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ZESO_4-2013_ganz

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SKOS CSIAS COSAS<br />

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />

Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />

Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />

Conferenza svizra da l’agid sozial<br />

ZeSo<br />

Zeitschrift für Sozialhilfe<br />

04/13<br />

junge erwachsene zunehmende belastung für die sozialhilfe<br />

Grossraumbüro Herausforderungen gut gemeistert sozialversicherungen<br />

Gabriela Riemer-Kafka erklärt im zeso-Interview, weshalb eine reform nötig ist


SKOS CSIAS COSAS<br />

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />

Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />

Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />

Conferenza svizra da l’agid sozial<br />

Nationale Tagung<br />

Grundrechte<br />

Leitplanke für die Praxis<br />

Mittwoch, 19. März 2014, Kongresshaus Biel<br />

Die Sozialhilfegesetzgebung lässt viel Raum für Interpretation und Ermessen. Ein vertiefter Blick auf das<br />

Rechtssystem lohnt sich. Die Tagung nimmt die von der Verfassung garantierten sozialen Grundrechte<br />

und deren Bedeutung für die Praxis der Sozialen Arbeit unter die Lupe und analysiert, in wie weit<br />

Grundrechte eine Orientierungshilfe bieten und wo sie durch höhere Auflagen allenfalls erschwerend<br />

wirken.<br />

Die Studie «Grund- und Menschenrechte in der Sozialhilfe» hat häufige Dilemmasituationen bezüglich<br />

der Einhaltung der Grundrechte in der Praxis der Sozialen Arbeit identifiziert und präsentiert<br />

Lösungsansätze. Diese Lösungsansätze und die Erfahrungen der Teilnehmenden werden im Rahmen der<br />

Workshops gemeinsam mit Expertinnen und Experten diskutiert.<br />

Programm und Anmeldung: www.skos.ch Veranstaltungen<br />

SKOS CSIAS COSAS<br />

Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe<br />

Conférence suisse des institutions d’action sociale<br />

Conferenza svizzera delle istituzioni dell’azione sociale<br />

Conferenza svizra da l’agid sozial<br />

<strong>ZESO</strong>-Spezialpreise<br />

Sie möchten die <strong>ZESO</strong> lesen – aber wo ist sie bloss?<br />

Dieses Problem stellt sich grösseren Sozialdiensten und Institutionen <strong>ganz</strong> besonders – weil eine <strong>ZESO</strong><br />

für eine <strong>ganz</strong>e Abteilung kaum ausreicht. Die SKOS bietet ihren Mitgliedern deshalb verschiedene Kategorien<br />

von Abonnementen an. Profitieren Sie jetzt davon! So haben Ihre Mitarbeitenden jederzeit Zugang zu<br />

einer aktuellen Ausgabe der <strong>ZESO</strong> – und bleiben damit am Ball.<br />

Jahresabonnement SKOS-Mitglieder:<br />

Jahresabonnement Nichtmitglieder:<br />

69 Franken<br />

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2 bis 5 Exemplare: 15 Prozent Rabatt<br />

6 bis 10 Exemplare: 20 Prozent Rabatt<br />

ab 11 Exemplaren: 25 Prozent Rabatt<br />

Weitere Infos und Bestellung: www.skos.ch / admin@skos.ch


Michael Fritschi<br />

Verantwortlicher Redaktor<br />

baustellen<br />

Die meisten Jugendlichen schaffen den Übergang ins<br />

Erwerbsleben problemlos. Einige benötigen eine von der<br />

Gesellschaft bereitgestellte Unterstützung und nehmen<br />

diese dankbar in Anspruch. Eine kleine Gruppe hingegen<br />

schafft den Übergang nicht und kommt mit der Sozialhilfe in<br />

Kontakt. Das war eigentlich schon immer so. Nur haben sich<br />

die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen, in<br />

die die Jugendlichen heute hineinwachsen, verändert. Die<br />

Zahl der jungen erwachsenen Personen in der Sozialhilfe<br />

nimmt tendenziell zu. Gestiegen ist auch die mediale Beobachtung,<br />

die dieser Gruppe zuteil wird. Auch das ist an sich<br />

kein neues Phänomen. Jugendliche und junge Erwachsene<br />

stehen periodisch im Brennpunkt der gesellschaftlichen<br />

Aufmerksamkeit.<br />

Der aktuelle Schwerpunkt beleuchtet die Herausforderungen<br />

im Umgang mit jungen Erwachsenen, die gefährdet sind,<br />

von der Sozialhilfe abhängig zu werden. Und er zeigt das<br />

Engagement von Sozialdiensten und anderen Stellen, die<br />

bemüht sind, diesen jungen Erwachsenen zu einer zukunftstauglichen<br />

Perspektive zu verhelfen (S. 14-25).<br />

Das Schweizer Sozialversicherungssystem ist fragmentiert<br />

und kompliziert und der Zugang zu Unterstützung und Leistungen<br />

ist für die Versicherten unübersichtlich geworden. Im<br />

<strong>ZESO</strong>-Interview spricht die Sozialversicherungsexpertin<br />

Gabriela Riemer-Kafka über ihr Projekt, die Komplexität<br />

dieses Systems schrittweise zu reduzieren (S. 10-13).<br />

Vor einem schon sehr konkreten Umbau stehen die Sozialen<br />

Dienste der Stadt Winterthur. Der Umzug in Grossraumbüros<br />

bedeutet für viele Mitarbeitende eine grosse Veränderung in<br />

der gewohnten Arbeitsweise. Unter Mitwirkung der Betroffenen<br />

ist ein neues Arbeitsplatzmodell entstanden (S. 30-31).<br />

Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.<br />

editorial 4/13 ZeSo<br />

1


SCHWERPUNKT14–25<br />

Junge erwachsene<br />

Die gesellschaftlichen Bedingungen für den<br />

Aufbau einer selbständigen und verantwortungsbewussten<br />

Erwachsenenexistenz sind schwieriger<br />

geworden. Jugendliche, die den Übergang Schule-<br />

Ausbildung-Arbeitswelt nicht aus eigener Kraft<br />

bewerkstelligen können, werden mit Hilfestellungen<br />

wie dem Case Management Berufsbildung<br />

oder Mentoring-Projekten unterstützt. Trotzdem<br />

kommen junge Erwachsene in Kontakt mit der<br />

Sozialhilfe und bekunden Mühe, sich wieder<br />

abzulösen.<br />

<strong>ZESO</strong> zeitschrift für sozialhilfe<br />

Herausgeberin Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS,<br />

www.skos.ch Redaktionsadresse Redaktion <strong>ZESO</strong>, SKOS,<br />

Monbijoustrasse 22, Postfach, CH-3000 Bern 14, zeso@skos.ch,<br />

Tel. 031 326 19 19 Redaktion Michael Fritschi Redaktionelle<br />

begleitung Dorothee Guggisberg Autorinnen und Autoren<br />

in dieser Ausgabe Catherine Arber, Monika Bachmann, Barbara<br />

Beringer, Dominique Dorthe, Heinrich Dubacher, Miryam Eser<br />

Davolio, Regine Gerber, Andreas Hammon, Matthias Kuert, Peter<br />

Mösch Payot, Johannes Muntwyler, Dorothee Schaffner, Daniela<br />

Tschudi Titelbild Rudolf Steiner layout mbdesign Zürich,<br />

Marco Bernet Korrektorat Karin Meier Druck und Aboverwaltung<br />

Rub Media AG, Postfach, 3001 Bern, zeso@rubmedia.ch,<br />

Tel. 031 740 97 86 preise Jahresabonnement Inland CHF 82.–<br />

(für SKOS-Mitglieder CHF 69.–), Abonnement ausland CHF 120.–,<br />

Einzelnummer CHF 25.–.<br />

© SKOS. Nachdruck nur mit Genehmigung der Herausgeberin.<br />

Die <strong>ZESO</strong> erscheint viermal jährlich.<br />

ISSN 1422-0636 / 110. Jahrgang<br />

Bild: Keystone<br />

Erscheinungsdatum: 2. Dezember <strong>2013</strong><br />

Die nächste Ausgabe erscheint im März 2014.<br />

2 ZeSo 4/13 inhalt


INHALT<br />

5 Die Eindämmung der Altersarmut<br />

nicht gefährden. Kommentar von<br />

Matthias Kuert, Travailsuisse<br />

6 13 Fragen an Johannes Muntwyler<br />

8 Praxis: Wie lange wird bei einem Auslandsaufenthalt<br />

Sozialhilfe bezahlt?<br />

9 Recht: Das Bundesgericht bestätigt<br />

die Pflicht, eine zumutbare Arbeit<br />

anzunehmen<br />

10 «Es ist eine Raison d’être der Sozialversicherung,<br />

dass sie die Sozialhilfe<br />

entlastet»: Interview mit Gabriela<br />

Riemer-Kafka<br />

14 SCHWERPUNKT:<br />

junge erwachsene<br />

16 Der Übergang in die Erwerbsarbeit<br />

fordert erhöhte Bewältigungsleistungen<br />

19 Belastende familiäre Situation,<br />

psychische Probleme oder im<br />

Konflikt mit dem Gesetz<br />

21 «Ich stand da – ohne Lehrstelle und<br />

ohne Wohnung»<br />

22 Viel Zeit und Energie für unsichere<br />

Erfolgsaussichten<br />

24 Die Validierung von Kompetenzen<br />

stärkt das Selbstvertrauen<br />

Der zirkusdirektor<br />

Die renoviererin<br />

gelebte partizipation<br />

Johannes Muntwyler leitet seit 2005 den<br />

von seiner Familie gegründeten Circus<br />

Monti, mit dem er jedes Jahr während acht<br />

Monaten durch die Deutschschweiz tourt.<br />

<strong>2013</strong> hat er als erster Zirkus überhaupt<br />

den Innovationspreis der Schweizer<br />

Kleinkunstszene (KTV) erhalten.<br />

6<br />

Gabriela Riemer-Kafka hat das Schweizer<br />

Sozialversicherungssystem umfassend<br />

analysiert und wird in nächster Zeit<br />

Vorschläge für eine Strukturreform<br />

präsentieren. Im Gespräch erläutert sie<br />

ihre Beweggründe und wo sie dringenden<br />

Handlungsbedarf sieht.<br />

10<br />

Der Umzug der Sozialen Dienste der Stadt<br />

Winterthur in Grossraumbüros stellt Planer<br />

und Mitarbeitende vor grosse räumliche<br />

und betriebliche Herausforderungen.<br />

In Workshops wurden die Bedürfnisse<br />

überprüft und die Innenarchitektur des<br />

Gebäudes darauf ausgerichtet.<br />

26 Strategien gegen schwierige<br />

Situationen der Zusammenarbeit<br />

28 «Jetzt müssen wir uns neu<br />

erfinden»: Sozialarbeit im<br />

Grossraumbüro<br />

30 Reportage: Aus dem Trott herausfinden<br />

und das Lächeln zurückgewinnen<br />

32 Plattform: Sozialinfo.ch verbreitet<br />

Informationen und Fachwissen<br />

34 Lesetipps und Veranstaltungen<br />

36 Porträt: Metzger Peter Glanzmann<br />

stellt auch Langzeitarbeitslose an<br />

zeigen, was man kann<br />

28<br />

Für die Kundschaft ist Nestor Services<br />

ein normaler Cateringdienstleister. Für die<br />

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist Nestor<br />

mehr als das: eine soziale Einrichtung, die<br />

Erwerbslosen und Sozialhilfebeziehenden<br />

bezahlte Arbeitseinsätze in der<br />

Gastronomie ermöglicht.<br />

30<br />

inhalt 4/13 ZeSo<br />

3


NACHRICHTEN<br />

SKOS lehnt Besteuerung<br />

von Sozialhilfe ab<br />

Wer Sozialhilfe bezieht, muss diese Leistungen<br />

nicht versteuern. Zurückgehend auf eine<br />

Standesinitiative des Kantons Bern lässt<br />

der Bundesrat derzeit prüfen, welche Auswirkungen<br />

eine künftige Besteuerung von<br />

Sozialhilfeleistungen hätte. Die SKOS lehnt<br />

die Besteuerung von Sozialhilfeleistungen<br />

ab, weil sie ein administrativ aufwändiges<br />

Nullsummenspiel nach sich zieht, die Steuergerechtigkeit<br />

verletzt und die Sozialhilfe<br />

und armutsbetroffene Haushalte vor grosse<br />

Probleme stellt. Damit einkommensschwache<br />

Haushalte nicht schlechter gestellt sind<br />

als Haushalte in der Sozialhilfe, spricht sie<br />

sich stattdessen für die Steuerbefreiung<br />

des sozialen Existenzminimums aus. Der<br />

Bericht des Bundesrats wird bis spätestens<br />

Ende Januar 2014 erwartet.<br />

www.skos.ch Stellungnahmen<br />

Mehr über 50-jährige<br />

Sozialhilfebeziehende<br />

Die Städteinitiative Sozialpolitik hat aktuelle<br />

Zahlen zur Sozialhilfe veröffentlicht: Die 13<br />

untersuchten Städte verzeichneten im Jahr<br />

2012 im Durchschnitt 2,5 Prozent mehr Sozialhilfefälle.<br />

Die Sozialhilfequote blieb aufgrund<br />

des Bevölkerungswachstums stabil.<br />

Zugenommen hat der Anteil von Personen<br />

zwischen 50 und 64 Jahren in der Sozialhilfe.<br />

Für diese Altersgruppe hat sich einerseits<br />

der Zugang zum Arbeitsmarkt erschwert, andererseits<br />

sind die Zugangskriterien zu den<br />

Sozialversicherungen restriktiver geworden.<br />

Die Lücke, die entsteht, muss zunehmend<br />

die Sozialhilfe decken und stellt diese vor<br />

grosse Herausforderungen.<br />

www.staedteinitiative.ch Kennzahlen<br />

IIZ: Einverständnis<br />

genügt für Datenaustausch<br />

Die interinstitutionelle Zusammenarbeit<br />

(IIZ) setzt einen geregelten Datenaustausch<br />

voraus. Im Auftrag der nationalen IIZ-<br />

Gremien wurde ein Rechtsgutachten zum<br />

Thema Datenschutz und Datenaustausch in<br />

der IIZ erarbeitet, das in einer Übersicht die<br />

rechtlichen Grundlagen für den Datenaustausch<br />

zwischen den Institutionen darstellt.<br />

Das Gutachten kommt zum Schluss, dass<br />

eine rechtlich gültige Einverständniserklärung<br />

der betroffenen Person ausreicht, den<br />

Datenaustausch zu bewilligen und fehlende<br />

Gesetzesgrundlagen zu ersetzen.<br />

www.iiz.ch<br />

Walter Schmid anlässlich der SKOS-Mitgliederversammlung 2012. <br />

SKOS-Präsident Walter Schmid tritt zurück<br />

Walter Schmid tritt auf das kommende<br />

Frühjahr als Präsident der SKOS zurück.<br />

Er wurde 1999 von der Mitgliederversammlung<br />

als Präsident gewählt und wurde<br />

seither viermal im Amt bestätigt. Die<br />

Aufgabe habe ihm viel Freude gemacht<br />

und ihm die einmalige Chance gegeben,<br />

sich in der Sozialpolitik zu engagieren, betont<br />

Schmid in seinem Rücktrittsschreiben.<br />

«Es war mir ein Anliegen, die Sozialhilfe<br />

im Interesse der Armutsbetroffenen und<br />

unserer Gesellschaft als tragfähiges, wirksames<br />

und faires soziales Sicherungssystem<br />

zu erhalten und weiterzuentwickeln.» Nach<br />

fünfzehn Jahren gibt er im Vorfeld der<br />

nächsten Mitgliederversammlung sein zeitintensives<br />

Ehrenamt ab. Die Geschäftsleitung<br />

der SKOS hat mit Bedauern vom<br />

Rücktritt Kenntnis genommen und dankt<br />

Walter Schmid für sein ausserordentliches,<br />

langjähriges Engagement. Die nötigen Vorbereitungen<br />

für eine Nachfolgeregelung<br />

wurden bereits getroffen und eine Findungskommission<br />

eingesetzt. •<br />

<br />

Sozialhilfe und die SKOS-Richtlinien<br />

im Fokus politischer Diskussionen<br />

In den letzten Monaten hat auf kantonaler<br />

wie auch auf kommunaler Ebene eine intensive<br />

politische Diskussion um die Sozialhilfe<br />

und die SKOS-Richtlinien stattgefunden.<br />

Die Kantone Aargau, Luzern und<br />

Zug haben Postulate abgelehnt, die den<br />

Austritt aus der SKOS forderten. Die drei<br />

Kantonsregierungen erachten es als sinnvoll,<br />

die SKOS-Richtlinien weiterhin anzuwenden.<br />

Sie seien ein bewährtes und zentrales<br />

Arbeitsinstrument der Sozialdienste<br />

und Sozialbehörden. Auf kommunaler<br />

Ebene haben der Zürcher und der Luzerner<br />

Stadtrat ein Zeichen gesetzt, indem sie<br />

Motionen abgelehnt haben, die ebenfalls<br />

den SKOS-Austritt verlangten. Die SKOS<br />

begrüsst diese Entscheide als Bekenntnis<br />

zu einer schweizweit abgestimmten Sozialhilfe.<br />

Mit Bedauern nimmt die SKOS hin-<br />

Bild: Daniel Desborough<br />

gegen den Entscheid des Grossen Rats des<br />

Kantons Bern zur Kenntnis, der in der Septembersession<br />

eine integrale Kürzung der<br />

Sozialhilfeleistungen um zehn Prozent beschlossen<br />

hat. Dies wird auch Einschnitte<br />

beim Grundbedarf zur Folge haben. Die<br />

Kürzung der Sozialhilfeleistungen trifft in<br />

erster Linie die Armutsbetroffenen – das<br />

sind hauptsächlich Kinder und Jugendliche,<br />

alleinerziehende Frauen und Working<br />

Poor. Die Beschränkung ihrer Lebens- und<br />

Integrationsmöglichkeiten drängt sie weiter<br />

an den Rand der Gesellschaft.<br />

Die SKOS betrachtet die kontinuierliche<br />

inhaltliche und strategische Weiterentwicklung<br />

der Richtlinien als Kernaufgabe des<br />

Verbands. Im Rahmen der Weiterentwicklung<br />

wird die SKOS auch die Auswirkungen<br />

des Berner Entscheids diskutieren. •<br />

4 ZeSo 4/13 aktuell


KOMMENTAR<br />

Die Eindämmung der Altersarmut nicht gefährden<br />

Bei der Reform «Altersvorsorge 2020» des<br />

Bundesrats gilt es, die grösste Errungenschaft<br />

der Sozialpolitik zu verteidigen:<br />

Die Eindämmung der Altersarmut. Die<br />

AHV-Rente reicht heute zwar nicht, um die<br />

Existenz zu sichern. Es ist aber gelungen,<br />

den Anteil der Bezügerinnen und Bezüger<br />

von Ergänzungsleistungen (EL) bei rund<br />

12 Prozent zu stabilisieren. Die EL könnten<br />

aber demografie- und ausgabenbedingt<br />

und aufgrund des dadurch steigenden<br />

Pflegebedarfs unter Druck kommen. Auch<br />

herrscht, wie bei allen Bedarfsleistungen,<br />

zunehmend eine Misstrauenskultur. Es ist<br />

darum mehr denn je Aufgabe der Vorsorge,<br />

der Altersarmut vorzubeugen.<br />

Damit dies gelingt, muss die Teilzeitarbeit<br />

besser abgesichert werden.<br />

Mit den Erziehungs- und Betreuungsgutschriften<br />

der AHV konnte zwar<br />

eine bessere Absicherung der Erziehungs-<br />

und Betreuungsarbeit erreicht<br />

werden. Vernachlässigt wurde aber,<br />

dass daneben oft Teilzeitarbeit verrichtet<br />

wird. Durch die vergleichsweise hohe<br />

Eintrittsschwelle – Einkommen unter rund<br />

21 000 sind gesetzlich nicht versichert<br />

– und dem Koordinationsabzug von rund<br />

25 000 Franken haben Teilzeitarbeitende oft<br />

nur einen kleinen oder gar keinen versicherten<br />

Lohn. Die Quittung sind zu tiefe<br />

Rentenleistungen, von denen in erster Linie<br />

Frauen betroffen sind. Um diese Lücke zu<br />

schliessen, braucht es eine Senkung der<br />

Eintrittsschwelle in die AHV sowie einen<br />

zum Einkommen proportionalen Koordinationsabzug.<br />

Auch ältere Arbeitslose müssen besser<br />

abgesichert werden. Sie finden nur schwerlich<br />

noch neue Stellen. Wer keinen Job<br />

findet, hat bald auch keine Pensionskasse<br />

mehr, die später eine Rente auszahlen<br />

könnte. Wenn die verbleibende einmalige<br />

und bescheidene Kapitalauszahlung aufgebraucht<br />

ist, wird‘s eng. Dass die Auffangeinrichtung<br />

BVG deshalb neu die Aufgabe<br />

übernehmen soll, das Vorsorgekapital<br />

älterer Arbeitsloser entgegenzunehmen<br />

und in eine Rente umzuwandeln, ist<br />

deshalb zu begrüssen.<br />

Bei der flexiblen Pensionierung geht der<br />

Vorschlag des Bundesrats hingegen<br />

zu wenig weit. Dass sich Personen mit<br />

bescheidenen Einkommen keine Frühpensionierung<br />

leisten können, und dies<br />

auch so bleibt, wenn sie gesundheitlich<br />

angeschlagen sind und ihre Arbeit kaum<br />

bis 65 durchhalten können, widerspricht<br />

dem Ziel der Eindämmung der Altersarmut<br />

und trifft viele hart. Der vorliegende Vorschlag<br />

benachteiligt namentlich viele, zu<br />

tiefen Einkommen arbeitende Migrantinnen<br />

und Migranten. Das ist umso ungerechter,<br />

als diese bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland<br />

nicht EL-berechtigt sind. Die<br />

Ausgleichsmassnahmen für Frühpensionierungen<br />

müssen deshalb für alle tiefen<br />

Einkommen gelten.<br />

Matthias Kuert<br />

Leiter Sozialpolitik<br />

Travailsuisse<br />

aktuell 4/13 ZeSo<br />

5


13 Fragen an Johannes Muntwyler<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

Sind Sie eher arm oder eher reich?<br />

Ich denke irgendwo dazwischen. Wir haben genug,<br />

um vernünftig zu leben, aber zu wenig, um<br />

abzuheben. Und das ist gut so.<br />

Was empfinden Sie als besonders ungerecht?<br />

Ich ertrage es je länger je weniger, wenn irgendwo<br />

auf der Welt ein Unrecht oder eine Katastrophe geschieht<br />

und sämtliche Staaten aus politischen und<br />

wirtschaftlichen Gründen tatenlos zusehen oder im<br />

besten Falle teure diplomatische Gespräche führen,<br />

die den betroffenen Menschen auch nicht wirklich<br />

helfen.<br />

Glauben Sie an die Chancengleichheit?<br />

Ich bin überzeugt, dass dies keine Glaubensfrage<br />

ist. Es ist offensichtlich, dass es nicht so ist. Vieles<br />

hängt davon ab, wo ein Mensch geboren wird und<br />

wie er von seinem Umfeld gefördert und umsorgt<br />

wird. Der Spruch «jeder ist seines Glückes Schmied»<br />

wirkt für mich daher oft auch zynisch.<br />

Was bewirken Sie mit Ihrer Arbeit?<br />

Ich bemühe mich, mit den uns zur Verfügung stehenden<br />

Möglichkeiten möglichst vielen Menschen<br />

eine Freude zu machen. Ich bin mir aber bewusst,<br />

dass sich die Welt auch ohne den Circus Monti drehen<br />

würde. Nur wäre die Erde dann wohl um einen<br />

kleinen Farbtupfer ärmer.<br />

Für welches Ereignis oder für welche Begegnung würden<br />

Sie ans andere Ende der Welt reisen?<br />

Wenn mein verstorbener Vater für eine kurze Zeit<br />

zurückkommen und mir erzählen könnte, wie es<br />

nach dem Tod weitergeht. Und um ihm zu erzählen<br />

und zu zeigen, was aus dem Circus Monti geworden<br />

ist. Zudem ist es ein Traum von mir, mit dem Circus<br />

Monti einmal in Wien auf dem Platz direkt vor dem<br />

Rathaus zu gastieren. Wenn ich also den Wiener Bürgermeister<br />

treffen könnte, um einen Vertrag für ein<br />

Gastspiel zu unterschreiben, würde ich gerne eine<br />

sehr lange Reise auf mich nehmen.<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

