<br />

man betrachtet. Das Spektrum reicht von<br />

austauschbaren Hauptgeschäftslagen, extremen<br />

Kneipenvierteln, lebendigen Universitätsquartieren,<br />

variabel genutzten Marktplätzen, Bereichen für<br />

Spezialhandel in Fachgeschäften, Orten der Kultur<br />

und der repräsentativen Administration bis hin zu<br />

ruhigen Kirchen-, Klöster- und Wohnvierteln.<br />

Volker Jeschek [Stadtplaner, Hauptabteilungsleiter<br />

für Stadtplanung, Umwelt und Baurecht<br />

der Stadt Ulm]<br />

Attrappe<br />

Schlösser brachten in den vergangenen Jahren<br />

Architekturdiskussionen, Bürgerforen und Gremien<br />

in Wallung: der Wiederaufbau des Schlosses<br />

Herrenhausen Hannover (2013), des Berliner<br />

Stadtschlosses (geplant 2019), des Potsdamer<br />

Stadtschlosses (2014) und der Fassade des<br />

Potsdamer Stadtschlosses (2007), um nur einige<br />

Beispiele zu nennen. Ergänzt wird die Debatte<br />

<strong>durch</strong> die Auseinandersetzung um den Aufbau<br />

ganzer Ensembles wie dem Dom-Römer-Areal<br />

in Frankfurt/Main (2016). Auf seiner Webseite<br />

wirbt das Schloss Herrenhausen damit, das Beste<br />

aus zwei Welten zu verbinden: traditionsreiche<br />

Geschichte und innovative Konzepte, historisches<br />

Ambiente und <strong>modern</strong>ste Veranstaltungstechnik.<br />

Ornamentüberzuckerte Hotels und Wohnanlagen<br />

in Berlin und Düsseldorf – von Kitsch bis zu<br />

Disneyfizierung – finden diverse Nachfolger. Die<br />

Diskussionen um den Wiederaufbau wurden in der<br />

unmittelbaren Nachkriegszeit nachvollziehbar völlig<br />

anders geführt, sie waren geprägt von der Forderung,<br />

es müsse eine Identifikation mit allem<br />

erfolgen, was dahinter stecke: kulturtheoretisch,<br />

ideologisch, politisch. Die Nachahmung alter Vorbilder<br />

reduziert heute das Baukunstwerk auf seine<br />

technische Reproduzierbarkeit, ohne Sorge um<br />

Zeitgebundenheit und Zeitgeist, ohne das kritische<br />

Potenzial von Geschichte und Architektur. Man<br />

sieht in ihnen eine Wohlfühlkulisse.<br />

Der Begriff l’attrape wurde im Französischen ab<br />

dem 18. Jahrhundert mit der Bedeutung „auf Irreführung<br />

abzielender Gegenstand“ für Scherzartikel<br />

verwendet. Eine Attrappe imitiere das Original,<br />

täusche das Original vor, übernehme allerdings<br />

nie sämtliche Eigenschaften (Pfeifer, Etymologisches<br />

Wörterbuch des Deutschen. München 1993,<br />

S. 71). In diesem Sinn verkörpern Disneyland und<br />

Europapark Höhepunkte dieser Illusionsindustrie,<br />

Potemkinsche Dörfer, die für eine große und<br />

weiter zunehmende Besucherzahl zu Unterhaltungszwecken<br />

erfolgreich vermarktet werden. Der<br />

Wertekonsens form follows function (Louis H. Sullivan)<br />

verliert an Relevanz. Dem kommt vermutlich<br />

entgegen, dass klar definierte Typenlösungen<br />

für bestimmte Bauaufgaben tendenziell eher obsolet<br />

werden.<br />

Der aktuelle Bericht zur Baukultur Stadt und<br />

Land (2016/17) kennt den Begriff Attrappe<br />

nicht, aber die Bezeichnung Kulisse. In diesem<br />

Zusammenhang hebt er hervor, dass bauliche<br />

Sehenswürdigkeiten wie Schloss, Burg, Kirche,<br />

Kloster oder Altstadt, überhaupt das Ortsbild,<br />

63


KOPIERTE RÄUME<br />

Nachahmung als städtebauliches Prinzip


In China, einem Land, in dem das Kopieren anders als in der<br />

westlichen Welt eine lange und wertgeschätzte Tradition hat<br />

und tief in der Kultur verwurzelt ist, werden architektonische<br />

Wahrzeichen und westeuropäische Stadtteile „nachempfunden“.<br />

<strong>Historisch</strong>e Gebäude und Quartiere werden kopiert und in<br />

gänzlich neue räumliche und soziokulturelle Zusammenhänge<br />

gestellt. Insbesondere werden solche baulichen Strukturen<br />

nachgeahmt, die ein besonderes Image und damit einen Wert<br />

verkörpern – und somit als prestige- und werbeträchtige Marke<br />

gehandelt werden. Die Kopien gehen über das Nachahmen<br />

baulicher Strukturen hinaus, die westlichen Vorbilder gelten als<br />

Sehnsuchtssymbole und sind Beleg für den wirtschaftlichen und<br />

sozialen Aufstieg.<br />

Können Quartiere, herausgelöst aus ihrem geografischen und<br />

kulturellen Kontext, innerhalb des fremden Kontextes neue<br />

<strong>Identität</strong>en generieren oder bleiben sie letztlich nur Bilder, eine<br />

pittoreske Oberfläche ohne kulturelle Verankerung? Vermutlich<br />

ist es noch zu früh, um über die quasi 1:1-Kopie des österreichischen<br />

Dorfes Hallstatt und die Errichtung neuer Satellitenstädte<br />

im Großraum Schanghai mit ihren thematischen und baulichen<br />

Bezügen auf europäische Vorbilder zu urteilen. Ob die bereits<br />

stattgefundenen Transformationen darauf schließen lassen,<br />

dass es zu einem neuen Stadttypus oder aber zu einer Verschmelzung<br />

von westlicher und chinesischer Kultur kommen<br />

wird, bleibt abzuwarten.


Kopierte Räume<br />

Neue Städte als spekulative Kapitalanlage<br />

In China sind eine Vielzahl anderer Themenpark-Städte nach dem Beispiel<br />

von Anting Neustadt und Thames Town entstanden, sorgfältig rekonstruierte<br />

Versionen von bedeutenden/werbewirksamen Städten des Westens, die nun<br />

wie fremde Inseln innerhalb des geografisch und historisch integrierten kohärenten<br />

chinesischen Lebensraumes liegen. Die Entwicklungen von neuen Satelliten<br />

und Großprojekten der letzten Jahrzehnte deuten neben der mangelhaften<br />

soziokulturellen Integration vor allem auf eine veränderte Entwicklung des Immobilienmarktes<br />

hin. Der Druck auf den chinesischen Immobilienmarkt steigt<br />

nicht nur <strong>durch</strong> die wachsende Stadtbevölkerung, sondern auch aufgrund von<br />

Spekulationen und der da<strong>durch</strong> steigenden Preise. Wohnungen werden weit<br />

über den realen Bedarf hinaus gebaut, Grundstücksbewertungen sind künstlich<br />

erzeugt – so werden viele Häuser nur aus Spekulationsgründen errichtet. Die<br />

neuen Satellitenstädte werden wie Städte überall auf der Welt zu kurzfristigen<br />

Anlageplätzen weltweiten Kapitals und das Wohnen auch im bevölkerungsreichen<br />

China zur spekulativen Ware. 28 Fehlende Bodenreformen und das Bestreben<br />

vieler chinesischen Kommunen, die Preise von Bauland als eine ihrer<br />

wichtigsten Einnahmequellen hochzuhalten begünstigen dies. Die Angst vor der<br />

Immobilienblase wächst. 29 Unbestätigten Berichten zufolge lässt sich anhand der<br />

Stromzähler darauf schließen, dass 65 Millionen Wohnungen in China leer stehen<br />

und allein als Kapitalanlage fungieren. 30<br />

Kultureller Import <strong>durch</strong> Städtebau<br />

In Thames Town wird<br />

eine detailreiche Kopie<br />

der gotischen Pfarrkirche<br />

von Bristol errichtet. Abb.<br />

aus dem Video „Mountain<br />

Village 山 寨 “. 2017<br />

© Sebastian Acker und Phil<br />

Thompson<br />

Seit Jahrtausenden pflegt China einen intensiven Austausch von Waren,<br />

Technologien und Ideen mit dem Westen, beginnend mit westlichen Kaufleuten<br />

entlang der Seidenstraße im 2. Jahrhundert v. Chr. Auch der westliche Einfluss<br />

auf die chinesische Architektursprache ist kein neues Phänomen, vielmehr<br />

nimmt diese Tradition, die eigene Architektur fremden Einflüssen anzupassen,<br />

schon in der Han-Dynastie ihren Lauf. Bisweilen entsteht die „kulturelle Aneignung“<br />

auch ganz aktiv <strong>durch</strong> die Chinesen selbst – dies ist zum Beispiel in den<br />

frühen Jahren der Volksrepublik der Fall, als Mao Zedong sowjetische Architekten,<br />

Künstler und Planer einlädt, das „Rote China“ zu entwerfen.<br />

Dabei sind die „fremden“ Architekturen, die westlichen Kopien in der chinesischen<br />

Zivilisation, nur eine Manifestation der „interkulturellen Befruchtung“<br />

unter vielen. Als einer der weltweit wichtigsten<br />

Hersteller von Konsumgütern produziert<br />

das neue China nicht nur über<strong>durch</strong>schnittlich<br />

viel, sondern kopiert vor allem zahlreiche<br />

ausländische Produkte – von der High-end-<br />

Couture bis hin zu <strong>modern</strong>ster Elektronik<br />

und patentierten Arzneimitteln.<br />

Die stilistischen Ausprägungen der neuen<br />

Stadtquartiere mögen in China zunächst<br />

fremd und anachronistisch anmuten, doch<br />

der Impuls, die Vergangenheit neu zu erschaffen<br />

und das Fremde zu vervielfachen,<br />

ist sehr chinesisch. Das Nachahmen ist tief in<br />

86


Anting Neustadt und Thames Town<br />

der Kultur Chinas verwurzelt und hat sich bis heute erhalten – es findet nun in<br />

Form von Städtekopien eine neue Ausprägung. Die Kultur der Kopie, die in<br />

China – anders als im Westen – nicht stigmatisiert wird, zeigt sich in der Philosophie,<br />

im Wertesystem und in Machtbeziehungen. 31 Schon im 16. Jahrhundert<br />

beginnt China, wissenschaftliche Methoden aus dem Westen zu übernehmen,<br />

wenngleich die jeweiligen Herrscher dies oft widerwillig tun, fürchtet man doch,<br />

dass die Technologie der Fremden die Ideologien untergraben könnten, die als<br />

Grundlage für die kaiserliche Autorität dienen. 32 Im Gegenzug werden in Europa<br />

zur Jahrhundertwende östliche Philosophien und Gestaltungsmethoden von<br />

der Malerei über die Musik bis hin zur Architektur (wie von Bruno Taut, Frank<br />

