ZESO_4-2013_ganz
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SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
ZeSo<br />
Zeitschrift für Sozialhilfe<br />
04/13<br />
junge erwachsene zunehmende belastung für die sozialhilfe<br />
Grossraumbüro Herausforderungen gut gemeistert sozialversicherungen<br />
Gabriela Riemer-Kafka erklärt im zeso-Interview, weshalb eine reform nötig ist
SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
Nationale Tagung<br />
Grundrechte<br />
Leitplanke für die Praxis<br />
Mittwoch, 19. März 2014, Kongresshaus Biel<br />
Die Sozialhilfegesetzgebung lässt viel Raum für Interpretation und Ermessen. Ein vertiefter Blick auf das<br />
Rechtssystem lohnt sich. Die Tagung nimmt die von der Verfassung garantierten sozialen Grundrechte<br />
und deren Bedeutung für die Praxis der Sozialen Arbeit unter die Lupe und analysiert, in wie weit<br />
Grundrechte eine Orientierungshilfe bieten und wo sie durch höhere Auflagen allenfalls erschwerend<br />
wirken.<br />
Die Studie «Grund- und Menschenrechte in der Sozialhilfe» hat häufige Dilemmasituationen bezüglich<br />
der Einhaltung der Grundrechte in der Praxis der Sozialen Arbeit identifiziert und präsentiert<br />
Lösungsansätze. Diese Lösungsansätze und die Erfahrungen der Teilnehmenden werden im Rahmen der<br />
Workshops gemeinsam mit Expertinnen und Experten diskutiert.<br />
Programm und Anmeldung: www.skos.ch Veranstaltungen<br />
SKOS CSIAS COSAS<br />
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />
Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />
Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />
Conferenza svizra da l’agid sozial<br />
<strong>ZESO</strong>-Spezialpreise<br />
Sie möchten die <strong>ZESO</strong> lesen – aber wo ist sie bloss?<br />
Dieses Problem stellt sich grösseren Sozialdiensten und Institutionen <strong>ganz</strong> besonders – weil eine <strong>ZESO</strong><br />
für eine <strong>ganz</strong>e Abteilung kaum ausreicht. Die SKOS bietet ihren Mitgliedern deshalb verschiedene Kategorien<br />
von Abonnementen an. Profitieren Sie jetzt davon! So haben Ihre Mitarbeitenden jederzeit Zugang zu<br />
einer aktuellen Ausgabe der <strong>ZESO</strong> – und bleiben damit am Ball.<br />
Jahresabonnement SKOS-Mitglieder:<br />
Jahresabonnement Nichtmitglieder:<br />
69 Franken<br />
82 Franken<br />
2 bis 5 Exemplare: 15 Prozent Rabatt<br />
6 bis 10 Exemplare: 20 Prozent Rabatt<br />
ab 11 Exemplaren: 25 Prozent Rabatt<br />
Weitere Infos und Bestellung: www.skos.ch / admin@skos.ch
Michael Fritschi<br />
Verantwortlicher Redaktor<br />
baustellen<br />
Die meisten Jugendlichen schaffen den Übergang ins<br />
Erwerbsleben problemlos. Einige benötigen eine von der<br />
Gesellschaft bereitgestellte Unterstützung und nehmen<br />
diese dankbar in Anspruch. Eine kleine Gruppe hingegen<br />
schafft den Übergang nicht und kommt mit der Sozialhilfe in<br />
Kontakt. Das war eigentlich schon immer so. Nur haben sich<br />
die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen, in<br />
die die Jugendlichen heute hineinwachsen, verändert. Die<br />
Zahl der jungen erwachsenen Personen in der Sozialhilfe<br />
nimmt tendenziell zu. Gestiegen ist auch die mediale Beobachtung,<br />
die dieser Gruppe zuteil wird. Auch das ist an sich<br />
kein neues Phänomen. Jugendliche und junge Erwachsene<br />
stehen periodisch im Brennpunkt der gesellschaftlichen<br />
Aufmerksamkeit.<br />
Der aktuelle Schwerpunkt beleuchtet die Herausforderungen<br />
im Umgang mit jungen Erwachsenen, die gefährdet sind,<br />
von der Sozialhilfe abhängig zu werden. Und er zeigt das<br />
Engagement von Sozialdiensten und anderen Stellen, die<br />
bemüht sind, diesen jungen Erwachsenen zu einer zukunftstauglichen<br />
Perspektive zu verhelfen (S. 14-25).<br />
Das Schweizer Sozialversicherungssystem ist fragmentiert<br />
und kompliziert und der Zugang zu Unterstützung und Leistungen<br />
ist für die Versicherten unübersichtlich geworden. Im<br />
<strong>ZESO</strong>-Interview spricht die Sozialversicherungsexpertin<br />
Gabriela Riemer-Kafka über ihr Projekt, die Komplexität<br />
dieses Systems schrittweise zu reduzieren (S. 10-13).<br />
Vor einem schon sehr konkreten Umbau stehen die Sozialen<br />
Dienste der Stadt Winterthur. Der Umzug in Grossraumbüros<br />
bedeutet für viele Mitarbeitende eine grosse Veränderung in<br />
der gewohnten Arbeitsweise. Unter Mitwirkung der Betroffenen<br />
ist ein neues Arbeitsplatzmodell entstanden (S. 30-31).<br />
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.<br />
editorial 4/13 ZeSo<br />
1
SCHWERPUNKT14–25<br />
Junge erwachsene<br />
Die gesellschaftlichen Bedingungen für den<br />
Aufbau einer selbständigen und verantwortungsbewussten<br />
Erwachsenenexistenz sind schwieriger<br />
geworden. Jugendliche, die den Übergang Schule-<br />
Ausbildung-Arbeitswelt nicht aus eigener Kraft<br />
bewerkstelligen können, werden mit Hilfestellungen<br />
wie dem Case Management Berufsbildung<br />
oder Mentoring-Projekten unterstützt. Trotzdem<br />
kommen junge Erwachsene in Kontakt mit der<br />
Sozialhilfe und bekunden Mühe, sich wieder<br />
abzulösen.<br />
<strong>ZESO</strong> zeitschrift für sozialhilfe<br />
Herausgeberin Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS,<br />
www.skos.ch Redaktionsadresse Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS,<br />
Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch,<br />
Tel. 031 326 19 19 Redaktion Michael Fritschi Redaktionelle<br />
begleitung Dorothee Guggisberg Autorinnen und Autoren<br />
in dieser Ausgabe Catherine Arber, Monika Bachmann, Barbara<br />
Beringer, Dominique Dorthe, Heinrich Dubacher, Miryam Eser<br />
Davolio, Regine Gerber, Andreas Hammon, Matthias Kuert, Peter<br />
Mösch Payot, Johannes Muntwyler, Dorothee Schaffner, Daniela<br />
Tschudi Titelbild Rudolf Steiner layout mbdesign Zürich,<br />
Marco Bernet Korrektorat Karin Meier Druck und Aboverwaltung<br />
Rub Media AG, Postfach, 3001 Bern, zeso@rubmedia.ch,<br />
Tel. 031 740 97 86 preise Jahresabonnement Inland CHF 82.–<br />
(für SKOS-Mitglieder CHF 69.–), Abonnement ausland CHF 120.–,<br />
Einzelnummer CHF 25.–.<br />
© SKOS. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin.<br />
Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />
ISSN 1422-0636 / 110. Jahrgang<br />
Bild: Keystone<br />
Erscheinungsdatum: 2. Dezember <strong>2013</strong><br />
Die nächste Ausgabe erscheint im März 2014.<br />
2 ZeSo 4/13 inhalt
INHALT<br />
5 Die Eindämmung der Altersarmut<br />
nicht gefährden. Kommentar von<br />
Matthias Kuert, Travailsuisse<br />
6 13 Fragen an Johannes Muntwyler<br />
8 Praxis: Wie lange wird bei einem Auslandsaufenthalt<br />
Sozialhilfe bezahlt?<br />
9 Recht: Das Bundesgericht bestätigt<br />
die Pflicht, eine zumutbare Arbeit<br />
anzunehmen<br />
10 «Es ist eine Raison d’être der Sozialversicherung,<br />
dass sie die Sozialhilfe<br />
entlastet»: Interview mit Gabriela<br />
Riemer-Kafka<br />
14 SCHWERPUNKT:<br />
junge erwachsene<br />
16 Der Übergang in die Erwerbsarbeit<br />
fordert erhöhte Bewältigungsleistungen<br />
19 Belastende familiäre Situation,<br />
psychische Probleme oder im<br />
Konflikt mit dem Gesetz<br />
21 «Ich stand da – ohne Lehrstelle und<br />
ohne Wohnung»<br />
22 Viel Zeit und Energie für unsichere<br />
Erfolgsaussichten<br />
24 Die Validierung von Kompetenzen<br />
stärkt das Selbstvertrauen<br />
Der zirkusdirektor<br />
Die renoviererin<br />
gelebte partizipation<br />
Johannes Muntwyler leitet seit 2005 den<br />
von seiner Familie gegründeten Circus<br />
Monti, mit dem er jedes Jahr während acht<br />
Monaten durch die Deutschschweiz tourt.<br />
<strong>2013</strong> hat er als erster Zirkus überhaupt<br />
den Innovationspreis der Schweizer<br />
Kleinkunstszene (KTV) erhalten.<br />
6<br />
Gabriela Riemer-Kafka hat das Schweizer<br />
Sozialversicherungssystem umfassend<br />
analysiert und wird in nächster Zeit<br />
Vorschläge für eine Strukturreform<br />
präsentieren. Im Gespräch erläutert sie<br />
ihre Beweggründe und wo sie dringenden<br />
Handlungsbedarf sieht.<br />
10<br />
Der Umzug der Sozialen Dienste der Stadt<br />
Winterthur in Grossraumbüros stellt Planer<br />
und Mitarbeitende vor grosse räumliche<br />
und betriebliche Herausforderungen.<br />
In Workshops wurden die Bedürfnisse<br />
überprüft und die Innenarchitektur des<br />
Gebäudes darauf ausgerichtet.<br />
26 Strategien gegen schwierige<br />
Situationen der Zusammenarbeit<br />
28 «Jetzt müssen wir uns neu<br />
erfinden»: Sozialarbeit im<br />
Grossraumbüro<br />
30 Reportage: Aus dem Trott herausfinden<br />
und das Lächeln zurückgewinnen<br />
32 Plattform: Sozialinfo.ch verbreitet<br />
Informationen und Fachwissen<br />
34 Lesetipps und Veranstaltungen<br />
36 Porträt: Metzger Peter Glanzmann<br />
stellt auch Langzeitarbeitslose an<br />
zeigen, was man kann<br />
28<br />
Für die Kundschaft ist Nestor Services<br />
ein normaler Cateringdienstleister. Für die<br />
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist Nestor<br />
mehr als das: eine soziale Einrichtung, die<br />
Erwerbslosen und Sozialhilfebeziehenden<br />
bezahlte Arbeitseinsätze in der<br />
Gastronomie ermöglicht.<br />
30<br />
inhalt 4/13 ZeSo<br />
3
NACHRICHTEN<br />
SKOS lehnt Besteuerung<br />
von Sozialhilfe ab<br />
Wer Sozialhilfe bezieht, muss diese Leistungen<br />
nicht versteuern. Zurückgehend auf eine<br />
Standesinitiative des Kantons Bern lässt<br />
der Bundesrat derzeit prüfen, welche Auswirkungen<br />
eine künftige Besteuerung von<br />
Sozialhilfeleistungen hätte. Die SKOS lehnt<br />
die Besteuerung von Sozialhilfeleistungen<br />
ab, weil sie ein administrativ aufwändiges<br />
Nullsummenspiel nach sich zieht, die Steuergerechtigkeit<br />
verletzt und die Sozialhilfe<br />
und armutsbetroffene Haushalte vor grosse<br />
Probleme stellt. Damit einkommensschwache<br />
Haushalte nicht schlechter gestellt sind<br />
als Haushalte in der Sozialhilfe, spricht sie<br />
sich stattdessen für die Steuerbefreiung<br />
des sozialen Existenzminimums aus. Der<br />
Bericht des Bundesrats wird bis spätestens<br />
Ende Januar 2014 erwartet.<br />
www.skos.ch Stellungnahmen<br />
Mehr über 50-jährige<br />
Sozialhilfebeziehende<br />
Die Städteinitiative Sozialpolitik hat aktuelle<br />
Zahlen zur Sozialhilfe veröffentlicht: Die 13<br />
untersuchten Städte verzeichneten im Jahr<br />
2012 im Durchschnitt 2,5 Prozent mehr Sozialhilfefälle.<br />
Die Sozialhilfequote blieb aufgrund<br />
des Bevölkerungswachstums stabil.<br />
Zugenommen hat der Anteil von Personen<br />
zwischen 50 und 64 Jahren in der Sozialhilfe.<br />
Für diese Altersgruppe hat sich einerseits<br />
der Zugang zum Arbeitsmarkt erschwert, andererseits<br />
sind die Zugangskriterien zu den<br />
Sozialversicherungen restriktiver geworden.<br />
Die Lücke, die entsteht, muss zunehmend<br />
die Sozialhilfe decken und stellt diese vor<br />
grosse Herausforderungen.<br />
www.staedteinitiative.ch Kennzahlen<br />
IIZ: Einverständnis<br />
genügt für Datenaustausch<br />
Die interinstitutionelle Zusammenarbeit<br />
(IIZ) setzt einen geregelten Datenaustausch<br />
voraus. Im Auftrag der nationalen IIZ-<br />
Gremien wurde ein Rechtsgutachten zum<br />
Thema Datenschutz und Datenaustausch in<br />
der IIZ erarbeitet, das in einer Übersicht die<br />
rechtlichen Grundlagen für den Datenaustausch<br />
zwischen den Institutionen darstellt.<br />
Das Gutachten kommt zum Schluss, dass<br />
eine rechtlich gültige Einverständniserklärung<br />
der betroffenen Person ausreicht, den<br />
Datenaustausch zu bewilligen und fehlende<br />
Gesetzesgrundlagen zu ersetzen.<br />
www.iiz.ch<br />
Walter Schmid anlässlich der SKOS-Mitgliederversammlung 2012. <br />
SKOS-Präsident Walter Schmid tritt zurück<br />
Walter Schmid tritt auf das kommende<br />
Frühjahr als Präsident der SKOS zurück.<br />
Er wurde 1999 von der Mitgliederversammlung<br />
als Präsident gewählt und wurde<br />
seither viermal im Amt bestätigt. Die<br />
Aufgabe habe ihm viel Freude gemacht<br />
und ihm die einmalige Chance gegeben,<br />
sich in der Sozialpolitik zu engagieren, betont<br />
Schmid in seinem Rücktrittsschreiben.<br />
«Es war mir ein Anliegen, die Sozialhilfe<br />
im Interesse der Armutsbetroffenen und<br />
unserer Gesellschaft als tragfähiges, wirksames<br />
und faires soziales Sicherungssystem<br />
zu erhalten und weiterzuentwickeln.» Nach<br />
fünfzehn Jahren gibt er im Vorfeld der<br />
nächsten Mitgliederversammlung sein zeitintensives<br />
Ehrenamt ab. Die Geschäftsleitung<br />
der SKOS hat mit Bedauern vom<br />
Rücktritt Kenntnis genommen und dankt<br />
Walter Schmid für sein ausserordentliches,<br />
langjähriges Engagement. Die nötigen Vorbereitungen<br />
für eine Nachfolgeregelung<br />
wurden bereits getroffen und eine Findungskommission<br />
eingesetzt. •<br />
<br />
Sozialhilfe und die SKOS-Richtlinien<br />
im Fokus politischer Diskussionen<br />
In den letzten Monaten hat auf kantonaler<br />
wie auch auf kommunaler Ebene eine intensive<br />
politische Diskussion um die Sozialhilfe<br />
und die SKOS-Richtlinien stattgefunden.<br />
Die Kantone Aargau, Luzern und<br />
Zug haben Postulate abgelehnt, die den<br />
Austritt aus der SKOS forderten. Die drei<br />
Kantonsregierungen erachten es als sinnvoll,<br />
die SKOS-Richtlinien weiterhin anzuwenden.<br />
Sie seien ein bewährtes und zentrales<br />
Arbeitsinstrument der Sozialdienste<br />
und Sozialbehörden. Auf kommunaler<br />
Ebene haben der Zürcher und der Luzerner<br />
Stadtrat ein Zeichen gesetzt, indem sie<br />
Motionen abgelehnt haben, die ebenfalls<br />
den SKOS-Austritt verlangten. Die SKOS<br />
begrüsst diese Entscheide als Bekenntnis<br />
zu einer schweizweit abgestimmten Sozialhilfe.<br />
Mit Bedauern nimmt die SKOS hin-<br />
Bild: Daniel Desborough<br />
gegen den Entscheid des Grossen Rats des<br />
Kantons Bern zur Kenntnis, der in der Septembersession<br />
eine integrale Kürzung der<br />
Sozialhilfeleistungen um zehn Prozent beschlossen<br />
hat. Dies wird auch Einschnitte<br />
beim Grundbedarf zur Folge haben. Die<br />
Kürzung der Sozialhilfeleistungen trifft in<br />
erster Linie die Armutsbetroffenen – das<br />
sind hauptsächlich Kinder und Jugendliche,<br />
alleinerziehende Frauen und Working<br />
Poor. Die Beschränkung ihrer Lebens- und<br />
Integrationsmöglichkeiten drängt sie weiter<br />
an den Rand der Gesellschaft.<br />
Die SKOS betrachtet die kontinuierliche<br />
inhaltliche und strategische Weiterentwicklung<br />
der Richtlinien als Kernaufgabe des<br />
Verbands. Im Rahmen der Weiterentwicklung<br />
wird die SKOS auch die Auswirkungen<br />
des Berner Entscheids diskutieren. •<br />
4 ZeSo 4/13 aktuell
KOMMENTAR<br />
Die Eindämmung der Altersarmut nicht gefährden<br />
Bei der Reform «Altersvorsorge 2020» des<br />
Bundesrats gilt es, die grösste Errungenschaft<br />
der Sozialpolitik zu verteidigen:<br />
Die Eindämmung der Altersarmut. Die<br />
AHV-Rente reicht heute zwar nicht, um die<br />
Existenz zu sichern. Es ist aber gelungen,<br />
den Anteil der Bezügerinnen und Bezüger<br />
von Ergänzungsleistungen (EL) bei rund<br />
12 Prozent zu stabilisieren. Die EL könnten<br />
aber demografie- und ausgabenbedingt<br />
und aufgrund des dadurch steigenden<br />
Pflegebedarfs unter Druck kommen. Auch<br />
herrscht, wie bei allen Bedarfsleistungen,<br />
zunehmend eine Misstrauenskultur. Es ist<br />
darum mehr denn je Aufgabe der Vorsorge,<br />
der Altersarmut vorzubeugen.<br />
Damit dies gelingt, muss die Teilzeitarbeit<br />
besser abgesichert werden.<br />
Mit den Erziehungs- und Betreuungsgutschriften<br />
der AHV konnte zwar<br />
eine bessere Absicherung der Erziehungs-<br />
und Betreuungsarbeit erreicht<br />
werden. Vernachlässigt wurde aber,<br />
dass daneben oft Teilzeitarbeit verrichtet<br />
wird. Durch die vergleichsweise hohe<br />
Eintrittsschwelle – Einkommen unter rund<br />
21 000 sind gesetzlich nicht versichert<br />
– und dem Koordinationsabzug von rund<br />
25 000 Franken haben Teilzeitarbeitende oft<br />
nur einen kleinen oder gar keinen versicherten<br />
Lohn. Die Quittung sind zu tiefe<br />
Rentenleistungen, von denen in erster Linie<br />
Frauen betroffen sind. Um diese Lücke zu<br />
schliessen, braucht es eine Senkung der<br />
Eintrittsschwelle in die AHV sowie einen<br />
zum Einkommen proportionalen Koordinationsabzug.<br />
Auch ältere Arbeitslose müssen besser<br />
abgesichert werden. Sie finden nur schwerlich<br />
noch neue Stellen. Wer keinen Job<br />
findet, hat bald auch keine Pensionskasse<br />
mehr, die später eine Rente auszahlen<br />
könnte. Wenn die verbleibende einmalige<br />
und bescheidene Kapitalauszahlung aufgebraucht<br />
ist, wird‘s eng. Dass die Auffangeinrichtung<br />
BVG deshalb neu die Aufgabe<br />
übernehmen soll, das Vorsorgekapital<br />
älterer Arbeitsloser entgegenzunehmen<br />
und in eine Rente umzuwandeln, ist<br />
deshalb zu begrüssen.<br />
Bei der flexiblen Pensionierung geht der<br />
Vorschlag des Bundesrats hingegen<br />
zu wenig weit. Dass sich Personen mit<br />
bescheidenen Einkommen keine Frühpensionierung<br />
leisten können, und dies<br />
auch so bleibt, wenn sie gesundheitlich<br />
angeschlagen sind und ihre Arbeit kaum<br />
bis 65 durchhalten können, widerspricht<br />
dem Ziel der Eindämmung der Altersarmut<br />
und trifft viele hart. Der vorliegende Vorschlag<br />
benachteiligt namentlich viele, zu<br />
tiefen Einkommen arbeitende Migrantinnen<br />
und Migranten. Das ist umso ungerechter,<br />
als diese bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland<br />
nicht EL-berechtigt sind. Die<br />
Ausgleichsmassnahmen für Frühpensionierungen<br />
müssen deshalb für alle tiefen<br />
Einkommen gelten.<br />