Wenn Sie in der Schweiz drei Dinge verändern könnten,<br />

welche wären das?<br />

Erstens: Die Bürokratie um einige Jahre zurückfahren.<br />

Mit dem Circus Monti in der Schweiz unterwegs<br />

zu sein, wird wegen zusätzlichen administrativen<br />

Arbeiten und neuen Bestimmungen und<br />

Auflagen immer aufwändiger und komplizierter.<br />

Zweitens: Sämtliche Sparmassnahmen bezüglich<br />

Bildung ausser Kraft setzen. Bildung ist DAS Kapital<br />

der Schweiz und daher eine der wichtigsten Investitionen<br />

in die Zukunft des Landes. Drittens: Ein<br />

Gesetz einführen, das jedem Einwohner unseres<br />

Landes die Möglichkeit gibt, sich für sein Recht zu<br />

wehren, ohne dass ihm bereits im Vorfeld mit möglichen<br />

Kosten gedroht wird. Es darf nicht sein, dass<br />

«Recht bekommen» oft von den finanziellen Mitteln<br />

abhängt.<br />

Können Sie gut verlieren, und woran merkt man das?<br />

Beim Spielen will ich zwar lieber gewinnen, bin<br />

aber ein friedlicher Verlierer. In Bezug auf den Circus<br />

will ich immer gewinnen. Als Unternehmer soll dies<br />

auch so sein. «Verliere» ich da aus meiner Sicht<br />

unrechtmässig, stehe ich für mein Recht ein und<br />

wehre mich – wenn es sein muss auch unabhängig<br />

von möglichen Kosten.<br />

Bügeln Sie Ihre Hemden selbst?<br />

In unserem Haushalt wird sehr selten gebügelt.<br />

Meine Kostümhemden werden – wie alle andern<br />

Vorstellungskostüme auch – von einer Kostümschneiderin<br />

gepflegt. Meine privaten Hemden bügeln<br />

entweder meine Partnerin oder ich. Generell<br />

teilen wir uns die Hausarbeit.<br />

Was bedeutet Ihnen Solidarität?<br />

Solidarität ist sowohl ein Recht wie auch eine<br />

Pflicht jedes Menschen. Leider geht in der heutigen<br />

hektischen Zeit die Solidarität oft verloren. Ich ertappe<br />

mich selber auch immer wieder dabei. Ohne Solidarität<br />

geht es nicht und die Welt geht irgendwann<br />

zu Grunde.<br />

Haben Sie eine persönliche Vision?<br />

Für mich persönlich wünsche ich mir, dass ich in<br />

naher Zukunft mein tägliches Arbeitspensum auf<br />

ein vernünftiges Level zurückschrauben kann und<br />

mir somit mehr Zeit für Visionäres bleibt. Für die<br />

Menschheit wünsche ich mir eine Welt ohne Gewalt<br />

und Ungerechtigkeiten. Eine Welt, in der alle unter<br />

menschenwürdigen Bedingungen leben können.<br />

6 ZeSo 4/13 13 fragen an


Johannes Muntwyler<br />

Bild: Pia Neuenschwander<br />

Johannes Muntwyler (49) ist seit 2005 Direktor des 1985 von seiner<br />

Familie gegründeten Circus Monti. Der Zirkus tourt jedes Jahr während acht<br />

Monaten durch die Deutschschweiz. <strong>2013</strong> hat er als erster Zirkus überhaupt<br />

den Innovationspreis der Schweizer Kleinkunstszene (KTV) erhalten. Das<br />

Zirkus-Chapiteau bietet Platz für rund 800 Zuschauer. Während der Tournée<br />

arbeiten 60 Personen für den Zirkus, davon sind zirka 20 Personen Artisten<br />

und Musiker. Johannes Muntwyler ist Vater von drei Söhnen. In der Wintersaison<br />

lebt er in Wohlen AG.<br />

11<br />

12<br />

13<br />

Welcher Begriff ist für Sie ein Reizwort?<br />

Suisa. Die Urheberrechte der Komponisten zu<br />

schützen, finde ich eigentlich begrüssenswert. Dies<br />

geschieht bei der Suisa aber leider in erster Linie aus<br />

Eigeninteresse. Da wir jedes Jahr speziell für das<br />

aktuelle Programm Musik von einem Komponisten<br />

schreiben lassen, kommen wir mit deren Machenschaften<br />

regelmässig in direkten Kontakt: Eigene finanzielle<br />

Interessen werden weit vor die Interessen<br />

der Komponisten gestellt. In meinen Augen haben<br />

wir hier einen Fall von modernem Raubrittertum.<br />

Gibt es Dinge, die Ihnen den Schlaf rauben?<br />

Ich habe zum Glück ein Urvertrauen, dass immer<br />

alles irgendwie gut kommt. Ansonsten könnte ich<br />

mit einem derart lebendigen Unternehmen wohl<br />

kaum gut schlafen. Somit kann ich sagen, dass es<br />

zwar solche Dinge gibt, ich aber trotzdem bestens<br />

schlafen kann.<br />

Mit wem möchten Sie gerne per Du sein?<br />

Nur mit möglichst vielen Menschen per Du zu<br />

sein, ist nicht mein Ziel. Mir sind gute ehrliche<br />

Freundschaften viel wichtiger. Es ist für mich aber<br />

immer wieder faszinierend, wenn Persönlichkeiten<br />

aus dem öffentlichen Leben, die ich immer bewundert<br />

habe, plötzlich bei uns im Zelt sitzen und unsere<br />

Vorstellung geniessen.<br />

13 fragen an 4/13 ZeSo<br />

7


Wie lange muss die Sozialhilfe bei<br />

einem Auslandsaufenthalt bezahlen?<br />

Eine unterstützte Frau will für vier Monate im Ausland die Pflege ihrer schwer kranken Mutter<br />

übernehmen. Grundsätzlich stehen ihr aber nur vier Wochen Auslandsaufenthalt zu, ohne dass sie<br />

ihren Sozialhilfeanspruch verliert.<br />

Frage<br />

Frau Belucci, eine alleinerziehende Mutter<br />

mit einem 14 Monate alten Kind, informiert<br />

den Sozialdienst, dass sie sich während<br />

der nächsten vier Monate im Ausland<br />

aufhalten wird, weil ihre Mutter schwer<br />

krank sei. Als einzige Tochter werde von ihr<br />

erwartet, dass sie sich um die Pflege kümmere.<br />

Muss die Gemeinde das akzeptieren<br />

oder kann sie die Leistungen einstellen?<br />

Grundlagen<br />

Ein vorübergehender Auslandsaufenthalt<br />

verändert oder unterbricht den Unterstützungswohnsitz<br />

nicht und führt nicht automatisch<br />

zu einem Verlust des Anspruchs<br />

auf wirtschaftliche Sozialhilfe. Hält sich eine<br />

unterstützte Person vorübergehend im<br />

Ausland auf, hat sie also grundsätzlich Anspruch<br />

auf Fortführung der Unterstützung,<br />

sofern sie ihren Wohnsitz nicht aufgibt<br />

und sich nicht einer Erwerbstätigkeit<br />

oder einer Sozialhilfemassnahme entzieht<br />

(vgl. Urteil des Aargauer Verwaltungsgerichts<br />

WBE.2007.254 vom 20. Februar<br />

2008 und Urteil des Berner Verwaltungsgerichts<br />

21279U vom 27. Mai 2002).<br />

Sozialhilfebeziehende sind allerdings<br />

verpflichtet, Änderungen in ihren persönlichen<br />

Verhältnissen zu melden, soweit sie<br />

budgetrelevant sind. Längere Ortsabwesenheiten<br />

können budgetrelevant sein, da<br />

trotz Pauschalisierung des Grundbedarfs<br />

PRAXIS<br />

In dieser Rubrik werden exemplarische Fragen aus<br />

der Sozialhilfe praxis an die «SKOS-Line» publiziert<br />

und beantwortet. Die «SKOS-Line» ist ein webbasiertes<br />

Beratungsangebot für SKOS-Mitglieder.<br />

Der Zugang erfolgt über www.skos.ch Intranet<br />

(einloggen) SKOS-Line.<br />

für den Lebensunterhalt das Individualisierungsprinzip<br />

gilt. Das Ausmass der Hilfe<br />

muss dem individuellen und aktuellen<br />

Bedarf der bedürftigen Person Rechnung<br />

tragen. Wenn die materiellen Bedürfnisse<br />

aufgrund ausserordentlicher Umstände<br />

weniger als gewöhnlich kosten, ist es zulässig<br />

und angebracht, den Grundbedarf<br />

anzupassen. Weitere Reduktionen ergeben<br />

sich allenfalls, wenn die Verpflegung<br />

im Ausland unentgeltlich erfolgt. (Zu den<br />

Lebenshaltungskosten im Ausland siehe<br />

www.swissemigration.ch >Dienstleistungen<br />

>Leben im Ausland >Auswandern >Lebenshaltungskosten).<br />

Wenn der Auslandsaufenthalt vorgängig<br />

nicht abgesprochen wurde, ist eine<br />

Kürzung zulässig, sofern die betroffene<br />

Person zuvor über die Meldepflicht und die<br />

Konsequenzen schriftlich informiert wurde.<br />

Eine Kürzung, die sich lediglich auf die<br />

allgemein geltende Meldepflicht abstützt,<br />

wird von den Gerichten unter Umständen<br />

nicht gestützt. Wenn der betroffenen Person<br />

mehr Sozialhilfe ausbezahlt wurde, als<br />

ihr bei rechtzeitiger Information ausgerichtet<br />

worden wäre, kann die Rückerstattung<br />

des unrechtmässigen Bezugs verfügt und<br />

in Raten mit der laufenden Sozialhilfe verrechnet<br />

werden (SKOS-Richtlinien, E.3.2).<br />

Da Personen, die auf Stellensuche<br />

sind oder eine Integrationsmassnahme<br />

absolvieren, nicht besser gestellt werden<br />

sollen als Personen, die regulär arbeiten<br />

oder Arbeitslosentaggeld beziehen, wird<br />

in Anlehnung an die Ferienregelung im<br />

Obligationenrecht ein Auslandsaufenthalt<br />

von maximal vier Wochen pro Jahr als zulässig<br />

erachtet. In Opposition zu einzelnen<br />

Verwaltungsgerichten vertritt die SKOS<br />

die Meinung, dass sich auch Personen,<br />

die aus unterschiedlichen Gründen nicht<br />

verpflichtet sind, eine Stelle zu suchen<br />

oder an einer (Arbeits-)Integrationsmassnahme<br />

teilzunehmen, grundsätzlich nicht<br />

länger im Ausland aufhalten dürfen, ohne<br />

ihren Sozialhilfeanspruch zu verlieren. Der<br />

tatsächliche Aufenthalt in der Schweiz ist<br />

zwar nicht explizite Anspruchsvoraussetzung<br />

für den Sozialhilfebezug. Allerdings<br />

richtet sich die Zuständigkeit für die Unterstützung<br />

nach dem Bundesgesetz über<br />

die Zuständigkeit für die Unterstützung<br />

Bedürftiger (ZUG, SR 851.1), das nur<br />

Geltung für sich in der Schweiz aufhaltende<br />

Personen beansprucht (Art. 1 Abs. 1<br />

ZUG). Auch auf Art. 12 der Bundesverfassung<br />

kann sich nur berufen, wer sich in der<br />

Schweiz aufhält.<br />

Und schliesslich lässt sich das Ziel der<br />

Sozialhilfe, die berufliche und soziale Integration,<br />

bei längeren Auslandsaufenthalten<br />

nur schwer verwirklichen. Die Kantone<br />

beziehungsweise die Gemeinden sind also<br />

nicht zur Unterstützung von Personen im<br />

Ausland verpflichtet (vgl. Botschaft zum<br />

ZUG, Bundesblatt vom 20. Dezember<br />

1976, Bd.3, S.1201).<br />

Antwort<br />

Obwohl die alleinerziehende Mutter aktuell<br />

keine Auflagen zu befolgen hat, die ihre<br />

Anwesenheit zwingend erforderlich machen,<br />

steht ihr grundsätzlich bloss ein Auslandsaufenthalt<br />

von höchstens vier Wochen<br />

pro Jahr zu. Ob die spezielle Familiensituation<br />

eine Ausnahmeregelung rechtfertigt,<br />

hat die Behörde im Einzelfall zu entscheiden.<br />

Während des grundsätzlich zulässigen<br />

vierwöchigen Auslandsaufenthalts ist in der<br />

Regel ordentliche Sozialhilfe auszurichten.<br />

Eine Anpassung an die örtlichen Lebenshaltungskosten<br />

rechtfertigt sich bei ausnahmsweise<br />

zugebilligtem längerem Auslandsaufenthalt<br />

oder bei besonders augenfälligen<br />

Einsparungen.<br />

•<br />

Heinrich Dubacher<br />

Kommission Richtlinien<br />

und Praxishilfen der SKOS<br />

8 ZeSo 4/13 praxis


Bundesgericht bestätigt die Pflicht,<br />

eine zumutbare Arbeit anzunehmen<br />

Das Bundesgericht hält eindeutiger als bisher fest, dass Arbeitsprogramme Vorrang haben, falls mit<br />

der Teilnahme ein Erwerbseinkommen erzielt wird. Es nennt auch die Voraussetzungen, unter denen<br />