Lloyd Wright und Le Corbusier) gleichermaßen bewundert und angeeignet. Mit<br />

dem Aufbau der Handelsbeziehungen kommt es zu Wechselwirkungen und immer<br />

wieder auch zu Spannungen zwischen östlichen und westlichen Lebensweisen,<br />

verbunden mit der Angst vor dem Verlust der eigenen Kultur.<br />

Architektur als Machtsymbol<br />

und Ausdruck gesellschaftlichen Aufstiegs<br />

28 Brichetti 2009, S. 99.<br />

29 Vgl. Yang 2016.<br />

30 Vgl. Pedersen 2011.<br />

31 Bosker 2013, S. 7.<br />

32 Ebd., S. 10.<br />

33 Bosker 2013, S. 9.<br />

34 Ebd., S. 17.<br />

35 Ebd., S. 118.<br />

Die finanziellen Mittel, die China für die Stadtrepliken – neuer Lebensstil inklusive<br />

– aufruft, sind enorm: Finanzielle Ressourcen für zahlreiche Wohnprojekte<br />

werden zur Verfügung gestellt, internationale Berater rekrutiert und teure<br />

Materialien importiert. 33 Die Besonderheit der heutigen Stadtkopien begründet<br />

sich auch in den politischen und soziokulturellen Umständen, unter denen die<br />

architektonischen Repliken realisiert werden. Was oberflächlich wie eine Form<br />

der Selbstkolonialisierung aussieht, ist vielmehr eine Behauptung von Chinas<br />

Vormachtstellung. In einer sich dynamisch verändernden Welt möchte China<br />

sich neu positionieren. In einem globalen Komplex politischer und ökonomischer<br />

Wechselbeziehungen und unter den Bedingungen des technologischen<br />

Fortschritts unternimmt das Land Bemühungen, ökonomische, politische und<br />

strategische Überlegenheit herzustellen. Symbolisch stehen diese thematischen<br />

Gemeinschaften für nationalen Reichtum und technologischen Fortschritt. Sie<br />

signalisieren Chinas Absicht, den Westen einzuholen und zu übertreffen und<br />

sich als erste Weltmacht zu etablieren. 34<br />

Die Tradition des Duplizierens und Imitierens erreicht mit den Stadtkopien<br />

der letzten Jahre eine neue Qualität, denn die westlichen Stadtduplikate gehen<br />

weit über die Kopie von Architekturen und technischen Konstruktionen hinaus.<br />

35 Es geht um weit mehr als nur um die Übernahme verschiedener Baustile;<br />

es geht auch um Bautechnologien, etwa für eine nachhaltige und energieeffiziente<br />

Architektur, aber ebenso um Lebensstile, die von Investoren als Marketing -<br />

strategie entdeckt werden. Über die oberflächliche Erscheinung hinaus sollen<br />

das Gefühl, die Atmosphäre und das Erleben westlicher Stadtgesellschaft importiert<br />

werden.<br />

Das Phänomen der architektonischen und städtebaulichen Nachahmung ist<br />

auch vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Transformationsprozesse im<br />

Land zu sehen. In einer Phase großer Veränderungen werden westliche Architekturen<br />

zu Ikonen des gesellschaftlichen Aufstiegs. Sie sind Beleg für die zunehmende<br />

Herausbildung einer starken chinesischen Mittel- und Oberschicht – und<br />

die mit dieser Entwicklung einhergehende Veränderung der funktionalen und<br />

ästhetischen Anforderung an den Siedlungsraum. Trotz der im 20. Jahrhundert<br />

87


Kopierte Räume<br />

Die Nachbildung: Hallstatt in China<br />

Blick auf das nachgebaute<br />

Hallstatt in China. Abb.<br />

aus dem Video „Mountain<br />

Village 山 寨 “. 2017<br />

© Sebastian Acker und Phil<br />

Thompson<br />

1 Vgl. dpa 2012.<br />

2 Lam 2011, S. 3.<br />

3 Vgl. sto/dpa 2011.<br />

4 Wittek 2015, S. 10.<br />

5 Ebd., S. 10.<br />

6 Vgl. o.A. 2012.<br />

7 Vgl. Medina 2012.<br />

8 Vgl. dpa 2012.<br />

9 Vgl. sto/dpa 2011.<br />

Das chinesische Hallstatt befindet sich am Rand der Stadt Boluo in der südchinesischen<br />

Provinz Guangdong, die zum Verwaltungsgebiet der 3-Millionen-Stadt<br />

Huizhou gehört. Boluo hat circa 820.000 Einwohner und wurde vor<br />

2000 Jahren zum ersten Mal geschichtlich erwähnt. 1 Guangdong gilt als eine der<br />

reichsten Provinzen Chinas und ist mit über 100 Millionen Einwohnern auch<br />

die bevölkerungsstärkste Provinz. 2 Durch ein dichtes Straßen- und Bahnnetz,<br />

den Baiyun International Airport und den Containerhafen in Shenzhen verfügt<br />

Guandong über eine leistungsstarke Infrastruktur. Mit dem Entwicklungsplan<br />

für das Pearl River Delta 2008–2020 soll die Wirtschaftsstruktur <strong>modern</strong>isiert<br />

und das Perlflussdelta zu einem der dynamischsten Wirtschaftsstandorte der<br />

Welt ausgebaut werden.<br />

Hier ist auf circa einem Quadratkilometer Baufläche und in nur einem Jahr<br />

Bauzeit die mehr oder weniger detailgetreue Kopie des historischen Dorfzentrums<br />

von Hallstatt am See entstanden. Initiator und verantwortlich für das<br />

Projekt ist das chinesische Bergbau-Unternehmen Minmetals Corp., das als<br />

Staatsbetrieb bereits 1950 gegründet wurde. Heute ist es mit circa 140 Tochterunternehmen<br />

weltweit aktiv. Hauptgeschäftsbereich ist die Erschließung von<br />

metallischen und mineralischen Bodenvorkommen, darüber hinaus ist das Unternehmen<br />

auch im Finanz-, Immobilien- und Logistikbereich tätig.<br />

Vom Planungsprozess ist nicht allzu viel bekannt, offensichtlich wurde er<br />

für eine ganze Zeit geheim gehalten. Als Touristen getarnt, hatten chinesische<br />

Architekten drei Jahre lang das historische Stadtzentrum von Hallstatt genau<br />

fotografiert, dokumentiert und abgezeichnet,<br />

3 um eine detaillierte Bestandsaufnahme<br />

des Ortes vorzunehmen – ohne Kenntnis und<br />

Genehmigung der österreichischen Akteure. 4<br />

Der chinesische Projektname für das kopierte<br />

Dorf lautet „Wukuang Hashitate“ – wobei<br />

„Wukuang“ die chinesische Abkürzung für<br />

den verantwortlichen Baukonzern Minmetals<br />

Corp. ist und „Hashitate“ die chinesische<br />

Übersetzung von Hallstatt.<br />

Die meisten Sehenswürdigkeiten des österreichischen<br />

Dorfes sind gemäß den Aufzeichnungen<br />

der chinesischen Architekten<br />

als Kopie in China realisiert worden, inklusive<br />

zentralem Markplatz, Gassen und einem 400 Jahre alten Hotel. 5 Um dem<br />

österreichischen Original möglichst nahe zu kommen, wurden nicht nur die<br />

Häuser, sondern auch die Berge und der See künstlich um das chinesische Dorf<br />

angelegt. 6 Die Nachbildung ist jedoch nicht nur baulicher oder landschaftlicher<br />

Natur: Blumen hängen von Balkonen und Laternen, Weinreben ranken sich an<br />

Häuserfassaden empor, chinesische Wachleute und andere Bedienstete laufen in<br />

traditionellen österreichischen Trachten umher und geschickt versteckte Lautsprecher<br />

liefern den österreichischen Soundtrack – zwitschernde Vögel oder österreichische<br />

Walzer. Es wurden sogar Tauben aus Österreich importiert. 7<br />

94


Hallstatt<br />

Hallstatt in China, 2017<br />

100 m<br />

Trotz aller Bemühungen ist die Nachbildung als solche erkennbar – und das<br />

liegt nicht nur an den tropischen Palmen und der künstlichen Landschaft, die<br />

jener in Österreich nicht entspricht. Mit seinen steil abfallenden Ufern ist der<br />

Hallstätter See Zeuge seiner eiszeitlichen Vorgeschichte und erinnert an einen<br />

nordischen Fjord. Diesem Anspruch kann sein Pendant in China im wahrsten<br />

Sinne des Wortes „nicht das Wasser reichen“. Mit einer Größe von 0,5 mal<br />

0,4 Kilometern ist der chinesische See zudem um ein Vielfaches kleiner als sein<br />

österreichisches Vorbild (8,2 mal 2,1 Kilometer). Bei genauer Betrachtung fallen<br />

zudem die seitenverkehrte Platzierung des Dorfes sowie Abweichungen der Gebäude<br />

in Bezug auf Geschossigkeiten, Fensteranordnungen und Konstruktion<br />

auf. Im Gegensatz zum Original ist auf dem Dorfplatz eine typisch rote Telefonzelle<br />

aus London 8 platziert und im Dorfbrunnen sind Kois zu finden. Vor<br />

der Kirche wiegen sich Palmen im Wind und im Restaurantnamen „Feinschmecker-Treffpankt“<br />

hat sich ein Schreibfehler eingeschlichen. An anderen Stellen<br />

scheint die Kopie das Original zu übertreffen: So sind beispielsweise die Kanaldeckel<br />

im chinesischen Hallstatt mit der Aufschrift „Hallstatt am See“ versehen<br />

– diese findet sich nicht im österreichischen Vorbild. 9<br />

95


Neue alte Städte<br />

Die Baukunst der Niederlande steht gemeinhin für eine <strong>modern</strong>e<br />

Avantgarde – doch wie lange noch? Denn auch hier wird<br />

für die Stadtentwicklung der Zukunft nun die Vergangenheit<br />

bemüht und zwar für den Bau ganzer neuer Städte. Werden<br />

die Niederlande nach der Super-Dutch-Bewegung nun Schauplatz<br />

einer ultra-konservativen Entwicklung? Nordwestlich von<br />

’s-Hertogenbosch ist mit Haverleij eine Burgenlandschaft in<br />

grüner Idylle entstanden.<br />

Neohistorische Tendenzen in der Stadtentwicklung<br />

Der bereits seit den frühen 1980er Jahren international aufkommende<br />

Trend, Quartiere im historischen Stil wiederaufzubauen oder neue Siedlungen<br />

in traditioneller Formensprache zu gestalten, findet Mitte der 1990er Jahre auch<br />

in den Niederlanden Anklang. 1 Seither ist zwischen Maastricht und Amsterdam<br />

eine Vielzahl neuer Stadtviertel entstanden, die ähnlich wie der amerikanische<br />