Matthias Kuert<br />
Leiter Sozialpolitik<br />
Travailsuisse<br />
aktuell 4/13 ZeSo<br />
5
13 Fragen an Johannes Muntwyler<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
Sind Sie eher arm oder eher reich?<br />
Ich denke irgendwo dazwischen. Wir haben genug,<br />
um vernünftig zu leben, aber zu wenig, um<br />
abzuheben. Und das ist gut so.<br />
Was empfinden Sie als besonders ungerecht?<br />
Ich ertrage es je länger je weniger, wenn irgendwo<br />
auf der Welt ein Unrecht oder eine Katastrophe geschieht<br />
und sämtliche Staaten aus politischen und<br />
wirtschaftlichen Gründen tatenlos zusehen oder im<br />
besten Falle teure diplomatische Gespräche führen,<br />
die den betroffenen Menschen auch nicht wirklich<br />
helfen.<br />
Glauben Sie an die Chancengleichheit?<br />
Ich bin überzeugt, dass dies keine Glaubensfrage<br />
ist. Es ist offensichtlich, dass es nicht so ist. Vieles<br />
hängt davon ab, wo ein Mensch geboren wird und<br />
wie er von seinem Umfeld gefördert und umsorgt<br />
wird. Der Spruch «jeder ist seines Glückes Schmied»<br />
wirkt für mich daher oft auch zynisch.<br />
Was bewirken Sie mit Ihrer Arbeit?<br />
Ich bemühe mich, mit den uns zur Verfügung stehenden<br />
Möglichkeiten möglichst vielen Menschen<br />
eine Freude zu machen. Ich bin mir aber bewusst,<br />
dass sich die Welt auch ohne den Circus Monti drehen<br />
würde. Nur wäre die Erde dann wohl um einen<br />
kleinen Farbtupfer ärmer.<br />
Für welches Ereignis oder für welche Begegnung würden<br />
Sie ans andere Ende der Welt reisen?<br />
Wenn mein verstorbener Vater für eine kurze Zeit<br />
zurückkommen und mir erzählen könnte, wie es<br />
nach dem Tod weitergeht. Und um ihm zu erzählen<br />
und zu zeigen, was aus dem Circus Monti geworden<br />
ist. Zudem ist es ein Traum von mir, mit dem Circus<br />
Monti einmal in Wien auf dem Platz direkt vor dem<br />
Rathaus zu gastieren. Wenn ich also den Wiener Bürgermeister<br />
treffen könnte, um einen Vertrag für ein<br />
Gastspiel zu unterschreiben, würde ich gerne eine<br />
sehr lange Reise auf mich nehmen.<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
10<br />
Wenn Sie in der Schweiz drei Dinge verändern könnten,<br />
welche wären das?<br />
Erstens: Die Bürokratie um einige Jahre zurückfahren.<br />
Mit dem Circus Monti in der Schweiz unterwegs<br />
zu sein, wird wegen zusätzlichen administrativen<br />
Arbeiten und neuen Bestimmungen und<br />
Auflagen immer aufwändiger und komplizierter.<br />
Zweitens: Sämtliche Sparmassnahmen bezüglich<br />
Bildung ausser Kraft setzen. Bildung ist DAS Kapital<br />
der Schweiz und daher eine der wichtigsten Investitionen<br />
in die Zukunft des Landes. Drittens: Ein<br />
Gesetz einführen, das jedem Einwohner unseres<br />
Landes die Möglichkeit gibt, sich für sein Recht zu<br />
wehren, ohne dass ihm bereits im Vorfeld mit möglichen<br />
Kosten gedroht wird. Es darf nicht sein, dass<br />
«Recht bekommen» oft von den finanziellen Mitteln<br />
abhängt.<br />
Können Sie gut verlieren, und woran merkt man das?<br />
Beim Spielen will ich zwar lieber gewinnen, bin<br />
aber ein friedlicher Verlierer. In Bezug auf den Circus<br />
will ich immer gewinnen. Als Unternehmer soll dies<br />
auch so sein. «Verliere» ich da aus meiner Sicht<br />
unrechtmässig, stehe ich für mein Recht ein und<br />
wehre mich – wenn es sein muss auch unabhängig<br />
von möglichen Kosten.<br />
Bügeln Sie Ihre Hemden selbst?<br />
In unserem Haushalt wird sehr selten gebügelt.<br />
Meine Kostümhemden werden – wie alle andern<br />
Vorstellungskostüme auch – von einer Kostümschneiderin<br />
gepflegt. Meine privaten Hemden bügeln<br />
entweder meine Partnerin oder ich. Generell<br />
teilen wir uns die Hausarbeit.<br />
Was bedeutet Ihnen Solidarität?<br />
Solidarität ist sowohl ein Recht wie auch eine<br />
Pflicht jedes Menschen. Leider geht in der heutigen<br />
hektischen Zeit die Solidarität oft verloren. Ich ertappe<br />
mich selber auch immer wieder dabei. Ohne Solidarität<br />
geht es nicht und die Welt geht irgendwann<br />
zu Grunde.<br />
Haben Sie eine persönliche Vision?<br />
Für mich persönlich wünsche ich mir, dass ich in<br />
naher Zukunft mein tägliches Arbeitspensum auf<br />
ein vernünftiges Level zurückschrauben kann und<br />
mir somit mehr Zeit für Visionäres bleibt. Für die<br />
Menschheit wünsche ich mir eine Welt ohne Gewalt<br />
und Ungerechtigkeiten. Eine Welt, in der alle unter<br />
menschenwürdigen Bedingungen leben können.<br />
6 ZeSo 4/13 13 fragen an
Johannes Muntwyler<br />
Bild: Pia Neuenschwander<br />
Johannes Muntwyler (49) ist seit 2005 Direktor des 1985 von seiner<br />
Familie gegründeten Circus Monti. Der Zirkus tourt jedes Jahr während acht<br />
Monaten durch die Deutschschweiz. <strong>2013</strong> hat er als erster Zirkus überhaupt<br />
den Innovationspreis der Schweizer Kleinkunstszene (KTV) erhalten. Das<br />
Zirkus-Chapiteau bietet Platz für rund 800 Zuschauer. Während der Tournée<br />
arbeiten 60 Personen für den Zirkus, davon sind zirka 20 Personen Artisten<br />
und Musiker. Johannes Muntwyler ist Vater von drei Söhnen. In der Wintersaison<br />
lebt er in Wohlen AG.<br />
11<br />
12<br />
13<br />
Welcher Begriff ist für Sie ein Reizwort?<br />
Suisa. Die Urheberrechte der Komponisten zu<br />
schützen, finde ich eigentlich begrüssenswert. Dies<br />
geschieht bei der Suisa aber leider in erster Linie aus<br />
Eigeninteresse. Da wir jedes Jahr speziell für das<br />
aktuelle Programm Musik von einem Komponisten<br />
schreiben lassen, kommen wir mit deren Machenschaften<br />
regelmässig in direkten Kontakt: Eigene finanzielle<br />
Interessen werden weit vor die Interessen<br />
der Komponisten gestellt. In meinen Augen haben<br />
wir hier einen Fall von modernem Raubrittertum.<br />
Gibt es Dinge, die Ihnen den Schlaf rauben?<br />
Ich habe zum Glück ein Urvertrauen, dass immer<br />
alles irgendwie gut kommt. Ansonsten könnte ich<br />
mit einem derart lebendigen Unternehmen wohl<br />
kaum gut schlafen. Somit kann ich sagen, dass es<br />
zwar solche Dinge gibt, ich aber trotzdem bestens<br />
schlafen kann.<br />
Mit wem möchten Sie gerne per Du sein?<br />
Nur mit möglichst vielen Menschen per Du zu<br />
sein, ist nicht mein Ziel. Mir sind gute ehrliche<br />
Freundschaften viel wichtiger. Es ist für mich aber<br />
immer wieder faszinierend, wenn Persönlichkeiten<br />
aus dem öffentlichen Leben, die ich immer bewundert<br />
habe, plötzlich bei uns im Zelt sitzen und unsere<br />
Vorstellung geniessen.<br />
13 fragen an 4/13 ZeSo<br />
7
Wie lange muss die Sozialhilfe bei<br />
einem Auslandsaufenthalt bezahlen?<br />
Eine unterstützte Frau will für vier Monate im Ausland die Pflege ihrer schwer kranken Mutter<br />
übernehmen. Grundsätzlich stehen ihr aber nur vier Wochen Auslandsaufenthalt zu, ohne dass sie<br />
ihren Sozialhilfeanspruch verliert.<br />
Frage<br />
Frau Belucci, eine alleinerziehende Mutter<br />
mit einem 14 Monate alten Kind, informiert<br />
den Sozialdienst, dass sie sich während<br />
der nächsten vier Monate im Ausland<br />
aufhalten wird, weil ihre Mutter schwer<br />
krank sei. Als einzige Tochter werde von ihr<br />
erwartet, dass sie sich um die Pflege kümmere.<br />
Muss die Gemeinde das akzeptieren<br />
oder kann sie die Leistungen einstellen?<br />
Grundlagen<br />
Ein vorübergehender Auslandsaufenthalt<br />
verändert oder unterbricht den Unterstützungswohnsitz<br />
nicht und führt nicht automatisch<br />
zu einem Verlust des Anspruchs<br />
auf wirtschaftliche Sozialhilfe. Hält sich eine<br />
unterstützte Person vorübergehend im<br />
Ausland auf, hat sie also grundsätzlich Anspruch<br />
auf Fortführung der Unterstützung,<br />
sofern sie ihren Wohnsitz nicht aufgibt<br />
und sich nicht einer Erwerbstätigkeit<br />
oder einer Sozialhilfemassnahme entzieht<br />
(vgl. Urteil des Aargauer Verwaltungsgerichts<br />
WBE.2007.254 vom 20. Februar<br />
2008 und Urteil des Berner Verwaltungsgerichts<br />
21279U vom 27. Mai 2002).<br />
Sozialhilfebeziehende sind allerdings<br />
verpflichtet, Änderungen in ihren persönlichen<br />
Verhältnissen zu melden, soweit sie<br />
budgetrelevant sind. Längere Ortsabwesenheiten<br />
können budgetrelevant sein, da<br />
trotz Pauschalisierung des Grundbedarfs<br />
PRAXIS<br />
In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />
der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />
und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />
Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />
Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Intranet<br />
(einloggen) SKOS-Line.<br />
für den Lebensunterhalt das Individualisierungsprinzip<br />
gilt. Das Ausmass der Hilfe<br />
muss dem individuellen und aktuellen<br />
Bedarf der bedürftigen Person Rechnung<br />
tragen. Wenn die materiellen Bedürfnisse<br />
aufgrund ausserordentlicher Umstände<br />
weniger als gewöhnlich kosten, ist es zulässig<br />
und angebracht, den Grundbedarf<br />
anzupassen. Weitere Reduktionen ergeben<br />
sich allenfalls, wenn die Verpflegung<br />
im Ausland unentgeltlich erfolgt. (Zu den<br />
Lebenshaltungskosten im Ausland siehe<br />
www.swissemigration.ch >Dienstleistungen<br />
>Leben im Ausland >Auswandern >Lebenshaltungskosten).<br />
Wenn der Auslandsaufenthalt vorgängig<br />
nicht abgesprochen wurde, ist eine<br />
Kürzung zulässig, sofern die betroffene<br />
Person zuvor über die Meldepflicht und die<br />
Konsequenzen schriftlich informiert wurde.<br />
Eine Kürzung, die sich lediglich auf die<br />
allgemein geltende Meldepflicht abstützt,<br />
wird von den Gerichten unter Umständen<br />
nicht gestützt. Wenn der betroffenen Person<br />
mehr Sozialhilfe ausbezahlt wurde, als<br />
ihr bei rechtzeitiger Information ausgerichtet<br />
worden wäre, kann die Rückerstattung<br />
des unrechtmässigen Bezugs verfügt und<br />
in Raten mit der laufenden Sozialhilfe verrechnet<br />
werden (SKOS-Richtlinien, E.3.2).<br />
Da Personen, die auf Stellensuche<br />
sind oder eine Integrationsmassnahme<br />
absolvieren, nicht besser gestellt werden<br />
sollen als Personen, die regulär arbeiten<br />
oder Arbeitslosentaggeld beziehen, wird<br />
in Anlehnung an die Ferienregelung im<br />
Obligationenrecht ein Auslandsaufenthalt<br />
von maximal vier Wochen pro Jahr als zulässig<br />
erachtet. In Opposition zu einzelnen<br />
Verwaltungsgerichten vertritt die SKOS<br />
die Meinung, dass sich auch Personen,<br />
die aus unterschiedlichen Gründen nicht<br />
verpflichtet sind, eine Stelle zu suchen<br />
oder an einer (Arbeits-)Integrationsmassnahme<br />
teilzunehmen, grundsätzlich nicht<br />
länger im Ausland aufhalten dürfen, ohne<br />
ihren Sozialhilfeanspruch zu verlieren. Der<br />
tatsächliche Aufenthalt in der Schweiz ist<br />
zwar nicht explizite Anspruchsvoraussetzung<br />
für den Sozialhilfebezug. Allerdings<br />
richtet sich die Zuständigkeit für die Unterstützung<br />
nach dem Bundesgesetz über<br />
die Zuständigkeit für die Unterstützung<br />
Bedürftiger (ZUG, SR 851.1), das nur<br />
Geltung für sich in der Schweiz aufhaltende<br />
Personen beansprucht (Art. 1 Abs. 1<br />
ZUG). Auch auf Art. 12 der Bundesverfassung<br />
kann sich nur berufen, wer sich in der<br />
Schweiz aufhält.<br />
Und schliesslich lässt sich das Ziel der<br />
Sozialhilfe, die berufliche und soziale Integration,<br />
bei längeren Auslandsaufenthalten<br />
nur schwer verwirklichen. Die Kantone<br />
beziehungsweise die Gemeinden sind also<br />
nicht zur Unterstützung von Personen im<br />
Ausland verpflichtet (vgl. Botschaft zum<br />
ZUG, Bundesblatt vom 20. Dezember<br />
1976, Bd.3, S.1201).<br />
Antwort<br />
Obwohl die alleinerziehende Mutter aktuell<br />
keine Auflagen zu befolgen hat, die ihre<br />
Anwesenheit zwingend erforderlich machen,<br />
steht ihr grundsätzlich bloss ein Auslandsaufenthalt<br />
von höchstens vier Wochen<br />
pro Jahr zu. Ob die spezielle Familiensituation<br />
eine Ausnahmeregelung rechtfertigt,<br />
hat die Behörde im Einzelfall zu entscheiden.<br />
Während des grundsätzlich zulässigen<br />
vierwöchigen Auslandsaufenthalts ist in der<br />
Regel ordentliche Sozialhilfe auszurichten.<br />
Eine Anpassung an die örtlichen Lebenshaltungskosten<br />
rechtfertigt sich bei ausnahmsweise<br />
zugebilligtem längerem Auslandsaufenthalt<br />
oder bei besonders augenfälligen<br />
Einsparungen.<br />
•<br />
Heinrich Dubacher<br />
Kommission Richtlinien<br />
und Praxishilfen der SKOS<br />
8 ZeSo 4/13 praxis
Bundesgericht bestätigt die Pflicht,<br />
eine zumutbare Arbeit anzunehmen<br />
Das Bundesgericht hält eindeutiger als bisher fest, dass Arbeitsprogramme Vorrang haben, falls mit<br />
der Teilnahme ein Erwerbseinkommen erzielt wird. Es nennt auch die Voraussetzungen, unter denen<br />
die Sozialhilfe bei fehlenden Arbeitsbemühungen eingestellt werden kann.<br />
Ausgangslage<br />
Ein sozialhilfeunterstützter Mann wurde<br />
zu einer Arbeit in einem Testarbeitsplatz<br />
(TAP) verpflichtet. Wegen Arbeitsverweigerung<br />
verfügte der Sozialdienst nach einer<br />
erfolglosen Ermahnung die Einstellung<br />
der wirtschaftlichen Hilfe. Die Beschwerdeinstanz<br />
wies die Beschwerde gegen die<br />
Verfügung ab. Vom Verwaltungsgericht<br />
hingegen wurde die Leistungseinstellung<br />
nur für die Zeit des TAP-Einsatzes bestätigt,<br />
nicht aber darüber hinaus. Mit Beschwerde<br />
ans Bundesgericht beantragte<br />
der Sozialhilfeempfänger, es sei ihm auch<br />
für die zwei Monate des TAP-Programms<br />
wirtschaftliche Sozialhilfe zu gewähren.<br />
Das Bundesgerichtsurteil<br />
Das Bundesgericht bestätigte die Einstellung<br />
der Sozialhilfeleistungen während<br />
der zwei Monate, während denen der Testarbeitsplatz<br />
angeboten wurde. Dies mit<br />
dem Hinweis, dass die Sozialhilfegesetzgebung<br />
wie auch das Grundrecht auf Hilfe in<br />
Notlagen (Art. 12 BV) den Anspruch an die<br />
Voraussetzungen der Notlage und der Subsidiarität<br />
knüpft. Das Urteil hält fest, dass,<br />
wer objektiv in der Lage ist, sich durch die<br />
Aufnahme einer zumutbaren Arbeit aus eigener<br />
Kraft die erforderlichen Mittel selber<br />
zu verschaffen, keinen Anspruch auf Sozialhilfe<br />
oder Nothilfe hat. Es bestätigt, dass<br />
es sich bei der Pflicht, eine zumutbare Arbeit<br />
aufzunehmen, um eine Anspruchsvoraussetzung<br />
für die Sozialhilfe handelt (vgl.<br />
BGE 130 I 71 und BGE 133 V 353 E. 4.2).<br />
Der TAP-Einsatz wurde als verhältnismässig<br />
beurteilt, weil er geeignet und<br />
notwendig ist, die Arbeitsmotivation und<br />
-bereitschaft abzuklären. Andere Massnahmen<br />
zur Abklärung der beruflichen Situation<br />
und aktenkundige Eigenbemühungen<br />
des Beschwerdeführers waren gescheitert,<br />
obwohl beim Betroffenen Hinweise auf<br />
Kompetenzen zur Erwerbsfähigkeit und<br />
keine medizinische Arbeitsunfähigkeit bestanden<br />
haben. Eine Unterforderung des<br />
Beschwerdeführers bei der zu verrichtenden<br />
Tätigkeit darf in einem solchen Fall<br />
hingenommen werden. Eine Schmälerung<br />
der Chancen, eine adäquate Arbeit im<br />
angestammten Beruf als Informatiker zu<br />
finden, war nicht wahrscheinlich, zumal<br />
er im angestammten Beruf schon längere<br />
Zeit nicht mehr erwerbstätig war. Vor allem<br />
aber hätte der TAP-Einsatz dem Beschwerdeführer<br />
ein angemessenes, den Lebensunterhalt<br />
sicherndes Entgelt ermöglicht.<br />
Einsatz am Testarbeitsplatz.<br />
Bild: Keystone<br />
Kommentar<br />
Das Bundesgericht bestätigt den auch in<br />
den SKOS-Richtlinien (A.8.3) verankerten<br />
Grundsatz, dass Sozialhilfe subsidiär gegenüber<br />
der Verwertung der eigenen Arbeitskraft<br />
ist: Wer zumutbare Arbeit verweigert,<br />
hat mit der Einstellung von Sozialhilfe<br />
wegen des Wegfalls der Anspruchsvoraussetzung<br />
der Bedürftigkeit zu rechnen. Damit<br />
erübrigt sich auch die Frage nach einer<br />
sozialhilferechtlichen Sanktionierung oder<br />
nach Rechtsmissbrauch. Entscheidend ist<br />
allerdings, ob die betroffene Person tatsächlich<br />
die Möglichkeit hat, eine andere Hilfsquelle<br />
in Anspruch zu nehmen, und ob die<br />
Inanspruchnahme dieser Hilfsquelle geeignet<br />
ist, die Notlage zu überwinden.<br />
Im vorliegenden Fall war die Einstellung<br />
der Sozialhilfe während der Programmdauer<br />
wenig problematisch, weil<br />
sie mit einem der Sozialhilfe entsprechenden<br />
Lohn entschädigt wurde. So ist<br />
der Betroffene aktuell nicht bedürftig und<br />
kann bei der Teilnahme während zweier<br />
Monate selber für seinen Lebensunterhalt<br />
aufkommen. Das Bundesgericht hält in<br />
seinem Urteil eindeutiger als bisher fest,<br />
dass Arbeitsprogramme Vorrang haben,<br />
falls mit der Teilnahme ein Erwerbseinkommen<br />
erzielt wird (E. 5.3).<br />
Der Praxis ist vor diesem Hintergrund<br />
zu raten, die Abklärungs- und Beschäftigungsprogramme<br />
so auszugestalten, dass<br />
reale und direkte Entgelt- und Lohnzahlungen<br />
erfolgen, die mit der Teilnahme an<br />
den Abklärungs- und Beschäftigungsprogrammen<br />
auch die Existenzsicherung ermöglichen.<br />
In diesem Fall ist der Wegfall<br />
des Anspruchs auf Sozialhilfe bei aktuell<br />
bestehendem, zumutbarem Programmplatz<br />
klar.<br />
•<br />
Peter Mösch Payot<br />
Institut für Sozialarbeit und Recht<br />
Hochschule Luzern<br />
Literatur<br />
Urteil 8C_962/2012 vom 29. Juli <strong>2013</strong>.<br />
www.bger.ch Rechtsprechung Rechtsprechung<br />
gratis Weitere Urteile ab 2000.<br />
RECHT 4/13 ZeSo<br />
9
«Es ist eine Raison<br />
d’être der Sozialversicherung,<br />
dass sie die<br />
Sozialhilfe entlastet»<br />
Die Sozialversicherungsrechtlerin Gabriela Riemer-Kafka hat das<br />
Schweizer Sozialversicherungssystem umfassend analysiert<br />