die Sozialhilfe bei fehlenden Arbeitsbemühungen eingestellt werden kann.<br />

Ausgangslage<br />

Ein sozialhilfeunterstützter Mann wurde<br />

zu einer Arbeit in einem Testarbeitsplatz<br />

(TAP) verpflichtet. Wegen Arbeitsverweigerung<br />

verfügte der Sozialdienst nach einer<br />

erfolglosen Ermahnung die Einstellung<br />

der wirtschaftlichen Hilfe. Die Beschwerdeinstanz<br />

wies die Beschwerde gegen die<br />

Verfügung ab. Vom Verwaltungsgericht<br />

hingegen wurde die Leistungseinstellung<br />

nur für die Zeit des TAP-Einsatzes bestätigt,<br />

nicht aber darüber hinaus. Mit Beschwerde<br />

ans Bundesgericht beantragte<br />

der Sozialhilfeempfänger, es sei ihm auch<br />

für die zwei Monate des TAP-Programms<br />

wirtschaftliche Sozialhilfe zu gewähren.<br />

Das Bundesgerichtsurteil<br />

Das Bundesgericht bestätigte die Einstellung<br />

der Sozialhilfeleistungen während<br />

der zwei Monate, während denen der Testarbeitsplatz<br />

angeboten wurde. Dies mit<br />

dem Hinweis, dass die Sozialhilfegesetzgebung<br />

wie auch das Grundrecht auf Hilfe in<br />

Notlagen (Art. 12 BV) den Anspruch an die<br />

Voraussetzungen der Notlage und der Subsidiarität<br />

knüpft. Das Urteil hält fest, dass,<br />

wer objektiv in der Lage ist, sich durch die<br />

Aufnahme einer zumutbaren Arbeit aus eigener<br />

Kraft die erforderlichen Mittel selber<br />

zu verschaffen, keinen Anspruch auf Sozialhilfe<br />

oder Nothilfe hat. Es bestätigt, dass<br />

es sich bei der Pflicht, eine zumutbare Arbeit<br />

aufzunehmen, um eine Anspruchsvoraussetzung<br />

für die Sozialhilfe handelt (vgl.<br />

BGE 130 I 71 und BGE 133 V 353 E. 4.2).<br />

Der TAP-Einsatz wurde als verhältnismässig<br />

beurteilt, weil er geeignet und<br />

notwendig ist, die Arbeitsmotivation und<br />

-bereitschaft abzuklären. Andere Massnahmen<br />

zur Abklärung der beruflichen Situation<br />

und aktenkundige Eigenbemühungen<br />

des Beschwerdeführers waren gescheitert,<br />

obwohl beim Betroffenen Hinweise auf<br />

Kompetenzen zur Erwerbsfähigkeit und<br />

keine medizinische Arbeitsunfähigkeit bestanden<br />

haben. Eine Unterforderung des<br />

Beschwerdeführers bei der zu verrichtenden<br />

Tätigkeit darf in einem solchen Fall<br />

hingenommen werden. Eine Schmälerung<br />

der Chancen, eine adäquate Arbeit im<br />

angestammten Beruf als Informatiker zu<br />

finden, war nicht wahrscheinlich, zumal<br />

er im angestammten Beruf schon längere<br />

Zeit nicht mehr erwerbstätig war. Vor allem<br />

aber hätte der TAP-Einsatz dem Beschwerdeführer<br />

ein angemessenes, den Lebensunterhalt<br />

sicherndes Entgelt ermöglicht.<br />

Einsatz am Testarbeitsplatz.<br />

Bild: Keystone<br />

Kommentar<br />

Das Bundesgericht bestätigt den auch in<br />

den SKOS-Richtlinien (A.8.3) verankerten<br />

Grundsatz, dass Sozialhilfe subsidiär gegenüber<br />

der Verwertung der eigenen Arbeitskraft<br />

ist: Wer zumutbare Arbeit verweigert,<br />

hat mit der Einstellung von Sozialhilfe<br />

wegen des Wegfalls der Anspruchsvoraussetzung<br />

der Bedürftigkeit zu rechnen. Damit<br />

erübrigt sich auch die Frage nach einer<br />

sozialhilferechtlichen Sanktionierung oder<br />

nach Rechtsmissbrauch. Entscheidend ist<br />

allerdings, ob die betroffene Person tatsächlich<br />

die Möglichkeit hat, eine andere Hilfsquelle<br />

in Anspruch zu nehmen, und ob die<br />

Inanspruchnahme dieser Hilfsquelle geeignet<br />

ist, die Notlage zu überwinden.<br />

Im vorliegenden Fall war die Einstellung<br />

der Sozialhilfe während der Programmdauer<br />

wenig problematisch, weil<br />

sie mit einem der Sozialhilfe entsprechenden<br />

Lohn entschädigt wurde. So ist<br />

der Betroffene aktuell nicht bedürftig und<br />

kann bei der Teilnahme während zweier<br />

Monate selber für seinen Lebensunterhalt<br />

aufkommen. Das Bundesgericht hält in<br />

seinem Urteil eindeutiger als bisher fest,<br />

dass Arbeitsprogramme Vorrang haben,<br />

falls mit der Teilnahme ein Erwerbseinkommen<br />

erzielt wird (E. 5.3).<br />

Der Praxis ist vor diesem Hintergrund<br />

zu raten, die Abklärungs- und Beschäftigungsprogramme<br />

so auszugestalten, dass<br />

reale und direkte Entgelt- und Lohnzahlungen<br />

erfolgen, die mit der Teilnahme an<br />

den Abklärungs- und Beschäftigungsprogrammen<br />

auch die Existenzsicherung ermöglichen.<br />

In diesem Fall ist der Wegfall<br />

des Anspruchs auf Sozialhilfe bei aktuell<br />

bestehendem, zumutbarem Programmplatz<br />

klar.<br />

•<br />

Peter Mösch Payot<br />

Institut für Sozialarbeit und Recht<br />

Hochschule Luzern<br />

Literatur<br />

Urteil 8C_962/2012 vom 29. Juli <strong>2013</strong>.<br />

www.bger.ch Rechtsprechung Rechtsprechung<br />

gratis Weitere Urteile ab 2000.<br />

RECHT 4/13 ZeSo<br />

9


«Es ist eine Raison<br />

d’être der Sozialversicherung,<br />

dass sie die<br />

Sozialhilfe entlastet»<br />

Die Sozialversicherungsrechtlerin Gabriela Riemer-Kafka hat das<br />

Schweizer Sozialversicherungssystem umfassend analysiert<br />

und wird in nächster Zeit Vorschläge für eine Strukturreform<br />

präsentieren. Im Gespräch erläutert sie ihre Beweggründe und wo<br />

sie dringenden Handlungsbedarf sieht.<br />

Frau Riemer-Kafka, wie beurteilen Sie<br />

die sozialpolitische Entwicklung in der<br />

Schweiz in den letzten Jahren?<br />

Über alles hinweg betrachtet geht es<br />

dem Sozialstaat immer noch gut. Die Konjunkturprognosen<br />

sind nicht schlecht und<br />

die Arbeitslosenquote ist stabil tief. Wir verfolgen<br />

in der Schweiz einen pragmatischen<br />

Ansatz und sind grundsätzlich nicht gewillt,<br />

mehr auszugeben als einzunehmen.<br />

Bei den Sozialwerken sind die Gesamteinnahmen<br />

immer noch beträchtlich höher<br />

als die Gesamtausgaben. Bei der Invalidenund<br />

der Arbeitslosenversicherung wurde<br />

ein Weg in Richtung Leistungsabbau eingeschlagen,<br />

bei der Krankenversicherung<br />

wird darüber diskutiert. Bei der AHV und<br />

dem BVG hingegen hat sich die Stimmbevölkerung<br />

erfolgreich gegen einen<br />

Leistungsabbau gewehrt und sich bei der<br />

Mutterschaftsversicherung und den Familienzulagen<br />

sogar für einen Leistungsausbau<br />

ausgesprochen. Man kann also nicht alle<br />

Entwicklungen über einen Leisten ziehen.<br />

Unser Sozialversicherungssystem ist<br />

sehr komplex. Das Postulat Schenker,<br />

das eine allgemeine Erwerbsversicherung<br />

forderte und damit eine umfassende<br />

Reform anregte, ist politisch<br />

gescheitert. Welches sind aus Ihrer<br />

Sicht die Schwachstellen des Systems?<br />

Das System ist hundert Jahre lang gewachsen,<br />

baut auf den damaligen gesellschaftlichen<br />

Gegebenheiten auf und ist in elf<br />

Versicherungszweige fraktioniert. Die Koordination<br />

ist dadurch kompliziert geworden<br />

und der Zugang für die Versicherten unübersichtlich.<br />

Das führt zu Unsicherheit<br />

und einer gewissen Ohnmacht gegenüber<br />

dem Verwaltungsapparat. Aus diesen Gründen<br />

wäre eine «Renovation» des Systems<br />

nötig, vergleichbar mit dem Renovationsbedarf<br />

bei einem hundertjährigen Haus.<br />

Wo sehen Sie konkreten Handlungsbedarf?<br />

Bei den Leistungsvoraussetzungen und<br />

dem Leistungsausbau der diversen Sozialversicherungen.<br />

Diese sind sehr unterschiedlich<br />

und den heutigen gesellschaftlichen<br />

Verhältnissen nur noch bedingt<br />

angemessen. Die Erwerbstätigkeit zum<br />

Beispiel hat heute sehr viele verschiedene<br />

Facetten. Man ist einmal unselbständig,<br />

dann selbständig, manchmal auch beides<br />

zusammen, es gibt viel mehr Teilzeitarbeit<br />

usw. Diese Faktoren werden von der aktuellen<br />

Sozialversicherungsgesetzgebung<br />

nur unzulänglich berücksichtigt. Darüber<br />

hinaus gibt es verschiedene Fehlanreize im<br />

Leistungssystem.<br />

Wäre eine Ausdehnung des Case<br />

Managements auf weitere Sozialversicherungen<br />

ein möglicher Ansatz, die<br />

Leistungsvoraussetzungen und die<br />

Leistungen besser zu koordinieren?<br />

Case Management ist ein gutes Beispiel<br />

für eine neue Entwicklung zugunsten<br />

der Wiedereingliederung von Personen<br />

mit Schwierigkeiten, im Arbeitsmarkt zu<br />

bestehen. Es koordiniert die Verfahrensabläufe<br />

zwischen mehreren in einen Fall<br />

involvierten Versicherungen und dem<br />

Arbeitgeber, hat also keinen Einfluss auf<br />

Leistungsvoraussetzungen und Leistungsumfang.<br />

Zudem erfolgt Case Management<br />

freiwillig. Es gibt keine gesetzlichen Rahmenbedingungen<br />

und keine Koordination<br />

unter den Sozialversicherungszweigen.<br />

Eine gesetzliche Regelung für das Case<br />

Management tut daher Not.<br />

Wo würden Sie sonst noch ansetzen?<br />

Ich würde die Versicherungsleistungen<br />

vom Status der Erwerbstätigkeit respektive<br />

Nichterwerbstätigkeit abhängig<br />

machen und nicht wie heute üblich vom<br />

Status selbständig oder unselbständig.<br />

Bei der Mutterschaftsentschädigung und<br />

den Familienzulagen ist dies bereits der<br />

10 ZeSo 4/13 interview


Bilder: Christine Bärlocher<br />

Fall, und teilweise auch bei der AHV<br />

und der IV. Die Selbständigerwerbenden<br />

sind heute nur für ein Existenzminimum<br />

obligatorisch versichert. Dass dies so ist,<br />

hat seine Wurzeln im 19. Jahrhundert,<br />

als man davon ausging, dass ein Unternehmer<br />

auch eine genügende Kapitalbasis<br />

hat. Heute sind Selbständigerwerbende<br />

auch eine Risikogruppe für die<br />

Sozialhilfe.<br />

Was halten Sie von einer allgemeinen<br />

Erwerbsversicherung?<br />

Die Idee ist grundsätzlich gut, insbesondere<br />

der leistungsorientierte Ansatz,<br />

also der Anspruch auf Geldleistungen<br />

unabhängig vom eingetretenen Risiko.<br />

Problematisch ist aber der Leistungsausbau,<br />

wie beispielsweise ein Anspruch auf<br />

Taggelder ohne Erwerbseinbusse oder<br />

«decent work», also ohne anständige, zumutbare<br />

Arbeit.<br />

Und wie stellen Sie sich zum «bedingungslosen<br />

Grundeinkommen»?<br />

Die Nachteile überwiegen <strong>ganz</strong> klar.<br />

Man könnte zwar den schwerfälligen, mit<br />

Doppelspurigkeiten behafteten Versicherungsapparat<br />

und die Sozialhilfe enorm<br />

entlasten und die Problematik rund um die<br />

Care-Arbeit wäre wohl auch gelöst. Aber<br />

die Kosten wären enorm, und die Finanzierung<br />

entsprechend teuer. Zudem würde<br />

ein Grundeinkommen neue Fehlanreize<br />

schaffen und die Solidarität untergraben.<br />

Wie könnte die Sozialhilfe aus gesetzgeberischer<br />

Sicht besser verankert<br />

werden, nachdem der Ständerat im<br />

Frühling ein Rahmengesetz Sozialhilfe<br />

abgelehnt hat?<br />

Ich denke, dass das Rahmengesetz im<br />

Ständerat über die Einführung eines einheitlichen<br />

Minimalstandards gestolpert<br />

ist. Andere Postulate wie eine bessere Ko-<br />

ordination und mehr interinstitutionelle<br />

Zusammenarbeit wurden positiv aufgenommen.<br />

Nun muss man eben einzelfallbezogen<br />

schauen, wo die Sozialhilfe in die<br />

Bundesgesetzgebung integriert werden<br />

kann. Etwa an den Schnittstellen zu den<br />

Sozialversicherungen, insbesondere zur<br />

IV und zur ALV, oder an der Schnittstelle<br />

zur Berufsbildung durch die Schaffung<br />

gemeinsamer Gremien. Für die Alimentenbevorschussung<br />

könnte man im ZGB<br />

einheitliche Voraussetzungen schaffen.<br />

Eine solche «Pflästerlipolitik» hätte im Parlament<br />

vielleicht bessere Chancen. Über<br />

Bundesrecht könnten auch die Kantone zu<br />

mehr interinstitutioneller Zusammenarbeit<br />

verpflichtet werden – auch im Bereich<br />

der Sozialhilfe. Zudem braucht es einheitliche<br />

Regeln für den Datenaustausch.<br />

<br />

Die Sozialhilfe ist als Bedarfsleistung<br />

ausgelegt. Weshalb wird der Grundinterview<br />

4/13 ZeSo<br />

11


edarf immer wieder in Frage gestellt,<br />

obwohl er auf fundierte Daten abstützt?<br />

Ich finde es richtig, dass der Bund nicht<br />

für die Festlegung des Bedarfs zuständig<br />

ist. Der Bedarf orientiert sich immer auch<br />

an einer konkreten persönlichen Situation,<br />

und die ist von Fall zu Fall verschieden.<br />

Dass man die Höhe des Bedarfs aber<br />

immer wieder in Frage stellt, ist vor dem<br />

Hintergrund des verfassungsrechtlichen<br />

Anspruchs auf Nothilfe höchst problematisch.<br />

Wir haben uns zum Wohlfahrtsstaat<br />

bekannt und es ist gesellschaftspolitisch<br />

wichtig, dass es keine Ausgrenzung und<br />

Stigmatisierung gibt, auch deswegen, weil<br />

oft Kinder die Leidtragenden sind. Die Angriffe<br />

– auch gegen die SKOS – sind populistisch<br />

und unter anderem durch einige<br />

Missbrauchsfälle und leere Kassen ausgelöst.<br />

Das dient der Sache nicht und ist ein<br />

Ressourcenverschleiss. Natürlich muss<br />

man den Missbrauch sinnvoll bekämpfen,<br />

aber er wird sich nie vollständig ausmerzen<br />

lassen.<br />

Missbrauch betrifft die <strong>ganz</strong>e Versicherungsbranche.<br />

Erfolgt er bei einer<br />

Sozialversicherung, geht ein medialer<br />

Aufschrei durch das Land, während<br />

der «normale» Versicherungsbetrug<br />

mancherorts eher noch als Kavaliersdelikt<br />

gilt. Woher kommt diese unterschiedliche<br />

Wahrnehmung?<br />

Das liegt an den unterschiedlichen Finanzierungsmodellen.<br />

Die Sozialversicherungen<br />

werden durch die Allgemeinheit<br />

im Umlageverfahren finanziert, und die<br />

Gelder müssen gesetzesgemäss korrekt<br />

eingesetzt werden. Privatversicherungen<br />

hingegen werden individuell finanziert,<br />

das betrifft die Allgemeinheit in dem Sinn<br />

nicht. Und das Missbrauchsrisiko ist quasi<br />

in den Prämien schon eingerechnet.<br />

Sie arbeiten an einem Projekt, einer<br />

umfassenden Analyse des Schweizer<br />

Sozialversicherungswesens. Worum<br />

geht es da genau?<br />

Das ist eine lange Geschichte. Ich habe<br />

seinerzeit zum Thema Mutterschaftsversicherung<br />

dissertiert und mir schon damals<br />

die Frage gestellt, wie man diese aufbauen<br />

könnte, ohne einen zusätzlichen Versicherungszweig<br />

zu schaffen. Auf dieser Erkenntnis<br />

beruhend, dass es besser ist, das<br />

System zu straffen und zusammenzulegen,<br />

ist später die Idee gewachsen, das gesamte<br />

«Meine Vorschläge<br />

zeigen, wo man<br />

etwas vereinfachen<br />

und zusammenlegen<br />

kann»<br />

Gabriela Riemer-Kafka<br />

Gabriela Riemer-Kafka (55) ist Professorin<br />

für Sozialversicherungs- und Arbeitsrecht<br />

an der Universität Luzern und Chefredaktorin<br />

der Schweizerischen Zeitschrift für<br />

Sozialversicherung und berufliche Vorsorge<br />

(SZS). Sie lebt in Zürich, ist verheiratet und<br />

hat drei erwachsene Kinder.<br />

Sozialversicherungssystem einmal unter<br />

diesem Aspekt zu untersuchen. An dieser<br />

Strukturreform arbeite ich nun seit fünf<br />

Jahren mit dem Ziel, zu harmonisieren, an<br />

die heutigen Verhältnisse anzupassen und<br />

für die Versicherten den Zugang zu vereinfachen.<br />

Hatten Sie von Beginn weg eine klare<br />

Vision, wie man das anstellen müsste?<br />

Ich habe eine persönliche Entwicklung<br />

durchgemacht. Am Anfang dachte ich, dass<br />

man eine Versicherung für Sachleistungen<br />

– beispielsweise für die Eingliederung –<br />

und eine Versicherung für Geldleistungen<br />

anstreben sollte, und zwar unabhängig von<br />

Risiken wie Alter, Invalidität, Unfall, Arbeitslosigkeit,<br />

Mutterschaft, Militär usw.<br />

Je vertiefter ich mich dann mit der Materie<br />

auseinandergesetzt hatte, desto mehr<br />

musste ich erkennen, dass das mit dem<br />

bestehenden System nicht möglich ist und<br />

ein Totalumbau auch politisch nicht mehrheitsfähig<br />

wäre.<br />

Weshalb?<br />

Nicht die Risiken sind das Problem,<br />

sondern die unterschiedlichen Versichertenkollektive<br />

und die Finanzierung. Betrachten<br />

wir zum Beispiel die Unfallversicherung.<br />

Sie ist ihrem Wesen nach eine<br />

Arbeitgeber-Haftpflichtversicherung und<br />

wird durch Lohnprozente über die Arbeitgeber<br />

finanziert. Die Krankenversicherung<br />

deckt ein persönliches Risiko und wird<br />

durch Kopfbeiträge finanziert. Das ist so<br />

gut eingespielt und verwurzelt, dass sich<br />

das nicht durch ein anderes System ersetzen<br />

lässt. Ich musste also umdenken und<br />

meine Ziele ein Stück weit zurücknehmen.<br />

Mittlerweile beschränken sich meine Vorschläge<br />

auf Stellen, wo man effektiv etwas<br />

vereinfachen und zusammenlegen kann,<br />

so etwa im Bereich von Kranken- und Invalidenversicherung<br />

oder Kranken- und<br />

Unfallversicherung. Insgesamt habe ich<br />

rund vierzig Vorschläge zur Vereinfachung<br />

ausgearbeitet.<br />

Was haben Sie vor, was geschieht mit<br />

Ihren Vorschlägen?<br />

Ich möchte im Laufe des kommenden<br />

Jahres mit meinen Vorschlägen an die Öffentlichkeit<br />

gelangen und Denkanstösse<br />

liefern: Dem Gesetzgeber eine Auslegeordnung<br />

präsentieren und in der Bevölkerung<br />

eine Diskussion auslösen. Ich hoffe<br />

auf spannende Auseinandersetzungen,<br />

rechne aber nicht damit, dass gleich alles<br />

auf Zustimmung stossen wird. Wenn der<br />

eine oder andere Vorschlag umgesetzt werden<br />

könnte, bin ich schon zufrieden.<br />

Das Projekt «Altersvorsorge 2020» des<br />

Bundesrats ist auch ein Bouquet von<br />

Vorschlägen. Ihre Einschätzung dazu?<br />

12 ZeSo 4/13 interview


Ich begrüsse, dass man die erste und<br />

zweite Säule gemeinsam betrachtet und<br />

dass die Anreize abgeschafft werden sollen,<br />

frühzeitig aus dem Erwerbsleben auszuscheiden.<br />

Das ging zu Zeiten voller Kassen<br />

und muss heute korrigiert werden. Jede<br />

Sozialgesetzgebung ist immer auch ein<br />

Abbild der wirtschaftlichen Situation einer<br />

Gesellschaft und muss den wirtschaftlichen<br />

Veränderungen folgen. Eine Besitzstandwahrung<br />

durch alle Böden hindurch<br />

ist langfristig problematisch. Das Ganze<br />

muss finanzierbar bleiben.<br />

Gibt es einzelne Punkte, die Sie kommentieren<br />

möchten?<br />

Es gibt viele gute Vorschläge. Ein Referenzalter<br />

für die AHV einzuführen und<br />

den Zeitpunkt der Pensionierung zu flexibilisieren,<br />

die Altersarbeit besser zu stellen,<br />

bei der 2. Säule den Koordinationsabzug<br />

zu senken – das wäre insbesondere<br />

auch für Niedrigverdienende ein Vorteil.<br />

Wie hoch der Umwandlungssatz bei der<br />

2. Säule sein sollte, kann ich hingegen<br />

nicht beurteilen. Richtig finde ich, dass es<br />

flankierende Massnahmen braucht, wenn<br />

der Umwandlungssatz gesenkt wird, damit<br />

das zu verteilende Substrat grösser wird<br />

und die Höhe der Renten gleich bleibt. Es<br />

darf nicht sein, dass sich eine Sozialversicherung<br />

quasi auf Kosten der Sozialhilfe<br />

saniert. Ich betrachte es als eine «raison<br />

d’être» der Sozialversicherung, dass sie die<br />

Sozialhilfe entlastet. Darauf basiert ja auch<br />

der Subsidiaritätsgedanke.<br />

«Wir müssen dafür<br />

sorgen, dass<br />

die Grundlagen,<br />

die unseren Sozialstaat<br />

ermöglichen,<br />

erhalten bleiben»<br />

Welches sind die grössten sozialpolitischen<br />

Herausforderungen der<br />

Zukunft?<br />

Eine grosse Herausforderung sehe ich<br />

beispielsweise in der Entlöhnung der Care-<br />

Arbeit. Aber die grösste Herausforderung ist<br />

den Sozialversicherungen vorgelagert. Wir<br />

müssen dafür sorgen, dass die Grundlagen,<br />

die unseren Sozialstaat erst ermöglichen, erhalten<br />

bleiben. Es braucht einen Rahmen,<br />

damit die Wirtschaft in Schwung bleibt.<br />

Dazu muss unter anderem die Erwerbstätigkeit<br />

der Frauen gefördert werden, etwa<br />

mit mehr Betreuungsangeboten. Und wir<br />

müssen in die Bildung investieren. Wichtig<br />

ist auch, dass der Solidaritätsgedanke als<br />

Handlungsmaxime für verantwortungsbewusstes<br />

Handeln wieder vermehrt nach aussen<br />

getragen wird. Das ist eine Erziehungsund<br />

Aufklärungsaufgabe, die dazu dient,<br />

das Fundament zu erhalten.<br />

•<br />

Das Gespräch führte<br />

Michael Fritschi<br />

interview 4/13 ZeSo<br />

13


Bild: Daniel Rihs / Pixsil<br />

14 ZeSo 4/13 SCHWERPUNKT


Der Übergang zur Erwerbsarbeit erfordert<br />

erhöhte Bewältigungsleistungen<br />

Die sozialen Bedingungen für einen gelingenden Übergang in eine selbständige und verantwortliche<br />

Erwachsenenexistenz haben sich verändert. Die Altersgruppe der jungen Erwachsenen in der<br />

Sozialhilfe stellt die Wohlfahrts- und Bildungskonzepte auf den Prüfstand.<br />

Besorgniserregend hohe Zahlen von arbeits- und ausbildungslosen<br />

jungen Menschen in europäischen Ländern lassen aufhorchen. Die<br />

Arbeitslosenquote in Europa ist infolge der Wirtschaftskrise von<br />

2008 massiv angestiegen und der Trend hält an: 2011 wiesen Statistiken<br />

von Eurostat in der Gruppe der 15- bis 24-Jährigen eine<br />

durchschnittliche Arbeitslosenquote von 21 Prozent aus. Als besonders<br />

problematisch wird die Lage der jungen Erwachsenen eingeschätzt,<br />

die weder über eine schulische oder berufliche Ausbildung<br />

verfügen noch in Erwerbsarbeit sind – die so genannten NEETs (not<br />

in education, employment or training). Dem gegenüber weisen die<br />

gesamtschweizerischen Arbeitslosen- und Sozialhilfestatistiken<br />

weit geringere Zahlen aus. Dennoch steht die Gruppe der jungen<br />

Erwachsenen seit 2000 auch in der Schweiz vermehrt im Fokus<br />

der Aufmerksamkeit. Die Quote der Arbeitslosen in der Gruppe<br />

der 20- bis 24-Jährigen lag im September 2011 bei 3,8 Prozent,<br />

die Sozialhilfequote in der Gruppe der 18- bis 25-Jährigen bei<br />

3,7 Prozent. Zudem zeigen Vergleiche mit der Gesamtbevölkerung<br />

eine überdurchschnittliche Belastung dieser Gruppe von Arbeitslosigkeit<br />

und Armut.<br />

Sozialhilfebezug als Ausdruck von Veränderungsprozessen<br />

Als Folge weitreichender wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen<br />

lassen sich ab Mitte der 1990er-Jahre neue Herausforderungen<br />

im Übergang in die Erwerbsarbeit erkennen. Neue Risikogruppen<br />

rückten ins Bewusstsein: Schulabgängerinnen und<br />

Schulabgänger ohne Anschlusslösungen, Benachteiligte im Wettbewerb<br />

um Ausbildungsplätze, Lehrabbrechende, Arbeitslose und<br />

junge Erwachsene in der Sozialhilfe. Dies führte in der Folge zu einer<br />

Vielzahl bildungs-, arbeitsmarkt- und sozialpolitischer Massnahmen<br />

und zur Anpassung des dualen Berufsbildungssystems an<br />

die neuen Anforderungen. Gleichzeitig entstanden neue Risiken<br />

durch erhöhte Anforderungen und den starken Wettbewerb um<br />

Klare Abfolgen im Bildungsverlauf<br />

lösen sich auf und<br />

die zentralen Passagen im<br />

Übergang ins Erwachsenenalter<br />

verschieben sich nach<br />

hinten.<br />

Ausbildungsplätze. Zwischenjahre, Lehrabbrüche und Umorientierungen<br />

nahmen zu und führten bei vielen Jugendlichen zu erhöhter<br />

Diskontinuität und einer Individualisierung des Bildungsverlaufs.<br />

Insgesamt lösen sich klare Abfolgen im Bildungsverlauf<br />

zunehmend auf und zentrale Statuspassagen im Übergang ins Erwachsenenalter<br />

verschieben sich zeitlich nach hinten. Die Bewältigung<br />

dieser offeneren und zugleich riskanteren Übergänge erfordert<br />

erhöhte individuelle Bewältigungsleistungen.<br />

Auch die sozialen Bedingungen für einen gelingenden Übergang<br />

in eine selbständige und verantwortliche Erwachsenenexistenz<br />

haben sich verändert. Die Bedingungen des Aufwachsens<br />

von Kindern und Jugendlichen sind anspruchsvoller und die Erziehungs-<br />

und Entwicklungsprozesse sind grundsätzlich krisenanfälliger<br />

geworden. Insbesondere Jugendlichen mit wenig sozialen<br />

Ressourcen oder hohen Belastungen in der Herkunftsfamilie fehlen<br />

häufig die nötigen Ressourcen für die Bewältigung der Anforderungen<br />

im Übergang in die Selbstständigkeit. Bei der Beurteilung<br />

der Situation von jungen Erwachsenen in der Sozialhilfe ist<br />

dies miteinzubeziehen.<br />

Heterogene Gruppe<br />

Für eine schnelle und zielführende Bearbeitung der Sozialfälle<br />

wird die Klientel in der Regel in Typen eingeteilt. Häufig findet<br />

man grobe Unterscheidungen zwischen Gruppen, die sich nach einer<br />

kurzen Überbrückung schnell ablösen, und «jenen, die auf längerfristige<br />

Unterstützung angewiesen sind». Aus empirischer Sicht<br />

sind solche Typisierungen weniger einfach. Vielmehr zeigen Studien<br />

zu jungen Erwachsenen in der Sozialhilfe, dass es sich um eine<br />

sehr heterogene Gruppe handelt. Häufig werden vielfältige Problemkonstellationen<br />

in unterschiedlichen Lebensaspekten<br />

kumulierend wirksam. Für deren Bewältigung fehlen aber die nötigen<br />

Ressourcen.<br />

Die Lebenslagen der jungen Erwachsenen weisen dennoch einige<br />

typische Merkmale auf, die als Ausdruck entstandardisierter,<br />

verlängerter Übergänge ins Erwachsenenalter verstanden werden<br />

können: Die jungen Erwachsenen leben zu einem hohen Anteil alleine<br />

und kommen häufig direkt von der Herkunfts-familie oder<br />

aus Kinder- und Jugendschutzmassnahmen in die Sozialhilfeunterstützung.<br />

Problematische familiäre Beziehungen, insbesondere<br />

in Schweizer Familien, wirken sich negativ auf die Ablösungsprozesse<br />

und die biografischen Verläufe aus. Mit dem Erreichen des<br />

Mündigkeitsalters lösen sich diese Jugendlichen oft frühzeitig<br />

mittel- und ausbildungslos aus ihren Bezugssystemen ab. Im Kontext<br />

von Migration zeigt sich dagegen, dass die Eltern ihre Jugendlichen<br />

häufig aus anderen Gründen ungenügend unterstützen<br />

können.<br />

16 ZeSo 4/13 SCHWERPUNKT


junge erwachsene<br />

Berufseinstieg als Balanceakt: Trotz Leitplanken und unterstützenden Massnahmen gelingt er nicht allen.<br />