New Urbanism auf Typologien alter europäischer Vorbilder zurückgreifen und<br />

der zunehmenden Suburbanisierung entgegentreten wollen. 2 Zunehmend werden<br />

historisierende Quartiere und Gebäude erstellt.<br />

Erste neohistorische Entwicklungen finden sich im Stadterneuerungsprojekt<br />

De Resident (1998–2002): Rob Krier, Adolfo Natalini, Michael Graves und<br />

Sjoerd Soeters entwerfen ein neues Verwaltungs- und Dienstleistungszentrum<br />

mit 400 Wohnungen, Geschäften und Büros, das sich mit seinem Netz aus Passagen,<br />

Straßen und kleinen Freiflächen, die sich rings um einen hufeisenförmigen<br />

Platz gruppieren, deutlich an historischen Vorbildern orientiert. Mitte der<br />

1990er Jahre entwirft Natalini in historisierenden Formen auf dem kriegszerstörten<br />

Marktplatz von Groningen den Waag-Komplex und in Helmond eine<br />

kulissenhafte Plaza mit einem Ensemble aus Kulturzentrum, Bürokomplex, Kinocenter<br />

sowie 175 Wohneinheiten. 3<br />

Ab 1998 entsteht am Rande der Stadt Helmond mit Brandevoort auf<br />

Grundlage der Planungen von Rob Krier und Christoph Kohl ein vollständig<br />

neuer Vorort, in dessen Mitte eine von Wassergräben umgebene Anlage mit<br />

6000 Wohnungen realisiert wird. Tore, Türme und historisierende Ziegelsteinfassaden<br />

mit leicht variierenden Traufhöhen sollen das Bild einer mittelalterlichen<br />

Kleinstadt Brabants in Erinnerung rufen. 4 Dabei setzen die Quartiere<br />

bewusst auf imaginierte städtebauliche Typologien aus der Vergangenheit. Die<br />

historischen Vorbilder werden nicht <strong>durch</strong> eine zeitgemäße Architektursprache<br />

neu interpretiert, sondern Geschichte wird auf eine „assoziative Folie“ 5 reduziert.<br />

Gründe für diese Entwicklungen sind auch in einer veränderten Raumund<br />

Wohnungspolitik in den Niederlanden zu sehen, die seit den 1990er Jahren<br />

vollzogen wird.<br />

120


Haverleij<br />

Das VINEX-Bauprogramm<br />

1 Welzbacher 2005, S. 13.<br />

2 Vgl. Uhde 2006.<br />

3 Adam 2009, S. 88.<br />

4 Ebd., S. 89.<br />

5 Vgl. Uhde 2006.<br />

6 Welzbacher 2004, S. 13.<br />

7 Van Veldhuizen 2011, S. 5.<br />

8 Priemus 2001, S. 14.<br />

9 Ebd., S. 16.<br />

10 Ebd., S. 14.<br />

11 Ebd., S. 15; Stimpel 2007.<br />

12 Vgl. Priemus 2001, S. 17.<br />

13 Ebd., S. 17.<br />

14 Ebd., S. 15ff.<br />

15 Ebd., S. 17.<br />

Bis Ende der 1980er Jahre ist der Wohnungsbau in den Niederlanden staatlich<br />

gesteuert und somit nur bedingt den Fluktuationen und Nachfragen des<br />

Marktes unterworfen. Bis zu umfangreichen Reformen in den 1990er Jahren<br />

befindet sich fast der gesamte Boden in staatlichem Besitz. 6 Aufgrund komplexer<br />

Wechselwirkungen zwischen Sozialwohnungsbaugesetzen, dem niederländischen<br />

Bodenrecht, der Landesplanung und einzuhaltenden EU-Richtlinien in den<br />

späten 1990er Jahren werden der Landbesitz und somit der Wohnungsbau der<br />

Niederlande zunehmend liberalisiert. Auf diese Weise sinkt die Einflussnahme<br />

der öffentlichen Hand in Fragen der Siedlungsarchitektur. 7 Einhergehend mit der<br />

Privatisierung des Bodenrechtes wandeln sich die Niederländer von einem „Volk<br />

von Mietern“ zunehmend zu einem „Volk von Eigentümern“.<br />

1990 verabschiedet die niederländische Regierung das vom Ministerium<br />

für Wohnungsbau, Raumplanung und Umwelt erarbeitete neue Bauprogramm<br />

VINEX (Vierde Nota Ruimtelijke Ordening Extra). Ziel des staatlichen Instrumentes<br />

ist eine kontrollierte Siedlungsentwicklung, die eine weitere Zersiedelung<br />

des Landes verhindern und kompaktere Siedlungsformen realisieren soll. 8 Das<br />

Programm legt im ganzen Land Standorte und Einwohnerdichten für Stadterweiterungen<br />

fest. Mit einer guten Anbindung an den öffentlichen Personennahverkehr<br />

und sozialer Durchmischung sollen urbane Qualitäten in die Stadtrandlagen<br />

gebracht werden. 9 Ziel ist es, eine kontrollierte Siedlungsentwicklung zum<br />

Erhalt kompakter Städte herbeizuführen und dabei klare Kanten zwischen Stadt<br />

und Land zu sichern. 10 Insgesamt werden rund 750.000 Neubauwohnungen in<br />

VINEX-Erweiterungsgebieten geplant, 80 Prozent davon als Einfamilienhäuser. 11<br />

Gleichzeitig wird die Wohnungsbauförderung dezentralisiert. Die großen<br />

Zuschüsse an staatliche oder staatsnahe Baugesellschaften werden abgeschafft,<br />

es gibt nun nur noch geringe Förderungen, die von den Regionalverwaltungen<br />

verteilt werden. Statt vormals starker Einflussnahme <strong>durch</strong> den niederländischen<br />

Staat sind nun verstärkt die kaufende und mietende Mittelschicht beziehungsweise<br />

Investoren tätig. Die Gestaltungsmacht der Bauten liegt somit in der Hand der<br />

Gemeinden und ihrer Bauträger. Durch den Rückzug des Staates aus seiner regulierenden<br />

Rolle, mit gestalterischen Vorgaben und finanziellen Unterstützungen<br />

im Bereich der Architektur müssen nun die Gemeinden mit Bauunternehmen<br />

und sogenannten Public-private-Partnerships die Herausforderung der ungewohnten<br />

Verantwortung und monetären Belastung annehmen. Leider scheint<br />

dies in vielen Fällen nicht zu funktionieren. Viele VINEX-Siedlungen entstehen<br />

als triste Vororte mit monotonen Reihenhäusern.<br />

In den Jahren nach dem Erlass des Papieres entstehen jährlich 600.000<br />

Wohneinheiten. 12 Diese finden am Markt einen guten Absatz – die VINEX-Siedlungen<br />

stillen das Bedürfnis nach Grundbesitz 13 – und doch sind die planerischen<br />

Defizite unübersehbar. Zwar verfolgt das VINEX-Programm auf dem Papier die<br />

funktionsgemischte und dichte Stadt, doch sieht die Wirklichkeit meist anders<br />

aus. Viele der entstandenen VINEX-Gebiete sind monofunktionale Schlafstädte.<br />

14 Es mangelt an gemeinschaftlichen Einrichtungen. Da sich der Ausbau der öffentlichen<br />

Verkehrsnetze als unwirtschaftlich erweist, bleibt die geplante Anbindung<br />

aus. Diese Mängel und der monotone Charakter der Erscheinungsformen<br />

führen zunehmend zur Kritik an den VINEX-Siedlungen. 15 Das Projekt Haverleij<br />

soll auf diese Kritikpunkte reagieren.<br />

121


Neue alte Städte<br />

POUNDBURY<br />

Neotraditionelle Modellstadt<br />

DORSET<br />

LONDON<br />

130


POUNDBURY<br />

1 km<br />

Land<br />

Vereinigtes Königreich<br />

Stadt<br />

Dorchester, Grafschaft Dorset<br />

Masterplan<br />

Prinz Charles, Léon Krier<br />

Planungs- / Realisierungszeit<br />

Phase I: 1993–1999<br />

Phase II: 2000–2013<br />

Phase III & IV in Planung<br />

Fertigstellung bis 2025<br />

Größe<br />

161 ha, 5000 Einwohner<br />

Referenz<br />

Umsetzung der Grundsätze des New<br />

Urbanism<br />

131


Neue alte Städte<br />

Jahrelang galt das frei stehende Einfamilienhaus in den ausufernden<br />

Weiten der Vororte und Speckgürtel als einzig mögliche<br />

Wohnform der weißen amerikanischen Mittelschicht. Im<br />

ethnisch bunten Tucson in Arizona wird seit der Jahrtausendwende<br />

eine Rückbesinnung auf lokale Bautraditionen und<br />

Nachverdichtung innerstädtischer Bereiche erprobt. Der Einzug<br />

des New Urbanism geht einher mit einer Förderung alternativer<br />

Fortbewegungsmittel und funktionaler Durchmischung. Kann<br />

der Mercado District als Beispiel für eine neue Stadtplanung<br />

amerikanischer Mittelstädte herangezogen werden?<br />

<strong>Historisch</strong>e Entwicklung<br />

Tucson, eine Stadt mit über 520.000 Einwohnern und die zweitgrößte Stadt<br />

des Bundesstaates Arizona, befindet sich in unmittelbarer Nähe zur mexikanischen<br />

Grenze. Das heutige Stadtgebiet, günstig gelegen am Fluss zwischen Berg -<br />

ketten, gehört zu den am ältesten besiedelten Gebieten Nordamerikas. Erste<br />

landwirtschaftliche Nutzungen mit Bewässerungskanälen <strong>durch</strong> indigene Stämme<br />

lassen sich zurückdatieren bis ins Jahr 1200 v. Chr. Ebenfalls dokumentiert<br />

sind die Gründung einer jesuitischen Mission Ende des 17. Jahrhunderts sowie<br />

der spätere Ausbau zum Kloster, welches sich unmittelbar südlich vom Menlo<br />

Park Mercado District befand – das Kloster wurde bereits 120 Jahre nach seiner<br />

Gründung wieder aufgegeben und verfiel ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Zu<br />

dieser Zeit wird Tucson Teil der USA, nach der Unabhängigkeit von Spanien<br />

im Jahre 1821 ist es zunächst Teil von Mexiko und wird nach dem Mexikanisch-Amerikanischen<br />

Krieg von Mexiko an die USA verkauft.<br />

Ende des 19. Jahrhunderts ist Tucson vorübergehend die Hauptstadt des<br />

Bundesstaates Arizona. In dieser Zeit wird die University of Arizona gegründet<br />

und es kommt zum ersten signifikanten Bevölkerungswachstum. Bis zum Beginn<br />

des 20. Jahrhunderts vervierfacht sich die Bevölkerung auf über 13.000 Einwohner.<br />

Dementsprechend verändert sich auch das Stadtbild. War bis dahin eine<br />

eher niedrigere, aber dichte Bebauung aus einfachen Lehmziegeln für den Ort<br />

charakteristisch, entstehen ab den 1930er Jahren die ersten bescheidenen Hochhäuser<br />

mit elf Geschossen. Die Bevölkerung steigt bis in die 1950er Jahre auf<br />

über 45.000 und bis in die 1960er Jahre sprunghaft auf knapp 215.000 Einwohner<br />

an. Zu dieser Zeit besteht die Bevölkerung zu über 70 Prozent aus weißen<br />

Amerikanern. Heute leben im Stadtgebiet über eine halbe Million Menschen,<br />

davon sind circa 40 Prozent Menschen spanischer beziehungsweise lateinamerikanischer<br />