und wird in nächster Zeit Vorschläge für eine Strukturreform<br />
präsentieren. Im Gespräch erläutert sie ihre Beweggründe und wo<br />
sie dringenden Handlungsbedarf sieht.<br />
Frau Riemer-Kafka, wie beurteilen Sie<br />
die sozialpolitische Entwicklung in der<br />
Schweiz in den letzten Jahren?<br />
Über alles hinweg betrachtet geht es<br />
dem Sozialstaat immer noch gut. Die Konjunkturprognosen<br />
sind nicht schlecht und<br />
die Arbeitslosenquote ist stabil tief. Wir verfolgen<br />
in der Schweiz einen pragmatischen<br />
Ansatz und sind grundsätzlich nicht gewillt,<br />
mehr auszugeben als einzunehmen.<br />
Bei den Sozialwerken sind die Gesamteinnahmen<br />
immer noch beträchtlich höher<br />
als die Gesamtausgaben. Bei der Invalidenund<br />
der Arbeitslosenversicherung wurde<br />
ein Weg in Richtung Leistungsabbau eingeschlagen,<br />
bei der Krankenversicherung<br />
wird darüber diskutiert. Bei der AHV und<br />
dem BVG hingegen hat sich die Stimmbevölkerung<br />
erfolgreich gegen einen<br />
Leistungsabbau gewehrt und sich bei der<br />
Mutterschaftsversicherung und den Familienzulagen<br />
sogar für einen Leistungsausbau<br />
ausgesprochen. Man kann also nicht alle<br />
Entwicklungen über einen Leisten ziehen.<br />
Unser Sozialversicherungssystem ist<br />
sehr komplex. Das Postulat Schenker,<br />
das eine allgemeine Erwerbsversicherung<br />
forderte und damit eine umfassende<br />
Reform anregte, ist politisch<br />
gescheitert. Welches sind aus Ihrer<br />
Sicht die Schwachstellen des Systems?<br />
Das System ist hundert Jahre lang gewachsen,<br />
baut auf den damaligen gesellschaftlichen<br />
Gegebenheiten auf und ist in elf<br />
Versicherungszweige fraktioniert. Die Koordination<br />
ist dadurch kompliziert geworden<br />
und der Zugang für die Versicherten unübersichtlich.<br />
Das führt zu Unsicherheit<br />
und einer gewissen Ohnmacht gegenüber<br />
dem Verwaltungsapparat. Aus diesen Gründen<br />
wäre eine «Renovation» des Systems<br />
nötig, vergleichbar mit dem Renovationsbedarf<br />
bei einem hundertjährigen Haus.<br />
Wo sehen Sie konkreten Handlungsbedarf?<br />
Bei den Leistungsvoraussetzungen und<br />
dem Leistungsausbau der diversen Sozialversicherungen.<br />
Diese sind sehr unterschiedlich<br />
und den heutigen gesellschaftlichen<br />
Verhältnissen nur noch bedingt<br />
angemessen. Die Erwerbstätigkeit zum<br />
Beispiel hat heute sehr viele verschiedene<br />
Facetten. Man ist einmal unselbständig,<br />
dann selbständig, manchmal auch beides<br />
zusammen, es gibt viel mehr Teilzeitarbeit<br />
usw. Diese Faktoren werden von der aktuellen<br />
Sozialversicherungsgesetzgebung<br />
nur unzulänglich berücksichtigt. Darüber<br />
hinaus gibt es verschiedene Fehlanreize im<br />
Leistungssystem.<br />
Wäre eine Ausdehnung des Case<br />
Managements auf weitere Sozialversicherungen<br />
ein möglicher Ansatz, die<br />
Leistungsvoraussetzungen und die<br />
Leistungen besser zu koordinieren?<br />
Case Management ist ein gutes Beispiel<br />
für eine neue Entwicklung zugunsten<br />
der Wiedereingliederung von Personen<br />
mit Schwierigkeiten, im Arbeitsmarkt zu<br />
bestehen. Es koordiniert die Verfahrensabläufe<br />
zwischen mehreren in einen Fall<br />
involvierten Versicherungen und dem<br />
Arbeitgeber, hat also keinen Einfluss auf<br />
Leistungsvoraussetzungen und Leistungsumfang.<br />
Zudem erfolgt Case Management<br />
freiwillig. Es gibt keine gesetzlichen Rahmenbedingungen<br />
und keine Koordination<br />
unter den Sozialversicherungszweigen.<br />
Eine gesetzliche Regelung für das Case<br />
Management tut daher Not.<br />
Wo würden Sie sonst noch ansetzen?<br />
Ich würde die Versicherungsleistungen<br />
vom Status der Erwerbstätigkeit respektive<br />
Nichterwerbstätigkeit abhängig<br />
machen und nicht wie heute üblich vom<br />
Status selbständig oder unselbständig.<br />
Bei der Mutterschaftsentschädigung und<br />
den Familienzulagen ist dies bereits der<br />
10 ZeSo 4/13 interview
Bilder: Christine Bärlocher<br />
Fall, und teilweise auch bei der AHV<br />
und der IV. Die Selbständigerwerbenden<br />
sind heute nur für ein Existenzminimum<br />
obligatorisch versichert. Dass dies so ist,<br />
hat seine Wurzeln im 19. Jahrhundert,<br />
als man davon ausging, dass ein Unternehmer<br />
auch eine genügende Kapitalbasis<br />
hat. Heute sind Selbständigerwerbende<br />
auch eine Risikogruppe für die<br />
Sozialhilfe.<br />
Was halten Sie von einer allgemeinen<br />
Erwerbsversicherung?<br />
Die Idee ist grundsätzlich gut, insbesondere<br />
der leistungsorientierte Ansatz,<br />
also der Anspruch auf Geldleistungen<br />
unabhängig vom eingetretenen Risiko.<br />
Problematisch ist aber der Leistungsausbau,<br />
wie beispielsweise ein Anspruch auf<br />
Taggelder ohne Erwerbseinbusse oder<br />
«decent work», also ohne anständige, zumutbare<br />
Arbeit.<br />
Und wie stellen Sie sich zum «bedingungslosen<br />
Grundeinkommen»?<br />
Die Nachteile überwiegen <strong>ganz</strong> klar.<br />
Man könnte zwar den schwerfälligen, mit<br />
Doppelspurigkeiten behafteten Versicherungsapparat<br />
und die Sozialhilfe enorm<br />
entlasten und die Problematik rund um die<br />
Care-Arbeit wäre wohl auch gelöst. Aber<br />
die Kosten wären enorm, und die Finanzierung<br />
entsprechend teuer. Zudem würde<br />
ein Grundeinkommen neue Fehlanreize<br />
schaffen und die Solidarität untergraben.<br />
Wie könnte die Sozialhilfe aus gesetzgeberischer<br />
Sicht besser verankert<br />
werden, nachdem der Ständerat im<br />
Frühling ein Rahmengesetz Sozialhilfe<br />
abgelehnt hat?<br />
Ich denke, dass das Rahmengesetz im<br />
Ständerat über die Einführung eines einheitlichen<br />
Minimalstandards gestolpert<br />
ist. Andere Postulate wie eine bessere Ko-<br />
ordination und mehr interinstitutionelle<br />
Zusammenarbeit wurden positiv aufgenommen.<br />
Nun muss man eben einzelfallbezogen<br />
schauen, wo die Sozialhilfe in die<br />
Bundesgesetzgebung integriert werden<br />
kann. Etwa an den Schnittstellen zu den<br />
Sozialversicherungen, insbesondere zur<br />
IV und zur ALV, oder an der Schnittstelle<br />
zur Berufsbildung durch die Schaffung<br />
gemeinsamer Gremien. Für die Alimentenbevorschussung<br />
könnte man im ZGB<br />
einheitliche Voraussetzungen schaffen.<br />
Eine solche «Pflästerlipolitik» hätte im Parlament<br />
vielleicht bessere Chancen. Über<br />
Bundesrecht könnten auch die Kantone zu<br />
mehr interinstitutioneller Zusammenarbeit<br />
verpflichtet werden – auch im Bereich<br />
der Sozialhilfe. Zudem braucht es einheitliche<br />
Regeln für den Datenaustausch.<br />
<br />
Die Sozialhilfe ist als Bedarfsleistung<br />
ausgelegt. Weshalb wird der Grundinterview<br />
4/13 ZeSo<br />
11
edarf immer wieder in Frage gestellt,<br />
obwohl er auf fundierte Daten abstützt?<br />
Ich finde es richtig, dass der Bund nicht<br />
für die Festlegung des Bedarfs zuständig<br />
ist. Der Bedarf orientiert sich immer auch<br />
an einer konkreten persönlichen Situation,<br />
und die ist von Fall zu Fall verschieden.<br />
Dass man die Höhe des Bedarfs aber<br />
immer wieder in Frage stellt, ist vor dem<br />
Hintergrund des verfassungsrechtlichen<br />
Anspruchs auf Nothilfe höchst problematisch.<br />
Wir haben uns zum Wohlfahrtsstaat<br />
bekannt und es ist gesellschaftspolitisch<br />
wichtig, dass es keine Ausgrenzung und<br />
Stigmatisierung gibt, auch deswegen, weil<br />
oft Kinder die Leidtragenden sind. Die Angriffe<br />
– auch gegen die SKOS – sind populistisch<br />
und unter anderem durch einige<br />
Missbrauchsfälle und leere Kassen ausgelöst.<br />
Das dient der Sache nicht und ist ein<br />
Ressourcenverschleiss. Natürlich muss<br />
man den Missbrauch sinnvoll bekämpfen,<br />
aber er wird sich nie vollständig ausmerzen<br />
lassen.<br />
Missbrauch betrifft die <strong>ganz</strong>e Versicherungsbranche.<br />
Erfolgt er bei einer<br />
Sozialversicherung, geht ein medialer<br />
Aufschrei durch das Land, während<br />
der «normale» Versicherungsbetrug<br />
mancherorts eher noch als Kavaliersdelikt<br />
gilt. Woher kommt diese unterschiedliche<br />
Wahrnehmung?<br />
Das liegt an den unterschiedlichen Finanzierungsmodellen.<br />
Die Sozialversicherungen<br />
werden durch die Allgemeinheit<br />
im Umlageverfahren finanziert, und die<br />
Gelder müssen gesetzesgemäss korrekt<br />
eingesetzt werden. Privatversicherungen<br />
hingegen werden individuell finanziert,<br />
das betrifft die Allgemeinheit in dem Sinn<br />
nicht. Und das Missbrauchsrisiko ist quasi<br />
in den Prämien schon eingerechnet.<br />
Sie arbeiten an einem Projekt, einer<br />
umfassenden Analyse des Schweizer<br />
Sozialversicherungswesens. Worum<br />
geht es da genau?<br />
Das ist eine lange Geschichte. Ich habe<br />
seinerzeit zum Thema Mutterschaftsversicherung<br />
dissertiert und mir schon damals<br />
die Frage gestellt, wie man diese aufbauen<br />
könnte, ohne einen zusätzlichen Versicherungszweig<br />
zu schaffen. Auf dieser Erkenntnis<br />
beruhend, dass es besser ist, das<br />
System zu straffen und zusammenzulegen,<br />
ist später die Idee gewachsen, das gesamte<br />
«Meine Vorschläge<br />
zeigen, wo man<br />
etwas vereinfachen<br />
und zusammenlegen<br />
kann»<br />
Gabriela Riemer-Kafka<br />
Gabriela Riemer-Kafka (55) ist Professorin<br />
für Sozialversicherungs- und Arbeitsrecht<br />
an der Universität Luzern und Chefredaktorin<br />
der Schweizerischen Zeitschrift für<br />
Sozialversicherung und berufliche Vorsorge<br />
(SZS). Sie lebt in Zürich, ist verheiratet und<br />
hat drei erwachsene Kinder.<br />
Sozialversicherungssystem einmal unter<br />
diesem Aspekt zu untersuchen. An dieser<br />
Strukturreform arbeite ich nun seit fünf<br />
Jahren mit dem Ziel, zu harmonisieren, an<br />
die heutigen Verhältnisse anzupassen und<br />
für die Versicherten den Zugang zu vereinfachen.<br />
Hatten Sie von Beginn weg eine klare<br />
Vision, wie man das anstellen müsste?<br />
Ich habe eine persönliche Entwicklung<br />
durchgemacht. Am Anfang dachte ich, dass<br />
man eine Versicherung für Sachleistungen<br />
– beispielsweise für die Eingliederung –<br />
und eine Versicherung für Geldleistungen<br />
anstreben sollte, und zwar unabhängig von<br />
Risiken wie Alter, Invalidität, Unfall, Arbeitslosigkeit,<br />
Mutterschaft, Militär usw.<br />
Je vertiefter ich mich dann mit der Materie<br />
auseinandergesetzt hatte, desto mehr<br />
musste ich erkennen, dass das mit dem<br />
bestehenden System nicht möglich ist und<br />
ein Totalumbau auch politisch nicht mehrheitsfähig<br />
wäre.<br />
Weshalb?<br />
Nicht die Risiken sind das Problem,<br />
sondern die unterschiedlichen Versichertenkollektive<br />
und die Finanzierung. Betrachten<br />
wir zum Beispiel die Unfallversicherung.<br />
Sie ist ihrem Wesen nach eine<br />
Arbeitgeber-Haftpflichtversicherung und<br />
wird durch Lohnprozente über die Arbeitgeber<br />
finanziert. Die Krankenversicherung<br />
deckt ein persönliches Risiko und wird<br />
durch Kopfbeiträge finanziert. Das ist so<br />
gut eingespielt und verwurzelt, dass sich<br />
das nicht durch ein anderes System ersetzen<br />
lässt. Ich musste also umdenken und<br />
meine Ziele ein Stück weit zurücknehmen.<br />
Mittlerweile beschränken sich meine Vorschläge<br />
auf Stellen, wo man effektiv etwas<br />
vereinfachen und zusammenlegen kann,<br />
so etwa im Bereich von Kranken- und Invalidenversicherung<br />
oder Kranken- und<br />
Unfallversicherung. Insgesamt habe ich<br />
rund vierzig Vorschläge zur Vereinfachung<br />
ausgearbeitet.<br />
Was haben Sie vor, was geschieht mit<br />
Ihren Vorschlägen?<br />
Ich möchte im Laufe des kommenden<br />
Jahres mit meinen Vorschlägen an die Öffentlichkeit<br />
gelangen und Denkanstösse<br />
liefern: Dem Gesetzgeber eine Auslegeordnung<br />
präsentieren und in der Bevölkerung<br />
eine Diskussion auslösen. Ich hoffe<br />
auf spannende Auseinandersetzungen,<br />
rechne aber nicht damit, dass gleich alles<br />
auf Zustimmung stossen wird. Wenn der<br />
eine oder andere Vorschlag umgesetzt werden<br />
könnte, bin ich schon zufrieden.<br />
Das Projekt «Altersvorsorge 2020» des<br />
Bundesrats ist auch ein Bouquet von<br />
Vorschlägen. Ihre Einschätzung dazu?<br />
12 ZeSo 4/13 interview
Ich begrüsse, dass man die erste und<br />
zweite Säule gemeinsam betrachtet und<br />
dass die Anreize abgeschafft werden sollen,<br />
frühzeitig aus dem Erwerbsleben auszuscheiden.<br />
Das ging zu Zeiten voller Kassen<br />
und muss heute korrigiert werden. Jede<br />
Sozialgesetzgebung ist immer auch ein<br />
Abbild der wirtschaftlichen Situation einer<br />
Gesellschaft und muss den wirtschaftlichen<br />
Veränderungen folgen. Eine Besitzstandwahrung<br />
durch alle Böden hindurch<br />
ist langfristig problematisch. Das Ganze<br />
muss finanzierbar bleiben.<br />
Gibt es einzelne Punkte, die Sie kommentieren<br />
möchten?<br />
Es gibt viele gute Vorschläge. Ein Referenzalter<br />
für die AHV einzuführen und<br />
den Zeitpunkt der Pensionierung zu flexibilisieren,<br />
die Altersarbeit besser zu stellen,<br />
bei der 2. Säule den Koordinationsabzug<br />
zu senken – das wäre insbesondere<br />
auch für Niedrigverdienende ein Vorteil.<br />
Wie hoch der Umwandlungssatz bei der<br />
2. Säule sein sollte, kann ich hingegen<br />
nicht beurteilen. Richtig finde ich, dass es<br />
flankierende Massnahmen braucht, wenn<br />
der Umwandlungssatz gesenkt wird, damit<br />
das zu verteilende Substrat grösser wird<br />
und die Höhe der Renten gleich bleibt. Es<br />
darf nicht sein, dass sich eine Sozialversicherung<br />
quasi auf Kosten der Sozialhilfe<br />
saniert. Ich betrachte es als eine «raison<br />
d’être» der Sozialversicherung, dass sie die<br />
Sozialhilfe entlastet. Darauf basiert ja auch<br />
der Subsidiaritätsgedanke.<br />
«Wir müssen dafür<br />
sorgen, dass<br />
die Grundlagen,<br />
die unseren Sozialstaat<br />
ermöglichen,<br />
erhalten bleiben»<br />
Welches sind die grössten sozialpolitischen<br />
Herausforderungen der<br />
Zukunft?<br />
Eine grosse Herausforderung sehe ich<br />
beispielsweise in der Entlöhnung der Care-<br />
Arbeit. Aber die grösste Herausforderung ist<br />
den Sozialversicherungen vorgelagert. Wir<br />
müssen dafür sorgen, dass die Grundlagen,<br />
die unseren Sozialstaat erst ermöglichen, erhalten<br />
bleiben. Es braucht einen Rahmen,<br />
damit die Wirtschaft in Schwung bleibt.<br />
Dazu muss unter anderem die Erwerbstätigkeit<br />
der Frauen gefördert werden, etwa<br />
mit mehr Betreuungsangeboten. Und wir<br />
müssen in die Bildung investieren. Wichtig<br />
ist auch, dass der Solidaritätsgedanke als<br />
Handlungsmaxime für verantwortungsbewusstes<br />
Handeln wieder vermehrt nach aussen<br />
getragen wird. Das ist eine Erziehungsund<br />
Aufklärungsaufgabe, die dazu dient,<br />
das Fundament zu erhalten.<br />
•<br />
Das Gespräch führte<br />
Michael Fritschi<br />
interview 4/13 ZeSo<br />
13
Bild: Daniel Rihs / Pixsil<br />
14 ZeSo 4/13 SCHWERPUNKT
Der Übergang zur Erwerbsarbeit erfordert<br />
erhöhte Bewältigungsleistungen<br />
Die sozialen Bedingungen für einen gelingenden Übergang in eine selbständige und verantwortliche<br />
Erwachsenenexistenz haben sich verändert. Die Altersgruppe der jungen Erwachsenen in der<br />
Sozialhilfe stellt die Wohlfahrts- und Bildungskonzepte auf den Prüfstand.<br />
Besorgniserregend hohe Zahlen von arbeits- und ausbildungslosen<br />
jungen Menschen in europäischen Ländern lassen aufhorchen. Die<br />
Arbeitslosenquote in Europa ist infolge der Wirtschaftskrise von<br />
2008 massiv angestiegen und der Trend hält an: 2011 wiesen Statistiken<br />
von Eurostat in der Gruppe der 15- bis 24-Jährigen eine<br />
durchschnittliche Arbeitslosenquote von 21 Prozent aus. Als besonders<br />
problematisch wird die Lage der jungen Erwachsenen eingeschätzt,<br />
die weder über eine schulische oder berufliche Ausbildung<br />
verfügen noch in Erwerbsarbeit sind – die so genannten NEETs (not<br />
in education, employment or training). Dem gegenüber weisen die<br />
gesamtschweizerischen Arbeitslosen- und Sozialhilfestatistiken<br />
weit geringere Zahlen aus. Dennoch steht die Gruppe der jungen<br />
Erwachsenen seit 2000 auch in der Schweiz vermehrt im Fokus<br />
der Aufmerksamkeit. Die Quote der Arbeitslosen in der Gruppe<br />
der 20- bis 24-Jährigen lag im September 2011 bei 3,8 Prozent,<br />
die Sozialhilfequote in der Gruppe der 18- bis 25-Jährigen bei<br />
3,7 Prozent. Zudem zeigen Vergleiche mit der Gesamtbevölkerung<br />
eine überdurchschnittliche Belastung dieser Gruppe von Arbeitslosigkeit<br />
und Armut.<br />
Sozialhilfebezug als Ausdruck von Veränderungsprozessen<br />
Als Folge weitreichender wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen<br />
lassen sich ab Mitte der 1990er-Jahre neue Herausforderungen<br />
im Übergang in die Erwerbsarbeit erkennen. Neue Risikogruppen<br />
rückten ins Bewusstsein: Schulabgängerinnen und<br />
Schulabgänger ohne Anschlusslösungen, Benachteiligte im Wettbewerb<br />
um Ausbildungsplätze, Lehrabbrechende, Arbeitslose und<br />
junge Erwachsene in der Sozialhilfe. Dies führte in der Folge zu einer<br />
Vielzahl bildungs-, arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Massnahmen<br />
und zur Anpassung des dualen Berufsbildungssystems an<br />
die neuen Anforderungen. Gleichzeitig entstanden neue Risiken<br />
durch erhöhte Anforderungen und den starken Wettbewerb um<br />
Klare Abfolgen im Bildungsverlauf<br />
lösen sich auf und<br />
die zentralen Passagen im<br />
Übergang ins Erwachsenenalter<br />
verschieben sich nach<br />
hinten.<br />
Ausbildungsplätze. Zwischenjahre, Lehrabbrüche und Umorientierungen<br />
nahmen zu und führten bei vielen Jugendlichen zu erhöhter<br />