Bild: Ruedi Flück<br />

Die Bewältigung der Herausforderungen, die mit dem meist<br />

abrupten Übergang in die Selbstständigkeit verbunden sind, fällt<br />

schwer. Jugendlichen und jungen Erwachsenen fehlen finanzielle<br />

Ressourcen, der soziale Rückhalt, Erfahrungen und Orientierungen.<br />

Ihre Bewältigungsstrategien führen oft zu weiteren biografischen Risiken,<br />

beispielsweise zu Verschuldung, Frühschwangerschaft, Verhaltensauffälligkeit<br />

oder gesundheitlichen Problemen. Unter den<br />

gegebenen Bedingungen gelingt es den jungen Erwachsenen kaum,<br />

ihre Handlungsfähigkeit zu erweitern und zu einer befriedigenden<br />

Lebensführung zu gelangen. Gleichzeitig zeigt die biografische Untersuchung,<br />

dass viele junge Menschen im Alter zwischen zirka 20<br />

und 23 Jahren nochmals bereit wären für eine Veränderung. Mangels<br />

geeigneter Unterstützung und aufgrund vieler Frustrationen resignieren<br />

sie schliesslich. In der Folge scheint sich eine Gewöhnung<br />

an das Leben zwischen Sozialhilfe und Arbeitsmarkt einzustellen.<br />

Ein weiteres zentrales Merkmal dieser Gruppe sind die ungenügenden<br />

Bildungsvoraussetzungen und Arbeitsmarktchancen.<br />

Problem der fehlenden Ausbildung<br />

Knapp zwei Drittel der Fälle hat die Schulzeit in der Schweiz verbracht,<br />

ein gutes Drittel immigrierte im Lauf der Schulzeit oder<br />

später. Mehr als die Hälfte der Fälle verfügt über keine Berufsausbildung<br />

und steht nicht in einer Ausbildung. Rund ein Fünftel befindet<br />

sich – meist verspätet – in einer Ausbildung. Die Wahrscheinlichkeit,<br />

dass eine Ausbildung später nachgeholt wird, sinkt<br />

mit zunehmendem Alter (Drilling 2004).<br />

Trotz vielfältiger Massnahmen verpassen die Betroffenen den<br />

Einstieg in die Berufsausbildung überwiegend bereits an der ersten<br />

Schwelle der Berufsintegration. Dahinter lassen sich biografische<br />

Entscheide, kritische Lebensereignisse oder jugendtypische Bewältigungsprobleme<br />

erkennen. Nur jede fünfte junge erwachsene<br />

Person, die Sozialhilfe bezieht, verfügt über eine abgeschlossene<br />

Ausbildung. Allerdings gelingt es auch ihnen offensichtlich nicht,<br />

ihre Ausbildung auf dem Arbeitsmarkt gewinnbringend zu verwerten.<br />

Sie erfahren trotz ihrer Ausbildung kaum Vorteile gegenüber<br />

den Ungelernten. Einerseits weil einige von ihnen Arbeit in einem<br />

Bereich suchen, für den sie nicht ausgebildet sind, andererseits,<br />

weil ihr Ausbildungsniveau den Anforderungen nicht entspricht.<br />

Die betroffenen jungen Erwachsenen sind deshalb generell über<br />

längere Zeit immer wieder oder dauerhaft auf Sozialhilfe angewiesen.<br />

Ein Teil löst sich zwar relativ schnell wieder ab, die Gefahr des<br />

Drehtüreffekts ist aber hoch. Insgesamt erfolgt die Reintegration<br />

eher prekär als stabil, viele sind verschuldet. Junge Erwachsene<br />

haben noch keine eigenen Ersparnisse, um Ausbildungsphasen,<br />

Such- und Orientierungsphasen und damit verbundene Phasen<br />

der Arbeitslosigkeit zu überbrücken. Auch in Bezug auf die Arbeitslosenentschädigung<br />

sind sie häufig im Nachteil. Sie sind oft bereits<br />

wenige Wochen nach der Arbeitslosigkeit auf finanzielle Hilfe angewiesen.<br />

Eine weitere Problematik besteht in prekären Anstellungsverhältnissen<br />

und zu niedrigen Entschädigungen.<br />

Dass Ausländerinnen und Ausländer in der Gruppe der Dauerbeziehenden<br />

gegenüber Schweizerinnen und Schweizern stärker<br />

SCHWERPUNKT 4/13 ZeSo<br />

<br />

17<br />


Die Sozialhilfe muss die<br />

besondere Lebenslage<br />

der jungen Erwachsenen<br />

anerkennen.<br />

vertreten sind, kann zum einen durch die schlechteren Bildungsvoraussetzungen<br />

und Benachteiligungen im Arbeitsmarkt erklärt<br />

werden, zum anderen durch frühere Familiengründungen.<br />

Viele Unterstützungsmassnahmen – neue Risiken<br />

Dynamische Betrachtungen von Verläufen und Armutslagen lenken<br />

den Blick auf die Verflechtung von individuellen und strukturellen<br />

Bedingungen und darin eingelagerte Risiken und Entwicklungspotenziale.<br />

Sie zeigen, dass das gelingende Zusammenspiel<br />

zwischen den Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe, der Sozialhilfe<br />

und dem Bildungs- und Ausbildungssystem über den Erfolg<br />

sozialer Mobilität entscheidet. Die Erfolglosigkeit der jungen Erwachsenen<br />

stellt die Wohlfahrts- und Bildungskonzepte gegenwärtig<br />

auf den Prüfstand.<br />

Zweifellos haben die zahlreichen Unterstützungsmassnahmen<br />

in den letzten Jahren zur Abmilderung der Probleme beigetragen.<br />

Für einen Teil der Jugendlichen zeigen sich allerdings auch neue<br />

systembedingte Risiken. So hat die starke Ausdifferenzierung von<br />

Angeboten im Übergang auch zu Orientierungsschwierigkeiten<br />

beigetragen. Sie erschwert sowohl Jugendlichen wie Fachpersonen<br />

die Übersicht, was eine kohärente Zusammenarbeit behindert und<br />

zur Fragmentierung der Prozesse beiträgt. Schnittstellenprobleme,<br />

unklare Zuständigkeiten, zu kurz ausgelegte Angebote führen<br />

bei den jungen Erwachsenen in der Sozialhilfe häufig dazu, dass<br />

sie zwischen Stuhl und Bank fallen.<br />

Gleichzeitig führt der Ausbau der Angebote im Übergang zu<br />

einer «Engführung» der Jugendlichen. So sind die Angebote in der<br />

Tendenz an institutionellen Normalitätsmustern orientiert und oft<br />

ausschliesslich auf eine schnelle Erfassung von Kompetenzen, die<br />

Suche nach einer Passung und die Vermittlung in entsprechende<br />

Anschlusslösungen im Berufs- oder Ausbildungsmarkt ausgerichtet.<br />

Bei dieser Konzentration auf «das Wesentliche» bleibt oft keine<br />

Zeit für die Unterstützung bei lebenslagen- und entwicklungsbedingten<br />

Schwierigkeiten. Die Jugendlichen werden häufig von<br />

Angebot zu Angebot geschoben, und Alternativen und Spielräume<br />

für individuelle Verläufe werden ihnen kaum zugestanden. Deshalb<br />

können die jungen Erwachsenen oft auch keine Kohärenz in<br />

ihrer Handlung herstellen, die sich durch Sinnhaftigkeit, Machbarkeit<br />

und Verstehbarkeit auszeichnen würde. Vielmehr fühlen<br />

sie sich als Objekt eines Sozialisierungs- und teilweise auch eines<br />

Disziplinierungsprozesses des Sozialstaats. Dies führt bei einigen<br />

zum bewussten Ausstieg aus Unterstützungsangeboten.<br />

Für die Sozialhilfe bedeutet das, dass sie als Ziel nicht nur die Integration<br />

in den Arbeitsmarkt und die Überwindung der ökonomischen<br />

Notlage haben darf. Vielmehr muss sie die besondere Lebenslage<br />

der jungen Erwachsenen anerkennen, ihr Suchen nach<br />

Sinn und Identität und ihre biografischen Erfahrungen mitberücksichtigen.<br />

Junge Menschen in schwierigen Übergängen müssen<br />

darin unterstützt werden, ihre Erfahrungen zu reflektieren,<br />

Ressourcen zu erkennen und ihre Bewältigungsstrategien weiterzuentwickeln.<br />

Hierbei sind Unterstützungsangebote zielführend,<br />

die jungen Menschen Möglichkeiten zur Partizipation, Spielräume<br />

für eigene Erfahrungen, Teilhabechancen und soziale Netze<br />

bieten und sie in ihren <strong>ganz</strong>heitlichen Entwicklungsprozessen<br />

ernst nehmen und unterstützen. Zunehmend erhalten Sozialhilfeund<br />

Arbeitslosenprogramme daher die Funktion von Unterstützungs-<br />

und Vermittlungsagenturen an der Scharnierstelle im<br />

Übergang in die Erwerbsarbeit unter erschwerten Bedingungen.<br />

So gesehen kann Sozialhilfeabhängigkeit – so widersprüchlich dies<br />

klingen mag – eine Chance sein: als Interventionszeitpunkt für eine<br />

umfassende Standortbestimmung mit darauf folgender Anbahnung<br />

verschiedener Massnahmen. In Zusammenarbeit mit Bildungs-,<br />

Arbeitsmarkt- und Jugendhilfeorganisationen sollte die<br />

Sozialhilfe junge Erwachsene in ihren komplexen Lebensverläufen<br />

kontinuierlicher unterstützen.<br />

•<br />

Dorothee Schaffner<br />

Institut Kinder- und Jugendhilfe<br />

Hochschule für Soziale Arbeit Basel<br />

Literatur<br />

Dorothee Schaffner, Matthias Drilling, Junge Erwachsene in der<br />

Sozialhilfe – Folgen veränderter Bedingungen am Übergang in die<br />

Erwerbsarbeit, in: Edith Maud Piller, Stefan Schnurr (Hrsg.), Kinder-<br />

und Jugendhilfe in der Schweiz, Springer-Verlag, Wiesbaden,<br />

<strong>2013</strong>.<br />

Dorothee Schaffner, Junge Erwachsene zwischen Sozialhilfe und<br />

Arbeitsmarkt – Biographische Bewältigung von diskontinuierlichen<br />

Bildungs- und Erwerbsverläufen. Hep-Verlag, Bern, 2007.<br />

Matthias Drilling, Young urban poor – Abstiegsprozesse in den<br />

Zentren der Sozialstaaten, Verlag für Sozialwissenschaften,<br />

Frankfurt, 2004.<br />

BFS und Büro BASS, Junge Erwachsene in der Sozialhilfe,<br />

Neuchâtel, 2009.<br />

Jürg Krummenacher, Integrationsprobleme von jungen Erwachsenen,<br />

Bern, 2009. Im Auftrag von SODK, BBT, BFM, SKOS, Seco und<br />

der Städteinitiative Sozialpolitik.<br />

18 ZeSo 4/13 SCHWERPUNKT


junge erwachsene<br />

Konfrontiert junge Erwachsene mit den Gesetzmässigkeiten der Arbeitswelt: Case Managerin Natascha Bodul im BIZ Urdorf.<br />

Bilder: Meinrad Schade<br />

Belastende Familiensituation, psychische<br />

Probleme oder im Konflikt mit dem Gesetz<br />

Im Rahmen des Case Management Berufsbildung werden Jugendliche und junge Erwachsene mit<br />

Mehrfachproblematiken auf dem Weg in die Arbeitswelt umfassend unterstützt. Das dargestellte<br />

Beispiel zeigt, dass Beziehungsarbeit und Geduld viel bewirken können.<br />

Beim Berufsinformationszentrum (BIZ) in Urdorf laufen die Drähte<br />

heiss. Am Telefon sind meistens Jugendliche, Eltern oder Lehrpersonen,<br />

die Fragen zur Berufswahl oder zur Lehrstellensuche haben.<br />

In der Regel vereinbart man einen Termin mit einer<br />

Berufsberaterin und der erste Schritt auf dem Weg in die Arbeitswelt<br />

ist gemacht. In gewissen Fällen gestaltet sich der Prozess der<br />

beruflichen Integration jedoch schwieriger, nämlich dann, wenn<br />

der Berufsberater eine so genannte Mehrfachproblematik diagnostiziert.<br />

Das heisst, der oder die Jugendliche ist nicht nur mit der<br />

Lehrstellensuche konfrontiert, sondern auch mit Problemen, die<br />

den Prozess der beruflichen Integration hemmen können, zum<br />

Beispiel belastende familiäre Verhältnisse, psychische Probleme<br />

oder Konflikte mit dem Gesetzgeber. Dies sind dann Fälle für Natascha<br />

Bodul, Case Managerin Berufsbildung beim Projekt<br />

«Netz 2» (vgl. S 21). Sie arbeitet zwar Tür an Tür mit den Fachpersonen<br />

des BIZ, doch im Unterschied zu ihnen ist ihr Zielpublikum<br />

klar eingegrenzt: «Es sind Jugendliche mit verschiedenen Baustellen»,<br />

erklärt die 39-Jährige. Sie sagt es mit einer beschwingten<br />

Leichtigkeit – und sofort wird klar, dass sich diese Frau mit ihrem<br />

Handwerk auskennt.<br />

Am Anfang steht der Case Maker<br />

Bodul arbeitet seit Projektbeginn – das heisst, seit drei Jahren – bei<br />

«Netz 2». Sie ist eine von acht Case Managerinnen und Managern,<br />

die im Kanton Zürich den Berufsinformationszentren angegliedert<br />

sind. Die acht Fachpersonen verfügen über eine sozialarbeiterische,<br />

psychologische oder pädagogische Grundausbildung und<br />

haben eine Weiterbildung im Bereich Case Management gemacht.<br />

Bodul führt mit ihrem 80%-Pensum insgesamt dreissig Fälle. An<br />

ihrem Büro darf nur anklopfen, wer zuvor bereits in der Berufsberatung<br />

oder bei einer anderen Fachstelle war. Diese Case Maker –<br />

wie die zuweisenden Stellen genannt werden – überprüfen vorgängig,<br />

ob ein Jugendlicher die Kriterien für eine Begleitung im<br />

Rahmen von «Netz 2» erfüllt. Falls ja, ermutigen sie ihn, sich dort<br />

anzumelden. Mit dieser Zugangsschwelle stellen die Projektverantwortlichen<br />

sicher, dass die Ressourcen der Case Managerinnen <br />

SCHWERPUNKT 4/13 ZeSo<br />

19<br />


und Manager ausschliesslich denen zukommen, die auf umfassende<br />

Unterstützung angewiesen sind. Eine von ihnen ist die 20-jährige<br />

Michelle. Als sie sich vor drei Jahren auf Anraten der Berufsberaterin<br />

bei Natscha Bodul meldete, sei sie «am Tiefpunkt»<br />

gestanden, sagt sie rückblickend. Heute absolviert sie eine Lehre<br />

als Fachfrau Gesundheit und hat «Boden unter den Füssen» gefunden.<br />

Natscha Bodul meint: «Wir haben hart daran gearbeitet.»<br />

Hürden schrittweise überwinden<br />

Im Fall von Michelle schildert die Case Managerin exemplarisch,<br />

wie der Weg der beruflichen Integration beschritten werden kann.<br />

Punkt eins, so Bodul, sei die Motivation. «Die Jugendlichen kommen<br />

freiwillig und haben das Ziel, eine Lehre zu absolvieren.» Wer<br />

von einer Drittstelle, zum Beispiel vom Sozialdienst, unter Druck<br />

gesetzt werde, sei bei «Netz 2» an der falschen Adresse. Punkt zwei<br />

sei der Faktor Zeit. Im Rahmen des Projekts werden Jugendliche<br />

im Alter von 14 bis 24 Jahren begleitet. «Es ist ein Vorteil, dass wir<br />

die jungen Leute über eine lange Zeitspanne beraten können.» Bei<br />

den heiklen Schnittstellen zwischen Schule und Ausbildung sowie<br />

zwischen Lehrabschluss und Berufseinstieg dürfen die Jugendlichen<br />

also auf fachliche Unterstützung zählen. Der Faktor Zeit, so<br />

Bodul, sei bei ihrer Klientel ein entscheidendes Element: «Jugendliche<br />

mit Mehrfachproblemen haben mehrere Hürden zu nehmen.<br />

Das dauert halt etwas länger als üblich.» Die Case Managerin<br />

spielt auf dem Weg zum Ziel gewissermassen den Wegweiser. Sie<br />

zeigt, in welche Richtung es gehen könnte und winkt auch mal ab.<br />

Punkt drei, sagt Bodul, sei das Fundament, auf dem alles aufbaue:<br />

Beziehungsarbeit. «Wir glauben an die Jugendlichen und lassen<br />

sie das auch spüren.» Komme eine Klientin zweimal nicht zum vereinbarten<br />

Termin, sei das noch kein Grund, aufzugeben. «Wir haben<br />

einen langen Atem», sagt sie. «Solange nicht alle Mittel ausgeschöpft<br />

sind, geben wir nicht auf.»<br />

Natascha Bodul, die jahrelang im Bereich der beruflichen Integration<br />

gearbeitet hat, investiert nicht nur viel in die Arbeit mit<br />

den Jugendlichen, sie verlangt von ihnen auch einiges. Wer eine<br />

Lehrstelle finden will, wird aufgefordert, pro Woche mehrere<br />

Bewerbungen zu schreiben. «Alles andere führt zu nichts», so ihr<br />

Fazit. Die Case Managerin konfrontiert die Jugendlichen mit den<br />

Gesetzmässigkeiten der Arbeitswelt und trainiert ihnen die geforderten<br />

Kompetenzen an. Wenn einzelne Schritte auf dem Weg ins<br />

Berufsleben misslingen, dann hilft sie, die grossen Enttäuschungen<br />

zu verarbeiten. Überhaupt spielt sie verschiedene Rollen.<br />

Manchmal ist sie Coach, manchmal Pädagogin, manchmal Anwältin.<br />

Und in gewissen Situationen erteilt sie <strong>ganz</strong> einfach praktische<br />