Herkunft. 1<br />

1 Unites States Census Bureau<br />

2010.<br />

2 Vgl. Schemionek 2005, S. 25.<br />

146


Mercado District Tucson<br />

Vom Urban Renewal zum New Urbanism<br />

Mit der Expansion geht eine<br />

räumliche Veränderung der<br />

Stadtstruktur einher<br />

1862<br />

1872<br />

Erweiterungen nach<br />

1872<br />

Ab den 1950er Jahren setzt in den USA verstärkt die Entwicklung des sogenannten<br />

Urban Sprawl ein – am Rande der Städte entstehen, unterstützt <strong>durch</strong><br />

die Verbreitung des Automobils und die Bereitstellung finanzieller Förderprogramme,<br />

ausufernde Teppiche von Einfamilienhausgebieten. Nach und nach<br />

ziehen, teils aus steuerlichen Gründen, teils aus Platzgründen auch Gewerbe und<br />

der Dienstleistungssektor aus den Städten in die Vororte. 2 Zurück bleiben in<br />

der Regel diejenigen, die sich einen Umzug nicht leisten können. Auch Tucson<br />

wächst in dieser Zeit in die Fläche. Vor allem im Norden und im Osten der Stadt<br />

werden großflächige Einfamilienhausgebiete errichtet. Ausgehend von der ursprünglich<br />

spanischen Planstadt entwickeln sich die neuen Quartiere auf einem<br />

orthogonalen Straßenraster, das heute die gesamte Metropolregion in Quadraten<br />

von annähernd einer Meile Länge strukturiert und von zwei großen Bundesstraßen<br />

<strong>durch</strong>schnitten wird.<br />

Während Tucson an den Rändern, das heißt nach außen, wächst, verfällt<br />

die historische Innenstadt zusehends beziehungsweise wird aktiv zerstört. Der<br />

schlechte bauliche Zustand der zum Teil Jahrhunderte alten Lehmziegelhäuser<br />

und neue Sicherheitsbestimmungen machen Sanierungsmaßnahmen erforderlich,<br />

die für die zumeist sozial schwachen Bewohner unerschwinglich sind. Kredite<br />

werden oft verweigert – schließlich wird der Abriss der Gebiete im Zuge des<br />

Urban Renewal bereits diskutiert. Die Stadt will ab den 1960er Jahren mit einem<br />

Erneuerungskonzept für die Innenstadt der zunehmenden Entwicklung in die<br />

Fläche und dem Abzug des Kapitals (Gewerbe und Dienstleistung) in die Randbezirke<br />

entgegenwirken. Unter dem Begriff des Urban Renewal wird großflächiger<br />

Abriss und die Vertreibung der innerstädtischen Bevölkerung unter dem<br />

Vorwand einer infrastrukturellen Erneuerung der Innenstadt betrieben – ein in<br />

dieser Zeit nicht nur in Tucson auftauchendes Phänomen.<br />

01 02 03<br />

Mit dem Ziel der „Erneuerung“<br />

werden großflächige<br />

Teile der Innenstadt in den<br />

1960er Jahre abgerissen.<br />

Großformatige Gebäude<br />

und breite Straßen prägen<br />

ab den 1960er Jahren das<br />

Stadtzentrum.<br />

01 1886<br />

02 1970<br />

03 2002<br />

147


Neue alte Städte<br />

Am 4. Januar 2010 wird der Burj Khalifa als höchstes Gebäude<br />

der Welt mit großem Pomp eingeweiht. Nahezu unbemerkt ist in<br />

seinem Schatten ein neues Stück Altstadt entstanden – The Old<br />

Town Dubai. Schnell ist klar, dass es sich nicht um eine Rekonstruktion<br />

einer alten Stadt an dieser Stelle handelt, sondern um<br />

eine sehr <strong>modern</strong>e Interpretation des baukulturellen Erbes von<br />

Dubai. Ist The Old Town Dubai der ernsthafte Versuch, einen<br />

zeitgenössischen islamischen Städtebau zu entwickeln, der sich<br />

auf lokale Traditionen und Wurzeln besinnt? Oder handelt es<br />

sich letztendlich nur um eine weitere Vermarktungsstrategie für<br />

ein Immobilienprojekt, das sich an internationale Käufer richtet?<br />

Städte am Golf<br />

Die Städte am Golf waren schon immer Schmelztiegel der verschiedenen<br />

Anrainerkulturen und so finden sich in der Architektur neben arabischen auch<br />

iranische und indische Einflüsse. Der zu vier Seiten offene Windturm ist beispielsweise<br />

eine persische Typologie zur natürlichen Kühlung der Häuser, den<br />

sunnitische Händler mitbrachten, als sie sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts im<br />

heute noch erhalten Viertel Bastakiya niederließen. 1 Die Stadt- und Wohnräume<br />

entspringen der Tradition der Nomaden-Völker, deren temporäre Siedlungen<br />

sich vor allem in die Fläche ausdehnen. Diese flächenhafte Struktur und die<br />

strenge Geschlossenheit der Gebäude nach außen – das Private soll den Blicken<br />

der Öffentlichkeit verborgen bleiben – sind wesentliche Kennzeichen traditioneller<br />

islamischer Städte. 2<br />

Vor allem vier Gebäudetypologien prägen die Städte am Golf: Wachtürme,<br />

Moscheen, Souks und Hofhäuser, die eng aneinander platziert werden, um<br />

Windschneisen zu bilden und Schatten zu spenden. Grün- und Freibereiche für<br />

die Bewohner liegen traditionell innerhalb der Privathäuser oder Moscheen.<br />

Freie Plätze mit repräsentativen Gebäuden oder öffentliche Außenbereiche,<br />

abgesehen von Märkten, sind für die islamische Stadtstruktur untypisch. 3 Die<br />

Gebäude bestehen hauptsächlich aus Muschelkalk und Gips. Die einzige Verzierung<br />

an den meist kahlen Häuserwänden sind reich ornamentierte Tore aus<br />

Palmholz.<br />

1 Mitchell 2009, S. 130ff.<br />

2 Villanueva 2009, S. 13ff.<br />

3 Ebd., S. 150.<br />

4 Lorenz 2008, S. 18.<br />

5 Ebd., S. 27.<br />

6 Schmid 2009a, S. 56.<br />

7 Lorenz 2008, S. 36.<br />

8 Ebd., S. 54.<br />

158


The Old Town Dubai<br />

Die Anfänge der Stadtentwicklung in Dubai<br />

Dubai-Stadt ist mit über zwei Millionen Einwohnern die größte Stadt der<br />

Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Hauptstadt des Emirats Dubai.<br />

Sie liegt am Khor (Creek), einem 14 Kilometer langen, an der Mündung nur<br />

115 Meter breiten und im Landesinneren bis zu 1,4 Kilometer breiten natürlichen<br />

Meeresarm des Persischen Golfs. An diesem siedeln sich zunächst Fischer<br />

und Perlentaucher in einfachen Hütten an. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts<br />

leben dort etwa 10.000 Menschen. 4 Nach und nach entwickeln sich die beiden<br />

Städte Deira auf der Nord- und Bur Dubai auf der Südseite des Creek. Die frühesten<br />

Luftaufnahmen der Stadt aus dem Jahr 1950 zeigen ganz im Süden das Dorf<br />

Jumeirah und die drei am Creek gelegenen Siedlungen Al Shindagh, Bur Dubai<br />

und Deira, in deren Zentren Häuser aus Korallenstein und Lehm auszumachen<br />

sind. 5 Dubai wächst nach und nach aus diesen Siedlungen zusammen – ein historisches<br />

Zentrum im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Bis in die 1960er Jahre lebt<br />

Dubai hauptsächlich von der Perlenfischerei und vom Goldhandel. 6<br />

Große Erdölvorkommen begründen den Boom Dubais und ermöglichen<br />

gewaltige Infrastrukturinvestitionen. In den 1970er Jahren beginnt Dubai mit<br />

dem Erdölexport. Die Bevölkerung wächst auf 59.000 Einwohner an. 1971, nach<br />

knapp 80 Jahren unter britischem Protektorat, werden die Vereinigten Arabischen<br />

Emirate gegründet. 1960 und 1971 wird vom britischen Architekten John<br />

R. Harris jeweils ein Masterplan für Dubai erstellt – beide haben vor allem die<br />

infrastrukturelle Entwicklung der Stadt zum Ziel. 7 Die im ersten Masterplan<br />

vorgesehene Idee, ein neues Zentrum anzulegen, wird jedoch nicht verwirklicht.<br />

Im Jahr 1977 hat Dubai bereits 207.000 Einwohner. Der zunehmende Wohlstand<br />

zeigt sich auch in der baulichen Entwicklung. An keinem anderen Ort der<br />

Welt entstehen zu Beginn der 2000er Jahre so viele aufsehenerregende Bauwerke<br />

wie in Dubai. Dabei wird meist in Superlativen gebaut: Es entstehen das<br />

höchste Gebäude der Welt, das einzige 7-Sterne-Hotel der Welt und die Inselaufschüttungen<br />

in Palmenform im Golf, die die Küstenlinie des kleinen Emirats<br />

um 360 Kilometer verlängern, sowie 300 weitere künstlich angelegte Inseln, die<br />

die Weltkarte nachbilden und The World heißen. 8 Beispielhafte Struktur der<br />

orientalischen Stadt. Vom<br />

<strong>durch</strong>gehenden Hauptstraßennetz<br />

zweigen sich<br />

verästelnde Wohnstraßen<br />

ab, die als Sackgassen<br />

enden.<br />

159


Neue alte Städte<br />

The Old Town Island<br />

besteht aus:<br />

01 Attareen Residence<br />

02 Island Plaza<br />

03 Island Saaha Offices<br />

04 Island Palace Hotel<br />

05 Al Bahar Residence<br />

06 Island Souk Al Bahar<br />

07 Tajer Residence Zanzebeel<br />

The Old Town<br />

Island<br />

The Old Town<br />

Dubai<br />

04<br />

01<br />

05<br />

06<br />

03<br />

02<br />

07<br />

13<br />

The Old Town Dubai<br />

besteht aus:<br />

08 Zanzebeel<br />

09 Kamoon<br />

10 Miska<br />

11 Zaafaran<br />

12 Reehan<br />

13 Yansoon<br />

08<br />

09<br />

10<br />

11<br />

12<br />

Blick auf Island Gate und<br />

Island Plaza. Die Türme<br />

imitieren das al-Fahidi-Fort<br />

– sie dienen als Dachterrassen.<br />

2017 © Helen Kropp<br />

2008 wird The Old Town Dubai auf einer künstlich angelegten Halbinsel<br />

fertiggestellt. Das Gebiet ist in sechs Quartiere unterteilt, die jeweils aus vier bis<br />

neun Wohnblöcken mit Gebäudehöhen von drei bis sechs Geschossen bestehen.<br />

Insgesamt entstehen 1560 Wohnungen. Über das ganze Gebiet verteilt finden<br />

sich Nachahmungen der Ecktürme des al-Fahidi-Forts in acht- oder rechteckigen<br />