Diskontinuität und einer Individualisierung des Bildungsverlaufs.<br />
Insgesamt lösen sich klare Abfolgen im Bildungsverlauf<br />
zunehmend auf und zentrale Statuspassagen im Übergang ins Erwachsenenalter<br />
verschieben sich zeitlich nach hinten. Die Bewältigung<br />
dieser offeneren und zugleich riskanteren Übergänge erfordert<br />
erhöhte individuelle Bewältigungsleistungen.<br />
Auch die sozialen Bedingungen für einen gelingenden Übergang<br />
in eine selbständige und verantwortliche Erwachsenenexistenz<br />
haben sich verändert. Die Bedingungen des Aufwachsens<br />
von Kindern und Jugendlichen sind anspruchsvoller und die Erziehungs-<br />
und Entwicklungsprozesse sind grundsätzlich krisenanfälliger<br />
geworden. Insbesondere Jugendlichen mit wenig sozialen<br />
Ressourcen oder hohen Belastungen in der Herkunftsfamilie fehlen<br />
häufig die nötigen Ressourcen für die Bewältigung der Anforderungen<br />
im Übergang in die Selbstständigkeit. Bei der Beurteilung<br />
der Situation von jungen Erwachsenen in der Sozialhilfe ist<br />
dies miteinzubeziehen.<br />
Heterogene Gruppe<br />
Für eine schnelle und zielführende Bearbeitung der Sozialfälle<br />
wird die Klientel in der Regel in Typen eingeteilt. Häufig findet<br />
man grobe Unterscheidungen zwischen Gruppen, die sich nach einer<br />
kurzen Überbrückung schnell ablösen, und «jenen, die auf längerfristige<br />
Unterstützung angewiesen sind». Aus empirischer Sicht<br />
sind solche Typisierungen weniger einfach. Vielmehr zeigen Studien<br />
zu jungen Erwachsenen in der Sozialhilfe, dass es sich um eine<br />
sehr heterogene Gruppe handelt. Häufig werden vielfältige Problemkonstellationen<br />
in unterschiedlichen Lebensaspekten<br />
kumulierend wirksam. Für deren Bewältigung fehlen aber die nötigen<br />
Ressourcen.<br />
Die Lebenslagen der jungen Erwachsenen weisen dennoch einige<br />
typische Merkmale auf, die als Ausdruck entstandardisierter,<br />
verlängerter Übergänge ins Erwachsenenalter verstanden werden<br />
können: Die jungen Erwachsenen leben zu einem hohen Anteil alleine<br />
und kommen häufig direkt von der Herkunfts-familie oder<br />
aus Kinder- und Jugendschutzmassnahmen in die Sozialhilfeunterstützung.<br />
Problematische familiäre Beziehungen, insbesondere<br />
in Schweizer Familien, wirken sich negativ auf die Ablösungsprozesse<br />
und die biografischen Verläufe aus. Mit dem Erreichen des<br />
Mündigkeitsalters lösen sich diese Jugendlichen oft frühzeitig<br />
mittel- und ausbildungslos aus ihren Bezugssystemen ab. Im Kontext<br />
von Migration zeigt sich dagegen, dass die Eltern ihre Jugendlichen<br />
häufig aus anderen Gründen ungenügend unterstützen<br />
können.<br />
16 ZeSo 4/13 SCHWERPUNKT
junge erwachsene<br />
Berufseinstieg als Balanceakt: Trotz Leitplanken und unterstützenden Massnahmen gelingt er nicht allen.<br />
Bild: Ruedi Flück<br />
Die Bewältigung der Herausforderungen, die mit dem meist<br />
abrupten Übergang in die Selbstständigkeit verbunden sind, fällt<br />
schwer. Jugendlichen und jungen Erwachsenen fehlen finanzielle<br />
Ressourcen, der soziale Rückhalt, Erfahrungen und Orientierungen.<br />
Ihre Bewältigungsstrategien führen oft zu weiteren biografischen Risiken,<br />
beispielsweise zu Verschuldung, Frühschwangerschaft, Verhaltensauffälligkeit<br />
oder gesundheitlichen Problemen. Unter den<br />
gegebenen Bedingungen gelingt es den jungen Erwachsenen kaum,<br />
ihre Handlungsfähigkeit zu erweitern und zu einer befriedigenden<br />
Lebensführung zu gelangen. Gleichzeitig zeigt die biografische Untersuchung,<br />
dass viele junge Menschen im Alter zwischen zirka 20<br />
und 23 Jahren nochmals bereit wären für eine Veränderung. Mangels<br />
geeigneter Unterstützung und aufgrund vieler Frustrationen resignieren<br />
sie schliesslich. In der Folge scheint sich eine Gewöhnung<br />
an das Leben zwischen Sozialhilfe und Arbeitsmarkt einzustellen.<br />
Ein weiteres zentrales Merkmal dieser Gruppe sind die ungenügenden<br />
Bildungsvoraussetzungen und Arbeitsmarktchancen.<br />
Problem der fehlenden Ausbildung<br />
Knapp zwei Drittel der Fälle hat die Schulzeit in der Schweiz verbracht,<br />
ein gutes Drittel immigrierte im Lauf der Schulzeit oder<br />
später. Mehr als die Hälfte der Fälle verfügt über keine Berufsausbildung<br />
und steht nicht in einer Ausbildung. Rund ein Fünftel befindet<br />
sich – meist verspätet – in einer Ausbildung. Die Wahrscheinlichkeit,<br />
dass eine Ausbildung später nachgeholt wird, sinkt<br />
mit zunehmendem Alter (Drilling 2004).<br />
Trotz vielfältiger Massnahmen verpassen die Betroffenen den<br />
Einstieg in die Berufsausbildung überwiegend bereits an der ersten<br />
Schwelle der Berufsintegration. Dahinter lassen sich biografische<br />
Entscheide, kritische Lebensereignisse oder jugendtypische Bewältigungsprobleme<br />
erkennen. Nur jede fünfte junge erwachsene<br />
Person, die Sozialhilfe bezieht, verfügt über eine abgeschlossene<br />
Ausbildung. Allerdings gelingt es auch ihnen offensichtlich nicht,<br />
ihre Ausbildung auf dem Arbeitsmarkt gewinnbringend zu verwerten.<br />
Sie erfahren trotz ihrer Ausbildung kaum Vorteile gegenüber<br />
den Ungelernten. Einerseits weil einige von ihnen Arbeit in einem<br />
Bereich suchen, für den sie nicht ausgebildet sind, andererseits,<br />
weil ihr Ausbildungsniveau den Anforderungen nicht entspricht.<br />
Die betroffenen jungen Erwachsenen sind deshalb generell über<br />
längere Zeit immer wieder oder dauerhaft auf Sozialhilfe angewiesen.<br />
Ein Teil löst sich zwar relativ schnell wieder ab, die Gefahr des<br />
Drehtüreffekts ist aber hoch. Insgesamt erfolgt die Reintegration<br />
eher prekär als stabil, viele sind verschuldet. Junge Erwachsene<br />
haben noch keine eigenen Ersparnisse, um Ausbildungsphasen,<br />
Such- und Orientierungsphasen und damit verbundene Phasen<br />
der Arbeitslosigkeit zu überbrücken. Auch in Bezug auf die Arbeitslosenentschädigung<br />
sind sie häufig im Nachteil. Sie sind oft bereits<br />
wenige Wochen nach der Arbeitslosigkeit auf finanzielle Hilfe angewiesen.<br />
Eine weitere Problematik besteht in prekären Anstellungsverhältnissen<br />
und zu niedrigen Entschädigungen.<br />
Dass Ausländerinnen und Ausländer in der Gruppe der Dauerbeziehenden<br />
gegenüber Schweizerinnen und Schweizern stärker<br />
SCHWERPUNKT 4/13 ZeSo<br />
<br />
17<br />
Die Sozialhilfe muss die<br />
besondere Lebenslage<br />
der jungen Erwachsenen<br />
anerkennen.<br />
vertreten sind, kann zum einen durch die schlechteren Bildungsvoraussetzungen<br />
und Benachteiligungen im Arbeitsmarkt erklärt<br />
werden, zum anderen durch frühere Familiengründungen.<br />
Viele Unterstützungsmassnahmen – neue Risiken<br />
Dynamische Betrachtungen von Verläufen und Armutslagen lenken<br />
den Blick auf die Verflechtung von individuellen und strukturellen<br />
Bedingungen und darin eingelagerte Risiken und Entwicklungspotenziale.<br />
Sie zeigen, dass das gelingende Zusammenspiel<br />
zwischen den Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe, der Sozialhilfe<br />
und dem Bildungs- und Ausbildungssystem über den Erfolg<br />
sozialer Mobilität entscheidet. Die Erfolglosigkeit der jungen Erwachsenen<br />
stellt die Wohlfahrts- und Bildungskonzepte gegenwärtig<br />
auf den Prüfstand.<br />
Zweifellos haben die zahlreichen Unterstützungsmassnahmen<br />
in den letzten Jahren zur Abmilderung der Probleme beigetragen.<br />
Für einen Teil der Jugendlichen zeigen sich allerdings auch neue<br />
systembedingte Risiken. So hat die starke Ausdifferenzierung von<br />
Angeboten im Übergang auch zu Orientierungsschwierigkeiten<br />
beigetragen. Sie erschwert sowohl Jugendlichen wie Fachpersonen<br />
die Übersicht, was eine kohärente Zusammenarbeit behindert und<br />
zur Fragmentierung der Prozesse beiträgt. Schnittstellenprobleme,<br />
unklare Zuständigkeiten, zu kurz ausgelegte Angebote führen<br />
bei den jungen Erwachsenen in der Sozialhilfe häufig dazu, dass<br />
sie zwischen Stuhl und Bank fallen.<br />
Gleichzeitig führt der Ausbau der Angebote im Übergang zu<br />
einer «Engführung» der Jugendlichen. So sind die Angebote in der<br />
Tendenz an institutionellen Normalitätsmustern orientiert und oft<br />
ausschliesslich auf eine schnelle Erfassung von Kompetenzen, die<br />
Suche nach einer Passung und die Vermittlung in entsprechende<br />
Anschlusslösungen im Berufs- oder Ausbildungsmarkt ausgerichtet.<br />
Bei dieser Konzentration auf «das Wesentliche» bleibt oft keine<br />
Zeit für die Unterstützung bei lebenslagen- und entwicklungsbedingten<br />
Schwierigkeiten. Die Jugendlichen werden häufig von<br />
Angebot zu Angebot geschoben, und Alternativen und Spielräume<br />
für individuelle Verläufe werden ihnen kaum zugestanden. Deshalb<br />
können die jungen Erwachsenen oft auch keine Kohärenz in<br />
ihrer Handlung herstellen, die sich durch Sinnhaftigkeit, Machbarkeit<br />
und Verstehbarkeit auszeichnen würde. Vielmehr fühlen<br />
sie sich als Objekt eines Sozialisierungs- und teilweise auch eines<br />
Disziplinierungsprozesses des Sozialstaats. Dies führt bei einigen<br />
zum bewussten Ausstieg aus Unterstützungsangeboten.<br />
Für die Sozialhilfe bedeutet das, dass sie als Ziel nicht nur die Integration<br />
in den Arbeitsmarkt und die Überwindung der ökonomischen<br />
Notlage haben darf. Vielmehr muss sie die besondere Lebenslage<br />
der jungen Erwachsenen anerkennen, ihr Suchen nach<br />
Sinn und Identität und ihre biografischen Erfahrungen mitberücksichtigen.<br />
Junge Menschen in schwierigen Übergängen müssen<br />
darin unterstützt werden, ihre Erfahrungen zu reflektieren,<br />
Ressourcen zu erkennen und ihre Bewältigungsstrategien weiterzuentwickeln.<br />
Hierbei sind Unterstützungsangebote zielführend,<br />
die jungen Menschen Möglichkeiten zur Partizipation, Spielräume<br />
für eigene Erfahrungen, Teilhabechancen und soziale Netze<br />
bieten und sie in ihren <strong>ganz</strong>heitlichen Entwicklungsprozessen<br />
ernst nehmen und unterstützen. Zunehmend erhalten Sozialhilfeund<br />
Arbeitslosenprogramme daher die Funktion von Unterstützungs-<br />
und Vermittlungsagenturen an der Scharnierstelle im<br />
Übergang in die Erwerbsarbeit unter erschwerten Bedingungen.<br />
So gesehen kann Sozialhilfeabhängigkeit – so widersprüchlich dies<br />
klingen mag – eine Chance sein: als Interventionszeitpunkt für eine<br />
umfassende Standortbestimmung mit darauf folgender Anbahnung<br />
verschiedener Massnahmen. In Zusammenarbeit mit Bildungs-,<br />
Arbeitsmarkt- und Jugendhilfeorganisationen sollte die<br />
Sozialhilfe junge Erwachsene in ihren komplexen Lebensverläufen<br />
kontinuierlicher unterstützen.<br />
•<br />
Dorothee Schaffner<br />
Institut Kinder- und Jugendhilfe<br />
Hochschule für Soziale Arbeit Basel<br />
Literatur<br />
Dorothee Schaffner, Matthias Drilling, Junge Erwachsene in der<br />
Sozialhilfe – Folgen veränderter Bedingungen am Übergang in die<br />
Erwerbsarbeit, in: Edith Maud Piller, Stefan Schnurr (Hrsg.), Kinder-<br />
und Jugendhilfe in der Schweiz, Springer-Verlag, Wiesbaden,<br />
<strong>2013</strong>.<br />
Dorothee Schaffner, Junge Erwachsene zwischen Sozialhilfe und<br />
Arbeitsmarkt – Biographische Bewältigung von diskontinuierlichen<br />
Bildungs- und Erwerbsverläufen. Hep-Verlag, Bern, 2007.<br />
Matthias Drilling, Young urban poor – Abstiegsprozesse in den<br />
Zentren der Sozialstaaten, Verlag für Sozialwissenschaften,<br />
Frankfurt, 2004.<br />
BFS und Büro BASS, Junge Erwachsene in der Sozialhilfe,<br />
Neuchâtel, 2009.<br />
Jürg Krummenacher, Integrationsprobleme von jungen Erwachsenen,<br />
Bern, 2009. Im Auftrag von SODK, BBT, BFM, SKOS, Seco und<br />
der Städteinitiative Sozialpolitik.<br />
18 ZeSo 4/13 SCHWERPUNKT
junge erwachsene<br />
Konfrontiert junge Erwachsene mit den Gesetzmässigkeiten der Arbeitswelt: Case Managerin Natascha Bodul im BIZ Urdorf.<br />
Bilder: Meinrad Schade<br />
Belastende Familiensituation, psychische<br />
Probleme oder im Konflikt mit dem Gesetz<br />
Im Rahmen des Case Management Berufsbildung werden Jugendliche und junge Erwachsene mit<br />
Mehrfachproblematiken auf dem Weg in die Arbeitswelt umfassend unterstützt. Das dargestellte<br />
Beispiel zeigt, dass Beziehungsarbeit und Geduld viel bewirken können.<br />
Beim Berufsinformationszentrum (BIZ) in Urdorf laufen die Drähte<br />
heiss. Am Telefon sind meistens Jugendliche, Eltern oder Lehrpersonen,<br />
die Fragen zur Berufswahl oder zur Lehrstellensuche haben.<br />
In der Regel vereinbart man einen Termin mit einer<br />
Berufsberaterin und der erste Schritt auf dem Weg in die Arbeitswelt<br />
ist gemacht. In gewissen Fällen gestaltet sich der Prozess der<br />
beruflichen Integration jedoch schwieriger, nämlich dann, wenn<br />
der Berufsberater eine so genannte Mehrfachproblematik diagnostiziert.<br />
Das heisst, der oder die Jugendliche ist nicht nur mit der<br />
Lehrstellensuche konfrontiert, sondern auch mit Problemen, die<br />
den Prozess der beruflichen Integration hemmen können, zum<br />
Beispiel belastende familiäre Verhältnisse, psychische Probleme<br />
oder Konflikte mit dem Gesetzgeber. Dies sind dann Fälle für Natascha<br />
Bodul, Case Managerin Berufsbildung beim Projekt<br />
«Netz 2» (vgl. S 21). Sie arbeitet zwar Tür an Tür mit den Fachpersonen<br />
des BIZ, doch im Unterschied zu ihnen ist ihr Zielpublikum<br />
klar eingegrenzt: «Es sind Jugendliche mit verschiedenen Baustellen»,<br />
erklärt die 39-Jährige. Sie sagt es mit einer beschwingten<br />
Leichtigkeit – und sofort wird klar, dass sich diese Frau mit ihrem<br />
Handwerk auskennt.<br />
Am Anfang steht der Case Maker<br />
Bodul arbeitet seit Projektbeginn – das heisst, seit drei Jahren – bei<br />
«Netz 2». Sie ist eine von acht Case Managerinnen und Managern,<br />
die im Kanton Zürich den Berufsinformationszentren angegliedert<br />
sind. Die acht Fachpersonen verfügen über eine sozialarbeiterische,<br />
psychologische oder pädagogische Grundausbildung und<br />
haben eine Weiterbildung im Bereich Case Management gemacht.<br />
Bodul führt mit ihrem 80%-Pensum insgesamt dreissig Fälle. An<br />
ihrem Büro darf nur anklopfen, wer zuvor bereits in der Berufsberatung<br />
oder bei einer anderen Fachstelle war. Diese Case Maker –<br />
wie die zuweisenden Stellen genannt werden – überprüfen vorgängig,<br />
ob ein Jugendlicher die Kriterien für eine Begleitung im<br />
Rahmen von «Netz 2» erfüllt. Falls ja, ermutigen sie ihn, sich dort<br />
anzumelden. Mit dieser Zugangsschwelle stellen die Projektverantwortlichen<br />
sicher, dass die Ressourcen der Case Managerinnen <br />
SCHWERPUNKT 4/13 ZeSo<br />
19<br />
und Manager ausschliesslich denen zukommen, die auf umfassende<br />
Unterstützung angewiesen sind. Eine von ihnen ist die 20-jährige<br />
Michelle. Als sie sich vor drei Jahren auf Anraten der Berufsberaterin<br />
bei Natscha Bodul meldete, sei sie «am Tiefpunkt»<br />
gestanden, sagt sie rückblickend. Heute absolviert sie eine Lehre<br />
als Fachfrau Gesundheit und hat «Boden unter den Füssen» gefunden.<br />
Natscha Bodul meint: «Wir haben hart daran gearbeitet.»<br />
Hürden schrittweise überwinden<br />
Im Fall von Michelle schildert die Case Managerin exemplarisch,<br />
wie der Weg der beruflichen Integration beschritten werden kann.<br />
Punkt eins, so Bodul, sei die Motivation. «Die Jugendlichen kommen<br />
freiwillig und haben das Ziel, eine Lehre zu absolvieren.» Wer<br />
von einer Drittstelle, zum Beispiel vom Sozialdienst, unter Druck<br />
gesetzt werde, sei bei «Netz 2» an der falschen Adresse. Punkt zwei<br />
sei der Faktor Zeit. Im Rahmen des Projekts werden Jugendliche<br />
im Alter von 14 bis 24 Jahren begleitet. «Es ist ein Vorteil, dass wir<br />
die jungen Leute über eine lange Zeitspanne beraten können.» Bei<br />
den heiklen Schnittstellen zwischen Schule und Ausbildung sowie<br />
zwischen Lehrabschluss und Berufseinstieg dürfen die Jugendlichen<br />
also auf fachliche Unterstützung zählen. Der Faktor Zeit, so<br />
Bodul, sei bei ihrer Klientel ein entscheidendes Element: «Jugendliche<br />
mit Mehrfachproblemen haben mehrere Hürden zu nehmen.<br />
Das dauert halt etwas länger als üblich.» Die Case Managerin<br />
spielt auf dem Weg zum Ziel gewissermassen den Wegweiser. Sie<br />
zeigt, in welche Richtung es gehen könnte und winkt auch mal ab.<br />
Punkt drei, sagt Bodul, sei das Fundament, auf dem alles aufbaue:<br />
Beziehungsarbeit. «Wir glauben an die Jugendlichen und lassen<br />
sie das auch spüren.» Komme eine Klientin zweimal nicht zum vereinbarten<br />
Termin, sei das noch kein Grund, aufzugeben. «Wir haben<br />
einen langen Atem», sagt sie. «Solange nicht alle Mittel ausgeschöpft<br />
sind, geben wir nicht auf.»<br />
Natascha Bodul, die jahrelang im Bereich der beruflichen Integration<br />
gearbeitet hat, investiert nicht nur viel in die Arbeit mit<br />
den Jugendlichen, sie verlangt von ihnen auch einiges. Wer eine<br />
Lehrstelle finden will, wird aufgefordert, pro Woche mehrere<br />
Bewerbungen zu schreiben. «Alles andere führt zu nichts», so ihr<br />
Fazit. Die Case Managerin konfrontiert die Jugendlichen mit den<br />
Gesetzmässigkeiten der Arbeitswelt und trainiert ihnen die geforderten<br />
Kompetenzen an. Wenn einzelne Schritte auf dem Weg ins<br />
Berufsleben misslingen, dann hilft sie, die grossen Enttäuschungen<br />
zu verarbeiten. Überhaupt spielt sie verschiedene Rollen.<br />
Manchmal ist sie Coach, manchmal Pädagogin, manchmal Anwältin.<br />
Und in gewissen Situationen erteilt sie <strong>ganz</strong> einfach praktische<br />
Tipps. So hat sie beispielsweise einer jungen Frau geraten,<br />
vor dem Vorstellungsgespräch das Nasenpiercing zu entfernen.<br />
Ein Drittel bricht ab<br />
In den meisten Fällen prüft die Case Managerin zu Beginn der<br />