Tipps. So hat sie beispielsweise einer jungen Frau geraten,<br />

vor dem Vorstellungsgespräch das Nasenpiercing zu entfernen.<br />

Ein Drittel bricht ab<br />

In den meisten Fällen prüft die Case Managerin zu Beginn der<br />

Beratung, ob der Berufswunsch der Jugendlichen realistisch ist.<br />

Bevor es zur Lehrstellensuche kommt, absolvieren viele der jungen<br />

Frauen und Männer ein Motivationssemester oder holen<br />

schulische Defizite auf. Unter ihren 30 Klientinnen und Klienten<br />

sei der Anteil von Schweizern und Ausländern ausgeglichen, sagt<br />

Bodul. Wenn sie auf die letzten drei Jahre zurückblickt, ist ihre Bilanz<br />

positiv: «Zwei Jugendliche haben inzwischen die Lehre abgeschlossen.<br />

Etwa die Hälfte der Klientinnen und Klienten befindet<br />

sich in einer Grundausbildung.» Doch Bodul muss auch mit<br />

«Ich stand da – ohne<br />

Lehrstelle und ohne<br />

Wohnung»<br />

Michelle (20) hat sich vor drei Jahren bei<br />

«Netz 2» angemeldet. Damals hat sie nicht<br />

an ihre Zukunft geglaubt. Heute sieht das<br />

anders aus.<br />

«Während meiner Kindheit bin ich häufig zwischen der<br />

Schweiz und Brasilien hin- und hergependelt. Meine Mutter<br />

kommt aus Brasilien, mein Vater ist Schweizer. Sie sind schon<br />

länger geschieden und mein Vater hat eine neue Familie gegründet.<br />

Nach der Schule wollte ich mich zusammen mit meiner<br />

Mutter in Brasilien niederlassen. Ich habe mich dort aber<br />

nicht wohl gefühlt und bin rasch wieder in die Schweiz zurückgekehrt.<br />

Mit 16 Jahren stand ich dann da – mit schlechten<br />

Schulzeugnissen, ohne Lehrstelle und ohne Wohnung. Ich hatte<br />

eine grosse Krise und glaubte überhaupt nicht an die Zukunft.<br />

Eine Jugendberaterin vermittelte mich ans BIZ. Ich<br />

schilderte der Berufsberaterin meine Situation und sie sagte,<br />

ich solle mich bei Frau Bodul anmelden. Das tat ich dann.<br />

***<br />

Mit Frau Bodul und der Berufsberaterin habe ich über die Berufswahl<br />

gesprochen. In verschiedenen Tests stellte sich heraus,<br />

dass es mich in Richtung Medizin und Pflege zieht. Die<br />

belastende Wohnsituation hat mich damals blockiert. Im Haus<br />

meines Vaters gab es für mich nicht wirklich Platz und in der<br />

Wohnung meines Ex-Freundes ging es auch nicht. Frau Bodul<br />

nahm Kontakt auf mit verschiedenen Stellen und mit meinem<br />

Vater. Einmal sassen wir sogar alle an einem Tisch. In der Zwischenzeit<br />

fand ich mit Hilfe von Frau Bodul einen Platz in einem<br />

Motivationssemester: Ich konnte ein Jahr lang in einem<br />

Alters- und Pflegeheim arbeiten. Einmal pro Woche musste ich<br />

zur Schule. Meine Noten waren super, ich hatte eine Fünf-bis-<br />

Sechs! Ich realisierte, dass mir das Lernen Spass macht, wenn<br />

das Thema interessant ist. Ich gab mir grosse Mühe – und so<br />

bin ich dann auch zu einer Lehrstelle als Fachfrau Gesundheit<br />

gekommen.<br />

Misserfolgen zurechtkommen: Rund ein Drittel der Jugendlichen,<br />

die sich bei ihr angemeldet haben, kommt nicht zur Beratung<br />

oder bricht den Kontakt wieder ab. Ein Fall löst bei ihr noch<br />

heute Stirnrunzeln aus: «Es lief alles bestens und der Jugendliche<br />

hatte den unterschriebenen Lehrvertrag im Sack.» Plötzlich aber<br />

sei er abgetaucht und unauffindbar gewesen. Bodul hat nach ihm<br />

gefragt und ihn gesucht – ohne Erfolg. Noch heute verspürt sie<br />

***<br />

20 ZeSo 4/13 SCHWERPUNKT


Viel Zeit und Energie für unsichere<br />

Erfolgsaussichten<br />

Keine Motivation, unverbindliche Anspruchshaltung, Defizite in der Persönlichkeitsentwicklung.<br />

Vor allem kleinere Gemeinden stehen bei der Bereitstellung von passenden Beratungs- und<br />

Betreuungsangeboten für junge Erwachsene vor grossen Herausforderungen.<br />

«Junge Erwachsene sind für uns eine wachsende Klientengruppe»,<br />

sagt Irene Bänziger, Leiterin des Sozialdienstes Schwarzenburg.<br />

Zahlenmässig sind es in der ländlich geprägten Berner Gemeinde<br />

an der Grenze zum Kanton Freiburg mittlerweile ungefähr gleich<br />

viele wie die «Über-55-Jährigen». Im Vergleich zu den älteren Klientinnen<br />

und Klienten beanspruchen junge Erwachsene aber viel<br />

mehr Betreuungszeit. «Sie sind bezüglich Persönlichkeitsentwicklung<br />

in der Situation, dass sie das Prinzip des Gebens und Nehmens,<br />

von Leistung gegen Geld oder Sachen, das in der Zusammenarbeit<br />

sowohl mit der Sozialhilfe wie in der Arbeitswelt generell gilt,<br />

nicht verinnerlicht haben», beobachtet Bänziger. Oft seien es multiple<br />

Problemstellungen, die dazu geführt haben, dass der Übergang<br />

in eine Lehre oder von der Lehre ins Arbeitsleben nicht gelungen<br />

ist. In solchen Situationen fehlten dann oft auch jegliche<br />

Strukturen. «Es ist eine Herausforderung, mit Personen, die schon<br />

länger keine Tagesstruktur mehr haben, tag- und nachtverkehrt leben<br />

und viele Stunden am PC verbringen, eine verbindliche Zusammenarbeit<br />

einzugehen», unterstreicht Bänziger. Die Begleitung geht<br />

dann schnell einmal über die Beratung im Büro hinaus: «Sie müssen<br />

am Morgen geweckt, zu Terminen begleitet oder erinnert werden.»<br />

Solche Fälle kennt auch Béatrice Thoma, Stellenleiterin der Sozialen<br />

Dienste Appenzeller Mittelland in Speicher. «Die jungen Er-<br />

Kritik aus ländlichen Gemeinden: «Uns fehlen die Instrumente, um den nötigen Druck aufzubauen.»<br />

Bild: Keystone<br />

22 ZeSo 4/13 SCHWERPUNKT


junge erwachsene<br />

wachsenen verhalten sich nicht verbindlich. Im Vordergrund steht<br />

bei ihnen die finanzielle Unterstützung.» Umso mehr müssen sie<br />

bei der Suche nach einer Lehr-, Praktikums- oder Arbeitsstelle unterstützt<br />

werden. Um die Integration voranzubringen, müssen die<br />

jungen Erwachsenen vermehrt zu Standortgesprächen erscheinen,<br />

und die Auszahlung der materiellen Unterstützung erfolgt dann<br />

nicht monatlich, sondern in kürzeren Abständen, «damit sie lernen,<br />

das Geld einzuteilen». Falls sie die Voraussetzungen mitbringen,<br />

können die jungen Erwachsenen im appenzellischen Mittelland<br />

am Mentoring-Projekt «Wir für dich» teilnehmen, wo sie bei<br />

der Suche nach einer Lehrstelle oder einem unterstützt werden.<br />

Beim RAV erhalten sie Unterstützung bei der Stellensuche. Die<br />

Betreuung erfolgt engmaschiger, die Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen<br />

ist etabliert.<br />

Man hilft sich so gut, wie man kann<br />

In Schwarzenburg wird die für die intensivere Beratung notwendige<br />

Zeit teilweise bei Klientinnen und Klienten mit weniger Bedarf<br />

an persönlichen Hilfestellungen eingespart. Für junge Erwachsene,<br />

die motiviert sind und Ressourcen mitbringen, gibt es genügend<br />

spezifische Beschäftigungsangebote. «Schwierig sind die mit<br />

Störungen, die nicht in der Lage sind, mit der IV zu kooperieren,<br />

die mit hohem Cannabiskonsum oder – zunehmend – mit PC-<br />

Spielsucht», sagt Irene Bänziger. Eine Problemgruppe in der Problemgruppe<br />

sind Personen, die den Rahmen einer stationären Begleitung<br />

benötigen würden, aber nicht motiviert sind, in eine<br />

Institution einzutreten. «In solchen Fällen ist es unterstützend,<br />

wenn wir mit anderen Stellen zusammenarbeiten können, mit Psychiatern,<br />

Ärzten, Eltern, der IV, der Berufsberatung oder Anbietern<br />

von Beschäftigungsprogrammen.» Die Sozialbehörde von Schwarzenburg<br />

verlangt ein halbjährliches Reporting über die zahlenmässige<br />

Entwicklung der Klientengruppe.<br />

«Die jungen Erwachsenen kennen ihre Rechte, aber von Pflichten<br />

halten sie nicht sehr viel. Und uns fehlen die Instrumente, um<br />

den nötigen Druck aufzubauen», bedauert Béatrice Thoma. «Ausser<br />

Kürzungen haben wir keine weiteren Massnahmen, und das<br />

wissen die sehr genau.» Schwierige Fälle werden im Rahmen von<br />

Intervisionen und Supervisionen besprochen. «Im regelmässigen<br />

Umgang sind wir auf uns alleine gestellt. Wir sorgen aber dafür,<br />

dass wir die Gespräche in der Regel zu zweit führen», sagt Thoma.<br />

«Zudem habe ich nach wie vor die Vision, dass wir im Appenzeller<br />

Mittelland ein Arbeitsprojekt lancieren können, an dem die jungen<br />

Erwachsenen teilnehmen müssen.»<br />

Stadt kann spezialisierte Fachkräfte einstellen<br />

In St. Gallen – geografisch nicht unweit von Speicher – wurden<br />

2011 Massnahmen eingeleitet, um dem Problem der steigenden<br />

Zahl junger Erwachsener in der Sozialhilfe zu begegnen. Gestützt<br />

auf Forschungsergebnisse, Erfahrungen anderer Städte und auf eine<br />

Befragung von Betroffenen, Beteiligten und involvierten Fachstellen<br />

werden heute Sozialarbeitende eingesetzt, die über spezifisches<br />

Know-how verfügen und geeignete Beratungsmethoden<br />

kennen. Zudem werden gemeinsam mit entsprechenden Anbietern<br />

adäquate Programme entwickelt. Diese haben zum Ziel, die<br />

jungen Erwachsenen zu stabilisieren und eine Qualifizierung auf<br />

fachlicher, schulischer und persönlicher Ebene zu ermöglichen.<br />

Im Rahmen von Fallbesprechungen stehen den Sozialarbeitenden<br />

der Stadt St.Gallen auch Fachpersonen mit spezifischem Wissen<br />

über den Arbeits- und Bildungsmarkt zur Seite. Je nach Situation<br />

können diese auch in ein Beratungsgespräch einbezogen werden.<br />

Rund ein Sechstel der jungen Erwachsenen, die in der Stadt<br />

St.Gallen Sozialhilfe beziehen, finden mit der aktuellen Unterstützung<br />

den Anschluss in eine Arbeit oder eine Ausbildung. Ein weiteres<br />

Sechstel befindet sich in einem qualifizierenden Programm<br />

oder Brückenangebot. «Die ersten Erfahrungen zeigen, dass die<br />

Zahl der jungen Erwachsenen, die bereits genügend Stabilität haben,<br />

um den Einstieg in eine Ausbildung oder eine Arbeitsstelle zu<br />

finden, tiefer liegt als angenommen», sagt Andrea Weibel, Abteilungsleiterin<br />

bei den Sozialen Diensten der Stadt St.Gallen. «Die<br />

Massnahmen müssen deutlich niederschwelliger sein als geplant.»<br />

Charakteristisch für die Problemgruppe sei, dass sich viele der<br />

jungen Erwachsenen in einer zum Teil erheblichen finanziellen<br />

Notlage befindet und häufig eine instabile Wohnsituation und<br />

auch Suchtprobleme hat. «In der Folge gelingt es ihnen oftmals<br />

nicht, ihr Potenzial umzusetzen», sagt Weibel. «Entsprechend<br />

setzt die Beratung und Unterstützung bei diesen Themen an.<br />

Der Aufbau einer tragenden Arbeitsbeziehung ist dabei zentral.»<br />

Im Kontext der gesetzlichen Sozialhilfe sei das aber häufig nicht<br />

einfach. Mit Information, Transparenz und Methoden wie Lösungs-<br />

und Ressourcenorientierung wird versucht, dem Problem<br />

zu begegnen.<br />

Mit gut der Hälfte der jungen Erwachsenen muss intensiv an<br />

der Stabilisierung und der Verbindlichkeit gearbeitet werden. Das<br />

bedeutet beispielsweise Ordnung in Alltagsangelegenheiten bringen<br />

(Krankenkasse, Rechnungen usw.), Verantwortung für das eigene<br />

Handeln übernehmen lernen, eine psychologische oder psychiatrische<br />

Behandlung oder einen Entzug antreten. Nicht selten<br />

kommt es auch zum Kontaktabbruch. Die jungen Erwachsenen<br />

bleiben der Beratung fern und sind auch nicht mehr erreichbar.<br />

«Die Herausforderung in der Beratung von jungen Erwachsenen<br />

ist, ihnen bewusst zu machen, dass sie in der Sozialhilfe Unterstützung<br />

und Chancen für die Veränderung ihrer Situation erhalten»,<br />

fasst Andrea Weibel zusammen.<br />

Abhilfe durch mehr Prävention und stärkere Anreize<br />

Und wo orten die befragten ländlichen Sozialdienste Entlastungsund<br />

Verbesserungspotenzial? «Oft haben diese jungen Erwachsenen<br />

mit der Sozialhilfe mehr Geld als je zuvor zur Verfügung und<br />

der Anreiz zu arbeiten fällt damit weg», sagt Béatrice Thoma. Um<br />

dies zu ändern, schlägt sie eine differenziertere Ausgestaltung der<br />

SKOS-Richtlinien vor. Zudem müsste vermehrt das <strong>ganz</strong>e Familiensystem<br />

miteinbezogen werden, auch wenn die jungen Erwachsenen<br />

bereits volljährig sind. «Das Verantwortungsbewusstsein der<br />

Eltern lässt oft zu wünschen übrig», bedauert Thoma. Irene Bänziger<br />

würde bei der Prävention und der Früherfassung ansetzen:<br />

«Dafür braucht es gemeinsame Ziele, gut definierte Aufgaben und<br />

Zuständigkeiten, klare Informationsflüsse und eine gut funktionierende<br />

Zusammenarbeit unter den verschiedenen Akteuren,<br />

auch jenen, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben.»<br />

Spürbar ist das grosse Engagement, mit dem nach Antworten<br />

auf diese Herausforderungen gesucht wird. Die Beobachtungen<br />

und Anregungen zeigen aber auch, wie schwierig es sein kann,<br />

allen Klientinnen und Klienten neue Perspektiven zu eröffnen, um<br />

sich dauerhaft von der Sozialhilfe abzulösen. <br />

•<br />

SCHWERPUNKT 4/13 ZeSo<br />

Michael Fritschi<br />


Die Validierung von Kompetenzen<br />

stärkt das Selbstvertrauen<br />

Der Kanton Waadt geht bei der arbeitsmarktlichen Integration von jungen erwachsenen<br />

Sozialhilfebeziehenden einen eigenen Weg. Der alternative Ansatz hat seine Wurzeln in der<br />

Vermittlungsstrategie für Lehrstellen und Arbeitsplätze der kantonalen IV-Stelle.<br />

Die Besorgnis über die stetige Zunahme des Sozialhilfebezugs von<br />

jungen Erwachsenen hat die Waadtländer Sozialbehörden bereits<br />

im Jahr 2006 dazu bewogen, dieser Klientengruppe und deren<br />

beruflicher Integration grössere Aufmerksamkeit zu schenken. Die<br />

Behörden wandten sich in der Folge an die kantonale Invalidenversicherungs-Stelle<br />

in Vevey, die über viel Know-how und Erfahrung<br />

auf dem Gebiet der Rehabilitation und der Vermittlung von Lehrstellen<br />

und Arbeitsplätzen verfügt. Bei der Unterstützung von<br />

Menschen auf Arbeitssuche orientiert sich die IV-Stelle an einer<br />

Methode, die auf die Validierung von Restkompetenzen und die<br />

Stärkung des Selbstvertrauens von verunsicherten Menschen setzt.<br />

Dieser Ansatz lässt sich auch bei anderen Personengruppen mit beruflichen<br />

Schwierigkeiten anwenden und eignet sich insbesondere<br />

auch sehr gut für die Klientengruppe junge Erwachsene in der<br />

Sozialhilfe. Der IV-spezifische Aspekt «gesundheitliche Beeinträchtigung»<br />

wird dabei einfach ausgeklammert.<br />

Das eigentliche Projekt «Intégration professionnelle des jeunes<br />

adultes en difficulté» (IPJAD), mit dem dynamische Strukturen<br />

für die Reintegration der genannten Personengruppe geschaffen<br />

werden sollte, begann mit der Einstellung des Arbeitssoziologen<br />

Marco Nigro im April 2009. Nigro, der auch über eine technische<br />

Ausbildung verfügt, stellte gleich zu Beginn die Hypothese auf,<br />

dass das Fehlen einer soliden Schuldbildung kein absolutes Hindernis<br />

für eine Wiedereingliederung ist. Das erlaubte es ihm, die<br />

sehr unterschiedlichen Ausbildungsniveaus der von ihm angetroffenen<br />

Kandidatinnen und Kandidaten in seinen Arbeitsansatz zu<br />

integrieren. Effektiv stellte sich heraus, dass sich unqualifizierte<br />

Menschen teilweise sehr leicht in die Arbeitswelt integrieren lassen,<br />

während andere mit besserer Schulbildung dies nicht schaffen.<br />

Dies erklärt sich über ihre sozialen Kompetenzen respektive<br />

auch durch ihre Fähigkeit, eine Stellensuche lebendig zu gestalten<br />

und einen Arbeitgeber von sich zu überzeugen. Das grösste Hindernis<br />

bei den einzelnen Integrationsprojekten liegt hingegen oft<br />

im Umstand, dass die Berufsberatung den Wünschen der Jungen<br />

und ihren schwierigen Lebensläufen nicht gebührend Rechnung<br />

tragen kann.<br />

«Was die Jungen nicht<br />

selbst können, machen<br />

wir an ihrer Stelle»<br />

Nigro stützt seine Arbeit auf ein Prinzip, das den herrschenden<br />

Trends in Sachen Eingliederung – Stärkung der Autonomie der<br />

Kandidatinnen und Kandidaten – diametral entgegengesetzt ist:<br />

«Was die Jungen nicht selbst können, machen wir an ihrer Stelle»,<br />

so seine Devise. Er hilft ihnen, konkrete Projekte aufzubauen und<br />

durchzuziehen – von der Suche nach unqualifizierten Stellen bis<br />

zu vollständigen Ausbildungen. Zwei Kriterien, die die jungen Erwachsenen<br />

selber mitbringen müssen, sind dabei allerdings unerlässlich:<br />

Freude an einer Tätigkeit und Zuverlässigkeit, sei es am<br />

Arbeitsplatz oder in der Ausbildung.<br />

Pragmatisch und effizient<br />

Heute besteht das Team von IPJAD aus fünf Personen. Die Methodologie<br />

orientiert sich nach wie vor am pragmatischen Ansatz, der<br />

auf die Lust und das Potenzial des jungen Erwachsenen abstützt.<br />

Eine weitere wichtige Komponente ist der enge Einbezug der Partnerinstitutionen:<br />

Wenn ein Kandidat oder eine Kandidatin an den<br />

Service IPJAD verwiesen wird, geschieht dies immer mit einer ausführlich<br />

dokumentierten Beschreibung der Problematik und der<br />

Lebensumstände der jungen erwachsenen Person sowie der institutionellen<br />

Erwartungen der vermittelnden regionalen Sozialzentren<br />

und anderer Partner der Sozialhilfe.<br />

Die Vorgehensstrategie sieht vor, als erstes eine starke Bindung<br />

zum jungen Erwachsenen herzustellen. Dann beginnt der<br />

kontinuierliche Aufbau des Vertrauens, das am Anfang eines<br />

Projekts oft defizitär ist. Vertrauen ist für die enge Zusammenarbeit<br />

in sämtlichen Phasen der Projektumsetzung zentral, und<br />

es muss gegenseitig sein. Der Berater darf sich beispielsweise<br />

nicht erlauben, ein nicht besonders realistisches Projekt abzuqualifizieren.<br />