Formen, deutlich am aufgesetzten Zinnenkranz zu erkennen. Sie dienen nun<br />

als Dachterrassen. In der repräsentativen Anlage finden sich triumphbogenartige<br />

Durchgänge, axiale Platzfolgen und prächtige Treppenanlagen. Die Gebäude<br />

staffeln sich von den Plätzen auf bis zu sechs Geschosse, sodass die Gassen, die<br />

breiter als die der historischen Zentren angelegt und zusätzlich mit Vorgärten<br />

dekoriert sind, dennoch schmal wirken. Die Fassaden sind einheitlich weiß oder<br />

beige und glatt verputzt. In Anlehnung an die Häuser der historischen Viertel<br />

sind sie zudem mit Vor- und Rücksprüngen im Mauerwerk gegliedert. Außerdem<br />

werden sie horizontal <strong>durch</strong> Gesimse geteilt. Als Zierelemente wurden der<br />

typische Sandstein und Muschelkalk sowie Beton und farbige Fliesen verwendet.<br />

Die meisten Wohnungen besitzen straßenseitig private Freiräume. Die Gestaltung<br />

der Arkaden kopiert die Stile aller Epochen, die am Sheikh Saeed Al<br />

Maktoum House vorzufinden sind, teilweise<br />

sind sie jedoch über alle Geschosse erhöht, um<br />

darin Loggien anzubieten. Die sonst so typischen<br />

Windtürme finden sich nicht im Quartier,<br />

auch nicht als Kulissenarchitektur mit<br />

einer anderen Funktion. Dafür werden <strong>durch</strong><br />

flach geneigte und mit Ziegel gedeckte Dächer<br />

Akzente gesetzt, die in ihrer Umsetzung,<br />

insbesondere in der Ausbildung der Traufe,<br />

stark an die maurischen Bauten in Südspanien<br />

erinnern.<br />

162


The Old Town Dubai<br />

The Old Town Dubai und The Old Town Island, 2017<br />

200 m<br />

163


Glossar<br />

unterschiedliche städtische Bedingungen zu erhalten.<br />

Der Stadtplaner zeichnet diese Stadtpläne<br />

in der Regel neu und macht sich auf diese Weise<br />

mit jeder Ecke des sich ändernden städtischen<br />

Geflechts vertraut. Dieser Tabula-rasa-Ansatz wäre<br />

nicht möglich gewesen, wenn man sich einzig als<br />

Fußgänger <strong>durch</strong> die Stadt bewegt hätte.<br />

Charles P. Graves [Architekt, Professor für<br />

Architektur, Kent State University, Ohio]<br />

Relikt<br />

Das Relikt ist ein Überbleibsel, ein lieb gewonnenes<br />

Erinnerungsstück, ein erhaltenswerter Rest<br />

von etwas von Bedeutung. Oder ist es doch eher<br />

ein angestaubtes Ding, ständig im Weg, nicht mehr<br />

wirklich zu gebrauchen und mehr störend als nützlich?<br />

Beides ist richtig. Und das macht die Sache<br />

kompliziert.<br />

Dem Relikt begegnet man zunächst meist mit Respekt<br />

und Ehrfurcht, schon des Alters wegen: ein letzter<br />

Überrest, ein Original, schützenswert, da das Ganze,<br />

zu dem es einmal gehörte, schon unwiederbringlich<br />

verloren ist. Gut, wenn man da wenigstens noch<br />

etwas übrig hat, von dem aus sich auf das einstige<br />

große Ganze schließen lässt; von dem ausgehend<br />

man sich erinnert, nachempfinden kann, wie es war,<br />

damals, als das Relikt noch kein Relikt war.<br />

Was aber tun, wenn das große Ganze, das jetzt<br />

gerade neu entstehen könnte, unmöglich wird, nur,<br />

weil das Relikt im Weg ist? Wenn das Neue so stark<br />

verändert, verformt, umgemodelt und angepasst<br />

werden muss, dass es überall klemmt, nicht richtig<br />

passt, nicht richtig funktionieren kann? Und das alles<br />

wegen eines seltsamen Überbleibsels von zweifelhaftem<br />

Wert? Ist das Relikt Fluch oder Segen? Und wer<br />

entscheidet am Ende, wie mit ihm umzugehen ist?<br />

Ein einfaches Beispiel: Eine Amphore aus dem<br />

frühen 5. Jahrhundert v. Chr. ist ein seltenes, wertvolles<br />

Fundstück und gibt Aufschluss über kulturelle<br />

und technische Entwicklungen in vorrömischer Zeit.<br />

Schon komplizierter: Ein Gebäude aus den späten<br />

1960er Jahren ist eine energetische Katastrophe,<br />

Schadstoffe, wohin man schaut, dazu ein extrem<br />

ungünstiges A/V-Verhältnis – aber auch kulturelles<br />

Erbe, es denkt den Begriff des Raumes völlig neu,<br />

repräsentiert in seiner gebauten Struktur, der<br />

Transparenz und nüchternen Formensprache die<br />

demokratische Grundordnung, deren Hüter sich<br />

darin versammeln. Völlig anders: Der Ise-Schrein,<br />

das höchste Heiligtum Japans, wird seit 2000 Jahren<br />

alle 20 Jahre neu errichtet – in traditionell überlieferter<br />

Bauweise aus dem immer gleichen, doch immer<br />

wieder neuen Material.<br />

Den Blick für die Relevanz im Alten nicht verlieren –<br />

dabei hilft das Relikt. Schön aber auch, wenn noch<br />

genug Platz für Neues bleibt, das irgendwann zum<br />

Relikt werden kann, dessen Erhalt und Bewahrung<br />

sich lohnen.<br />

Astrid Wuttke [Projektarchitektin und<br />

Mitglied der Geschäftsleitung bei<br />

schneider+schumacher, Frankfurt am Main]<br />

Repräsentation<br />

Der erste wichtige Punkt in Bezug auf die Repräsentation<br />

ist das Charakteristische. Repräsentation<br />

muss die wichtigsten Merkmale einer Gruppe beinhalten.<br />

Anstatt die gesamte Gruppe zu untersuchen,<br />

wählen wir normalerweise einen typischen Vertreter<br />

der Gruppe. Dieser dient dann als Untersuchungsobjekt.<br />

Untersuchen wir also das Thema „Entwicklung<br />

des historisierenden Neu- und Wiederaufbaus<br />

in Städten“, so könnten wir einen typischen Vertreter,<br />

ein typisches Beispiel wählen. Dies könnte ein<br />

repräsentatives Stadtgebiet sein, das im Hinblick auf<br />

Neubau und Wiederaufbau charakteristisch ist. Die<br />

Wahl dieses typischen Vertreters ist abhängig vom<br />

Zweck der Forschung. Der zweite wichtige Punkt ist<br />

das Ausdrucksvermögen. Beispiel dafür ist die Politik:<br />

Wenn eine Gruppe von Menschen eine bestimmte<br />

Idee vorstellen möchte, dann wählt sie eine Vertretung,<br />

die dann ihre Forderung vorbringt. Die Repräsentation<br />

soll in diesem Fall klar und aussagekräftig<br />

sein. Nur ein Bild, eine Form, ein Absatz sollte reichen,<br />

um ein charakteristisches Merkmal darzustellen.<br />

In der Landschaftsanalyse beispielsweise<br />

untersuchen wir stets ein bestimmtes Gebiet im Hinblick<br />

auf die Verkehrsbedingungen, Grünflächen, das<br />

Wasserversorgungssystem sowie Architektur und<br />

Besiedlung. In jedem Fall ist das Untersuchungsobjekt<br />

so zu wählen, dass es dem Zweck der Forschung<br />

entspricht.<br />

Zhaocheng Shang [Architektin, Doktorandin<br />

der Architekturfakultät, Karlsruher Institut für<br />

Technologie]<br />

172


Reproduktion<br />

Was Andy Warhols Marilyn in der Kunst war, stellte<br />

nahezu zeitgleich das Fachwerkhaus 2000 in der<br />

Architektur dar: eine weithin geschätzte Reproduktion.<br />

Die traditionelle, allgemeingültige Konstruktion<br />

dieses hochwertigen Fertighauses,<br />

dessen Vorbilder in mannigfaltigster Form im<br />

nordalpinen Raum verbreitet sind, erübrigte die<br />

Frage nach der Originalität – es ist Popkultur. Erst<br />

wenn sie ein zerstörtes Original ersetzen soll, wird<br />

eine Reproduktion offensichtlich ehrenrührig, und<br />

zwar auf drei Ebenen: zum einen weil die Ursachen<br />

und Ereignisse, die zum Verlust geführt haben,<br />

formal negiert werden; zum anderen weil die<br />

stilbildenden Formen und Bautechniken nicht mehr<br />

aktuell sind; und schließlich weil sich der funktionale<br />

und gesellschaftliche Kontext geändert hat.<br />

Dem gegenüber wird der Wunsch nach <strong>Identität</strong>sstiftung<br />

angeführt, die nahezu immer an Architekturwahrzeichen<br />

verankert wird – und im Fall deren<br />

gänzlichen Verlustes die Frage nach der Reproduktion<br />

stellt. Der aus der Industrialisierung stammende<br />

Begriff ist auf Gebautes als Kumulation<br />

unterschiedlicher Gewerke nur bedingt anwendbar,<br />

da auch ein Neubau in ehemals vorhandener Form<br />

komplexer ist als das bloße Wiederholen etwa<br />

<strong>durch</strong> Guss, Stanzen oder Drucken mithilfe vorhandener<br />

Formen. Insofern repräsentiert die Reproduktion<br />

eines Bauwerks zwangsläufig das Zeitalter<br />

ihrer Entstehung; bleibt sie einmalig, wird sie zum<br />

Original aus eigenem Recht.<br />

Michael Kasiske [Architekt und Autor, hauptberuflich<br />

Referent im Bundesamt für Bauwesen<br />

und Raumordnung, Berlin]<br />

Heimweh, heute eher eine Reaktion auf Unzufriedenheit<br />

mit der gebauten Umwelt, den Lebensumständen,<br />

auf Langeweile, auf alle Fälle ein<br />

Geschäft. Ist zum Beispiel der gebaute Retrolook<br />

ein Mittel gegen den Überdruss unserer gegenwärtigen<br />

Stadtbilder? Im Allgemeinen nicht, im Falle<br />

eines besonderen kollektiv gefühlten Verlustes<br />

vielleicht. Eine bauhistorisch belegte Rationalität<br />

kommt dabei an ihre Grenzen.<br />

Wenden Menschen in der für sie unbefriedigenden<br />

Gegenwart den Blick zurück oder haben sie Wünsche<br />

für die Zukunft? Nostalgie oder Sehnsucht?<br />

Die Romantik des 19. Jahrhunderts kannte auch<br />

eine unbeschwerte Sehnsucht weg von der Heimat,<br />

nach Ferne und nach Neuem. Heute bedeutet Heimat<br />

für viele Menschen in unseren Städten nicht<br />

mehr dauerhafte Ortsgebundenheit, sondern oft<br />

den Wunsch nach Begreifbarkeit der gebauten<br />