Beratung, ob der Berufswunsch der Jugendlichen realistisch ist.<br />
Bevor es zur Lehrstellensuche kommt, absolvieren viele der jungen<br />
Frauen und Männer ein Motivationssemester oder holen<br />
schulische Defizite auf. Unter ihren 30 Klientinnen und Klienten<br />
sei der Anteil von Schweizern und Ausländern ausgeglichen, sagt<br />
Bodul. Wenn sie auf die letzten drei Jahre zurückblickt, ist ihre Bilanz<br />
positiv: «Zwei Jugendliche haben inzwischen die Lehre abgeschlossen.<br />
Etwa die Hälfte der Klientinnen und Klienten befindet<br />
sich in einer Grundausbildung.» Doch Bodul muss auch mit<br />
«Ich stand da – ohne<br />
Lehrstelle und ohne<br />
Wohnung»<br />
Michelle (20) hat sich vor drei Jahren bei<br />
«Netz 2» angemeldet. Damals hat sie nicht<br />
an ihre Zukunft geglaubt. Heute sieht das<br />
anders aus.<br />
«Während meiner Kindheit bin ich häufig zwischen der<br />
Schweiz und Brasilien hin- und hergependelt. Meine Mutter<br />
kommt aus Brasilien, mein Vater ist Schweizer. Sie sind schon<br />
länger geschieden und mein Vater hat eine neue Familie gegründet.<br />
Nach der Schule wollte ich mich zusammen mit meiner<br />
Mutter in Brasilien niederlassen. Ich habe mich dort aber<br />
nicht wohl gefühlt und bin rasch wieder in die Schweiz zurückgekehrt.<br />
Mit 16 Jahren stand ich dann da – mit schlechten<br />
Schulzeugnissen, ohne Lehrstelle und ohne Wohnung. Ich hatte<br />
eine grosse Krise und glaubte überhaupt nicht an die Zukunft.<br />
Eine Jugendberaterin vermittelte mich ans BIZ. Ich<br />
schilderte der Berufsberaterin meine Situation und sie sagte,<br />
ich solle mich bei Frau Bodul anmelden. Das tat ich dann.<br />
***<br />
Mit Frau Bodul und der Berufsberaterin habe ich über die Berufswahl<br />
gesprochen. In verschiedenen Tests stellte sich heraus,<br />
dass es mich in Richtung Medizin und Pflege zieht. Die<br />
belastende Wohnsituation hat mich damals blockiert. Im Haus<br />
meines Vaters gab es für mich nicht wirklich Platz und in der<br />
Wohnung meines Ex-Freundes ging es auch nicht. Frau Bodul<br />
nahm Kontakt auf mit verschiedenen Stellen und mit meinem<br />
Vater. Einmal sassen wir sogar alle an einem Tisch. In der Zwischenzeit<br />
fand ich mit Hilfe von Frau Bodul einen Platz in einem<br />
Motivationssemester: Ich konnte ein Jahr lang in einem<br />
Alters- und Pflegeheim arbeiten. Einmal pro Woche musste ich<br />
zur Schule. Meine Noten waren super, ich hatte eine Fünf-bis-<br />
Sechs! Ich realisierte, dass mir das Lernen Spass macht, wenn<br />
das Thema interessant ist. Ich gab mir grosse Mühe – und so<br />
bin ich dann auch zu einer Lehrstelle als Fachfrau Gesundheit<br />
gekommen.<br />
Misserfolgen zurechtkommen: Rund ein Drittel der Jugendlichen,<br />
die sich bei ihr angemeldet haben, kommt nicht zur Beratung<br />
oder bricht den Kontakt wieder ab. Ein Fall löst bei ihr noch<br />
heute Stirnrunzeln aus: «Es lief alles bestens und der Jugendliche<br />
hatte den unterschriebenen Lehrvertrag im Sack.» Plötzlich aber<br />
sei er abgetaucht und unauffindbar gewesen. Bodul hat nach ihm<br />
gefragt und ihn gesucht – ohne Erfolg. Noch heute verspürt sie<br />
***<br />
20 ZeSo 4/13 SCHWERPUNKT
Viel Zeit und Energie für unsichere<br />
Erfolgsaussichten<br />
Keine Motivation, unverbindliche Anspruchshaltung, Defizite in der Persönlichkeitsentwicklung.<br />
Vor allem kleinere Gemeinden stehen bei der Bereitstellung von passenden Beratungs- und<br />
Betreuungsangeboten für junge Erwachsene vor grossen Herausforderungen.<br />
«Junge Erwachsene sind für uns eine wachsende Klientengruppe»,<br />
sagt Irene Bänziger, Leiterin des Sozialdienstes Schwarzenburg.<br />
Zahlenmässig sind es in der ländlich geprägten Berner Gemeinde<br />
an der Grenze zum Kanton Freiburg mittlerweile ungefähr gleich<br />
viele wie die «Über-55-Jährigen». Im Vergleich zu den älteren Klientinnen<br />
und Klienten beanspruchen junge Erwachsene aber viel<br />
mehr Betreuungszeit. «Sie sind bezüglich Persönlichkeitsentwicklung<br />
in der Situation, dass sie das Prinzip des Gebens und Nehmens,<br />
von Leistung gegen Geld oder Sachen, das in der Zusammenarbeit<br />
sowohl mit der Sozialhilfe wie in der Arbeitswelt generell gilt,<br />
nicht verinnerlicht haben», beobachtet Bänziger. Oft seien es multiple<br />
Problemstellungen, die dazu geführt haben, dass der Übergang<br />
in eine Lehre oder von der Lehre ins Arbeitsleben nicht gelungen<br />
ist. In solchen Situationen fehlten dann oft auch jegliche<br />
Strukturen. «Es ist eine Herausforderung, mit Personen, die schon<br />
länger keine Tagesstruktur mehr haben, tag- und nachtverkehrt leben<br />
und viele Stunden am PC verbringen, eine verbindliche Zusammenarbeit<br />
einzugehen», unterstreicht Bänziger. Die Begleitung geht<br />
dann schnell einmal über die Beratung im Büro hinaus: «Sie müssen<br />
am Morgen geweckt, zu Terminen begleitet oder erinnert werden.»<br />
Solche Fälle kennt auch Béatrice Thoma, Stellenleiterin der Sozialen<br />
Dienste Appenzeller Mittelland in Speicher. «Die jungen Er-<br />
Kritik aus ländlichen Gemeinden: «Uns fehlen die Instrumente, um den nötigen Druck aufzubauen.»<br />
Bild: Keystone<br />
22 ZeSo 4/13 SCHWERPUNKT
junge erwachsene<br />
wachsenen verhalten sich nicht verbindlich. Im Vordergrund steht<br />
bei ihnen die finanzielle Unterstützung.» Umso mehr müssen sie<br />
bei der Suche nach einer Lehr-, Praktikums- oder Arbeitsstelle unterstützt<br />
werden. Um die Integration voranzubringen, müssen die<br />
jungen Erwachsenen vermehrt zu Standortgesprächen erscheinen,<br />
und die Auszahlung der materiellen Unterstützung erfolgt dann<br />
nicht monatlich, sondern in kürzeren Abständen, «damit sie lernen,<br />
das Geld einzuteilen». Falls sie die Voraussetzungen mitbringen,<br />
können die jungen Erwachsenen im appenzellischen Mittelland<br />
am Mentoring-Projekt «Wir für dich» teilnehmen, wo sie bei<br />
der Suche nach einer Lehrstelle oder einem unterstützt werden.<br />
Beim RAV erhalten sie Unterstützung bei der Stellensuche. Die<br />
Betreuung erfolgt engmaschiger, die Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen<br />
ist etabliert.<br />
Man hilft sich so gut, wie man kann<br />
In Schwarzenburg wird die für die intensivere Beratung notwendige<br />
Zeit teilweise bei Klientinnen und Klienten mit weniger Bedarf<br />
an persönlichen Hilfestellungen eingespart. Für junge Erwachsene,<br />
die motiviert sind und Ressourcen mitbringen, gibt es genügend<br />
spezifische Beschäftigungsangebote. «Schwierig sind die mit<br />
Störungen, die nicht in der Lage sind, mit der IV zu kooperieren,<br />
die mit hohem Cannabiskonsum oder – zunehmend – mit PC-<br />
Spielsucht», sagt Irene Bänziger. Eine Problemgruppe in der Problemgruppe<br />
sind Personen, die den Rahmen einer stationären Begleitung<br />
benötigen würden, aber nicht motiviert sind, in eine<br />
Institution einzutreten. «In solchen Fällen ist es unterstützend,<br />
wenn wir mit anderen Stellen zusammenarbeiten können, mit Psychiatern,<br />
Ärzten, Eltern, der IV, der Berufsberatung oder Anbietern<br />
von Beschäftigungsprogrammen.» Die Sozialbehörde von Schwarzenburg<br />
verlangt ein halbjährliches Reporting über die zahlenmässige<br />
Entwicklung der Klientengruppe.<br />
«Die jungen Erwachsenen kennen ihre Rechte, aber von Pflichten<br />
halten sie nicht sehr viel. Und uns fehlen die Instrumente, um<br />
den nötigen Druck aufzubauen», bedauert Béatrice Thoma. «Ausser<br />
Kürzungen haben wir keine weiteren Massnahmen, und das<br />
wissen die sehr genau.» Schwierige Fälle werden im Rahmen von<br />
Intervisionen und Supervisionen besprochen. «Im regelmässigen<br />
Umgang sind wir auf uns alleine gestellt. Wir sorgen aber dafür,<br />
dass wir die Gespräche in der Regel zu zweit führen», sagt Thoma.<br />
«Zudem habe ich nach wie vor die Vision, dass wir im Appenzeller<br />
Mittelland ein Arbeitsprojekt lancieren können, an dem die jungen<br />
Erwachsenen teilnehmen müssen.»<br />
Stadt kann spezialisierte Fachkräfte einstellen<br />
In St. Gallen – geografisch nicht unweit von Speicher – wurden<br />
2011 Massnahmen eingeleitet, um dem Problem der steigenden<br />
Zahl junger Erwachsener in der Sozialhilfe zu begegnen. Gestützt<br />
auf Forschungsergebnisse, Erfahrungen anderer Städte und auf eine<br />
Befragung von Betroffenen, Beteiligten und involvierten Fachstellen<br />
werden heute Sozialarbeitende eingesetzt, die über spezifisches<br />
Know-how verfügen und geeignete Beratungsmethoden<br />
kennen. Zudem werden gemeinsam mit entsprechenden Anbietern<br />
adäquate Programme entwickelt. Diese haben zum Ziel, die<br />
jungen Erwachsenen zu stabilisieren und eine Qualifizierung auf<br />
fachlicher, schulischer und persönlicher Ebene zu ermöglichen.<br />
Im Rahmen von Fallbesprechungen stehen den Sozialarbeitenden<br />
der Stadt St.Gallen auch Fachpersonen mit spezifischem Wissen<br />
über den Arbeits- und Bildungsmarkt zur Seite. Je nach Situation<br />
können diese auch in ein Beratungsgespräch einbezogen werden.<br />
Rund ein Sechstel der jungen Erwachsenen, die in der Stadt<br />
St.Gallen Sozialhilfe beziehen, finden mit der aktuellen Unterstützung<br />
den Anschluss in eine Arbeit oder eine Ausbildung. Ein weiteres<br />
Sechstel befindet sich in einem qualifizierenden Programm<br />
oder Brückenangebot. «Die ersten Erfahrungen zeigen, dass die<br />
Zahl der jungen Erwachsenen, die bereits genügend Stabilität haben,<br />
um den Einstieg in eine Ausbildung oder eine Arbeitsstelle zu<br />
finden, tiefer liegt als angenommen», sagt Andrea Weibel, Abteilungsleiterin<br />
bei den Sozialen Diensten der Stadt St.Gallen. «Die<br />
Massnahmen müssen deutlich niederschwelliger sein als geplant.»<br />
Charakteristisch für die Problemgruppe sei, dass sich viele der<br />
jungen Erwachsenen in einer zum Teil erheblichen finanziellen<br />
Notlage befindet und häufig eine instabile Wohnsituation und<br />
auch Suchtprobleme hat. «In der Folge gelingt es ihnen oftmals<br />
nicht, ihr Potenzial umzusetzen», sagt Weibel. «Entsprechend<br />
setzt die Beratung und Unterstützung bei diesen Themen an.<br />
Der Aufbau einer tragenden Arbeitsbeziehung ist dabei zentral.»<br />
Im Kontext der gesetzlichen Sozialhilfe sei das aber häufig nicht<br />
einfach. Mit Information, Transparenz und Methoden wie Lösungs-<br />
und Ressourcenorientierung wird versucht, dem Problem<br />
zu begegnen.<br />
Mit gut der Hälfte der jungen Erwachsenen muss intensiv an<br />
der Stabilisierung und der Verbindlichkeit gearbeitet werden. Das<br />
bedeutet beispielsweise Ordnung in Alltagsangelegenheiten bringen<br />
(Krankenkasse, Rechnungen usw.), Verantwortung für das eigene<br />
Handeln übernehmen lernen, eine psychologische oder psychiatrische<br />
Behandlung oder einen Entzug antreten. Nicht selten<br />
kommt es auch zum Kontaktabbruch. Die jungen Erwachsenen<br />
bleiben der Beratung fern und sind auch nicht mehr erreichbar.<br />
«Die Herausforderung in der Beratung von jungen Erwachsenen<br />
ist, ihnen bewusst zu machen, dass sie in der Sozialhilfe Unterstützung<br />
und Chancen für die Veränderung ihrer Situation erhalten»,<br />
fasst Andrea Weibel zusammen.<br />
Abhilfe durch mehr Prävention und stärkere Anreize<br />
Und wo orten die befragten ländlichen Sozialdienste Entlastungsund<br />
Verbesserungspotenzial? «Oft haben diese jungen Erwachsenen<br />
mit der Sozialhilfe mehr Geld als je zuvor zur Verfügung und<br />
der Anreiz zu arbeiten fällt damit weg», sagt Béatrice Thoma. Um<br />
dies zu ändern, schlägt sie eine differenziertere Ausgestaltung der<br />
SKOS-Richtlinien vor. Zudem müsste vermehrt das <strong>ganz</strong>e Familiensystem<br />
miteinbezogen werden, auch wenn die jungen Erwachsenen<br />
bereits volljährig sind. «Das Verantwortungsbewusstsein der<br />
Eltern lässt oft zu wünschen übrig», bedauert Thoma. Irene Bänziger<br />
würde bei der Prävention und der Früherfassung ansetzen:<br />
«Dafür braucht es gemeinsame Ziele, gut definierte Aufgaben und<br />
Zuständigkeiten, klare Informationsflüsse und eine gut funktionierende<br />
Zusammenarbeit unter den verschiedenen Akteuren,<br />
auch jenen, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben.»<br />
Spürbar ist das grosse Engagement, mit dem nach Antworten<br />
auf diese Herausforderungen gesucht wird. Die Beobachtungen<br />
und Anregungen zeigen aber auch, wie schwierig es sein kann,<br />
allen Klientinnen und Klienten neue Perspektiven zu eröffnen, um<br />
sich dauerhaft von der Sozialhilfe abzulösen. <br />
•<br />
SCHWERPUNKT 4/13 ZeSo<br />
Michael Fritschi<br />
Die Validierung von Kompetenzen<br />
stärkt das Selbstvertrauen<br />
Der Kanton Waadt geht bei der arbeitsmarktlichen Integration von jungen erwachsenen<br />
Sozialhilfebeziehenden einen eigenen Weg. Der alternative Ansatz hat seine Wurzeln in der<br />
Vermittlungsstrategie für Lehrstellen und Arbeitsplätze der kantonalen IV-Stelle.<br />
Die Besorgnis über die stetige Zunahme des Sozialhilfebezugs von<br />
jungen Erwachsenen hat die Waadtländer Sozialbehörden bereits<br />
im Jahr 2006 dazu bewogen, dieser Klientengruppe und deren<br />
beruflicher Integration grössere Aufmerksamkeit zu schenken. Die<br />
Behörden wandten sich in der Folge an die kantonale Invalidenversicherungs-Stelle<br />
in Vevey, die über viel Know-how und Erfahrung<br />
auf dem Gebiet der Rehabilitation und der Vermittlung von Lehrstellen<br />
und Arbeitsplätzen verfügt. Bei der Unterstützung von<br />
Menschen auf Arbeitssuche orientiert sich die IV-Stelle an einer<br />
Methode, die auf die Validierung von Restkompetenzen und die<br />
Stärkung des Selbstvertrauens von verunsicherten Menschen setzt.<br />
Dieser Ansatz lässt sich auch bei anderen Personengruppen mit beruflichen<br />
Schwierigkeiten anwenden und eignet sich insbesondere<br />
auch sehr gut für die Klientengruppe junge Erwachsene in der<br />
Sozialhilfe. Der IV-spezifische Aspekt «gesundheitliche Beeinträchtigung»<br />
wird dabei einfach ausgeklammert.<br />
Das eigentliche Projekt «Intégration professionnelle des jeunes<br />
adultes en difficulté» (IPJAD), mit dem dynamische Strukturen<br />
für die Reintegration der genannten Personengruppe geschaffen<br />
werden sollte, begann mit der Einstellung des Arbeitssoziologen<br />
Marco Nigro im April 2009. Nigro, der auch über eine technische<br />
Ausbildung verfügt, stellte gleich zu Beginn die Hypothese auf,<br />
dass das Fehlen einer soliden Schuldbildung kein absolutes Hindernis<br />
für eine Wiedereingliederung ist. Das erlaubte es ihm, die<br />
sehr unterschiedlichen Ausbildungsniveaus der von ihm angetroffenen<br />
Kandidatinnen und Kandidaten in seinen Arbeitsansatz zu<br />
integrieren. Effektiv stellte sich heraus, dass sich unqualifizierte<br />
Menschen teilweise sehr leicht in die Arbeitswelt integrieren lassen,<br />
während andere mit besserer Schulbildung dies nicht schaffen.<br />
Dies erklärt sich über ihre sozialen Kompetenzen respektive<br />
auch durch ihre Fähigkeit, eine Stellensuche lebendig zu gestalten<br />
und einen Arbeitgeber von sich zu überzeugen. Das grösste Hindernis<br />
bei den einzelnen Integrationsprojekten liegt hingegen oft<br />
im Umstand, dass die Berufsberatung den Wünschen der Jungen<br />
und ihren schwierigen Lebensläufen nicht gebührend Rechnung<br />
tragen kann.<br />
«Was die Jungen nicht<br />
selbst können, machen<br />
wir an ihrer Stelle»<br />
Nigro stützt seine Arbeit auf ein Prinzip, das den herrschenden<br />
Trends in Sachen Eingliederung – Stärkung der Autonomie der<br />
Kandidatinnen und Kandidaten – diametral entgegengesetzt ist:<br />
«Was die Jungen nicht selbst können, machen wir an ihrer Stelle»,<br />
so seine Devise. Er hilft ihnen, konkrete Projekte aufzubauen und<br />
durchzuziehen – von der Suche nach unqualifizierten Stellen bis<br />
zu vollständigen Ausbildungen. Zwei Kriterien, die die jungen Erwachsenen<br />
selber mitbringen müssen, sind dabei allerdings unerlässlich:<br />
Freude an einer Tätigkeit und Zuverlässigkeit, sei es am<br />
Arbeitsplatz oder in der Ausbildung.<br />
Pragmatisch und effizient<br />
Heute besteht das Team von IPJAD aus fünf Personen. Die Methodologie<br />
orientiert sich nach wie vor am pragmatischen Ansatz, der<br />
auf die Lust und das Potenzial des jungen Erwachsenen abstützt.<br />
Eine weitere wichtige Komponente ist der enge Einbezug der Partnerinstitutionen:<br />
Wenn ein Kandidat oder eine Kandidatin an den<br />
Service IPJAD verwiesen wird, geschieht dies immer mit einer ausführlich<br />
dokumentierten Beschreibung der Problematik und der<br />
Lebensumstände der jungen erwachsenen Person sowie der institutionellen<br />
Erwartungen der vermittelnden regionalen Sozialzentren<br />
und anderer Partner der Sozialhilfe.<br />
Die Vorgehensstrategie sieht vor, als erstes eine starke Bindung<br />
zum jungen Erwachsenen herzustellen. Dann beginnt der<br />
kontinuierliche Aufbau des Vertrauens, das am Anfang eines<br />
Projekts oft defizitär ist. Vertrauen ist für die enge Zusammenarbeit<br />
in sämtlichen Phasen der Projektumsetzung zentral, und<br />
es muss gegenseitig sein. Der Berater darf sich beispielsweise<br />
nicht erlauben, ein nicht besonders realistisches Projekt abzuqualifizieren.<br />
Er wird vielmehr versuchen, es als Ausgangspunkt<br />
zu nehmen für den Aufbau eines Plans, der den Ressourcen der<br />
Person besser gerecht wird.<br />
Die traditionellen Methoden für die berufliche Eingliederung<br />
suchen in erster Linie ein Netz von Unternehmen, die regelmässig<br />
mit der Eingliederungsinstitution zusammenarbeiten. Nigro<br />
geht auch hier anders vor: Er bewirbt den Stellenmarkt intensiv<br />
mit dem gemeinsam mit dem jungen Erwachsenen erarbeiteten<br />