Er wird vielmehr versuchen, es als Ausgangspunkt<br />

zu nehmen für den Aufbau eines Plans, der den Ressourcen der<br />

Person besser gerecht wird.<br />

Die traditionellen Methoden für die berufliche Eingliederung<br />

suchen in erster Linie ein Netz von Unternehmen, die regelmässig<br />

mit der Eingliederungsinstitution zusammenarbeiten. Nigro<br />

geht auch hier anders vor: Er bewirbt den Stellenmarkt intensiv<br />

mit dem gemeinsam mit dem jungen Erwachsenen erarbeiteten<br />

Projekt. Wenn nötig, bezieht er diesen sehr aktiv mit ein und geht<br />

mit ihm beispielsweise bei den Unternehmen hausieren. Der Erfolg<br />

dieser Strategie hängt natürlich auch ab von der Person und<br />

dem anvisierten Berufszweig. Grundsätzlich wird eine durchaus<br />

Taylor'sche Effizienz angestrebt: «The right man at the right place»<br />

– hier eben auf dem Arbeitsmarkt.<br />

Der Ansatz ist durchaus wirksam. So konnte ein Klient, der aufgrund<br />

einer schwierigen Vaterbeziehung ein gestörtes Verhältnis<br />

zu Autoritäten hatte, wieder eine Vertrauensbeziehung erfahren,<br />

24 ZeSo 4/13 SCHWERPUNKT


junge erwachsene<br />

Der Junge, der eine<br />

prestigeversprechende<br />

Arbeit wollte, fand die<br />

gesuchte Anerkennung<br />

in einer industriellen<br />

Beschäftigung bei einer<br />

grossen Holding.<br />

Mit Selbstvertrauen findet sich leichter ein Arbeitsplatz.<br />

Bild: Keystone<br />

nachdem ein Vorgesetzter ihn wie ein grosser Bruder ernst genommen<br />

hatte und ihn seine Wertschätzung spüren liess. Ein anderer,<br />

der für seine Weiterentwicklung einen strengen Rahmen braucht,<br />

fand sein Glück in einer Konditorei, wo am Vormittag während der<br />

Arbeit nicht gesprochen werden durfte. Ein drittes Beispiel: Der<br />

Junge, der sich für eine prestigeversprechende Arbeit interessierte,<br />

dem sein tiefes intellektuelles und schulisches Niveau eine höhere<br />

Ausbildung aber verunmöglichte, fand die gesuchte Anerkennung<br />

in einer eher monotonen industriellen Beschäftigung – bei einer<br />

grossen Holding.<br />

Integration nicht um jeden Preis<br />

2011 fanden von 149 Personen, die vom Dienst IPJAD betreut<br />

wurden, 81 eine Stelle in einem Unternehmen, und 2012 waren<br />

es 96 von 151. Diese Resultate unterstreichen die Effizienz dieses<br />

individuellen und realitätsnahen Vorgehens. Dank dem erfolgten<br />

Ausbau des Dienstes konnten zudem auch weit mehr duale Ausbildungen<br />

vermittelt werden als im Vorjahr (76 im Jahr 2012 gegenüber<br />

49 im Jahr 2011). Der Service IPJAD integriert jedoch nicht<br />

um jeden Preis. Dass er die Kandidatinnen und Kandidaten mit<br />

der Realität konfrontiert, kann auch zu Schwierigkeiten und zu<br />

Blockaden führen, die mit den Anforderungen der Arbeitswelt<br />

nicht zu vereinbaren sind. Die Klienten, die nicht vermittelt werden<br />

konnten, weisen im Allgemeinen eine für die Wiedereingliederung<br />

zu komplexe Problematik auf und werden von anderen Unterstützungsinstanzen<br />

betreut.<br />

Für die IV-Stelle des Kantons Waadt ist die Einbindung des<br />

Dienstes IPJAD eine Quelle der Kreativität. Die IV-Berater erhalten<br />

dadurch Einblick in alternative methodische Ansätze. Und das ist<br />

die verdiente Belohnung für eine Institution, die ihre Kompetenzen<br />

für das Entstehen dieses Prozesses zur Verfügung gestellt hat. •<br />

Dominique Dorthe<br />

IV-Stelle Kanton Waadt<br />


Strategien gegen schwierige<br />

Situationen der Zusammenarbeit<br />

Die Beratungssituation «erschwerte Kooperation» ist für alle Beteiligten stark belastend. Wer die<br />

vielen wirkenden Faktoren und ihren Einfluss auf die Zusammenarbeit kennt, ist eher befähigt, mit<br />

der Belastung umzugehen.<br />

In der Sozialarbeit verursachen Fälle, bei<br />

denen sich die Zusammenarbeit mit den<br />

Hilfesuchenden schwierig gestaltet, grossen<br />

Zeit- und Energieaufwand. Eine minimale<br />

Kooperation kommt in den meisten<br />

Fällen zwar zustande, da die Unterstützungssuchenden<br />

auf Sozialhilfe angewiesen<br />

sind. Das Herstellen einer geteilten<br />

Problemsicht und die gemeinsame Zielbestimmung<br />

gelingt jedoch nicht oder nur<br />

teilweise. Dies wiederum verhindert Fortschritte<br />

in Richtung Verbesserung der Situation.<br />

Die Kooperation wird beispielsweise<br />

dann schwierig, wenn systembedingte Vorgaben<br />

von den Hilfesuchenden nicht verstanden<br />

oder nicht erfüllt werden können.<br />

Der Druck zur Arbeitsintegration und damit<br />

verbundene Sanktionen stellen dabei eine<br />

besonders grosse Herausforderung dar.<br />

Den fallbetreuenden Sozialarbeiterinnen<br />

und Sozialarbeitern bereitet es<br />

ihrerseits Mühe, von den Betroffenen<br />

«sinnlose» Gegenleistungen einfordern zu<br />

müssen, etwa wenn sie die Chance auf eine<br />

Reintegration in den Arbeitsmarkt als gering<br />

einschätzen. Solche «Alibiübungen»<br />

können die Hilfebeziehung stark beeinträchtigen.<br />

Das zeigte sich anlässlich einer<br />

in drei Sozialdiensten durchgeführten<br />

Umfrage darüber, welche Faktoren die<br />

Kooperation in sozialarbeiterischen Beratungssituation<br />

erschweren.<br />

ter fehlendem Realitätsbezug und dem<br />

Auseinanderdriften verschiedener Situationseinschätzungen<br />

respektive Lösungsbestrebungen.<br />

So neigen Klientinnen und<br />

Klienten dazu, keine eigenen Anteile am<br />

Problem zu sehen (Externalisieren), während<br />

manche Sozialarbeitende das Problem<br />

vor allem bei den Klienten festmachen<br />

und existierende strukturelle Hindernisse<br />

ausblenden (Individualisieren).<br />

Es ist zudem eine offene und für die<br />

Beteiligten schwierige Frage, welche Perspektiven<br />

auf einen gelingenden Hilfeverlauf<br />

mit einer Person erarbeitet werden<br />

können, die hinsichtlich Leistungsfähigkeit<br />

und Verhalten aus dem Rahmen der<br />

Normalitätsvorstellungen herausfällt. Oft<br />

ist der Sozialhilfebezug auch das Resultat<br />

einer Abwärtsspirale und eines Kampfs gegen<br />

die Entwertung. Das bringt eine grosse<br />

Verletzlichkeit mit sich und stellt generell<br />

eine wacklige Grundlage für eine Kooperation<br />

dar.<br />

Die Sozialarbeitenden berichten ferner<br />

von teilweise unrealistischen Erwartungen<br />

der Sozialhilfebehörde, die Entscheidungsprozesse<br />

ebenfalls erschweren können.<br />

Insbesondere sei es belastend, Entscheide<br />

gegenüber den Sozialhilfebeziehenden<br />

vertreten zu müssen, wenn sie der eigenen<br />

fachlichen Einschätzung widersprechen.<br />

Wenn sich zu einer solchen Situation auch<br />

noch Arbeitsüberlastung hinzugesellt,<br />

leidet darunter die Energie und emotionale<br />

Stabilität der Sozialarbeitenden, die<br />

Die Beteiligten<br />

können die<br />

Schwierigkeiten<br />

nur bedingt<br />

beeinflussen.<br />

Viele Spannungsfelder<br />

Schwierig ist auch die Zusammenarbeit<br />

mit Hilfesuchenden, die den Sozialarbeitenden<br />

Vorwürfe und Schuldzuweisungen<br />

für ihre Situation machen, die sie bedrohen<br />

oder gerichtlich gegen sie beziehungsweise<br />

den Dienst vorgehen. Eine zentrale<br />

Stellung in der Beschreibung erschwerter<br />

Kooperation aus Sicht der Sozialarbeitenden<br />

nehmen ferner Hilfesuchende ein, bei<br />

denen eine psychische Beeinträchtigung<br />

vermutet wird. Die Kooperation leidet unfür<br />

einen professionellen Umgang mit<br />

den Klientinnen und Klienten notwendig<br />

sind. Situatives Fehlverhalten kann in der<br />

Folge zu einer weiteren Verschärfung der<br />

erschwerten Kooperation führen. Die Beteiligten<br />

können die vielfältigen Schwierigkeiten,<br />

die auf eine Kooperation einwirken<br />

können, also nur bedingt beeinflussen. Sie<br />

hängen massgeblich von den Rahmenbedingungen<br />

ab. Die Untersuchung zeigte<br />

aber auch, dass die Sozialarbeitenden sowie<br />

die Dienste als Ganzes über Strategien<br />

verfügen, mit diesen Herausforderungen<br />

umzugehen. In der konkreten Fallarbeit<br />

hilft beispielsweise das Know-how über<br />

Gesprächsführung und Beziehungsgestaltung,<br />

Wertschätzung zu vermitteln und<br />

schwierige Emotionen aufzufangen.<br />

Vertrauen als Schlüssel<br />

Das Vertrauen, das so entstehen kann, wird<br />

zum zentralen Schlüssel für gelingende Hilfe.<br />

Es lohnt sich, Interventionen gemeinsam<br />

auszuhandeln und auf Bedürfnisse der<br />

Betroffenen einzugehen. Insbesondere<br />

wenn der Druck zur Arbeitsintegration – wo<br />

sinnvoll – entschärft und mehr Raum für<br />

Eigeninitiative der Betroffenen geschaffen<br />

wird, kommt es zu Fortschritten.<br />

Auch der Rückhalt im Team ist für die<br />

Sozialarbeitenden von grosser Bedeutung.<br />

Der Austausch in Inter- und Supervisionen<br />

oder informell im Arbeitsalltag hilft ihnen,<br />

mit schwierigen Situationen umzugehen<br />

und fachlich korrekte Entscheide zu fällen.<br />

Hierfür ist allerdings Konstanz im Team<br />

notwendig. Kommt es zu erheblichen<br />

Personalfluktuationen, wird die Teamsituation<br />

zur Belastung statt zur Entlastung.<br />

Gute Arbeitsbedingungen sind daher Voraussetzung<br />

für eine tragende Teamkultur.<br />

Für die fachliche Sozialarbeit ist es<br />

im Weiteren hilfreich, wenn die Sozialhilfebehörden<br />

ihre Kontrollfunktion auf der<br />

programmatischen Ebene wahrnehmen.<br />

26 ZeSo 4/13 STUDIE


Die Forderung nach kultureller Anpassung ist eine Herausforderung für alle.<br />

Bild: Pixsil<br />

Das Herstellen einer geteilten Problemsicht und die gemeinsame Zielbestimmung gelingt nicht immer. <br />

Bild: Keystone<br />

Die Überprüfung von Einzelfallentscheiden<br />

stellt eine hohe zeitliche Belastung<br />

sowohl für die Behörden als auch für die<br />

Sozialarbeitenden dar. Die Vorgabe von<br />

Leitlinien und die Kontrolle der Einzelfallentscheide<br />

lediglich durch die Sozialdienstleitung<br />

– mit gelegentlichen Stichprobenüberprüfungen<br />

durch die Behörde<br />

– wirkt ebenfalls entlastend. In einem der<br />

drei untersuchten Sozialdienste wurde dies<br />

so gehandhabt. Hier war die Arbeitszufriedenheit<br />

wesentlich höher als in den beiden<br />

anderen Diensten.<br />

Arbeitsintegration entideologisieren<br />

Wenn es gelänge, das Thema der Arbeitsintegration<br />

zu entideologisieren, wäre das<br />

auch hilfreich. Viele der Hilfesuchenden<br />

können die steigenden Anforderungen des<br />

ersten Arbeitsmarkts nicht erfüllen. Die<br />

Praxis des Gegenleistungsprinzips zwingt<br />

Sozialarbeitende häufig, von diesen Hilfesuchenden<br />

dennoch Arbeitsbemühungen<br />

und die Teilnahme an Integrationsprogrammen<br />

zu verlangen. Bei den Betroffenen<br />

verstärken sich so Misserfolgserfahrungen,<br />

die für eine langfristige Integration<br />

kontraproduktiv sind.<br />

Auch die Sozialarbeitenden erleben solche<br />

von ihnen verhängten Massnahmen als<br />

wenig sinnvoll. Manchmal blenden sie die<br />

strukturellen Rahmenbedingungen aus und<br />

schreiben die nicht gelingende Integration<br />

mangelnden Bemühungen der Sozialhilfebeziehenden<br />

zu. Es wäre deshalb wichtig,<br />

beim Thema Arbeitsintegration den Sozialarbeitenden<br />

fachliche Entscheidungsspielräume<br />

zu geben, welche Form eine Gegenleistung<br />

im konkreten Fall annehmen soll.<br />

Fazit<br />

Erschwerte Kooperation entsteht folglich<br />

aus dem Zusammenspiel verschiedener<br />

Faktoren auf der interaktiven Ebene der<br />

Hilfebeziehung, auf der organisatorischen<br />

Ebene im Sozialdienst sowie aufgrund sozialpolitischer<br />

Einflüsse via Sozialhilfebehörden<br />

und Gesellschaft. Demensprechend<br />

sind Verbesserungen auf allen drei<br />

Ebenen und unter Berücksichtigung ihrer<br />

Wechselwirkungsprozesse anzustreben. •<br />

Miryam Eser Davolio, ZHAW,<br />

Jutta Guhl und Fabienne Rotzetter, FHNW<br />

Literatur<br />

Eser Davolio, Miryam, Guhl, Jutta, Rotzetter, Fabienne,<br />

Erschwerte Kooperation in der sozialarbeiterischen<br />

Beratungssituation – Sozialarbeitende<br />

im Spannungsfeld zwischen institutionellen<br />

Rahmenbedingungen und Professionalität,<br />

Gesowip, Basel, <strong>2013</strong>.<br />

STUDIE 4/13 ZeSo<br />

27


«Jetzt müssen wir uns neu erfinden»<br />

Der Umzug der Sozialen Dienste der Stadt Winterthur in Grossraumbüros im Jahr 2015 stellt Planer<br />

und Mitarbeitende vor grosse räumliche und betriebliche Herausforderungen. In Workshops wurden<br />

die bei der Erfüllung der Aufgaben entstehenden Bedürfnisse überprüft und die Innenarchitektur des<br />

Gebäudes wurde mit einem innovativen Modell darauf ausgerichtet.<br />

Als die Winterthurer Stimmbevölkerung<br />

im Jahr 2010 dem Vorhaben zustimmte,<br />

einen grossen Teil der städtischen Verwaltung<br />

im ehemaligen Sulzerareal an einen<br />

Standort zusammenzulegen, betraf das<br />

auch den zukünftigen Standort der städtischen<br />

Sozialen Dienste. Rund 850 Arbeitsplätze<br />

werden im geplanten Neubau namens<br />

Superblock Platz finden, rund 180<br />

davon betreffen Mitarbeitende der Sozialen<br />

Dienste, konkret der Sozialhilfe, des<br />

Asylbereichs, der gesetzlichen Mandatsführung,<br />

der Sozialversicherungen und der<br />

Leitung. Ein Umzug, sei es im Rahmen eines<br />

Umbaus oder eines Neubaus, bedeutet<br />

auch eine räumliche Veränderung der Arbeitsplatzsituation:<br />

Heute finden die für<br />

Sozialdienste typischen Beratungsgespräche<br />

sowie administrative Arbeiten<br />

noch in rund 120 Einzel- und Zweierbüros<br />

statt.<br />

Mit dem bevorstehenden Umzug in<br />

Grossraumstrukturen werden diese räumlich<br />

abgegrenzten Gesprächssettings wegfallen.<br />

Für viele Mitarbeitende bedeutet<br />

dies ein radikaler Einschnitt. Viele sahen<br />

ihre Arbeit und gewohnte Abläufe dadurch<br />

existenziell in Frage gestellt. «Wie<br />

kompensiert man 100 wegfallende Einzelbüros?<br />

Wie und wo werden künftig<br />

Beratungen durchgeführt?» und weitere<br />

zentrale Fragen wie «Wie kann Vertraulichkeit<br />

und Sicherheit gewährleistet werden?»<br />

müssen beantwortet werden. Angesichts<br />

der Herausforderungen und der Bedeutung<br />

des Vorhabens beschlossen die Sozialen<br />

Dienste 2011, ein Betriebskonzept zu<br />

erarbeiten.<br />

Das Betriebskonzept hatte zum Ziel,<br />

die Kernaufgaben der Sozialen Dienste zu<br />

beschreiben und die damit verbundenen<br />

Abläufe in die vorgegebenen räumlichen<br />

Strukturen eines Open-Space-Konzepts<br />

einzupassen. Dies war wiederum eng mit<br />

den Fragen rund um Vertraulichkeit und<br />

Sicherheit verknüpft. Mit dem Betriebskonzept<br />

galt es darum auch, die Arbeit der<br />

Sozialen Dienste ein Stück weit «neu zu<br />

erfinden». Der Hauptauftrag der Sozialen<br />

Dienste blieb allerdings unverändert: Sie<br />

sollen Menschen in schwierigen Lebenssituationen<br />

und mit teilweise labilen Persönlichkeitsstrukturen<br />

unterstützen. Der<br />

Hauptauftrag lässt sich ferner in drei Kernaufgaben<br />

unterteilen: Empfang und Triage,<br />

Beratung und Administration.<br />

Partizipative Erarbeitung<br />

Um die Leitung und die Mitarbeitenden<br />

sukzessive für die neuen räumlichen Dimensionen<br />

ihrer Arbeit zu sensibilisieren,<br />

wurde das Betriebskonzept partizipativ erarbeitet.<br />

Die Mitarbeitenden erhielten so<br />

die Möglichkeit, mit der Architektur des<br />

Gebäudes in einen «Dialog» zu treten und<br />

den Raum proaktiv als Unterstützung für<br />

die spezifischen Anforderungen ihrer Arbeit<br />

zu erkennen.<br />

In einem ersten Schritt wurden in extern<br />

begleiteten Workshops die Arbeitsabläufe<br />

vom gewohnten räumlichen Kontext<br />

herausgelöst und in einem zweiten<br />

Schritt im Hinblick auf die vorgegeben<br />

Strukturen des neuen Gebäudes weiterentwickelt.<br />

Dabei kam es zu intensiven<br />

Diskussionen, wie in offenen Raumstrukturen<br />

die sich teilweise widersprechenden<br />

Anforderungen bezüglich Vertraulichkeit<br />

und Sicherheit unter einen Hut gebracht<br />

werden könnten. So sollte etwa niemand<br />

die vertraulichen Beratungsgespräche<br />

mithören können. Die Umgebung sollte<br />

aber eskalierende Beratungsituationen<br />

dennoch erkennen und nötigenfalls eingreifen<br />

können. Es zeigte sich, dass sich<br />

diese gegensätzlichen Anforderungen am<br />

ehesten mit einem Sicherheitskonzept lösen<br />

lassen, das auf soziale Kontrolle und<br />

Deeskalation beruht. Das Konzept soll<br />

räumlich passende und atmosphärisch<br />

stimmige Gesprächssettings zulassen, die<br />

für eine gute Beratung von Menschen in<br />

schwierigen Lebenssituationen sehr wichtig<br />

sind.<br />

Die Einteilung der Kernaufgaben in<br />

«Empfang und Triage», «Beratung» und<br />

«Administration» fand eine räumliche<br />

Entsprechung in den drei entwickelten<br />

Zonen «Empfang/Warten», «Frontoffice»<br />

und «Backoffice». Damit konnten gleichzeitig<br />

die Flächen mit und ohne Zutritt<br />

für Klientinnen und Klienten festgelegt<br />

werden. Die Bereiche mit Zutritt sind um<br />

die öffentlich zugängliche Erschliessungszone<br />

gruppiert. Sie sind räumlich klar von<br />

den Bereichen mit Badge-Zugang getrennt<br />

(vgl. Planskizze rechts).<br />

Räumliche Umsetzung<br />

Das «Einzelbüro», das bisher Beratung und<br />

die dazu gehörende administrative Arbeit<br />

noch in einem Raum vereinigt, wird neu in<br />

eine halb-offene Raumstruktur übertragen.<br />

Die Beratung der Klientinnen und Klienten<br />

wird in gläsernen Beratungskojen stattfinden,<br />

die sich unmittelbar neben den Arbeitsplätzen<br />

befinden. So liegen Beratung<br />

und Administration weiterhin räumlich<br />

nahe beieinander und die soziale Kontrolle<br />

bleibt möglich. Um eine stimmige Gesprächsatmosphäre<br />

zu schaffen, ist zudem<br />

vorgesehen, die Beratungskojen nach den<br />

unterschiedlichen Bedürfnissen der Abteilungen<br />

und ihrer Zielgruppen (jung, alt,<br />

selbstständig, unmündig) zu gestalten.<br />

Die Beratungskojen selbst bieten Platz<br />

für zwei bis drei Personen, was gemäss<br />

einer internen Erhebung dem Bedarf entspricht.<br />

Für Beratungen mit mehr als drei<br />

Personen steht ein grösserer Raum zur<br />

Verfügung (unten links im Plan). Die Beratungskojen<br />

können auch für längere Telefongespräche<br />

oder interne Besprechungen<br />

genutzt werden, um so die Kolleginnen<br />

und Kollegen an den benachbarten Arbeitsplätzen<br />

akustisch zu entlasten.<br />

Die Durchgänge zwischen den Beratungskojen<br />

werden mit transparenten,<br />

halbhohen Abschlüssen versehen. Damit<br />

wird den Klientinnen und Klienten der<br />

Zutritt in den Mitarbeiterbereich verwehrt,<br />

28 ZeSo 4/13 SOZIALARBEIT IM GROSSRAUMBÜRO


Planskizze des Frontoffice-Bereichs: Mit der<br />

rhythmisierenden, raumgliedernden Anordnung<br />

der Beratungskojen ist es gelungen, die sich<br />

zuwiderlaufenden Anforderungen hinsichtlich<br />

Vertraulichkeit, Transparenz, Deeskalation und<br />

Sicherheit alle zu erfüllen.<br />

<br />

die soziale Kontrolle über den Korridor<br />

aber bleibt dank dem so ermöglichten<br />

Sichtkontakt erhalten. In einer Gefahrensituation<br />

können die Mitarbeitenden des<br />

Frontoffices zudem über einen direkten<br />

Zugang in den Backoffice-Bereich flüchten<br />

Bild: zvg<br />

und müssen sich so nicht in den Korridor<br />

begeben. Diese Lösung mit der ergänzenden<br />

Zone der Beratungskojen erlaubt<br />

es, die konzeptionelle Vorgabe des Open-<br />

Space-Büros umzusetzen und auf Einzelbüros<br />

komplett zu verzichten.<br />

Räumliche Sprache als Schlüssel<br />

Immer häufiger empfiehlt die Forschung,<br />

Nutzerinnen und Nutzer mit ihrem Wissen<br />

in die Planung miteinzubeziehen. Dies<br />

setzten die Sozialen Dienste Winterthur<br />

mit dem früh eingeleiteten Partizipationsprozess<br />

und dem daraus entwickelten Betriebskonzept<br />

um. Mittels Visualisierung<br />

und Modellen konnten die betrieblichen<br />

Bedürfnisse überprüft und in einer räumlichen<br />

Sprache formuliert werden, was auch<br />

die sprachlichen Hürden gegenüber Bauund<br />

Möblierungsfachleuten reduzierte.<br />

Noch sind nicht alle Fragen gelöst. Ob<br />

wirklich alles wie angedacht funktionieren<br />

wird, wird sich erst beim Bezug weisen.<br />

Hier muss sich die entwicklungsoffene<br />

und anpassbare Konzeption in der Praxis<br />

noch beweisen. Klar ist aber bereits heute,<br />

dass die Sozialen Dienste Winterthur<br />

einen Weg gefunden haben, ihre Kernaufgabe,<br />

die Beratung von Menschen in<br />

schwierigen Lagen, den neuen räumlichstrukturellen<br />

Verhältnissen anzupassen<br />

und sich bei ihrer Arbeit auf diese abzustützen.<br />

•<br />

Daniela Tschudi,<br />

Stab Soziale Dienste Winterthur<br />

Andreas Hammon,<br />

Architektur und Entwicklungsräume, Mogelsberg<br />

SOZIALARBEIT IM GROSSRAUMBÜRO 4/13 ZeSo<br />

29


Aus dem Trott herausfinden und<br />

das Lächeln zurückgewinnen<br />

Für die Kundschaft ist Nestor Services ein normaler Cateringdienstleister. Für die Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter ist Nestor aber mehr als das: eine soziale Einrichtung, die Erwerbslosen und<br />