Umwelt, nach nahen öffentlichen Räumen, nach<br />

Begegnungen. So kann auch Stadt Geborgenheit<br />

bieten. Unbestimmte Begriffe wie Urbanität sind<br />

dabei fehl am Platz. Sehnsucht bedeutet heute<br />

vielleicht die Suche nach Orientierung und vage<br />

Ziele, die sich dann in Planungen und Projekte verwandeln.<br />

Oder ist Sehnsucht doch eher etwas Persönliches,<br />

Intimes?<br />

„Die Sehnsucht, das Ideal wird immer grenzenlos<br />

bleiben.“ (Emile Zola)<br />

Harald Ringler [Stadtplaner, ehemaliger Stadtdirektor<br />

Karlsruhe]<br />

Sehnsucht<br />

Der Verlust von Vertrautheit, Heimat(gefühl),<br />

der Überdruss der Gleichförmigkeit, Langeweile,<br />

Nüchternheit, der Wunsch nach Harmonie, nach<br />

Bekanntem, die Unsicherheit wegen des Neuen,<br />

Ungewohnten, Wechselnden, das Fehlen von Bildern<br />

der Vergangenheit, Selbstbewusstsein, festen<br />

Regeln, Orientierung …<br />

Ruft das alles Sehnsucht hervor? Oder führt es<br />

eher zur Nostalgie? Nostalgie war ein Krankheitsbild<br />

vor drei Jahrhunderten, das krank machende<br />

173


Transformation von Geschichte<br />

Nach dem Ende der Sowjetunion befindet sich der mazedonische<br />

Nationalstaat auf der Suche nach seiner <strong>Identität</strong>. Unter<br />

dem Titel „Skopje 2014“ wird das Zentrum der Hauptstadt<br />

Mazedoniens weitreichend umgestaltet. Das politisch motivierte<br />

und staatlich geförderte Umbauprojekt zielt darauf ab, die Geschichte<br />

des Landes umzuschreiben. Prunkvolle Gebäude und<br />

Statuen sollen der Stadt Skopje ein neues, eindrucksvolleres<br />

und historisches Erscheinungsbild verleihen.<br />

Skopje vor Skopje 2014<br />

1 Mijalkovič/Urbanek 2011,<br />

S. 9.<br />

2 Vgl. Baltzer 2014, S. 4.<br />

Geografisch und kulturell bildet die Stadt Skopje mit ihrer über zwei Jahrtausende<br />

alten Besiedelungsgeschichte von jeher eine Kreuzung zwischen dem<br />

Westen und dem Osten – sie ist ein Schmelztiegel christlicher und islamischer<br />

Kultur. Neben byzantinischen, slawischen und osmanisch-islamischen Zügen<br />

findet man auch Überreste aus sozialistischer Zeit. Erste geschichtliche Spuren<br />

führen bis ins Jahr 5000 v. Chr. zurück. Skopje war die Hauptstadt der römischen<br />

Provinz Obermoesien und ein wichtiges byzantinisches Handelszentrum.<br />

Von 1392 bis 1913 stand die Stadt unter türkischer Herrschaft, geriet nach dem<br />

Balkankrieg unter die Kontrolle Serbiens und wurde schließlich 1918 ein Teil<br />

von Jugoslawien.<br />

Heute ist die Stadt Skopje, am Ufer des Flusses Vadar gelegen, ein multikulturelles<br />

Zentrum, in dem die verschiedenen Bedürfnisse und Gewohnheiten,<br />

politischen und wirtschaftlichen Interessen unterschiedlicher ethno-kultureller<br />

Gruppen aufeinandertreffen. Auf einer Fläche von 1818 Quadratkilometern<br />

leben hier rund 535.000 Menschen, darunter 66,75 Prozent Mazedonier,<br />

20,49 Prozent Albaner, 4,63 Prozent Roma, 2,82 Prozent Serben sowie 1,7 Prozent<br />

Türken. Skopje ist als Hauptstadt kulturelles und wirtschaftliches Zentrum<br />

Mazedoniens, orthodoxer Bischofssitz und Sitz des Großmufti. Nach einem<br />

schweren Erdbeben im Jahr 1963, das circa 70 Prozent der Gebäude zerstört hatte,<br />

darunter große Teile der Altstadt, wird mit dem Wiederaufbau Skopjes nach<br />

einem Masterplan von Kenzo Tange begonnen – mit finanzieller Unterstützung<br />

der Vereinten Nationen.<br />

Als der Staat 1991 Unabhängigkeit erlangt, stellt sich in Mazedonien die<br />

Frage nach dem gesellschaftlichen und kulturellen Selbstverständnis. Dabei geht<br />

es auch um die Abgrenzung von den neuen Nachbarstaaten. Der Namenskonflikt<br />

mit Griechenland, die verweigerte Autonomie der mazedonischen Kirche<br />

<strong>durch</strong> Serbien und der Streit mit Bulgarien über die Besonderheit der Sprache<br />

umreißen die bestehenden Spannungsfelder. Nach der politischen Neuordnung<br />

gibt es in Skopje für den Zeitraum von fast zwei Jahrzehnten keine geordnete<br />

Stadtplanung. 1 Erst mit der Machtübernahme <strong>durch</strong> die nationalistische Partei<br />

VMRO-DPMNE im Jahr 2006 ändert sich das. Die neue politische Führung der<br />

Stadt initiiert verschiedene Projekte, die die Bemühungen um der Herstellung<br />

einer mazedonischen <strong>Identität</strong> unterstützen sollen. Im Fokus der Planung steht<br />

dabei die Kernstadt entlang der beiden Uferseiten. Der Aufbau einer neuen<br />

<strong>Identität</strong> in Form einer baulichen Manifestation wird zu einem Hauptanliegen<br />

von Politikern und Stadtplanern.<br />

178


Skopje 2014<br />

SK2014 – Die Vergangenheit auf dem Vormarsch<br />

Die Bronzestatue Krieger<br />

zu Pferd zeigt Alexander<br />

den Großen. 2014 © Diego<br />

Delso, delso.photo, CC-<br />

BY-SA<br />

Skopje 2014, auch als SK2014 bezeichnet und so benannt, weil das Projekt<br />

im Jahr 2014 fertiggestellt sein sollte, ist das größte Bauprojekt in der jüngeren<br />

Geschichte Mazedoniens. Das Verschönerungsprojekt der mazedonischen<br />

Hauptstadt stellt den Versuch dar, eine neue Erzählung der nationalen Geschichte<br />

<strong>durch</strong>zusetzen. Von mehreren staatlichen Institutionen, unter anderem dem<br />

Ministerium für Kultur sowie jenem für Verkehr und Kommunikation sowie der<br />

Stadt Skopje, gefördert, sieht es die Umgestaltung eines Bereiches von ungefähr<br />

einem Quadratkilometer im Stadtzentrum vor. Das Projekt schreitet erstaunlich<br />

schnell voran. 2010 begonnen, sind schon 2014 die meisten Bauten wie geplant<br />

realisiert.<br />

Skopje 2014 unterscheidet sich grundlegend von dem nach dem Erdbeben<br />

von Kenzo Tange entwickelten Masterplan. Der neue Plan für den zentralen Bereich<br />

beinhaltet den Bau von Geschäftsgebäuden und Hotels, staatlichen Verwaltungsstellen,<br />

Museen und kulturellen und gesellschaftlichen Institutionen sowie<br />

von Parkhäusern und Brücken. Außerdem werden Erweiterungen und Umbauten<br />

an vorhandenen Gebäuden, vorgenommen,<br />

wie beispielsweise die Ergänzung des Parlaments<br />

um gläserne Kuppeln, und die Verkleidung von<br />

Häusern aus der Zeit des Sozialismus mit neuen<br />

Fassaden. 2 Über 100 Skulpturen, 34 Denkmäler,<br />

27 Gebäude, fünf Plätze, und ein Triumphbogen<br />

werden errichtet sowie zahlreiche kleine Maßnahmen<br />

wie die Erneuerung von Brunnen, Platz- und<br />

Beleuchtungsanlagen veranlasst – sie sollen die<br />

Geschichte Skopjes in neuem Licht erscheinen<br />

lassen.<br />

Die Denkmäler und Statuen zeigen historische<br />

und kulturelle Persönlichkeiten Mazedoniens. Sie<br />

sollen an Helden und Gründer des Landes erinnern,<br />

insbesondere an prägende kriegerische Persönlichkeiten.<br />

Die Antike steht als historische Referenz für die Errichtung von<br />

Gebäuden und Denkmälern im Vordergrund, weshalb von Antiquisierung gesprochen<br />

wird. Gleichzeitig werden neue Enzyklopädien und Romane verfasst,<br />

in denen antike Elemente Mazedoniens dramatisiert werden, um eine heroische<br />

Vergangenheit zu beschwören. Aber man findet auch historisierende Baustile,<br />

die sich auf Renaissance, Barock, Klassizismus und Moderne beziehen. Einige<br />

Monumente bestehen gar aus einem Stilmix unterschiedlicher Epochen oder verwenden<br />

Stile, die in diesem Teil der Balkanhalbinsel nie Anwendung gefunden<br />

haben. Bauten, Denkmäler und Skulpturen sind aus hochwertigen Materialien<br />

wie Bronze und Marmor gefertigt – sie sollen Reichtum und Macht der mazedonischen<br />

Nation widerspiegeln. Teilweise werden historische Figuren und Gebäude<br />

kopiert, die im Gegensatz zu den Vorbildern jedoch in Größe und Materialität<br />

überhöht werden. Ein Großteil wird in aufwendiger Handarbeit erstellt. Herausragend<br />

im neuen Stadtbild ist eine 22 Meter hohe Bronzestatue von Alexander<br />

dem Großen, alias Alexander III. von Makedonien, der als Vorfahr des Landes inszeniert<br />

wird. In Athen reagierte man auf diese Vision der Geschichte äußerst ungehalten<br />

und zog ob der unberechtigten Aneignung des berühmtesten Eroberers<br />

179


Transformation von Geschichte<br />

Neubau<br />

Abbruch<br />

Assyrische Kirche<br />

Regelgrundriss<br />

Neubau<br />

Abbruch<br />

Die Straßenansichten des<br />

Blocks 362 vor dem Umbau<br />

im Vergleich zur Planung.<br />

Die Fassaden, die als historisch<br />

wertvoll eingeschätzt<br />

wurden, bleiben erhalten.<br />

Die Assyrische Kirche bleibt<br />

in ihrer historischen Form<br />

erhalten und ist nicht Teil<br />

des Projektes.<br />

194


Tarlabasi 360 Istanbul<br />

Das Gesetz Nr. 5366:<br />

Zerstörung unter dem Deckmantel der Sanierung<br />

17 Vgl. Inceoglu/Yürekli 2011.<br />

18 Kuyucu/Ünsal 2010, S. 1488;<br />

hurriyetdailynews 2010.<br />

19 Vgl. Gotschlich 2012.<br />

20 Vgl. Ergınoglu/Çalislar 2013.<br />

Rechtsgrundlage für diese Art der Stadtsanierung ist ein Gesetz, das offiziell<br />

dem Ensembleschutz dienen soll und dem Staat die Möglichkeit gibt, Eigentümer<br />

zu enteignen, wenn sie dem Gemeinschaftsinteresse im Wege stehen. Im Jahr 2005<br />

registriert das Komitee zum Schutz von kulturellen und natürlichen Gütern die historischen<br />