Projekt. Wenn nötig, bezieht er diesen sehr aktiv mit ein und geht<br />
mit ihm beispielsweise bei den Unternehmen hausieren. Der Erfolg<br />
dieser Strategie hängt natürlich auch ab von der Person und<br />
dem anvisierten Berufszweig. Grundsätzlich wird eine durchaus<br />
Taylor'sche Effizienz angestrebt: «The right man at the right place»<br />
– hier eben auf dem Arbeitsmarkt.<br />
Der Ansatz ist durchaus wirksam. So konnte ein Klient, der aufgrund<br />
einer schwierigen Vaterbeziehung ein gestörtes Verhältnis<br />
zu Autoritäten hatte, wieder eine Vertrauensbeziehung erfahren,<br />
24 ZeSo 4/13 SCHWERPUNKT
junge erwachsene<br />
Der Junge, der eine<br />
prestigeversprechende<br />
Arbeit wollte, fand die<br />
gesuchte Anerkennung<br />
in einer industriellen<br />
Beschäftigung bei einer<br />
grossen Holding.<br />
Mit Selbstvertrauen findet sich leichter ein Arbeitsplatz.<br />
Bild: Keystone<br />
nachdem ein Vorgesetzter ihn wie ein grosser Bruder ernst genommen<br />
hatte und ihn seine Wertschätzung spüren liess. Ein anderer,<br />
der für seine Weiterentwicklung einen strengen Rahmen braucht,<br />
fand sein Glück in einer Konditorei, wo am Vormittag während der<br />
Arbeit nicht gesprochen werden durfte. Ein drittes Beispiel: Der<br />
Junge, der sich für eine prestigeversprechende Arbeit interessierte,<br />
dem sein tiefes intellektuelles und schulisches Niveau eine höhere<br />
Ausbildung aber verunmöglichte, fand die gesuchte Anerkennung<br />
in einer eher monotonen industriellen Beschäftigung – bei einer<br />
grossen Holding.<br />
Integration nicht um jeden Preis<br />
2011 fanden von 149 Personen, die vom Dienst IPJAD betreut<br />
wurden, 81 eine Stelle in einem Unternehmen, und 2012 waren<br />
es 96 von 151. Diese Resultate unterstreichen die Effizienz dieses<br />
individuellen und realitätsnahen Vorgehens. Dank dem erfolgten<br />
Ausbau des Dienstes konnten zudem auch weit mehr duale Ausbildungen<br />
vermittelt werden als im Vorjahr (76 im Jahr 2012 gegenüber<br />
49 im Jahr 2011). Der Service IPJAD integriert jedoch nicht<br />
um jeden Preis. Dass er die Kandidatinnen und Kandidaten mit<br />
der Realität konfrontiert, kann auch zu Schwierigkeiten und zu<br />
Blockaden führen, die mit den Anforderungen der Arbeitswelt<br />
nicht zu vereinbaren sind. Die Klienten, die nicht vermittelt werden<br />
konnten, weisen im Allgemeinen eine für die Wiedereingliederung<br />
zu komplexe Problematik auf und werden von anderen Unterstützungsinstanzen<br />
betreut.<br />
Für die IV-Stelle des Kantons Waadt ist die Einbindung des<br />
Dienstes IPJAD eine Quelle der Kreativität. Die IV-Berater erhalten<br />
dadurch Einblick in alternative methodische Ansätze. Und das ist<br />
die verdiente Belohnung für eine Institution, die ihre Kompetenzen<br />
für das Entstehen dieses Prozesses zur Verfügung gestellt hat. •<br />
Dominique Dorthe<br />
IV-Stelle Kanton Waadt<br />
Strategien gegen schwierige<br />
Situationen der Zusammenarbeit<br />
Die Beratungssituation «erschwerte Kooperation» ist für alle Beteiligten stark belastend. Wer die<br />
vielen wirkenden Faktoren und ihren Einfluss auf die Zusammenarbeit kennt, ist eher befähigt, mit<br />
der Belastung umzugehen.<br />
In der Sozialarbeit verursachen Fälle, bei<br />
denen sich die Zusammenarbeit mit den<br />
Hilfesuchenden schwierig gestaltet, grossen<br />
Zeit- und Energieaufwand. Eine minimale<br />
Kooperation kommt in den meisten<br />
Fällen zwar zustande, da die Unterstützungssuchenden<br />
auf Sozialhilfe angewiesen<br />
sind. Das Herstellen einer geteilten<br />
Problemsicht und die gemeinsame Zielbestimmung<br />
gelingt jedoch nicht oder nur<br />
teilweise. Dies wiederum verhindert Fortschritte<br />
in Richtung Verbesserung der Situation.<br />
Die Kooperation wird beispielsweise<br />
dann schwierig, wenn systembedingte Vorgaben<br />
von den Hilfesuchenden nicht verstanden<br />
oder nicht erfüllt werden können.<br />
Der Druck zur Arbeitsintegration und damit<br />
verbundene Sanktionen stellen dabei eine<br />
besonders grosse Herausforderung dar.<br />
Den fallbetreuenden Sozialarbeiterinnen<br />
und Sozialarbeitern bereitet es<br />
ihrerseits Mühe, von den Betroffenen<br />
«sinnlose» Gegenleistungen einfordern zu<br />
müssen, etwa wenn sie die Chance auf eine<br />
Reintegration in den Arbeitsmarkt als gering<br />
einschätzen. Solche «Alibiübungen»<br />
können die Hilfebeziehung stark beeinträchtigen.<br />
Das zeigte sich anlässlich einer<br />
in drei Sozialdiensten durchgeführten<br />
Umfrage darüber, welche Faktoren die<br />
Kooperation in sozialarbeiterischen Beratungssituation<br />
erschweren.<br />
ter fehlendem Realitätsbezug und dem<br />
Auseinanderdriften verschiedener Situationseinschätzungen<br />
respektive Lösungsbestrebungen.<br />
So neigen Klientinnen und<br />
Klienten dazu, keine eigenen Anteile am<br />
Problem zu sehen (Externalisieren), während<br />
manche Sozialarbeitende das Problem<br />
vor allem bei den Klienten festmachen<br />
und existierende strukturelle Hindernisse<br />
ausblenden (Individualisieren).<br />
Es ist zudem eine offene und für die<br />
Beteiligten schwierige Frage, welche Perspektiven<br />
auf einen gelingenden Hilfeverlauf<br />
mit einer Person erarbeitet werden<br />
können, die hinsichtlich Leistungsfähigkeit<br />
und Verhalten aus dem Rahmen der<br />
Normalitätsvorstellungen herausfällt. Oft<br />
ist der Sozialhilfebezug auch das Resultat<br />
einer Abwärtsspirale und eines Kampfs gegen<br />
die Entwertung. Das bringt eine grosse<br />
Verletzlichkeit mit sich und stellt generell<br />
eine wacklige Grundlage für eine Kooperation<br />
dar.<br />
Die Sozialarbeitenden berichten ferner<br />
von teilweise unrealistischen Erwartungen<br />
der Sozialhilfebehörde, die Entscheidungsprozesse<br />
ebenfalls erschweren können.<br />
Insbesondere sei es belastend, Entscheide<br />
gegenüber den Sozialhilfebeziehenden<br />
vertreten zu müssen, wenn sie der eigenen<br />
fachlichen Einschätzung widersprechen.<br />
Wenn sich zu einer solchen Situation auch<br />
noch Arbeitsüberlastung hinzugesellt,<br />
leidet darunter die Energie und emotionale<br />
Stabilität der Sozialarbeitenden, die<br />
Die Beteiligten<br />
können die<br />
Schwierigkeiten<br />
nur bedingt<br />
beeinflussen.<br />
Viele Spannungsfelder<br />
Schwierig ist auch die Zusammenarbeit<br />
mit Hilfesuchenden, die den Sozialarbeitenden<br />
Vorwürfe und Schuldzuweisungen<br />
für ihre Situation machen, die sie bedrohen<br />
oder gerichtlich gegen sie beziehungsweise<br />
den Dienst vorgehen. Eine zentrale<br />
Stellung in der Beschreibung erschwerter<br />
Kooperation aus Sicht der Sozialarbeitenden<br />
nehmen ferner Hilfesuchende ein, bei<br />
denen eine psychische Beeinträchtigung<br />
vermutet wird. Die Kooperation leidet unfür<br />
einen professionellen Umgang mit<br />
den Klientinnen und Klienten notwendig<br />
sind. Situatives Fehlverhalten kann in der<br />
Folge zu einer weiteren Verschärfung der<br />
erschwerten Kooperation führen. Die Beteiligten<br />
können die vielfältigen Schwierigkeiten,<br />
die auf eine Kooperation einwirken<br />
können, also nur bedingt beeinflussen. Sie<br />
hängen massgeblich von den Rahmenbedingungen<br />
ab. Die Untersuchung zeigte<br />
aber auch, dass die Sozialarbeitenden sowie<br />
die Dienste als Ganzes über Strategien<br />
verfügen, mit diesen Herausforderungen<br />
umzugehen. In der konkreten Fallarbeit<br />
hilft beispielsweise das Know-how über<br />
Gesprächsführung und Beziehungsgestaltung,<br />
Wertschätzung zu vermitteln und<br />
schwierige Emotionen aufzufangen.<br />
Vertrauen als Schlüssel<br />
Das Vertrauen, das so entstehen kann, wird<br />
zum zentralen Schlüssel für gelingende Hilfe.<br />
Es lohnt sich, Interventionen gemeinsam<br />
auszuhandeln und auf Bedürfnisse der<br />
Betroffenen einzugehen. Insbesondere<br />
wenn der Druck zur Arbeitsintegration – wo<br />
sinnvoll – entschärft und mehr Raum für<br />
Eigeninitiative der Betroffenen geschaffen<br />
wird, kommt es zu Fortschritten.<br />
Auch der Rückhalt im Team ist für die<br />
Sozialarbeitenden von grosser Bedeutung.<br />
Der Austausch in Inter- und Supervisionen<br />
oder informell im Arbeitsalltag hilft ihnen,<br />
mit schwierigen Situationen umzugehen<br />
und fachlich korrekte Entscheide zu fällen.<br />
Hierfür ist allerdings Konstanz im Team<br />
notwendig. Kommt es zu erheblichen<br />
Personalfluktuationen, wird die Teamsituation<br />
zur Belastung statt zur Entlastung.<br />
Gute Arbeitsbedingungen sind daher Voraussetzung<br />
für eine tragende Teamkultur.<br />
Für die fachliche Sozialarbeit ist es<br />
im Weiteren hilfreich, wenn die Sozialhilfebehörden<br />
ihre Kontrollfunktion auf der<br />
programmatischen Ebene wahrnehmen.<br />
26 ZeSo 4/13 STUDIE
Die Forderung nach kultureller Anpassung ist eine Herausforderung für alle.<br />
Bild: Pixsil<br />
Das Herstellen einer geteilten Problemsicht und die gemeinsame Zielbestimmung gelingt nicht immer. <br />
Bild: Keystone<br />
Die Überprüfung von Einzelfallentscheiden<br />
stellt eine hohe zeitliche Belastung<br />
sowohl für die Behörden als auch für die<br />
Sozialarbeitenden dar. Die Vorgabe von<br />
Leitlinien und die Kontrolle der Einzelfallentscheide<br />
lediglich durch die Sozialdienstleitung<br />
– mit gelegentlichen Stichprobenüberprüfungen<br />
durch die Behörde<br />
– wirkt ebenfalls entlastend. In einem der<br />
drei untersuchten Sozialdienste wurde dies<br />
so gehandhabt. Hier war die Arbeitszufriedenheit<br />
wesentlich höher als in den beiden<br />
anderen Diensten.<br />
Arbeitsintegration entideologisieren<br />
Wenn es gelänge, das Thema der Arbeitsintegration<br />
zu entideologisieren, wäre das<br />
auch hilfreich. Viele der Hilfesuchenden<br />
können die steigenden Anforderungen des<br />
ersten Arbeitsmarkts nicht erfüllen. Die<br />
Praxis des Gegenleistungsprinzips zwingt<br />
Sozialarbeitende häufig, von diesen Hilfesuchenden<br />
dennoch Arbeitsbemühungen<br />
und die Teilnahme an Integrationsprogrammen<br />
zu verlangen. Bei den Betroffenen<br />
verstärken sich so Misserfolgserfahrungen,<br />
die für eine langfristige Integration<br />
kontraproduktiv sind.<br />
Auch die Sozialarbeitenden erleben solche<br />
von ihnen verhängten Massnahmen als<br />
wenig sinnvoll. Manchmal blenden sie die<br />
strukturellen Rahmenbedingungen aus und<br />
schreiben die nicht gelingende Integration<br />
mangelnden Bemühungen der Sozialhilfebeziehenden<br />
zu. Es wäre deshalb wichtig,<br />
beim Thema Arbeitsintegration den Sozialarbeitenden<br />
fachliche Entscheidungsspielräume<br />
zu geben, welche Form eine Gegenleistung<br />
im konkreten Fall annehmen soll.<br />
Fazit<br />
Erschwerte Kooperation entsteht folglich<br />
aus dem Zusammenspiel verschiedener<br />
Faktoren auf der interaktiven Ebene der<br />
Hilfebeziehung, auf der organisatorischen<br />
Ebene im Sozialdienst sowie aufgrund sozialpolitischer<br />
Einflüsse via Sozialhilfebehörden<br />
und Gesellschaft. Demensprechend<br />
sind Verbesserungen auf allen drei<br />
Ebenen und unter Berücksichtigung ihrer<br />
Wechselwirkungsprozesse anzustreben. •<br />
Miryam Eser Davolio, ZHAW,<br />
Jutta Guhl und Fabienne Rotzetter, FHNW<br />
Literatur<br />
Eser Davolio, Miryam, Guhl, Jutta, Rotzetter, Fabienne,<br />
Erschwerte Kooperation in der sozialarbeiterischen<br />
Beratungssituation – Sozialarbeitende<br />
im Spannungsfeld zwischen institutionellen<br />
Rahmenbedingungen und Professionalität,<br />
Gesowip, Basel, <strong>2013</strong>.<br />
STUDIE 4/13 ZeSo<br />
27
«Jetzt müssen wir uns neu erfinden»<br />
Der Umzug der Sozialen Dienste der Stadt Winterthur in Grossraumbüros im Jahr 2015 stellt Planer<br />
und Mitarbeitende vor grosse räumliche und betriebliche Herausforderungen. In Workshops wurden<br />
die bei der Erfüllung der Aufgaben entstehenden Bedürfnisse überprüft und die Innenarchitektur des<br />
Gebäudes wurde mit einem innovativen Modell darauf ausgerichtet.<br />
Als die Winterthurer Stimmbevölkerung<br />
im Jahr 2010 dem Vorhaben zustimmte,<br />
einen grossen Teil der städtischen Verwaltung<br />
im ehemaligen Sulzerareal an einen<br />
Standort zusammenzulegen, betraf das<br />
auch den zukünftigen Standort der städtischen<br />
Sozialen Dienste. Rund 850 Arbeitsplätze<br />
werden im geplanten Neubau namens<br />
Superblock Platz finden, rund 180<br />
davon betreffen Mitarbeitende der Sozialen<br />
Dienste, konkret der Sozialhilfe, des<br />
Asylbereichs, der gesetzlichen Mandatsführung,<br />
der Sozialversicherungen und der<br />
Leitung. Ein Umzug, sei es im Rahmen eines<br />
Umbaus oder eines Neubaus, bedeutet<br />
auch eine räumliche Veränderung der Arbeitsplatzsituation:<br />
Heute finden die für<br />
Sozialdienste typischen Beratungsgespräche<br />
sowie administrative Arbeiten<br />
noch in rund 120 Einzel- und Zweierbüros<br />
statt.<br />
Mit dem bevorstehenden Umzug in<br />
Grossraumstrukturen werden diese räumlich<br />
abgegrenzten Gesprächssettings wegfallen.<br />
Für viele Mitarbeitende bedeutet<br />
dies ein radikaler Einschnitt. Viele sahen<br />
ihre Arbeit und gewohnte Abläufe dadurch<br />
existenziell in Frage gestellt. «Wie<br />
kompensiert man 100 wegfallende Einzelbüros?<br />
Wie und wo werden künftig<br />
Beratungen durchgeführt?» und weitere<br />
zentrale Fragen wie «Wie kann Vertraulichkeit<br />
und Sicherheit gewährleistet werden?»<br />
müssen beantwortet werden. Angesichts<br />
der Herausforderungen und der Bedeutung<br />
des Vorhabens beschlossen die Sozialen<br />
Dienste 2011, ein Betriebskonzept zu<br />
erarbeiten.<br />
Das Betriebskonzept hatte zum Ziel,<br />
die Kernaufgaben der Sozialen Dienste zu<br />
beschreiben und die damit verbundenen<br />
Abläufe in die vorgegebenen räumlichen<br />
Strukturen eines Open-Space-Konzepts<br />
einzupassen. Dies war wiederum eng mit<br />
den Fragen rund um Vertraulichkeit und<br />
Sicherheit verknüpft. Mit dem Betriebskonzept<br />
galt es darum auch, die Arbeit der<br />
Sozialen Dienste ein Stück weit «neu zu<br />
erfinden». Der Hauptauftrag der Sozialen<br />
Dienste blieb allerdings unverändert: Sie<br />
sollen Menschen in schwierigen Lebenssituationen<br />
und mit teilweise labilen Persönlichkeitsstrukturen<br />
unterstützen. Der<br />
Hauptauftrag lässt sich ferner in drei Kernaufgaben<br />
unterteilen: Empfang und Triage,<br />
Beratung und Administration.<br />
Partizipative Erarbeitung<br />
Um die Leitung und die Mitarbeitenden<br />
sukzessive für die neuen räumlichen Dimensionen<br />
ihrer Arbeit zu sensibilisieren,<br />
wurde das Betriebskonzept partizipativ erarbeitet.<br />
Die Mitarbeitenden erhielten so<br />
die Möglichkeit, mit der Architektur des<br />
Gebäudes in einen «Dialog» zu treten und<br />
den Raum proaktiv als Unterstützung für<br />
die spezifischen Anforderungen ihrer Arbeit<br />
zu erkennen.<br />
In einem ersten Schritt wurden in extern<br />
begleiteten Workshops die Arbeitsabläufe<br />
vom gewohnten räumlichen Kontext<br />
herausgelöst und in einem zweiten<br />
Schritt im Hinblick auf die vorgegeben<br />
Strukturen des neuen Gebäudes weiterentwickelt.<br />
Dabei kam es zu intensiven<br />
Diskussionen, wie in offenen Raumstrukturen<br />
die sich teilweise widersprechenden<br />
Anforderungen bezüglich Vertraulichkeit<br />
und Sicherheit unter einen Hut gebracht<br />
werden könnten. So sollte etwa niemand<br />
die vertraulichen Beratungsgespräche<br />
mithören können. Die Umgebung sollte<br />
aber eskalierende Beratungsituationen<br />
dennoch erkennen und nötigenfalls eingreifen<br />
können. Es zeigte sich, dass sich<br />
diese gegensätzlichen Anforderungen am<br />
ehesten mit einem Sicherheitskonzept lösen<br />
lassen, das auf soziale Kontrolle und<br />
Deeskalation beruht. Das Konzept soll<br />
räumlich passende und atmosphärisch<br />
stimmige Gesprächssettings zulassen, die<br />
für eine gute Beratung von Menschen in<br />
schwierigen Lebenssituationen sehr wichtig<br />
sind.<br />
Die Einteilung der Kernaufgaben in<br />
«Empfang und Triage», «Beratung» und<br />
«Administration» fand eine räumliche<br />
Entsprechung in den drei entwickelten<br />
Zonen «Empfang/Warten», «Frontoffice»<br />
und «Backoffice». Damit konnten gleichzeitig<br />
die Flächen mit und ohne Zutritt<br />
für Klientinnen und Klienten festgelegt<br />
werden. Die Bereiche mit Zutritt sind um<br />
die öffentlich zugängliche Erschliessungszone<br />
gruppiert. Sie sind räumlich klar von<br />
den Bereichen mit Badge-Zugang getrennt<br />
(vgl. Planskizze rechts).<br />
Räumliche Umsetzung<br />
Das «Einzelbüro», das bisher Beratung und<br />
die dazu gehörende administrative Arbeit<br />
noch in einem Raum vereinigt, wird neu in<br />
eine halb-offene Raumstruktur übertragen.<br />
Die Beratung der Klientinnen und Klienten<br />
wird in gläsernen Beratungskojen stattfinden,<br />
die sich unmittelbar neben den Arbeitsplätzen<br />
befinden. So liegen Beratung<br />
und Administration weiterhin räumlich<br />
nahe beieinander und die soziale Kontrolle<br />
bleibt möglich. Um eine stimmige Gesprächsatmosphäre<br />
zu schaffen, ist zudem<br />
vorgesehen, die Beratungskojen nach den<br />
unterschiedlichen Bedürfnissen der Abteilungen<br />
und ihrer Zielgruppen (jung, alt,<br />
selbstständig, unmündig) zu gestalten.<br />
Die Beratungskojen selbst bieten Platz<br />
für zwei bis drei Personen, was gemäss<br />
einer internen Erhebung dem Bedarf entspricht.<br />
Für Beratungen mit mehr als drei<br />
Personen steht ein grösserer Raum zur<br />
Verfügung (unten links im Plan). Die Beratungskojen<br />
können auch für längere Telefongespräche<br />
oder interne Besprechungen<br />
genutzt werden, um so die Kolleginnen<br />
und Kollegen an den benachbarten Arbeitsplätzen<br />