Sozialhilfebeziehenden bezahlte Arbeitseinsätze in der Gastronomie ermöglicht.<br />

Sie steht hinter dem Buffet, gerade Haltung,<br />

schwarze Kleidung und eine lange,<br />

grüne Schürze. Sie schenkt geduldig Orangensaft<br />

ein und entlässt den Kunden mit<br />

einem «Voilà, Monsieur» und einem Lächeln.<br />

Sandra Nanchen macht ihre Arbeit<br />

gut, und sie macht sie gern. Doch zum Lachen<br />

war ihr in den vergangenen Monaten<br />

nicht immer zu Mute. Vor einem Jahr wurde<br />

sie arbeitslos und hat seither trotz vielen<br />

Bewerbungen noch keine Vollzeit-Anstellung<br />

gefunden. «Sie stellen lieber jüngere,<br />

billigere Arbeitskräfte ohne Berufsdiplom<br />

ein, die bereit sind, Teilzeit zu arbeiten»,<br />

stellt die 42-Jährige fest. Sie räumt rasch<br />

ein paar leere Gläser weg und giesst frischen<br />

Orangensaft in die sauberen. Für<br />

den Kopf sei es gut gewesen, dass da Nestor<br />

war. Nestor ist eine im Kanton Wallis tätige<br />

Stiftung, die Menschen eine Beschäftigung<br />

bietet, die Mühe auf dem Arbeitsmarkt<br />

haben. Die Bedingung: Sie müssen<br />

sich fürs Gastgewerbe interessieren.<br />

Zusammenarbeit mit lokalen<br />

Anbietern<br />

Denn eigentlich ist Nestor ein Cateringservice<br />

– von sozialer Einrichtung merken<br />

die Kundinnen und Kunden an diesem<br />

Mittwochmorgen im Suva-Zentrum in Sion<br />

nichts. Die 300 Mitarbeiterinnen und<br />

Mitarbeiter von Spitalnetz Wallis besuchen<br />

hier eine Weiterbildung und erholen<br />

sich in der Pause vom Zuhören, bei Kaffee,<br />

Gipfeli, Saft und Früchten. Ob für<br />

zwanzig oder für tausend Personen, ob<br />

Betriebs- oder Familienanlass: Nestor<br />

kümmert sich nebst dem Kulinarischen<br />

auch um die Saalsuche, die Dekoration<br />

oder eine musikalische Unterhaltung – je<br />

nach Wunsch der Kundschaft. Das Essen<br />

fürs Bankett oder Buffet wird nicht selber<br />

produziert, es wird von lokalen Anbietern<br />

aus der Region bezogen. «Die Qualität der<br />

Produkte hat bei uns einen hohen Stellenwert»,<br />

sagt Fabienne Theytaz, die bei Nestor<br />

für die Koordination und Organisation<br />

verantwortlich zeichnet.<br />

Nichts von geschützte Werkstatt<br />

Auch dem eigentlichen Service, dem Bedienen<br />

der Gäste, wird ein hoher Stellenwert<br />

beigemessen. Simon Darioli, bis Ende Jahr<br />

Chef der kantonalen Dienststelle für Sozialwesen<br />

und innerhalb der Stiftung verantwortlich<br />

für die Projektentwicklung, betont,<br />

dass es sich bei Nestor nicht um eine<br />

geschützte Werkstatt handle. Im Gegenteil:<br />

«Wir schenken den Angestellten nichts.»<br />

Sie sollen aus ihrem Trott, der sich bei Arbeitslosen<br />

oder Ausgesteuerten einstellen<br />

kann, wieder herausfinden und zu neuer<br />

Schmutzige Gläser verschwinden in die Kisten.<br />

Motivation und zu Selbstvertrauen finden.<br />

Manchmal sei es so, dass ein Arbeitsloser<br />

nach ein bis zwei Jahren fernab seines Berufs<br />

eine gebrochene Person sei. Er brauche<br />

eine Anlehre, um das wieder zu lernen, was<br />

er eigentlich könne. Im Idealfall würden<br />

die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />

durch die Arbeit beim Cateringservice ihr<br />

Selbstvertrauen und ihr Lächeln zurückgewinnen.<br />

Einige brauchten dafür ein wenig<br />

mehr Zeit als andere, sagt Fabienne Theytaz.<br />

Das sei in Ordnung. Wichtig sei, dass<br />

sie die Bereitschaft zu einer guten Zusammenarbeit<br />

spüre. Denn die Kunden zahlen<br />

die gleichen Ansätze wie bei einem anderen<br />

Cateringservice auch und wollen folglich<br />

die gleiche Leistung, sagt Darioli.<br />

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter<br />

von Nestor wiederum werden via Arbeitslosenkasse,<br />

Sozialhilfe oder – in seltenen<br />

Fällen – Invalidenstelle vermittelt. Entlöhnt<br />

werden sie im Stundenlohn, nach<br />

Gastro-Suisse-Ansätzen. «Wir zahlen keine<br />

Dumping-Löhne», betont Darioli. Nach<br />

jedem Arbeitseinsatz werden die Mitarbeitenden<br />

auf einem Evaluationsbogen beurteilt.<br />

Nestor finanziert sich zu 60 Prozent<br />

selber. Die anderen 40 Prozent kommen<br />

durch Beiträge der Dienststelle für Sozialwesen,<br />

von privaten Gönnern und durch<br />

die Unterstützung der Loterie Romande<br />

zusammen.<br />

Die Mitarbeitenden müssen sich immer<br />

wieder auf neue Situationen einstellen,<br />

denn jeder Ort und jede Kundschaft ist<br />

anders. Von Gross- und Privatbanken oder<br />

Versicherungen etwa wurde der Service<br />

schon gebucht, aber auch von Gemeinden<br />

und Privaten. Bis Ende Jahr wird Nestor<br />

zwischen 130 und 140 mal ausgerückt<br />

sein, schätzt Darioli. Nestor existiert seit<br />

Mai 2012. Die Stiftung greift bei ihren<br />

Einsätzen auf einen Mitarbeiterpool zurück.<br />

Bei jedem Mal würden aber nebst<br />

den eingearbeiteten auch neue Mitarbeite-<br />

30 ZeSo 4/13 reportage


Das Nestor-Team bereitet das Mittagessen für 300 Personen vor. <br />

Bilder: Pia Neuenschwander<br />

rinnen und Mitarbeiter berücksichtigt, um<br />

auch ihnen eine Chance zu geben, erklärt<br />

Fabienne Theytaz.<br />

«Das zeigen, was ich kann»<br />

Das Stimmengewirr vor der Cafeteria der<br />

Klinik ist verstummt, die Kursteilnehmerinnen<br />

und Kursteilnehmer befinden<br />

sich wieder in den Seminarräumen. Sandra<br />

Nanchen, ihre Kollegin sowie die beiden<br />

festangestellten Nestor-Mitarbeiterinnen<br />

räumen in Windeseile schmutzige Gläser<br />

und Kaffeetassen in die Kisten. Dann stellen<br />

sie die Tische um und rollen das weisse<br />

Papiertischtuch aus. Ein kleiner Fleck auf<br />

dem Tischtuch stört, ein neues muss her.<br />

Sie zählen Gläser ab und ordnen sie symmetrisch<br />

an. Die Tellertürme müssen<br />

gleich hoch sein. Das Nestor-Team bereitet<br />

jetzt das Mittagessen für 300 Personen vor.<br />

Dabei legt es Wert auf kleine Details wie<br />

die kleinen Blumensträusschen und die<br />

adrett zurechtgelegten Servietten in Lila<br />

und Grün. Sofia Lourenço ist diplomierte<br />

Kellnerin und seit Mai arbeitslos. «Bei Nestor<br />

habe ich die Möglichkeit zu zeigen, was<br />

ich kann», sagt die 32-Jährige, die sich derzeit<br />

mit einer Teilzeitanstellung in einer<br />

Bäckerei über Wasser hält.<br />

Es ist bald zwölf Uhr. Zwei weitere Mitarbeiter<br />

sind zum Team gestossen und helfen<br />

bei den Vorbereitungsarbeiten. Alles<br />

ist parat, jetzt fehlt nur noch das Essen,<br />

das bald von einem lokalen Traiteur angeliefert<br />

wird. Sofia Lourenço und Sandra<br />

Nanchen, die seit dem Morgen im Einsatz<br />

sind, stehen kurz etwas abseits des Buffets<br />

und gönnen sich ein Gipfeli und einen<br />

Schluck Kaffee. Fabienne Theytaz blickt<br />

auf ihre Uhr, das Essen wurde noch nicht<br />

angeliefert, sie wird langsam nervös. Eine<br />

Viertelstunde später hält der Lieferwagen<br />

vor der Klinik und die Häppchen werden<br />

gut verpackt auf einem Wagen angerollt.<br />

Jetzt wird Fabienne Theytaz noch nervöser:<br />

Als sie zusammen mit ihren Mitarbeitenden<br />

die warmen Speisen in die Platten<br />

auf dem Buffet legen will, merkt sie, dass<br />

diese nicht gewärmt werden können – die<br />

Rechauds wurden ohne Brennsprit angeliefert.<br />

Die Nestor-Leute improvisieren.<br />

Schnell werden die Häppchen in die<br />

Klinik-Küche gebracht und dort am Warmen<br />

gehalten. Währenddessen läuft ein<br />

Mitarbeiter schnell zum nächstgelegenen<br />

Supermarkt, um ein paar Flaschen Brennsprit<br />

zu kaufen. Kurze Zeit später wird das<br />

Buffet eröffnet. Die 300 Gäste laden köstliche<br />

Häppchen auf ihre Teller. Und die<br />

Nestor-Mitarbeitenden stehen hinter dem<br />

Buffet. Lächeln, gerade Haltung, schwarze<br />

Kleidung und lange, grüne Schürze. So, als<br />

wäre nichts gewesen.<br />

•<br />

Catherine Arber<br />

reportage 4/13 ZeSo<br />

31


Sozialinfo.ch verbreitet<br />

Informationen und Fachwissen<br />

Der Verein Sozialinfo.ch bildet mit dem «Internetportal Sozialwesen Schweiz» das komplexe System<br />

des Sozialwesens in der Schweiz ab und publiziert relevante Informationen für Fachpersonen,<br />

Interessierte und Betroffene.<br />

PLATTFORM<br />

Die <strong>ZESO</strong> bietet ihren Partnerorganisationen<br />

diese Seite als Plattform an. In dieser Ausgabe<br />

dem Förderverein sozialinfo.ch.<br />

Das Team Informationsmanagement bei der Auswahl von Hintergrundmaterial. Bild: Franco Messerli<br />