Gebäude Tarlabasis ein zweites Mal als kulturell bedeutsam, wie bereits<br />

im Jahr 1978 geschehen. Basierend auf der 1978 und 2005 erfolgten Registrierung<br />

stehen die Gebäude im Grunde unter dem Schutz des Gesetzes, was bedeutet, dass<br />

nichts in und an den Gebäuden ohne Erlaubnis verändert werden darf. 2005 wird<br />

jedoch das Gesetz Nr. 5366, ein „Gesetz zur Prävention des Verfalls von historischen<br />

und kulturellen Gebäuden <strong>durch</strong> Renovierung und Um-/ Wiedernutzung, verabschiedet.<br />

Es löst den städtischen Denkmalschutz ab und dient fortan als Rechtsgrundlage<br />

für viele der Stadtentwicklungsmaßnahmen in historisch bedeutsamen<br />

Stadtteilen. Das Gesetz besagt, dass historische Gebäude renoviert, aber auch abgerissen<br />

werden können, wenn erforderlich. Bereits 2006 weist der Stadtbezirk Beyoglu,<br />

einen Teil Tarlabasis, auf Grundlage dieses Gesetzes als Erneuerungsgebiet aus.<br />

Anfang 2007 vergibt der Stadtbezirk den Auftrag für das Erneuerungsprojekt<br />

Tarlabasi 360 an das Bauunternehmen GAP Insaat. Eigentümern wird angeboten,<br />

sich mit dem derzeitigen Wert ihrer Liegenschaft an den neuen Immobilien finanziell<br />

zu beteiligen oder sich finanziell abfinden zu lassen. 17 Es werden Ersatzwohnungen<br />

in Aussicht gestellt, die sich jedoch entgegen gemachter Versprechungen<br />

weit entfernt von Talabasi befinden und oftmals zu überteuerten Preisen angeboten<br />

werden. Bei Ablehnung dieser Angebote droht eine Minderung der Konditionen,<br />

bis hin zur Enteignung. Auch diese Maßnahme wird <strong>durch</strong> das Gesetz Nr. 5366<br />

im Sinne des Gemeinschaftsinteresses ermöglicht. Zwangsräumungen werden angeordnet<br />

und <strong>durch</strong> die örtliche Polizei vollzogen. 18 Auf diese Weise bringt GAP<br />

Insaat die Besitzer von 269 Häusern dazu, ihre Immobilien zu einem sehr moderaten<br />

Preis an den Konzern abzutreten oder aber sich selbst am Projekt zu beteiligen.<br />

Rund 45 Prozent des Bestandes gehören nun GAP Insaat, 50 Prozent sind weiterhin<br />

im Privatbesitz und 5 Prozent sind im Besitz der Kommune. 19<br />

Das Projektgebiet besteht aus 21 Blöcken auf einer Fläche von rund 20.000 Quadratmetern.<br />

Der erste Teil des Projekts konzentriert sich auf die Renovierung von<br />

210 der insgesamt 278 Gebäude in neun Blöcken, die zu den denkmalgeschützten<br />

Gebäuden gehören. Die Planung übernimmt die Grundstrukturen des vorhandenen<br />

Stadtgefüges, das heißt, die Größen von Blöcken und Straßenverläufen des<br />

Quartiers werden erhalten. Allerdings werden kleine Grundstücke zu größeren<br />

Einheiten zusammengefasst – aus bisher 269 Parzellen werden nun 40, um großflächige<br />

Nutzungen zu ermöglichen, wie beispielsweise ein Einkaufszentrum oder<br />

auch wesentlich größere Wohneinheiten. Die kleinteilige Struktur wird aufgegeben<br />

und damit auch die vielfältige Nutzungsmischung und soziale Dichte. Die<br />

ehemals vorhandene kleinteilige Parzellierung wird nur noch in den Fassaden<br />

nachempfunden. Etwa alle sechs bis sieben Meter erhalten die Fassaden vertikale<br />

Unterteilungen, zum Beispiel <strong>durch</strong> Steinsäulen. Die Innenhöfe werden vergrößert<br />

und die Gebäudetiefen reduziert. Im Vergleich zur historischen Bebauung ermöglicht<br />

dies eine bessere Licht- und Luftversorgung der Häuser. Allerdings erhalten<br />

sowohl die Hoffassaden als auch die Höfe eine völlig neue Gestalt. Letztere sind als<br />

begrünte Oasen und halb öffentliche Bereiche vorgesehen. 20<br />

195


Transformation von Geschichte<br />

Stadterneuerung zwischen Erhaltung und Entwicklung<br />

02<br />

04<br />

03<br />

01<br />

Die ursprüngliche Zonierung<br />

des Corredor Cultural<br />

bestand aus vier Gebieten<br />

01 Praca XV<br />

02 SAARA<br />

03 Lapa<br />

04 Largo de Sao Francisco<br />

12 Vgl. Pinheiro, del Rio 1993,<br />

S. 54ff.<br />

Es ist unumstritten, dass die <strong>Identität</strong> einer Stadt auch von der Gegenwart<br />

historischer Bausubstanz abhängt. Jedoch ist vielen Eigentümern der besondere<br />

Wert schützenswerter Bausubstanz und die damit verbundene Verantwortung<br />

nicht bewusst. Oft werden Gebäude – sei es aus mangelndem Verständnis für<br />

den Wert oder aus wirtschaftlichen Gründen ohne die notwendige Rücksichtnahme<br />

auf historisch wertvolle Bausubstanz umgebaut.<br />

Grundlegendes Anliegen des Projektes ist es, die Notwendigkeit der Erhaltung<br />

mit dem Bedarf der Weiterentwicklung und Erneuerung zusammenzubringen.<br />

Begreift man ein Gebäude als Teil einer komplexen historischen Einheit,<br />

ist seine Erhaltung unter einer dynamischen Perspektive zu begreifen, die nicht<br />

nur die bauliche Hülle als schützenswert ansieht, sondern den Erhalt kultureller<br />

Werte verfolgt, die letztlich zur Konsolidierung einer lokalen <strong>Identität</strong> beitragen.<br />

Im Kontext notwendiger städtischer Erneuerung müssen auch historische<br />

Quartiere und Gebäude an die neuen Bedürfnisse der Bewohner und die funktionalen<br />

Anforderungen <strong>modern</strong>en Lebens angepasst werden. So ist einerseits<br />

anzustreben, solche Nutzungsstrukturen zu etablieren, die ein möglichst rund<br />

um die Uhr aktives Quartiersleben ermöglichen. Gleichzeitig sind Veränderungen<br />

von Grundstücksverhältnissen, die Etablierung neuer Nutzungen und die<br />

Umbauten von Gebäuden so vorzunehmen, dass sie sich harmonisch in die Umgebung<br />

einfügen. Weder dürfen dabei technische Kenntnisse des Renovierens<br />

und solche der Ästhetik noch traditionelle Werte zugunsten von ausschließlich<br />

kommerziellen Interessen unberücksichtigt bleiben. Das heißt, Veränderungen<br />

historischer Gebäude sind insoweit zulässig und gewünscht, als sie den Charakter<br />

von historischen Stadträumen und Bauwerken weitgehend erhalten, aber<br />

auch neue Entwicklungen unter der Maßgabe wirtschaftlicher Darstellbarkeit<br />

ermöglichen.<br />

Diesbezüglich ist der Corredor Cultural stark auf die gesetzliche Verankerung,<br />

aber auch auf die Umsetzung von Gestaltungsrichtlinien angewiesen, zum<br />

einen bei der Restaurierung und beim Umbau alter Gebäude als auch bei der<br />

Gestaltung hochwertiger öffentlicher Räume. Anders als Gestaltungsrichtlinien<br />

üblicherweise angewandt werden, sind sie hier nicht bloße Instrumente zur ästhetischen<br />

Kontrolle, sondern ein Mittel, um Tradition und <strong>Identität</strong> im historischen<br />

Stadtraum zu stärken.<br />

Das Projekt erhält breite politische Unterstützung, weil es ihm gelingt, auf<br />

die Interessen wichtiger Akteure in der Stadt einzugehen und diese zu integrieren.<br />

Die Interessen des Denkmalschutzes werden bedient, weil das Projekt<br />

den Erwartungen in Bezug auf die Erhaltung von wichtigen traditionsreichen<br />

Orten entgegenkommt. Aus wirtschaftlicher Perspektive verfolgt man das Ziel,<br />

die Dynamik und die Diversität von kleinteiligen kommerziellen Aktivitäten zu<br />

erhalten, ihren Wert gegenüber den großflächigen Nutzungen herauszustellen<br />

und die Qualität ihrer Räume zu verbessern. Damit kommt das Projekt insbesondere<br />

den Betreibern von kleineren Geschäften zugute, die – zumeist nur<br />

Pächter ihrer Liegenschaften – Verdrängung <strong>durch</strong> die Großgrundbesitzer befürchten.<br />

So unterstützen viele lokale Kleinunternehmer das Projekt, weil es die<br />

Chance bietet, die Platzierung von großmaßstäblichem Gewerbe zu verhindern.<br />

Aus kultureller Perspektive verfolgt der Corredor Cultural das Ziel, die Bedeutung<br />

der Geschichte, also den symbolischen Wert von alten Gebäuden und<br />

204


Corredor Cultural Rio de Janeiro<br />

Gebäude mit besonderer<br />

historischer Bedeutung<br />

Räumen, herauszustellen. Weil man davon ausgeht, dass der Erhalt allein weder<br />

das Überleben noch die Vitalität des historischen Rios garantieren würde, verfolgt<br />

das Projekt auch das Ziel, das öffentliche Image des Areals mit der Aufwertung<br />

der öffentlichen Räume zu verbessern, und eröffnet Möglichkeiten für die<br />

Entwicklung auf freien Flächen und das Werben für kulturelle Veranstaltungen.<br />

So werden beispielsweise Straßentheater und Konzerte veranstaltet, um die<br />

Aufmerksamkeit auf die Schönheit und die ästhetischen Qualitäten historischer<br />