akustisch zu entlasten.<br />
Die Durchgänge zwischen den Beratungskojen<br />
werden mit transparenten,<br />
halbhohen Abschlüssen versehen. Damit<br />
wird den Klientinnen und Klienten der<br />
Zutritt in den Mitarbeiterbereich verwehrt,<br />
28 ZeSo 4/13 SOZIALARBEIT IM GROSSRAUMBÜRO
Planskizze des Frontoffice-Bereichs: Mit der<br />
rhythmisierenden, raumgliedernden Anordnung<br />
der Beratungskojen ist es gelungen, die sich<br />
zuwiderlaufenden Anforderungen hinsichtlich<br />
Vertraulichkeit, Transparenz, Deeskalation und<br />
Sicherheit alle zu erfüllen.<br />
<br />
die soziale Kontrolle über den Korridor<br />
aber bleibt dank dem so ermöglichten<br />
Sichtkontakt erhalten. In einer Gefahrensituation<br />
können die Mitarbeitenden des<br />
Frontoffices zudem über einen direkten<br />
Zugang in den Backoffice-Bereich flüchten<br />
Bild: zvg<br />
und müssen sich so nicht in den Korridor<br />
begeben. Diese Lösung mit der ergänzenden<br />
Zone der Beratungskojen erlaubt<br />
es, die konzeptionelle Vorgabe des Open-<br />
Space-Büros umzusetzen und auf Einzelbüros<br />
komplett zu verzichten.<br />
Räumliche Sprache als Schlüssel<br />
Immer häufiger empfiehlt die Forschung,<br />
Nutzerinnen und Nutzer mit ihrem Wissen<br />
in die Planung miteinzubeziehen. Dies<br />
setzten die Sozialen Dienste Winterthur<br />
mit dem früh eingeleiteten Partizipationsprozess<br />
und dem daraus entwickelten Betriebskonzept<br />
um. Mittels Visualisierung<br />
und Modellen konnten die betrieblichen<br />
Bedürfnisse überprüft und in einer räumlichen<br />
Sprache formuliert werden, was auch<br />
die sprachlichen Hürden gegenüber Bauund<br />
Möblierungsfachleuten reduzierte.<br />
Noch sind nicht alle Fragen gelöst. Ob<br />
wirklich alles wie angedacht funktionieren<br />
wird, wird sich erst beim Bezug weisen.<br />
Hier muss sich die entwicklungsoffene<br />
und anpassbare Konzeption in der Praxis<br />
noch beweisen. Klar ist aber bereits heute,<br />
dass die Sozialen Dienste Winterthur<br />
einen Weg gefunden haben, ihre Kernaufgabe,<br />
die Beratung von Menschen in<br />
schwierigen Lagen, den neuen räumlichstrukturellen<br />
Verhältnissen anzupassen<br />
und sich bei ihrer Arbeit auf diese abzustützen.<br />
•<br />
Daniela Tschudi,<br />
Stab Soziale Dienste Winterthur<br />
Andreas Hammon,<br />
Architektur und Entwicklungsräume, Mogelsberg<br />
SOZIALARBEIT IM GROSSRAUMBÜRO 4/13 ZeSo<br />
29
Aus dem Trott herausfinden und<br />
das Lächeln zurückgewinnen<br />
Für die Kundschaft ist Nestor Services ein normaler Cateringdienstleister. Für die Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter ist Nestor aber mehr als das: eine soziale Einrichtung, die Erwerbslosen und<br />
Sozialhilfebeziehenden bezahlte Arbeitseinsätze in der Gastronomie ermöglicht.<br />
Sie steht hinter dem Buffet, gerade Haltung,<br />
schwarze Kleidung und eine lange,<br />
grüne Schürze. Sie schenkt geduldig Orangensaft<br />
ein und entlässt den Kunden mit<br />
einem «Voilà, Monsieur» und einem Lächeln.<br />
Sandra Nanchen macht ihre Arbeit<br />
gut, und sie macht sie gern. Doch zum Lachen<br />
war ihr in den vergangenen Monaten<br />
nicht immer zu Mute. Vor einem Jahr wurde<br />
sie arbeitslos und hat seither trotz vielen<br />
Bewerbungen noch keine Vollzeit-Anstellung<br />
gefunden. «Sie stellen lieber jüngere,<br />
billigere Arbeitskräfte ohne Berufsdiplom<br />
ein, die bereit sind, Teilzeit zu arbeiten»,<br />
stellt die 42-Jährige fest. Sie räumt rasch<br />
ein paar leere Gläser weg und giesst frischen<br />
Orangensaft in die sauberen. Für<br />
den Kopf sei es gut gewesen, dass da Nestor<br />
war. Nestor ist eine im Kanton Wallis tätige<br />
Stiftung, die Menschen eine Beschäftigung<br />
bietet, die Mühe auf dem Arbeitsmarkt<br />
haben. Die Bedingung: Sie müssen<br />
sich fürs Gastgewerbe interessieren.<br />
Zusammenarbeit mit lokalen<br />
Anbietern<br />
Denn eigentlich ist Nestor ein Cateringservice<br />
– von sozialer Einrichtung merken<br />
die Kundinnen und Kunden an diesem<br />
Mittwochmorgen im Suva-Zentrum in Sion<br />
nichts. Die 300 Mitarbeiterinnen und<br />
Mitarbeiter von Spitalnetz Wallis besuchen<br />
hier eine Weiterbildung und erholen<br />
sich in der Pause vom Zuhören, bei Kaffee,<br />
Gipfeli, Saft und Früchten. Ob für<br />
zwanzig oder für tausend Personen, ob<br />
Betriebs- oder Familienanlass: Nestor<br />
kümmert sich nebst dem Kulinarischen<br />
auch um die Saalsuche, die Dekoration<br />
oder eine musikalische Unterhaltung – je<br />
nach Wunsch der Kundschaft. Das Essen<br />
fürs Bankett oder Buffet wird nicht selber<br />
produziert, es wird von lokalen Anbietern<br />
aus der Region bezogen. «Die Qualität der<br />
Produkte hat bei uns einen hohen Stellenwert»,<br />
sagt Fabienne Theytaz, die bei Nestor<br />
für die Koordination und Organisation<br />
verantwortlich zeichnet.<br />
Nichts von geschützte Werkstatt<br />
Auch dem eigentlichen Service, dem Bedienen<br />
der Gäste, wird ein hoher Stellenwert<br />
beigemessen. Simon Darioli, bis Ende Jahr<br />
Chef der kantonalen Dienststelle für Sozialwesen<br />
und innerhalb der Stiftung verantwortlich<br />
für die Projektentwicklung, betont,<br />
dass es sich bei Nestor nicht um eine<br />
geschützte Werkstatt handle. Im Gegenteil:<br />
«Wir schenken den Angestellten nichts.»<br />
Sie sollen aus ihrem Trott, der sich bei Arbeitslosen<br />
oder Ausgesteuerten einstellen<br />
kann, wieder herausfinden und zu neuer<br />
Schmutzige Gläser verschwinden in die Kisten.<br />
Motivation und zu Selbstvertrauen finden.<br />
Manchmal sei es so, dass ein Arbeitsloser<br />
nach ein bis zwei Jahren fernab seines Berufs<br />
eine gebrochene Person sei. Er brauche<br />
eine Anlehre, um das wieder zu lernen, was<br />
er eigentlich könne. Im Idealfall würden<br />
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />
durch die Arbeit beim Cateringservice ihr<br />
Selbstvertrauen und ihr Lächeln zurückgewinnen.<br />
Einige brauchten dafür ein wenig<br />
mehr Zeit als andere, sagt Fabienne Theytaz.<br />
Das sei in Ordnung. Wichtig sei, dass<br />
sie die Bereitschaft zu einer guten Zusammenarbeit<br />
spüre. Denn die Kunden zahlen<br />
die gleichen Ansätze wie bei einem anderen<br />
Cateringservice auch und wollen folglich<br />
die gleiche Leistung, sagt Darioli.<br />
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />
von Nestor wiederum werden via Arbeitslosenkasse,<br />
Sozialhilfe oder – in seltenen<br />
Fällen – Invalidenstelle vermittelt. Entlöhnt<br />
werden sie im Stundenlohn, nach<br />
Gastro-Suisse-Ansätzen. «Wir zahlen keine<br />
Dumping-Löhne», betont Darioli. Nach<br />
jedem Arbeitseinsatz werden die Mitarbeitenden<br />
auf einem Evaluationsbogen beurteilt.<br />
Nestor finanziert sich zu 60 Prozent<br />
selber. Die anderen 40 Prozent kommen<br />
durch Beiträge der Dienststelle für Sozialwesen,<br />
von privaten Gönnern und durch<br />
die Unterstützung der Loterie Romande<br />
zusammen.<br />
Die Mitarbeitenden müssen sich immer<br />
wieder auf neue Situationen einstellen,<br />
denn jeder Ort und jede Kundschaft ist<br />
anders. Von Gross- und Privatbanken oder<br />
Versicherungen etwa wurde der Service<br />
schon gebucht, aber auch von Gemeinden<br />
und Privaten. Bis Ende Jahr wird Nestor<br />
zwischen 130 und 140 mal ausgerückt<br />
sein, schätzt Darioli. Nestor existiert seit<br />
Mai 2012. Die Stiftung greift bei ihren<br />
Einsätzen auf einen Mitarbeiterpool zurück.<br />
Bei jedem Mal würden aber nebst<br />
den eingearbeiteten auch neue Mitarbeite-<br />
30 ZeSo 4/13 reportage
Das Nestor-Team bereitet das Mittagessen für 300 Personen vor. <br />
Bilder: Pia Neuenschwander<br />
rinnen und Mitarbeiter berücksichtigt, um<br />
auch ihnen eine Chance zu geben, erklärt<br />
Fabienne Theytaz.<br />
«Das zeigen, was ich kann»<br />
Das Stimmengewirr vor der Cafeteria der<br />
Klinik ist verstummt, die Kursteilnehmerinnen<br />
und Kursteilnehmer befinden<br />
sich wieder in den Seminarräumen. Sandra<br />
Nanchen, ihre Kollegin sowie die beiden<br />
festangestellten Nestor-Mitarbeiterinnen<br />
räumen in Windeseile schmutzige Gläser<br />
und Kaffeetassen in die Kisten. Dann stellen<br />
sie die Tische um und rollen das weisse<br />
Papiertischtuch aus. Ein kleiner Fleck auf<br />
dem Tischtuch stört, ein neues muss her.<br />
Sie zählen Gläser ab und ordnen sie symmetrisch<br />
an. Die Tellertürme müssen<br />
gleich hoch sein. Das Nestor-Team bereitet<br />
jetzt das Mittagessen für 300 Personen vor.<br />
Dabei legt es Wert auf kleine Details wie<br />
die kleinen Blumensträusschen und die<br />
adrett zurechtgelegten Servietten in Lila<br />
und Grün. Sofia Lourenço ist diplomierte<br />
Kellnerin und seit Mai arbeitslos. «Bei Nestor<br />
habe ich die Möglichkeit zu zeigen, was<br />
ich kann», sagt die 32-Jährige, die sich derzeit<br />
mit einer Teilzeitanstellung in einer<br />
Bäckerei über Wasser hält.<br />
Es ist bald zwölf Uhr. Zwei weitere Mitarbeiter<br />
sind zum Team gestossen und helfen<br />
bei den Vorbereitungsarbeiten. Alles<br />
ist parat, jetzt fehlt nur noch das Essen,<br />
das bald von einem lokalen Traiteur angeliefert<br />
wird. Sofia Lourenço und Sandra<br />
Nanchen, die seit dem Morgen im Einsatz<br />
sind, stehen kurz etwas abseits des Buffets<br />
und gönnen sich ein Gipfeli und einen<br />
Schluck Kaffee. Fabienne Theytaz blickt<br />
auf ihre Uhr, das Essen wurde noch nicht<br />
angeliefert, sie wird langsam nervös. Eine<br />
Viertelstunde später hält der Lieferwagen<br />
vor der Klinik und die Häppchen werden<br />
gut verpackt auf einem Wagen angerollt.<br />
Jetzt wird Fabienne Theytaz noch nervöser:<br />
Als sie zusammen mit ihren Mitarbeitenden<br />
die warmen Speisen in die Platten<br />
auf dem Buffet legen will, merkt sie, dass<br />
diese nicht gewärmt werden können – die<br />
Rechauds wurden ohne Brennsprit angeliefert.<br />
Die Nestor-Leute improvisieren.<br />
Schnell werden die Häppchen in die<br />
Klinik-Küche gebracht und dort am Warmen<br />
gehalten. Währenddessen läuft ein<br />
Mitarbeiter schnell zum nächstgelegenen<br />
Supermarkt, um ein paar Flaschen Brennsprit<br />
zu kaufen. Kurze Zeit später wird das<br />
Buffet eröffnet. Die 300 Gäste laden köstliche<br />
Häppchen auf ihre Teller. Und die<br />
Nestor-Mitarbeitenden stehen hinter dem<br />
Buffet. Lächeln, gerade Haltung, schwarze<br />
Kleidung und lange, grüne Schürze. So, als<br />
wäre nichts gewesen.<br />
•<br />
Catherine Arber<br />
reportage 4/13 ZeSo<br />
31
Sozialinfo.ch verbreitet<br />
Informationen und Fachwissen<br />
Der Verein Sozialinfo.ch bildet mit dem «Internetportal Sozialwesen Schweiz» das komplexe System<br />
des Sozialwesens in der Schweiz ab und publiziert relevante Informationen für Fachpersonen,<br />
Interessierte und Betroffene.<br />
PLATTFORM<br />
Die <strong>ZESO</strong> bietet ihren Partnerorganisationen<br />
diese Seite als Plattform an. In dieser Ausgabe<br />
dem Förderverein sozialinfo.ch.<br />
Das Team Informationsmanagement bei der Auswahl von Hintergrundmaterial. Bild: Franco Messerli<br />
Begonnen hat alles im Jahr 2002 mit der<br />
Gründung eines Vereins, der sich zum Ziel<br />
setzte, die Institutionen und Fachpersonen<br />
der Sozialen Arbeit mittels einer zentralen<br />
Drehscheibe zu vernetzen. Seither ist der<br />
«Verein sozialinfo.ch» stetig gewachsen<br />
und zählt heute mehr als 500 Institutionen<br />
zu seinen Mitgliedern. Seit Beginn der<br />
Tätigkeit bestehen Vorstand und Geschäftsleitung<br />
ausschliesslich aus Personen<br />
mit Hintergrund Soziale Arbeit. Damit<br />
wird gewährleistet, dass die Anliegen der<br />
Institutionen und Fachpersonen erkannt<br />
und umgesetzt werden.<br />
In den vergangenen zehn Jahren<br />
hat sich die Berufspraxis im Sozialbereich<br />
aufgrund der Neuausrichtung in<br />
der Aus- und Weiterbildung (Bologna-<br />
Reform) stark verändert. Soziale Arbeit<br />
wird auf Fachhochschulniveau gelehrt, die<br />
Forschung hat sich etabliert und qualifizierte<br />
Standards aus der Praxis tragen zu<br />
einer berufsethischen Neudefinition der<br />
Profession bei.<br />
Während soziale Institutionen früher<br />
erst in Problemsituationen fühl- und<br />
greifbar wurden, haben sie heute durch<br />
das Internet ein Gesicht erhalten. Gleichzeitig<br />
wird die Soziale Arbeit zunehmend<br />
politisch und medial in der Öffentlichkeit<br />
wahrgenommen. Die Geschäftsstelle von<br />
Sozialinfo.ch nimmt diese gesellschaftlichen<br />
Strömungen und die sich daraus<br />
entwickelnden berufspolitischen Debatten<br />
auf und stellt dazu fachlich fundierte Informationen<br />
für die verschiedenen Akteure<br />
auf ihrem Internetportal zur Verfügung.<br />
Täglich aktualisiertes Internetportal<br />
Auf der Startseite werden täglich News und<br />
aktuelle Fachinformationen veröffentlicht,<br />
beispielsweise Medienmitteilungen, Hinweise<br />
auf Neuerscheinungen von Fachbüchern,<br />
Studien, Fachzeitschriften oder thematische<br />
Vertiefungen eines speziellen<br />
Themas. Im Bereich Fachwissen haben die<br />
Mitglieder des Vereins Zugriff auf eine viel-<br />
fältige und umfassende Sammlung von Informationen<br />
aus dem Sozialbereich<br />
Schweiz. Die Informationen werden durch<br />
eine exakte und sachlich fundierte Verschlagwortung,<br />
die dem Sprachgebrauch<br />
der Sozialen Arbeit entspricht, erschlossen<br />
(700 Schlagworte und 500 Synonyme).<br />
Der Bereich Stellen ist mit zwischen<br />
300 bis 500 aktuellen Stellenangeboten<br />
zur grössten Online-Stellenplattform<br />
für den öffentlichen und privaten Sozialbereich<br />
in der Deutschschweiz he-<br />
32 ZeSo 4/13 plattform
angewachsen und zu einem wichtigen<br />
Begegnungsort für Stellensuchende und<br />
Stellenanbieter geworden.<br />
Der Bereich Aus- und Weiterbildung<br />
verschafft einen Überblick über die vom<br />
Staatssekretariat für Bildung, Forschung<br />
und Innovation (SBFI) anerkannten Ausbildungen<br />
im Sozialbereich sowie über<br />
Weiterbildungsangebote, Veranstaltungen<br />
oder Fachseminare für Professionelle der<br />
Sozialen Arbeit.<br />
Das Expertinnen- und Expertenforum<br />
steht den Fachpersonen aus dem Sozialbereich<br />
Schweiz für individuelle Fachfragen<br />
zur Verfügung. Es besteht aus Einzelforen<br />
zu verschiedenen Rechtsbereichen, die innerhalb<br />
der praktischen Arbeit häufig zu<br />
Fragen Anlass geben.<br />
Die Rolle der Geschäftsstelle<br />
Wenn Dienstleistungen und Angebote virtuell<br />
erfolgen, geht gerne vergessen, dass<br />
sie auf der harten Arbeit von Menschen beruhen.<br />
So existiert in Bern, an der Schwarztorstrasse<br />
20, eine reale Geschäftsstelle mit<br />
einem Türschild und einer Türklingel. Ein<br />
Verein sozialinfo.ch<br />
Der 2002 gegründete «Förderverein sozialinfo.ch»<br />
zählt rund 500 Fachorganisationen<br />
und Institutionen aus dem Sozialbereich<br />
Schweiz zu seinen Mitgliedern. Er hat das Ziel,<br />
mit seinem Internetportal die verschiedenen<br />
Akteure im Sozialwesen Schweiz zu vernetzen<br />
und ihnen aktuelle Informationen und Fachwissen<br />
aus dem Sozialbereich zur Verfügung<br />
zu stellen.<br />
zehnköpfiges interdisziplinäres Team mit<br />
Fachwissen aus den Bereichen Soziale Arbeit,<br />
Informatik und Administration bereitet<br />
die auf der Website zu publizierenden<br />
Informationen bedürfnisgerecht und themenspezifisch<br />
für das Zielpublikum auf.<br />
Zudem kümmert es sich um den Unterhalt<br />
und die Weiterentwicklung des Portals<br />
und der dazu gehörenden Dienstleistungen.<br />
Die Geschäftsstelle ist auch Herausgeberin<br />
des monatlichen Newsletters, der aktuelle<br />
Fragen der Sozialpolitik aufgreift<br />
und in «Monatsthemen» bereichsübergreifend<br />
vertieft. Das Spektrum reicht von Fragen<br />
der alltäglichen, praktischen Sozialen<br />
Arbeit bis zu sozialpolitischen Themen<br />
und gesellschaftlichen Entwicklungen.<br />
Die Soziale Arbeit steht im Spannungsfeld<br />
von Politik, Gesetzgebung und Betroffenen<br />
und hat den nicht immer einfachen<br />
Auftrag, den unterschiedlichen Bedürfnissen<br />
der beteiligten Interessengruppen<br />
Rechnung zu tragen. Mit dem Angebot,<br />
Informationen und Wissen zu teilen,<br />
schafft der Verein Sozialinfo.ch eine solide<br />
Basis für die Professionellen in der Praxis<br />
und verhilft zu Stärke und Fachkompetenz<br />
nach aussen. Die Voraussetzungen sind<br />
vernetztes Denken, durchlässige Kommunikation<br />
und schnelles Handeln. •<br />
Barbara Beringer<br />
Geschäftsführerin Sozialinfo.ch<br />
Leitfaden<br />
«Soziale Arbeit und<br />
Social Media»<br />
Social Media bieten den Menschen schnelle<br />
und leicht zugängliche Informationswege<br />
und unterstützen ein verändertes<br />
Konsum- und Kommunikationsverhalten.<br />
Gleichzeitig entstehen neue wirtschaftliche<br />
und politische Handlungsfelder, aber auch<br />
neue Formen von Kriminalität. Für das<br />
alles braucht es Spielregeln. Der Leitfaden<br />
«Soziale Arbeit und Social Media» von<br />
Sozialinfo.ch gibt einen Überblick über die<br />
Entwicklung und Bedeutung der Sozialen<br />
Medien in der Sozialen Arbeit. Er zeigt<br />
den Institutionen des Sozialbereichs auf,<br />
welches Potenzial die neuen Medien innerhalb<br />
der Sozialen Arbeit haben, und weist<br />
auf Hürden und Gefahren hin. Es kommen<br />
Menschen zu Wort, bei denen sich Social<br />
Media und Soziale Arbeit in der täglichen<br />
Arbeit berühren, sei dies als Betroffene, als<br />
Professionelle oder im institutionellen und<br />
rechtlichen Rahmen. Der Leitfaden kann<br />
gedruckt oder als PDF-Download bezogen<br />
werden über www.soziothek.ch.<br />
plattform 4/13 ZeSo<br />