Begonnen hat alles im Jahr 2002 mit der<br />

Gründung eines Vereins, der sich zum Ziel<br />

setzte, die Institutionen und Fachpersonen<br />

der Sozialen Arbeit mittels einer zentralen<br />

Drehscheibe zu vernetzen. Seither ist der<br />

«Verein sozialinfo.ch» stetig gewachsen<br />

und zählt heute mehr als 500 Institutionen<br />

zu seinen Mitgliedern. Seit Beginn der<br />

Tätigkeit bestehen Vorstand und Geschäftsleitung<br />

ausschliesslich aus Personen<br />

mit Hintergrund Soziale Arbeit. Damit<br />

wird gewährleistet, dass die Anliegen der<br />

Institutionen und Fachpersonen erkannt<br />

und umgesetzt werden.<br />

In den vergangenen zehn Jahren<br />

hat sich die Berufspraxis im Sozialbereich<br />

aufgrund der Neuausrichtung in<br />

der Aus- und Weiterbildung (Bologna-<br />

Reform) stark verändert. Soziale Arbeit<br />

wird auf Fachhochschulniveau gelehrt, die<br />

Forschung hat sich etabliert und qualifizierte<br />

Standards aus der Praxis tragen zu<br />

einer berufsethischen Neudefinition der<br />

Profession bei.<br />

Während soziale Institutionen früher<br />

erst in Problemsituationen fühl- und<br />

greifbar wurden, haben sie heute durch<br />

das Internet ein Gesicht erhalten. Gleichzeitig<br />

wird die Soziale Arbeit zunehmend<br />

politisch und medial in der Öffentlichkeit<br />

wahrgenommen. Die Geschäftsstelle von<br />

Sozialinfo.ch nimmt diese gesellschaftlichen<br />

Strömungen und die sich daraus<br />

entwickelnden berufspolitischen Debatten<br />

auf und stellt dazu fachlich fundierte Informationen<br />

für die verschiedenen Akteure<br />

auf ihrem Internetportal zur Verfügung.<br />

Täglich aktualisiertes Internetportal<br />

Auf der Startseite werden täglich News und<br />

aktuelle Fachinformationen veröffentlicht,<br />

beispielsweise Medienmitteilungen, Hinweise<br />

auf Neuerscheinungen von Fachbüchern,<br />

Studien, Fachzeitschriften oder thematische<br />

Vertiefungen eines speziellen<br />

Themas. Im Bereich Fachwissen haben die<br />

Mitglieder des Vereins Zugriff auf eine viel-<br />

fältige und umfassende Sammlung von Informationen<br />

aus dem Sozialbereich<br />

Schweiz. Die Informationen werden durch<br />

eine exakte und sachlich fundierte Verschlagwortung,<br />

die dem Sprachgebrauch<br />

der Sozialen Arbeit entspricht, erschlossen<br />

(700 Schlagworte und 500 Synonyme).<br />

Der Bereich Stellen ist mit zwischen<br />

300 bis 500 aktuellen Stellenangeboten<br />

zur grössten Online-Stellenplattform<br />

für den öffentlichen und privaten Sozialbereich<br />

in der Deutschschweiz he-<br />

32 ZeSo 4/13 plattform


angewachsen und zu einem wichtigen<br />

Begegnungsort für Stellensuchende und<br />

Stellenanbieter geworden.<br />

Der Bereich Aus- und Weiterbildung<br />

verschafft einen Überblick über die vom<br />

Staatssekretariat für Bildung, Forschung<br />

und Innovation (SBFI) anerkannten Ausbildungen<br />

im Sozialbereich sowie über<br />

Weiterbildungsangebote, Veranstaltungen<br />

oder Fachseminare für Professionelle der<br />

Sozialen Arbeit.<br />

Das Expertinnen- und Expertenforum<br />

steht den Fachpersonen aus dem Sozialbereich<br />

Schweiz für individuelle Fachfragen<br />

zur Verfügung. Es besteht aus Einzelforen<br />

zu verschiedenen Rechtsbereichen, die innerhalb<br />

der praktischen Arbeit häufig zu<br />

Fragen Anlass geben.<br />

Die Rolle der Geschäftsstelle<br />

Wenn Dienstleistungen und Angebote virtuell<br />

erfolgen, geht gerne vergessen, dass<br />

sie auf der harten Arbeit von Menschen beruhen.<br />

So existiert in Bern, an der Schwarztorstrasse<br />

20, eine reale Geschäftsstelle mit<br />

einem Türschild und einer Türklingel. Ein<br />

Verein sozialinfo.ch<br />

Der 2002 gegründete «Förderverein sozialinfo.ch»<br />

zählt rund 500 Fachorganisationen<br />

und Institutionen aus dem Sozialbereich<br />

Schweiz zu seinen Mitgliedern. Er hat das Ziel,<br />

mit seinem Internetportal die verschiedenen<br />

Akteure im Sozialwesen Schweiz zu vernetzen<br />

und ihnen aktuelle Informationen und Fachwissen<br />

aus dem Sozialbereich zur Verfügung<br />

zu stellen.<br />

zehnköpfiges interdisziplinäres Team mit<br />

Fachwissen aus den Bereichen Soziale Arbeit,<br />

Informatik und Administration bereitet<br />

die auf der Website zu publizierenden<br />

Informationen bedürfnisgerecht und themenspezifisch<br />

für das Zielpublikum auf.<br />

Zudem kümmert es sich um den Unterhalt<br />

und die Weiterentwicklung des Portals<br />

und der dazu gehörenden Dienstleistungen.<br />

Die Geschäftsstelle ist auch Herausgeberin<br />

des monatlichen Newsletters, der aktuelle<br />

Fragen der Sozialpolitik aufgreift<br />

und in «Monatsthemen» bereichsübergreifend<br />

vertieft. Das Spektrum reicht von Fragen<br />

der alltäglichen, praktischen Sozialen<br />

Arbeit bis zu sozialpolitischen Themen<br />

und gesellschaftlichen Entwicklungen.<br />

Die Soziale Arbeit steht im Spannungsfeld<br />

von Politik, Gesetzgebung und Betroffenen<br />

und hat den nicht immer einfachen<br />

Auftrag, den unterschiedlichen Bedürfnissen<br />

der beteiligten Interessengruppen<br />

Rechnung zu tragen. Mit dem Angebot,<br />

Informationen und Wissen zu teilen,<br />

schafft der Verein Sozialinfo.ch eine solide<br />

Basis für die Professionellen in der Praxis<br />

und verhilft zu Stärke und Fachkompetenz<br />

nach aussen. Die Voraussetzungen sind<br />

vernetztes Denken, durchlässige Kommunikation<br />

und schnelles Handeln. •<br />

Barbara Beringer<br />

Geschäftsführerin Sozialinfo.ch<br />

Leitfaden<br />

«Soziale Arbeit und<br />

Social Media»<br />

Social Media bieten den Menschen schnelle<br />

und leicht zugängliche Informationswege<br />

und unterstützen ein verändertes<br />

Konsum- und Kommunikationsverhalten.<br />

Gleichzeitig entstehen neue wirtschaftliche<br />

und politische Handlungsfelder, aber auch<br />

neue Formen von Kriminalität. Für das<br />

alles braucht es Spielregeln. Der Leitfaden<br />

«Soziale Arbeit und Social Media» von<br />

Sozialinfo.ch gibt einen Überblick über die<br />

Entwicklung und Bedeutung der Sozialen<br />

Medien in der Sozialen Arbeit. Er zeigt<br />

den Institutionen des Sozialbereichs auf,<br />

welches Potenzial die neuen Medien innerhalb<br />

der Sozialen Arbeit haben, und weist<br />

auf Hürden und Gefahren hin. Es kommen<br />

Menschen zu Wort, bei denen sich Social<br />

Media und Soziale Arbeit in der täglichen<br />

Arbeit berühren, sei dies als Betroffene, als<br />

Professionelle oder im institutionellen und<br />

rechtlichen Rahmen. Der Leitfaden kann<br />

gedruckt oder als PDF-Download bezogen<br />

werden über www.soziothek.ch.<br />

plattform 4/13 ZeSo<br />

33


Lesetipps<br />

Handbuch zum<br />

Sozialwesen<br />

Kinder- und Jugendhilfe<br />

in der Schweiz<br />

Nachschlagewerk<br />

zum Asylwesen<br />

Soziale Arbeit und<br />

Stadtentwicklung<br />

Fachpersonen aus Organisationen<br />

des Schweizer Sozialwesens<br />

sowie Wissenschaftlerinnen und<br />

Wissenschaftler zeigen in diesem<br />

Handbuch auf, welchen Einfluss politische<br />

Entscheide auf die Lebensverhältnisse<br />

der Bevölkerung haben<br />

und welchen gesellschaftlichen Beitrag<br />

das Sozialwesen leistet. Dabei<br />

werden historische Entwicklungen<br />

ebenso beleuchtet wie aktuelle Herausforderungen.<br />

Mit Ausführungen<br />

zu den Sozialversicherungen sowie<br />

zu den öffentlichen und privaten Sozialdiensten<br />

wird auf die Besonderheiten<br />

des Schweizer Sozialsystems<br />

eingegangen. Beiträge zu Konzepten<br />

wie Subsidiarität, Integration oder<br />

soziale Ungleichheit schaffen zudem<br />

einen Überblick über aktuelle soziale<br />

Problemlagen. Das Handbuch eignet<br />

sich als Nachschlagewerk für Fachleute<br />

aus dem Sozialbereich aber<br />

auch für Politikerinnen und Politiker,<br />

Studierende oder Medienschaffende,<br />

die sich mit dem Sozialwesen<br />

auseinandersetzen.<br />

In der Schweiz hat sich ein ausdifferenziertes<br />

System der Kinderund<br />

Jugendhilfe entwickelt, über<br />

das jedoch lange wenig Wissen<br />

verfügbar war. In den letzten Jahren<br />

ist die Kinder- und Jugendhilfe der<br />

Schweiz vermehrt zu einem Thema<br />

der Forschung geworden. Der Sammelband<br />

bietet einen Überblick zum<br />

Forschungsstand und gibt einen<br />

Einblick in die fachlichen Diskurse.<br />

Es werden Ergebnisse ausgewählter<br />

Forschungsprojekte dargestellt<br />

und mit Blick auf die Weiterentwicklung<br />

guter Praxis diskutiert.<br />

Die Beiträge bewegen sich dabei in<br />

verschiedenen Handlungsfeldern:<br />

Kinderschutz und Schulsozialarbeit<br />

werden ebenso thematisiert wie die<br />

aufsuchende Familienarbeit oder<br />

junge Erwachsene in der Sozialhilfe.<br />

Das Buch richtet sich sowohl an<br />

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler<br />

als auch an Kinder- und<br />

Jugendbeauftragte in Gemeinden<br />

und Kantonen.<br />

Wer kennt den Unterschied zwischen<br />

einem B- und einem C-Ausweis? Bedeutet<br />

ein N-Ausweis, dass jemand<br />

Nothilfe empfängt? Was ist ein<br />

Nichteintretensentscheid? Und was<br />

versteht man unter Familien-Asyl?<br />

Die Rechtsberatungsstellen des<br />

Hilfswerks der evangelischen Kirchen<br />

Schweiz (Heks) stellen im Rahmen<br />

ihrer Workshops zum Thema<br />

Asylrecht immer wieder fest, dass<br />

viele Fachbegriffe aus dem Asylwesen<br />

für Laien schwer verständlich<br />

sind. So ist die Idee entstanden,<br />

die grundlegenden Begriffe und die<br />

wichtigsten Verfahrensabläufe in<br />

einem Nachschlagewerk zusammenzustellen.<br />

Daraus ist ein über<br />

50-seitiges Asyllexikon geworden,<br />

das das Hilfswerk zum diesjährigen<br />

Flüchtlingstag herausgegeben hat.<br />

Das Heks möchte mit dem kompakten<br />

Nachschlagewerk zum besseren<br />

Verständnis des Asylwesens<br />

beitragen und eine Grundlage für<br />

eine sachliche Asyldebatte schaffen.<br />

Die Geschichte der Sozialarbeit ist<br />

eng mit derjenigen der Stadtentwicklung<br />

verbunden. Dieser Sammelband<br />

stellt Handlungsfelder der Sozialarbeit<br />

in der Stadt- und Quartierentwicklung<br />

vor und betrachtet sie<br />

aus verschiedenen Forschungsperspektiven.<br />

Es werden Konzepte aus<br />

parteilicher, intermediärer, reflexiv<br />

räumlicher und planungsbezogener<br />

Perspektive vorgestellt. Anhand<br />

von Fallbeispielen wird Einblick<br />

in die Chancen und Grenzen ihrer<br />

Umsetzung gegeben. Darüber hinaus<br />

werden Herausforderungen wie<br />

die Recht-auf-Stadt-Bewegungen,<br />

Leitbilder wie das der sozialen<br />

Nachhaltigkeit und Ansätze einer<br />

planungsbezogenen sozialen Arbeit<br />

beleuchtet. Das Buch richtet sich an<br />

Fachleute der Sozialarbeit, Soziologie<br />

und Geografie sowie an Akteure aus<br />

der Praxis der Gemeinwesensarbeit.<br />

Anna Maria Riedi et al., Handbuch Sozialwesen<br />

Schweiz, Haupt Verlag, Bern, <strong>2013</strong>,<br />

526 Seiten, CHF 56.–<br />

ISBN 978-3-258-07822-9<br />

Edith Maud Piller, Stefan Schnurr (Hrsg.),<br />

Kinder- und Jugendhilfe in der Schweiz,<br />

Springer Verlag, Wiesbaden, <strong>2013</strong>, 382 Seiten,<br />

CHF 56.–<br />

ISBN 978-3-531-18459-3<br />

Heks (Hrsg.), Asyllexikon. Die wichtigsten<br />

Begriffe kurz erklärt, <strong>2013</strong>, 55 Seiten,<br />

CHF 10.–<br />

Zu bestellen unter<br />

www.heks.ch/asyllexikon<br />

Matthias Drilling, Patrick Oehler (Hrsg.),<br />

Soziale Arbeit und Stadtentwicklung, Forschungsperspektiven,<br />

Handlungsfelder,<br />

Herausforderungen, Springer Verlag,<br />

Wiesbaden, <strong>2013</strong>, 418 Seiten, CHF 62.–<br />

ISBN 978-3-658-01945-7<br />

34 ZeSo 4/13 service


Anstaltsversorgung<br />

von Gestern<br />

Ohne dass sie ein kriminelles Delikt<br />

begangen hatten, wurden in der<br />

Schweiz bis in die zweite Hälfte<br />

des 20. Jahrhunderts «liederliche»<br />

und «arbeitsscheue» Personen in<br />

Arbeitsanstalten eingewiesen. Das<br />

Buch zeigt am Beispiel des Kantons<br />

Bern, wie das fürsorgepolitische<br />

Zwangsinstrument der administrativen<br />

Anstaltsversorgung im<br />

19. Jahrhundert eingeführt wurde,<br />

um Missbräuche im Armenwesen<br />

zu bekämpfen. Trotz Wirtschaftswachstum<br />

und der Einführung<br />

der Sozialversicherungswerke in<br />

den 1950er- und 1960er-Jahren<br />

kam das Instrument weiterhin<br />

zum Einsatz. Das Buch arbeitet<br />

die Rechtsstaatsproblematik der<br />

Anstaltsversorgung heraus und<br />

rekonstruiert, wie erst unter dem<br />

Druck eines erstarkenden internationalen<br />

Menschenrechtsdiskurses<br />

die administrative Versorgung in<br />

allen Kantonen der Schweiz 1981<br />

aufgehoben wurde.<br />

Tanja Rietmann, «Liederlich» und<br />

«arbeitsscheu», die administrative<br />

Anstaltsversorgung im Kanton Bern<br />

(1884-1981), Chronos Verlag, Zürich,<br />

<strong>2013</strong>, 381 Seiten, CHF 58.–<br />

ISBN 978-3-0340-1146-4<br />

Zukunft<br />

der Schweiz<br />

Das Buch der Stiftung Zukunftsrat<br />

zeichnet die Entwicklung der<br />

Schweiz von 1950 bis heute in 45<br />

Themen nach. Die Entwicklung von<br />

Themenbereichen wie Mobilität,<br />

Gesundheit, Wirtschaft, politische<br />

Organisation oder sozialer Zusammenhalt<br />

wird auf jeweils einer Doppelseite<br />

dargestellt. Eine Seite zeigt<br />

Daten und Grafiken, die andere Seite<br />

liefert die Hintergrundinformationen<br />

dazu. Die Texte werden mit der Frage<br />

«zukunftsfähig?» und Denkanstössen<br />

zur künftigen Entwicklung<br />

abgeschlossen. So regt das Buch<br />

an, darüber nachzudenken, ob die<br />

eingeschlagenen Entwicklungspfade<br />

längerfristig tragfähig sind und ob<br />

sie weitergeführt oder neu gestaltet<br />

werden sollten. Zielpublikum sind<br />

alle Personen, die an der Zukunftsgestaltung<br />

der Schweiz interessiert<br />

sind.<br />

Stiftung Zukunftsrat (Hrsg.), Entwicklungspfade,<br />

Grundlagen zur Zukunftsgestaltung<br />

der Schweiz in 45 Themen,<br />

Rüegger Verlag, Zürich, <strong>2013</strong>, 132 Seiten,<br />

CHF 25.–<br />

ISBN 978-3-7253-0998-6<br />

veranstaltungen<br />

Sozial nachhaltige Wohnpolitik<br />

Wohnen ist existenziell. Wie man wohnt, entscheidet massgeblich<br />

über das Wohlbefinden und die Gesundheit. Wo man<br />

wohnt, prägt die sozialen Kontakte und die Teilhabe an der<br />

Gesellschaft. Der Raum in der Schweiz wird aber zunehmend<br />

knapper. Gerade für benachteiligte Menschen wird es immer<br />

schwieriger, geeigneten und bezahlbaren Wohnraum zu finden.<br />

Die sozialpolitische Tagung der Caritas setzt sich mit der Frage<br />

auseinander, was eine sozial nachhaltige Wohnpolitik ist und<br />

inwiefern sie ein Kernthema der schweizerischen Sozial- und<br />

besonders der Armutspolitik ist.<br />

Caritas-Forum 2014: Wohnen<br />

Freitag, 24. Januar 2014, Kultur-Casino Bern<br />

www.caritas.ch/forum/d<br />

Rahmen für Fremdplatzierungen<br />

Die Plattform Fremdplatzierung ist die Veranstaltungsreihe<br />

des Fachverbands Integras zu den verschiedenen Phasen der<br />

Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen. Umplatzierungen<br />

und «Time-outs» sind bei fremdplatzieren Kindern und<br />

Jugendlichen an der Tagesordnung, obwohl diese auf konstante<br />

und tragfähige Lösungen angewiesen wären. Die Tagung geht<br />

deshalb der Frage nach, welche Rahmenbedingungen die Tragfähigkeit<br />

von Fremdplatzierungen fördern und gewährleisten<br />

können. Die Veranstaltung richtet sich an Fach- und Leitungspersonen<br />

von einweisenden und aufnehmenden Institutionen<br />

der Kinder- und Jugendhilfe.<br />

Tagung Plattform Fremdplatzierung 2014:<br />

Fremdplatzierung – denn wir wissen was wir tun!<br />

Dienstag, 21. Januar 2014, Kultur-Casino Bern<br />

www.integras.ch<br />

Konflikte und Sozialarbeit<br />

In der Sozialarbeit muss oft mit Konflikten umgegangen werden.<br />

Nicht verstandene und unbearbeitete Konflikte behindern<br />

die alltäglichen Abläufe und die Wirksamkeit sozialer Arbeit.<br />

Konfliktvermeidung kann letztlich zur Aufgabe einer Veränderungsperspektive<br />

führen. Von daher braucht die soziale Arbeit<br />

Wissen über die Entstehung und Dynamik von Konflikten sowie<br />

praktische Instrumente, um besser mit Konflikten umgehen<br />

zu können. Die Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft für<br />

Soziale Arbeit bietet ein Forum für die Diskussion empirischer,<br />

theoretischer und anwendungsorientierter Fragen und Zugänge<br />

zu diesem Thema.<br />

Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit:<br />

«Konflikte – theoretische und praktische Herausforderungen für die<br />

Soziale Arbeit», Freitag, 25. bis Samstag 26. April 2014,<br />

Fachhochschule Köln<br />

www.dgsainfo.de/veranstaltungen/tagungen<br />

service 4/13 ZeSo<br />

35


Peter Glanzmann in seinem Fabrikladen: «Auch wenn wir eine soziale Ader haben, sind wir keine Sozialinstitution.» <br />

Bild: Daniel Desborough<br />

Der Unternehmer<br />

Der Fleischverarbeiter Carnosa AG stellt auch Langzeitarbeitslose an. Denn für Geschäftsführer Peter<br />

Glanzmann steht fest: «Jedes Unternehmen muss soziale Verantwortung wahrnehmen.»<br />

Das unternehmerische Denken hat Peter<br />

Glanzmann bereits früh gelernt. Als er acht<br />

Jahre alt war, ermunterte ihn seine Grossmutter,<br />

im Garten etwas anzupflanzen, das<br />

er verkaufen könne. «Ich versuchte es mit<br />

Zwiebeln, weil das am wenigsten aufwändig<br />

war», erzählt Glanzmann mit einem<br />

schelmischen Lächeln. Im Herbst verkaufte<br />

er die geernteten Zwiebeln dem ortsansässigen<br />

Metzger für die Blut- und Leberwurstproduktion.<br />

Sein erstes Geschäft war<br />

gleichzeitig sein erster Kontakt mit der<br />

Fleischbranche.<br />

Heute ist der gelernte Metzger und Kaufmann<br />

Mitinhaber und Geschäftsführer<br />

des von ihm gegründeten Fleischverarbeitungsbetriebs<br />

Carnosa AG. Der Spatenstich<br />

zum Neubau in Langenthal erfolgte 2008,<br />

im Jahr darauf wurde die Produktion aufgenommen.<br />

Carnosa beliefert Spitäler und<br />

Altersheime, Gefängnisse, Gastroverteiler<br />

und Restaurants in der <strong>ganz</strong>en Schweiz.<br />

Dabei wird auf individuelle Kundenwünsche<br />

eingegangen. «Für Altersheime<br />

schneiden wir beispielsweise extra kleinere<br />

Ragoutstücke», erklärt der 53-Jährige.<br />

Preis für Sozialengagement<br />

Dieses Konzept geht auf. Aus den anfangs<br />

zwanzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern<br />

sind vierzig geworden. Die Firma<br />

wurde dieses Jahr mit dem Jungunternehmerpreis<br />

«Swiss Ecomic Award» ausgezeichnet.<br />

Und es war nicht der erste<br />

Preis: 2012 ehrte die Stadt Langenthal<br />

den Betrieb mit dem Sozialpreis dafür,<br />

dass er Langzeitarbeitslose wieder in den<br />

ersten Arbeitsmarkt integriert. Glanzmann<br />

hat seit 2009 zwölf Langzeitarbeitslose<br />

nach einer gewissen Einarbeitungszeit<br />

fest angestellt.<br />

Der Gesellschaft etwas zurückgeben<br />

Mit Menschen, die versuchen, beruflich<br />

wieder Fuss zu fassen, erlebe man oft ein<br />

Auf und Ab, sagt Glanzmann. Dass er und<br />

sein Team diesen Aufwand dennoch auf<br />

sich nehmen, kommt aus einer inneren<br />

Überzeugung: «Es ist die Aufgabe jedes<br />

Unternehmens, auch Menschen eine<br />

Chance zu geben, die nicht auf der Sonnenseite<br />

des Lebens stehen.»<br />

Die Erfolgsquote bei den an ihn vermittelten<br />

Personen beträgt rund 50 Prozent.<br />

Die schwierigen Momente verschweigt<br />

Glanzmann daher nicht. Aber er ist einer,<br />

der sich lieber an Erfolgsgeschichten orientiert.<br />

Nicht ohne Stolz nennt er das Beispiel<br />

eines 24-Jährigen, der ihm vermittelt<br />

wurde, ohne vorher je eine Anstellung<br />

gehabt zu haben. Wie seine Eltern lebte<br />

er von Sozialhilfe. Es habe viel gebraucht,<br />

bis er sich in die Arbeits- und Tagesstruktur<br />

einfügen konnte und überzeugt davon<br />

war, dass sich Arbeit lohne. «Nicht nur<br />

wegen des Geldes, sondern auch wegen<br />

des Selbstbewusstseins, etwas zu können»,<br />

betont Glanzmann. Heute besetzt der be-<br />

sagte Mann eine Schlüsselfunktion in der<br />

Schinkenproduktion.<br />

Die Frage, woher sein soziales Engagement<br />

komme, scheint Glanzmann fast zu<br />

irritieren. Zu sehr entspricht es schlicht<br />

seiner Grundhaltung: «Ich kann nicht einfach<br />

über die gesellschaftlichen Probleme<br />

hinwegsehen», sagt er und führt aus: «An<br />

unserem Erfolg waren immer auch viele<br />

flinke Hände beteiligt. Da will man der<br />

Gesellschaft auch etwas zurückgeben.» Für<br />

Glanzmann ist aber wichtig, festzuhalten:<br />

«Auch wenn wir eine soziale Ader haben,<br />

sind wir keine Sozialinstitution.» Längerfristig<br />

wird nur beschäftigt, wer die entsprechende<br />

Leistung bringt. Zudem könne<br />

weder die Betreuung noch das finanzielle<br />

Risiko während der Einarbeitungszeit von<br />

einem Betrieb alleine getragen werden. Die<br />

Kooperation mit dem Sozialamt und anderen<br />

Stellen sei deswegen entscheidend.<br />

Darüber hinaus bringt Glanzmanns Personalpolitik<br />

manchmal auch geschäftliche<br />

Vorteile. «Mit einigen Kunden sind wir<br />

sicher schneller ins Geschäft gekommen,<br />

weil sie unsere sozialen Anliegen unterstützen<br />

wollten», sagt Glanzmann. Unumwunden<br />

gibt er zu: «Es ist durchaus auch ein<br />

Marketinginstrument.» Da spricht wieder<br />

<strong>ganz</strong> der Unternehmer. Aber einer, für den<br />

Unternehmertum und soziale Verantwortung<br />

kein Widerspruch sind. •<br />

Regine Gerber<br />

36 ZeSo 4/13 porträt


QR-Code mit Reader-<br />

App lesen und gleich<br />

zur Website gelangen.<br />

Die Reader-App<br />

(z. B. i-nigma) gibt es<br />

in den App-Stores.<br />

Jetzt aktuell<br />

Informieren Sie sich<br />

auf unserer Website über<br />

alle Angebote und<br />

Info-Veranstaltungen:<br />

www.hslu.ch/weiterbildungsozialearbeit<br />

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MAS Management im Sozial- und Gesundheitsbereich<br />

MAS Sozialarbeit und Recht<br />

NEU: CAS Sexualität und Leben mit Einschränkungen<br />

CAS Soziale Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen<br />

CAS Soziale Sicherheit<br />

CAS Sozialhilferecht<br />

CAS Verhaltensorientierte Beratung<br />

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Luzerner Tagung zum Sozialhilferecht: Verhältnismäs<br />

sigkeit von Auflagen und Weisungen<br />

Weiterbildung für die Kompetenzen von morgen<br />

Die Hochschule für Soziale Arbeit FHNW bietet wissenschaftlich fundierte und praxisnahe Weiterbildungen<br />

mit hohem Qualitätsstandard an. Sie verbindet Praxisnähe und Anwendungsorientierung mit<br />

theoretischer Fundierung und gezieltem Einbezug von aktuellen Forschungsergebnissen. Ziel ist eine<br />

optimale Qualifikationsmöglichkeit für berufliche Herausforderungen.<br />

Die inhaltlichen Schwerpunkte unserer Angebote sind vielfältig:<br />

– Behinderung und Integration – Forschung – Migration<br />

– Beratung und Coaching – Gesundheit – Praxisausbildende in der Sozialen Arbeit<br />

– Change Management – Joint European Master – Recht<br />

– Eingliederungsmanagement – Kinder und Jugendliche – Sozialmanagement<br />

– Ethik – Methoden – Stadtentwicklung<br />

Kontakt und Information<br />

weiterbildung.sozialearbeit@fhnw.ch | T +41 (0)848 821 011 | www.fhnw.ch/sozialearbeit/weiterbildung<br />

Fachhochschule Nordwestschweiz | Hochschule für Soziale Arbeit | Riggenbachstr. 16 | 4600 Olten


Neue Impulse!<br />

Durch<br />

blick<br />

Tagung Gesundheit und Armut –<br />

Ungleich gesund<br />

Gesundheit und Armut stehen<br />

in vielfältigen ursächlichen<br />

Zusammenhängen. Die Tagung<br />

vernetzt Fachleute und fördert<br />

den Austausch zwischen Praxis,<br />

Wissenschaft und Politik.<br />

Trägerschaft: Bundesamt für<br />

Gesundheit, Caritas, Schweizerisches<br />

Rotes Kreuz, Stadt Bern<br />

Freitag, 9. Mai 2014 in Bern<br />

Web-Code: T-SOZ-9<br />

soziale-arbeit.bfh.ch<br />

CAS Kindesschutz –<br />

Start 2014<br />

Der Studiengang befähigt Sie,<br />

das Kindeswohl nach psychosozialen<br />

Aspekten zu erfassen,<br />

Gefährdungen kompetent<br />

einzuschätzen, Unterstützungsprozesse<br />

und Interventionen zu<br />

gestalten – und Kinder dabei<br />

angemessen zu beteiligen.<br />

September 2014 – August 2015<br />

in Bern.<br />

Web-Code: C-KIS-1<br />

Tagung Gesundheit und Armut:<br />

Freitag, 9. Mai 2014 in Bern<br />

‣ Soziale Arbeit<br />

131023_Inserat_Zeso_4_<strong>2013</strong>.indd 1 07.11.<strong>2013</strong> 11:45:06<br />

Weiterdenken? Weiterbilden!<br />

Inspiration aus unserem Weiterbildungsprogramm:<br />

MASTER OF ADVANCED STUDIES (MAS)<br />

MAS in Management of Social Services<br />

Der MAS besteht aus drei Zertifikatslehrgängen<br />

(CAS), die auch einzeln besucht werden können:<br />

• CAS Sozialpolitik, 24. April 2014<br />

• CAS Sozialmanagement, Oktober 2014<br />

• CAS Führung im Kontext des psychosozialen<br />

Bereichs, April 2015<br />

MAS in Social Informatics<br />

Der MAS besteht aus drei Zertifikatslehrgängen<br />

(CAS), die auch einzeln oder in Modulen als Seminare<br />

besucht werden können:<br />

• CAS Medienpädagogik, April 2014<br />

• CAS Online Services, März 2015<br />

• CAS Informatik-Projektleitung, auf Anfrage<br />

CERTIFICATE OF ADVANCED STUDIES (CAS)<br />

• Case Management als Sozialversicherungsauftrag,<br />

20. Februar 2014<br />

• Soziale Arbeit mit gesetzlichem Auftrag,<br />

27. März 2014<br />

• Schulsozialarbeit, 2. Mai 2014<br />

• CAS Beratungs-Training, September 2014<br />

• CAS Sozialpädagogische Familienbegleitung,<br />

September 2014<br />

SEMINARE<br />

• Kindesrecht, 16. Januar 2014<br />

• Querdenken, Herbst 2014<br />

• Elternaktivierung, Herbst/Winter 2014<br />

• Erwachsenenschutzrecht, auf Anfrage<br />

• Trainingswerkstatt Konfliktvermittlung, auf<br />

Anfrage<br />

Details zu diesen und weiteren Angeboten unter www.fhsg.ch/weiterbildung<br />

FHS St.Gallen, Weiterbildungszentrum WBZ-FHS, Rosenbergstrasse 59, 9000 St.Gallen<br />

+41 71 226 12 50, weiterbildung@fhsg.ch<br />

FHO Fachhochschule Ostschweiz www.fhsg.ch

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