Bauwerke zu lenken. 12<br />

Gebiet des Corredor Cultural, 2017<br />

200 m<br />

205


Glossar<br />

Wert<br />

Der Wert kann allgemein unter utilitaristischen<br />

oder symbolischen Gesichtspunkten ausgedrückt<br />

werden. Eine bloße Betrachtung des utilitaristischen<br />

Wertes, wie der Preis ihn beschreibt, reicht<br />

nicht aus, um seine umfassende Rolle, Bedeutung<br />

und Einflüsse zu erfassen. Symbolische Werte<br />

umfassen die ethischen, historischen und künstlerischen<br />

Dimensionen. Ethische Werte eignet<br />

man sich oft über die Familie, Freunde, Mentoren,<br />

die Religion, Medien und das Lebensumfeld an.<br />

Sie bilden das Grundgerüst, welches das moralische<br />

Verhalten von Individuen und Gesellschaften<br />

bestimmt. Auf der anderen Seite sind historische<br />

Werte die zeitgebende Kraft und die unbewusste<br />

Dokumentation vergangenen Wissens, wie es <strong>durch</strong><br />

die Artefakte, die wir von unseren Vorfahren geerbt<br />

haben, veranschaulicht wird. Daher ist es für die<br />

gegenwärtigen Gesellschaften wichtig, zu erkennen,<br />

dass jegliche zukünftige Entwicklung aus<br />

einem tiefen Verständnis aller vergangenen Erfahrungen<br />

herrühren und darauf aufbauen sollte. Der<br />

künstlerische Wert schließlich ist eng mit den kreativen<br />

menschlichen Fähigkeiten zu einem festgelegten<br />

Zeitpunkt verknüpft. Er verkörpert die Seele<br />

und den Geist, die Gefühle und Gedanken sowie die<br />

Emotionen und Fähigkeiten des Künstlers. Da<strong>durch</strong><br />

überschreiten „Werte“ die utilitaristischen Grenzen.<br />

Auf Grundlage der vorhergegangenen Erörterung<br />

sollten Werte als unverfälschte Kraft angesehen<br />

werden, die die ganzheitliche Entwicklung von<br />

Gesellschaften in allen physikalischen und nicht<br />

physikalischen Bereichen steuert.<br />

Mohammed Emara [Architekt, Kairo; Doktorand<br />

der Architekturfakultät, Karlsruher<br />

Institut für Technologie]<br />

Wiederaufbau<br />

Karl Meitinger, Münchner Stadtbaurat des Wiederaufbaus,<br />

forderte in den 1950er Jahren, dass so<br />

viel als möglich bewahrt werden solle und dass<br />

man sich trotzdem dem Neuen nicht verschließen<br />

dürfe. München sollte bleiben wie es war. Diese<br />

Weitsichtigkeit stieß damals nicht nur auf fachlich<br />

positive Resonanz. In München ging es darum,<br />

dass sich die Bürger nach den Schrecken der<br />

Zerstörung ihrer Stadt stets erinnern können, um<br />

nicht entwurzelt zu werden. Ganz anders urteilte<br />

der Stadtbaurat von Hannover, Rudolf Hillebrecht,<br />

der nach den Grundsätzen der Moderne die Stadt<br />

„ungerecht“, dafür verkehrsgerecht umgestaltete.<br />

Es entstand ein anonym wirkendes Stadtbild,<br />

das nur noch geringe Bezüge zur überlieferten<br />

Raumbildung der historischen Stadt aufweist. In<br />

München wurden identitätsbildende Straßenzüge<br />

im Rahmen ihrer einstigen Baulinien und hinsichtlich<br />

ihrer stadträumlichen Qualität wiedererrichtet<br />

sowie historisch bedeutende Häuser wiederaufgebaut.<br />

Der Münchner Wiederaufbau war wegweisend,<br />

weil es weder um Ideologie noch um eine<br />

sogenannte zeitgemäße Haltung ging, die dem<br />

damaligen Leitbild der „gegliederten und aufgelockerten<br />

Stadt“ folgte.<br />

Die Missverständnisse, die mit Wiederaufbau verknüpft<br />

sind, entstanden erst mit breiter Ablehnung<br />

der Moderne in Städtebau und Architektur<br />

<strong>durch</strong> die Stadtbürger. Vielfältige Debatten über<br />

Fälschung, Konservieren und Restaurieren von<br />

Bauwerken waren die Folge. Der Diskurs um den<br />

Wiederaufbau des Dresdner Neumarkts oder des<br />

Berliner Stadtschlosses als Humboldtforum ist<br />

auch heute noch von diesen Missverständnissen<br />

gezeichnet. Der Beschluss zur Rekonstruktion der<br />

Frauenkirche in Dresden zeigte, dass das historische<br />

Platzensemble wiederhergestellt werden<br />

musste, nachdem 1990 der Verlust des gesamten<br />

stadträumlichen Zusammenhangs der Innenstadt<br />

sichtbar wurde. In Berlin geht es um die Wiederherstellung<br />

des historisch einzigartigen Stadtensembles,<br />

das Karl Friedrich Schinkel mit seinen<br />

Bauwerken im stadträumlichen Kontext des zu<br />

seiner Zeit bereits vorhandenen Stadtschlosses<br />

prägte. Aus beiden Orten und vielen anderen städtischen<br />

Beispielen geht hervor, dass Strategien<br />

zum Wiederaufbau stets im Kontext von stadträumlichen<br />

Ensembles und besonderer Erinnerungswirkung<br />

zu gewichten sind.<br />

Wiederaufbaukonzepte, die im stadträumlichen<br />

Kontext stehen, idealisieren nicht oder fälschen<br />

gar Geschichte, sondern vermitteln den Menschen<br />

Erinnerungsorte, die über viele Generationen wichtig<br />

waren und im Krieg und Nachkriegsstädtebau<br />

verlorengingen. Wenn es um Wiederaufbau<br />

geht, ist Tradition in der Stadtbaugestaltung nicht<br />

rückwärtsgewandt. Sie ist Teil des kollektiven<br />

212


Gedächtnisses. Im Sinn des englischen Staatsmanns<br />

Thomas Morus wäre Tradition nicht als das<br />

Halten der Asche, sondern als das Weitergeben<br />

der Flamme zu verstehen. Vielleicht lohnt es sich<br />

auch an Georg Dehio zu erinnern: Seid von Zeit zu<br />

Zeit auch einmal tolerant, soll er seinen Kollegen<br />

empfohlen haben, wenn es um das Respektieren<br />

lokaler Bedürfnisse ging und den Menschen die<br />

Geschichte ihrer Stadt erklärt werden sollte. Er hat<br />

immerhin die <strong>modern</strong>e Denkmalpflege begründet<br />

und wird oft zu einseitig zitiert, wenn die Rede ist<br />

von wiederaufzubauenden Stadtensembles im Verhältnis<br />

zu seinem Leitsatz „konservieren statt restaurieren“.<br />

Wiederaufbau ist dann sinnvoll, wenn<br />

es um kollektive Erinnerungsorte im Ensemble<br />

geht, die in ihrer historischen Schönheit wiedererschaffen<br />

werden, um den Menschen in einer entgrenzten<br />

Welt Halt zu geben.<br />

Jürg Sulzer [Stadtplaner und Architekt BSA,<br />

Zürich, Prof. em. Stadtumbau, Technische<br />

Universität Dresden]<br />

zeitgenössisch<br />

Dresden ist für einiges bekannt, aber nicht gerade<br />

für das einfache Umsetzen zeitgenössischer Architektur.<br />

Nach wie vor sind die Debatten zum Thema<br />

„zeitgenössisches Bauen“ in Sachsens Landeshauptstadt<br />

oft von Auseinandersetzungen geprägt.<br />

Dies trifft vor allem dann zu, wenn zeitgenössische<br />

beziehungsweise <strong>modern</strong>e Architektur in direkter<br />

Nachbarschaft auf eine barocke Bebauung trifft<br />

– wehe dem, der so bauen will. Eigentlich ist das<br />

kaum zu verstehen, gehört die Stadt an der Elbe<br />

doch zu den europäischen Technologiezentren, ist<br />

sie Hort des Mobilfunks der übernächsten Generation<br />

und deutsche Hauptstadt für neue Werkstoffe.<br />

Hier gibt es die meisten Fraunhofer-Institute überhaupt<br />

– in Dresden wird zur Zukunft geforscht.<br />

Warum also nicht auch architektonisch in die<br />

Zukunft schauen?<br />

Jede Stadt braucht Erneuerung, auch und gerade<br />

im Bereich Städtebau. Alles andere wäre ein Stillstand,<br />

und dies bedeutet bekanntermaßen den<br />

Tod. Von daher ist es nur zu begrüßen, wenn<br />

mutige und zugleich verständige Bauherren und<br />

Investoren sowie Architekten auf offene Verwaltungen<br />

treffen, die ihrerseits den intensiven Diskurs<br />

mit „ihren“ Bewohnern nicht scheuen. Dies trifft<br />

umso mehr zu, als die zunehmende Digitalisierung<br />

auch und vor allem Städte vor große Veränderungen<br />

stellen wird: Bauen mit Carbon-Beton,<br />

autonomes Fahren mittels Elektromobilität, neue<br />

Mobilitätskonzepte (Uber 2.0), digitale Disruption<br />

und ihre Folgen für die Menschen – diese Themen<br />

werden jede Stadtplanung und -gesellschaft vor<br />

allem im Bereich Architektur betreffen. Und ohne<br />

zeitgenössische Architektur und Stadtplanung<br />

lässt sich ein solcher Wandel nicht erfolgreich<br />

gestalten.<br />

Ulf Mehner [Kommunikationswissenschaftler,<br />

Politologe und Soziologe, Gründer und Managing<br />

Partner von WeichertMehner, Dresden]<br />

Zitat<br />

Der Begriff des Zitats entstammt der sprachlichen<br />

Kommunikation. Ein Zitat im engeren Sinne ist die<br />

wörtliche Übernahme einer bestehenden Textstelle<br />

in einen neuen Text, es kann sich aber auch um<br />

eine sinngemäße Übernahme oder einen bloßen<br />

Hinweis handeln. Die Ziele des Zitats sind vielfältig:<br />

In der klassischen Rhetorik verleiht es der<br />

Rede Autorität und Eleganz. Es akzeptiert die Tatsache,<br />

dass manche Dinge nicht besser gesagt<br />

werden können, als sie bereits gesagt wurden, und<br />

weist den Redenverfasser als umfassend gebildet<br />

aus, kann allerdings bei übertriebener Anwendung<br />

schematisch, schal und streberhaft wirken. In der<br />

wissenschaftlichen Kommunikation ist die Situation<br />

eine andere: Hier sind Zitate und Zitationen unabdingbar,<br />

weil die systematische Berücksichtigung<br />

des aktuellen Forschungsstandes zu einer Thematik<br />

ein grundlegendes Funktionsprinzip <strong>modern</strong>er<br />

Wissenschaft abbildet. Es stellt sich also nicht die<br />

Frage, ob zitiert wird, sondern was und in welcher<br />

Weise zitiert wird.<br />

In der Architektur ist ein „wörtliches“ Zitieren<br />

kaum möglich. Zitate treten vor allem in Perioden<br />

auf, in denen die Analogie von Architektur und<br />

Sprache Konjunktur hat, so in Renaissance, Klassizismus,<br />

Historismus oder Post<strong>modern</strong>e. Ihr<br />

Gebrauch changiert dabei zwischen rhetorischer<br />

und wissenschaftlicher Motivation, das heißt,<br />

Zitate können Scherze unter Eingeweihten sein<br />

oder Ausdruck ernsthafter, auch kritischer<br />

213

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