33
Lesetipps<br />
Handbuch zum<br />
Sozialwesen<br />
Kinder- und Jugendhilfe<br />
in der Schweiz<br />
Nachschlagewerk<br />
zum Asylwesen<br />
Soziale Arbeit und<br />
Stadtentwicklung<br />
Fachpersonen aus Organisationen<br />
des Schweizer Sozialwesens<br />
sowie Wissenschaftlerinnen und<br />
Wissenschaftler zeigen in diesem<br />
Handbuch auf, welchen Einfluss politische<br />
Entscheide auf die Lebensverhältnisse<br />
der Bevölkerung haben<br />
und welchen gesellschaftlichen Beitrag<br />
das Sozialwesen leistet. Dabei<br />
werden historische Entwicklungen<br />
ebenso beleuchtet wie aktuelle Herausforderungen.<br />
Mit Ausführungen<br />
zu den Sozialversicherungen sowie<br />
zu den öffentlichen und privaten Sozialdiensten<br />
wird auf die Besonderheiten<br />
des Schweizer Sozialsystems<br />
eingegangen. Beiträge zu Konzepten<br />
wie Subsidiarität, Integration oder<br />
soziale Ungleichheit schaffen zudem<br />
einen Überblick über aktuelle soziale<br />
Problemlagen. Das Handbuch eignet<br />
sich als Nachschlagewerk für Fachleute<br />
aus dem Sozialbereich aber<br />
auch für Politikerinnen und Politiker,<br />
Studierende oder Medienschaffende,<br />
die sich mit dem Sozialwesen<br />
auseinandersetzen.<br />
In der Schweiz hat sich ein ausdifferenziertes<br />
System der Kinderund<br />
Jugendhilfe entwickelt, über<br />
das jedoch lange wenig Wissen<br />
verfügbar war. In den letzten Jahren<br />
ist die Kinder- und Jugendhilfe der<br />
Schweiz vermehrt zu einem Thema<br />
der Forschung geworden. Der Sammelband<br />
bietet einen Überblick zum<br />
Forschungsstand und gibt einen<br />
Einblick in die fachlichen Diskurse.<br />
Es werden Ergebnisse ausgewählter<br />
Forschungsprojekte dargestellt<br />
und mit Blick auf die Weiterentwicklung<br />
guter Praxis diskutiert.<br />
Die Beiträge bewegen sich dabei in<br />
verschiedenen Handlungsfeldern:<br />
Kinderschutz und Schulsozialarbeit<br />
werden ebenso thematisiert wie die<br />
aufsuchende Familienarbeit oder<br />
junge Erwachsene in der Sozialhilfe.<br />
Das Buch richtet sich sowohl an<br />
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler<br />
als auch an Kinder- und<br />
Jugendbeauftragte in Gemeinden<br />
und Kantonen.<br />
Wer kennt den Unterschied zwischen<br />
einem B- und einem C-Ausweis? Bedeutet<br />
ein N-Ausweis, dass jemand<br />
Nothilfe empfängt? Was ist ein<br />
Nichteintretensentscheid? Und was<br />
versteht man unter Familien-Asyl?<br />
Die Rechtsberatungsstellen des<br />
Hilfswerks der evangelischen Kirchen<br />
Schweiz (Heks) stellen im Rahmen<br />
ihrer Workshops zum Thema<br />
Asylrecht immer wieder fest, dass<br />
viele Fachbegriffe aus dem Asylwesen<br />
für Laien schwer verständlich<br />
sind. So ist die Idee entstanden,<br />
die grundlegenden Begriffe und die<br />
wichtigsten Verfahrensabläufe in<br />
einem Nachschlagewerk zusammenzustellen.<br />
Daraus ist ein über<br />
50-seitiges Asyllexikon geworden,<br />
das das Hilfswerk zum diesjährigen<br />
Flüchtlingstag herausgegeben hat.<br />
Das Heks möchte mit dem kompakten<br />
Nachschlagewerk zum besseren<br />
Verständnis des Asylwesens<br />
beitragen und eine Grundlage für<br />
eine sachliche Asyldebatte schaffen.<br />
Die Geschichte der Sozialarbeit ist<br />
eng mit derjenigen der Stadtentwicklung<br />
verbunden. Dieser Sammelband<br />
stellt Handlungsfelder der Sozialarbeit<br />
in der Stadt- und Quartierentwicklung<br />
vor und betrachtet sie<br />
aus verschiedenen Forschungsperspektiven.<br />
Es werden Konzepte aus<br />
parteilicher, intermediärer, reflexiv<br />
räumlicher und planungsbezogener<br />
Perspektive vorgestellt. Anhand<br />
von Fallbeispielen wird Einblick<br />
in die Chancen und Grenzen ihrer<br />
Umsetzung gegeben. Darüber hinaus<br />
werden Herausforderungen wie<br />
die Recht-auf-Stadt-Bewegungen,<br />
Leitbilder wie das der sozialen<br />
Nachhaltigkeit und Ansätze einer<br />
planungsbezogenen sozialen Arbeit<br />
beleuchtet. Das Buch richtet sich an<br />
Fachleute der Sozialarbeit, Soziologie<br />
und Geografie sowie an Akteure aus<br />
der Praxis der Gemeinwesensarbeit.<br />
Anna Maria Riedi et al., Handbuch Sozialwesen<br />
Schweiz, Haupt Verlag, Bern, <strong>2013</strong>,<br />
526 Seiten, CHF 56.–<br />
ISBN 978-3-258-07822-9<br />
Edith Maud Piller, Stefan Schnurr (Hrsg.),<br />
Kinder- und Jugendhilfe in der Schweiz,<br />
Springer Verlag, Wiesbaden, <strong>2013</strong>, 382 Seiten,<br />
CHF 56.–<br />
ISBN 978-3-531-18459-3<br />
Heks (Hrsg.), Asyllexikon. Die wichtigsten<br />
Begriffe kurz erklärt, <strong>2013</strong>, 55 Seiten,<br />
CHF 10.–<br />
Zu bestellen unter<br />
www.heks.ch/asyllexikon<br />
Matthias Drilling, Patrick Oehler (Hrsg.),<br />
Soziale Arbeit und Stadtentwicklung, Forschungsperspektiven,<br />
Handlungsfelder,<br />
Herausforderungen, Springer Verlag,<br />
Wiesbaden, <strong>2013</strong>, 418 Seiten, CHF 62.–<br />
ISBN 978-3-658-01945-7<br />
34 ZeSo 4/13 service
Anstaltsversorgung<br />
von Gestern<br />
Ohne dass sie ein kriminelles Delikt<br />
begangen hatten, wurden in der<br />
Schweiz bis in die zweite Hälfte<br />
des 20. Jahrhunderts «liederliche»<br />
und «arbeitsscheue» Personen in<br />
Arbeitsanstalten eingewiesen. Das<br />
Buch zeigt am Beispiel des Kantons<br />
Bern, wie das fürsorgepolitische<br />
Zwangsinstrument der administrativen<br />
Anstaltsversorgung im<br />
19. Jahrhundert eingeführt wurde,<br />
um Missbräuche im Armenwesen<br />
zu bekämpfen. Trotz Wirtschaftswachstum<br />
und der Einführung<br />
der Sozialversicherungswerke in<br />
den 1950er- und 1960er-Jahren<br />
kam das Instrument weiterhin<br />
zum Einsatz. Das Buch arbeitet<br />
die Rechtsstaatsproblematik der<br />
Anstaltsversorgung heraus und<br />
rekonstruiert, wie erst unter dem<br />
Druck eines erstarkenden internationalen<br />
Menschenrechtsdiskurses<br />
die administrative Versorgung in<br />
allen Kantonen der Schweiz 1981<br />
aufgehoben wurde.<br />
Tanja Rietmann, «Liederlich» und<br />
«arbeitsscheu», die administrative<br />
Anstaltsversorgung im Kanton Bern<br />
(1884-1981), Chronos Verlag, Zürich,<br />
<strong>2013</strong>, 381 Seiten, CHF 58.–<br />
ISBN 978-3-0340-1146-4<br />
Zukunft<br />
der Schweiz<br />
Das Buch der Stiftung Zukunftsrat<br />
zeichnet die Entwicklung der<br />
Schweiz von 1950 bis heute in 45<br />
Themen nach. Die Entwicklung von<br />
Themenbereichen wie Mobilität,<br />
Gesundheit, Wirtschaft, politische<br />
Organisation oder sozialer Zusammenhalt<br />
wird auf jeweils einer Doppelseite<br />
dargestellt. Eine Seite zeigt<br />
Daten und Grafiken, die andere Seite<br />
liefert die Hintergrundinformationen<br />
dazu. Die Texte werden mit der Frage<br />
«zukunftsfähig?» und Denkanstössen<br />
zur künftigen Entwicklung<br />
abgeschlossen. So regt das Buch<br />
an, darüber nachzudenken, ob die<br />
eingeschlagenen Entwicklungspfade<br />
längerfristig tragfähig sind und ob<br />
sie weitergeführt oder neu gestaltet<br />
werden sollten. Zielpublikum sind<br />
alle Personen, die an der Zukunftsgestaltung<br />
der Schweiz interessiert<br />
sind.<br />
Stiftung Zukunftsrat (Hrsg.), Entwicklungspfade,<br />
Grundlagen zur Zukunftsgestaltung<br />
der Schweiz in 45 Themen,<br />
Rüegger Verlag, Zürich, <strong>2013</strong>, 132 Seiten,<br />
CHF 25.–<br />
ISBN 978-3-7253-0998-6<br />
veranstaltungen<br />
Sozial nachhaltige Wohnpolitik<br />
Wohnen ist existenziell. Wie man wohnt, entscheidet massgeblich<br />
über das Wohlbefinden und die Gesundheit. Wo man<br />
wohnt, prägt die sozialen Kontakte und die Teilhabe an der<br />
Gesellschaft. Der Raum in der Schweiz wird aber zunehmend<br />
knapper. Gerade für benachteiligte Menschen wird es immer<br />
schwieriger, geeigneten und bezahlbaren Wohnraum zu finden.<br />
Die sozialpolitische Tagung der Caritas setzt sich mit der Frage<br />
auseinander, was eine sozial nachhaltige Wohnpolitik ist und<br />
inwiefern sie ein Kernthema der schweizerischen Sozial- und<br />
besonders der Armutspolitik ist.<br />
Caritas-Forum 2014: Wohnen<br />
Freitag, 24. Januar 2014, Kultur-Casino Bern<br />
www.caritas.ch/forum/d<br />
Rahmen für Fremdplatzierungen<br />
Die Plattform Fremdplatzierung ist die Veranstaltungsreihe<br />
des Fachverbands Integras zu den verschiedenen Phasen der<br />
Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen. Umplatzierungen<br />
und «Time-outs» sind bei fremdplatzieren Kindern und<br />
Jugendlichen an der Tagesordnung, obwohl diese auf konstante<br />
und tragfähige Lösungen angewiesen wären. Die Tagung geht<br />
deshalb der Frage nach, welche Rahmenbedingungen die Tragfähigkeit<br />
von Fremdplatzierungen fördern und gewährleisten<br />
können. Die Veranstaltung richtet sich an Fach- und Leitungspersonen<br />
von einweisenden und aufnehmenden Institutionen<br />
der Kinder- und Jugendhilfe.<br />
Tagung Plattform Fremdplatzierung 2014:<br />
Fremdplatzierung – denn wir wissen was wir tun!<br />
Dienstag, 21. Januar 2014, Kultur-Casino Bern<br />
www.integras.ch<br />
Konflikte und Sozialarbeit<br />
In der Sozialarbeit muss oft mit Konflikten umgegangen werden.<br />
Nicht verstandene und unbearbeitete Konflikte behindern<br />
die alltäglichen Abläufe und die Wirksamkeit sozialer Arbeit.<br />
Konfliktvermeidung kann letztlich zur Aufgabe einer Veränderungsperspektive<br />
führen. Von daher braucht die soziale Arbeit<br />
Wissen über die Entstehung und Dynamik von Konflikten sowie<br />
praktische Instrumente, um besser mit Konflikten umgehen<br />
zu können. Die Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft für<br />
Soziale Arbeit bietet ein Forum für die Diskussion empirischer,<br />
theoretischer und anwendungsorientierter Fragen und Zugänge<br />
zu diesem Thema.<br />
Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit:<br />
«Konflikte – theoretische und praktische Herausforderungen für die<br />
Soziale Arbeit», Freitag, 25. bis Samstag 26. April 2014,<br />
Fachhochschule Köln<br />
www.dgsainfo.de/veranstaltungen/tagungen<br />
service 4/13 ZeSo<br />
35
Peter Glanzmann in seinem Fabrikladen: «Auch wenn wir eine soziale Ader haben, sind wir keine Sozialinstitution.» <br />
Bild: Daniel Desborough<br />
Der Unternehmer<br />
Der Fleischverarbeiter Carnosa AG stellt auch Langzeitarbeitslose an. Denn für Geschäftsführer Peter<br />
Glanzmann steht fest: «Jedes Unternehmen muss soziale Verantwortung wahrnehmen.»<br />
Das unternehmerische Denken hat Peter<br />
Glanzmann bereits früh gelernt. Als er acht<br />
Jahre alt war, ermunterte ihn seine Grossmutter,<br />
im Garten etwas anzupflanzen, das<br />
er verkaufen könne. «Ich versuchte es mit<br />
Zwiebeln, weil das am wenigsten aufwändig<br />
war», erzählt Glanzmann mit einem<br />
schelmischen Lächeln. Im Herbst verkaufte<br />
er die geernteten Zwiebeln dem ortsansässigen<br />
Metzger für die Blut- und Leberwurstproduktion.<br />
Sein erstes Geschäft war<br />
gleichzeitig sein erster Kontakt mit der<br />
Fleischbranche.<br />
Heute ist der gelernte Metzger und Kaufmann<br />
Mitinhaber und Geschäftsführer<br />
des von ihm gegründeten Fleischverarbeitungsbetriebs<br />
Carnosa AG. Der Spatenstich<br />
zum Neubau in Langenthal erfolgte 2008,<br />
im Jahr darauf wurde die Produktion aufgenommen.<br />
Carnosa beliefert Spitäler und<br />
Altersheime, Gefängnisse, Gastroverteiler<br />
und Restaurants in der <strong>ganz</strong>en Schweiz.<br />
Dabei wird auf individuelle Kundenwünsche<br />
eingegangen. «Für Altersheime<br />
schneiden wir beispielsweise extra kleinere<br />
Ragoutstücke», erklärt der 53-Jährige.<br />
Preis für Sozialengagement<br />
Dieses Konzept geht auf. Aus den anfangs<br />
zwanzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern<br />
sind vierzig geworden. Die Firma<br />
wurde dieses Jahr mit dem Jungunternehmerpreis<br />
«Swiss Ecomic Award» ausgezeichnet.<br />
Und es war nicht der erste<br />
Preis: 2012 ehrte die Stadt Langenthal<br />
den Betrieb mit dem Sozialpreis dafür,<br />
dass er Langzeitarbeitslose wieder in den<br />
ersten Arbeitsmarkt integriert. Glanzmann<br />
hat seit 2009 zwölf Langzeitarbeitslose<br />
nach einer gewissen Einarbeitungszeit<br />
fest angestellt.<br />
Der Gesellschaft etwas zurückgeben<br />
Mit Menschen, die versuchen, beruflich<br />
wieder Fuss zu fassen, erlebe man oft ein<br />
Auf und Ab, sagt Glanzmann. Dass er und<br />
sein Team diesen Aufwand dennoch auf<br />
sich nehmen, kommt aus einer inneren<br />
Überzeugung: «Es ist die Aufgabe jedes<br />
Unternehmens, auch Menschen eine<br />
Chance zu geben, die nicht auf der Sonnenseite<br />
des Lebens stehen.»<br />
Die Erfolgsquote bei den an ihn vermittelten<br />
Personen beträgt rund 50 Prozent.<br />
Die schwierigen Momente verschweigt<br />
Glanzmann daher nicht. Aber er ist einer,<br />
der sich lieber an Erfolgsgeschichten orientiert.<br />
Nicht ohne Stolz nennt er das Beispiel<br />
eines 24-Jährigen, der ihm vermittelt<br />
wurde, ohne vorher je eine Anstellung<br />
gehabt zu haben. Wie seine Eltern lebte<br />
er von Sozialhilfe. Es habe viel gebraucht,<br />
bis er sich in die Arbeits- und Tagesstruktur<br />
einfügen konnte und überzeugt davon<br />
war, dass sich Arbeit lohne. «Nicht nur<br />
wegen des Geldes, sondern auch wegen<br />
des Selbstbewusstseins, etwas zu können»,<br />
betont Glanzmann. Heute besetzt der be-<br />
sagte Mann eine Schlüsselfunktion in der<br />
Schinkenproduktion.<br />
Die Frage, woher sein soziales Engagement<br />
komme, scheint Glanzmann fast zu<br />
irritieren. Zu sehr entspricht es schlicht<br />
seiner Grundhaltung: «Ich kann nicht einfach<br />
über die gesellschaftlichen Probleme<br />
hinwegsehen», sagt er und führt aus: «An<br />
unserem Erfolg waren immer auch viele<br />
flinke Hände beteiligt. Da will man der<br />
Gesellschaft auch etwas zurückgeben.» Für<br />
Glanzmann ist aber wichtig, festzuhalten:<br />
«Auch wenn wir eine soziale Ader haben,<br />
sind wir keine Sozialinstitution.» Längerfristig<br />
wird nur beschäftigt, wer die entsprechende<br />
Leistung bringt. Zudem könne<br />
weder die Betreuung noch das finanzielle<br />
Risiko während der Einarbeitungszeit von<br />
einem Betrieb alleine getragen werden. Die<br />
Kooperation mit dem Sozialamt und anderen<br />
Stellen sei deswegen entscheidend.<br />
Darüber hinaus bringt Glanzmanns Personalpolitik<br />
manchmal auch geschäftliche<br />
Vorteile. «Mit einigen Kunden sind wir<br />
sicher schneller ins Geschäft gekommen,<br />
weil sie unsere sozialen Anliegen unterstützen<br />
wollten», sagt Glanzmann. Unumwunden<br />
gibt er zu: «Es ist durchaus auch ein<br />
Marketinginstrument.» Da spricht wieder<br />
<strong>ganz</strong> der Unternehmer. Aber einer, für den<br />
Unternehmertum und soziale Verantwortung<br />
kein Widerspruch sind. •<br />
Regine Gerber<br />
36 ZeSo 4/13 porträt
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Kontakt und Information<br />
weiterbildung.sozialearbeit@fhnw.ch | T +41 (0)848 821 011 | www.fhnw.ch/sozialearbeit/weiterbildung<br />
Fachhochschule Nordwestschweiz | Hochschule für Soziale Arbeit | Riggenbachstr. 16 | 4600 Olten
Neue Impulse!<br />
Durch<br />
blick<br />
Tagung Gesundheit und Armut –<br />
Ungleich gesund<br />
Gesundheit und Armut stehen<br />
in vielfältigen ursächlichen<br />
Zusammenhängen. Die Tagung<br />
vernetzt Fachleute und fördert<br />
den Austausch zwischen Praxis,<br />
Wissenschaft und Politik.<br />
Trägerschaft: Bundesamt für<br />
Gesundheit, Caritas, Schweizerisches<br />
Rotes Kreuz, Stadt Bern<br />
Freitag, 9. Mai 2014 in Bern<br />
Web-Code: T-SOZ-9<br />
soziale-arbeit.bfh.ch<br />
CAS Kindesschutz –<br />
Start 2014<br />
Der Studiengang befähigt Sie,<br />
das Kindeswohl nach psychosozialen<br />
Aspekten zu erfassen,<br />
Gefährdungen kompetent<br />
einzuschätzen, Unterstützungsprozesse<br />
und Interventionen zu<br />
gestalten – und Kinder dabei<br />
angemessen zu beteiligen.<br />
September 2014 – August 2015<br />
in Bern.<br />
Web-Code: C-KIS-1<br />
Tagung Gesundheit und Armut:<br />
Freitag, 9. Mai 2014 in Bern<br />
‣ Soziale Arbeit<br />
131023_Inserat_Zeso_4_<strong>2013</strong>.indd 1 07.11.<strong>2013</strong> 11:45:06<br />
Weiterdenken? Weiterbilden!<br />
Inspiration aus unserem Weiterbildungsprogramm:<br />
MASTER OF ADVANCED STUDIES (MAS)<br />
MAS in Management of Social Services<br />
Der MAS besteht aus drei Zertifikatslehrgängen<br />
(CAS), die auch einzeln besucht werden können:<br />
• CAS Sozialpolitik, 24. April 2014<br />
• CAS Sozialmanagement, Oktober 2014<br />
• CAS Führung im Kontext des psychosozialen<br />
Bereichs, April 2015<br />
MAS in Social Informatics<br />
Der MAS besteht aus drei Zertifikatslehrgängen<br />
(CAS), die auch einzeln oder in Modulen als Seminare<br />
besucht werden können:<br />
• CAS Medienpädagogik, April 2014<br />
• CAS Online Services, März 2015<br />
• CAS Informatik-Projektleitung, auf Anfrage<br />
CERTIFICATE OF ADVANCED STUDIES (CAS)<br />
• Case Management als Sozialversicherungsauftrag,<br />
20. Februar 2014<br />
• Soziale Arbeit mit gesetzlichem Auftrag,<br />
27. März 2014<br />
• Schulsozialarbeit, 2. Mai 2014<br />
• CAS Beratungs-Training, September 2014<br />
• CAS Sozialpädagogische Familienbegleitung,<br />
September 2014<br />
SEMINARE<br />
• Kindesrecht, 16. Januar 2014<br />
• Querdenken, Herbst 2014<br />
• Elternaktivierung, Herbst/Winter 2014<br />
• Erwachsenenschutzrecht, auf Anfrage<br />
• Trainingswerkstatt Konfliktvermittlung, auf<br />
Anfrage<br />
Details zu diesen und weiteren Angeboten unter www.fhsg.ch/weiterbildung<br />
FHS St.Gallen, Weiterbildungszentrum WBZ-FHS, Rosenbergstrasse 59, 9000 St.Gallen<br />
+41 71 226 12 50, weiterbildung@fhsg.ch<br />
FHO Fachhochschule Ostschweiz www.fhsg.ch