_flip_joker_2018-02
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
16 KULTUR JOKER KULTOUR<br />
Grenzbereich zwischen Leben und Fiktion<br />
„Die Familie. Ein Archiv“ – Zur Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne in Marbach<br />
Im Waldhof 16<br />
79117 Freiburg-Littenweiler<br />
Blick in die Ausstellung<br />
VERANSTALTUNGSPROGAMM Februar <strong>2018</strong><br />
2.-4.2.: Regula Leupold: Tradition meets Invention: Tänze von der der Tarantella bis zum Klezmer-Tango<br />
5.2.: Prof. Dr. Konrad Kunze: Unsere Vornamen – Erkundung eines sprachlichen Kontinents<br />
8.2.: Florian M. Weckerle M.A.: Was geschieht mit meinen Daten im Netz?<br />
10./11.2.: Prof. Dr. Dr. Bernhard Uhde: Bedarf der Islam einer Aufklärung? Koran historisch-kritisch lesen?<br />
15.2.: Dr. Wolfgang Steinicke: Das CERN und der LHC (Vortrag); Fahrt nach Genf zum CERN am 16./17.2.<br />
21.2.: Dr. Nana Hartig: Geerbtes Leid. Wie wirken Kriegstraumata auf Kinder und Enkel – und was hilft?<br />
23.-25.2.: Annette Wiegandt M.A.: Erdfarben-Malworkshop<br />
27.2.: Prof. Dr. Rüdiger Glaser: Wie der Klimawandel die Geschicke von Gesellschaften beeinflusste<br />
2.-4.3.: Ulrike Ay: Blütenträume aus Filz (Kunsthandwerk-Workshop)<br />
2./3.3.: Matthias Hofmann M.A.: Saudi-Arabien vs. Iran: Kampf um die Vorherrschaft im Orient<br />
5.3.: Marion Landwerth-Hesselmann: Kanadas Atlantikprovinzen: Neufundland und Neu-Schottland<br />
Info und Anmeldung:<br />
www.waldhof-freiburg.de<br />
Die Nachlässe, die im Deutschen<br />
Literaturmuseum in<br />
Marbach gesammelt, bewahrt<br />
und erforscht werden, sind<br />
Fundgruben ohne Ende. Den<br />
unterschiedlichen Zusammenhängen<br />
und Verwandtschaftsverhältnissen<br />
von Dichter-,<br />
Künstler- und Gelehrtenfamilien<br />
einmal gründlich nachzugehen<br />
lag nahe, musste irgendwann<br />
einmal zu einem Ziel<br />
führen. Und wie spannend und<br />
ergiebig das langjährige Forschungsergebnis<br />
ist, zeigt die<br />
jetzige große Ausstellung im<br />
Literaturmuseum der Moderne<br />
auf der Schillerhöhe.<br />
Einer Literaturausstellung<br />
muss es ums Vorzeigbare, Anschauliche<br />
und Erhellende gehen,<br />
will sie nicht zu trocken<br />
wissenschaftlich oder didaktisch<br />
sein, gerade dazu ist das Thema<br />
Familie wie geschaffen. Unter<br />
den 300 Exponaten sind es neben<br />
Stammbäumen, Stammbüchern<br />
und handschriftlichen<br />
Zeugnissen wie Briefen und<br />
Testamenten vor allem die Fotografien,<br />
die der Familie über<br />
Generationen hinweg eine sichtbare,<br />
kommunizierbare innere<br />
Ordnung sowie eine historische<br />
Dimension verleihen. Neben<br />
den Familienalben und den zumeist<br />
streng gestalteten oder<br />
sehr bedacht inszenierten Familienfotos<br />
gibt es auch Schnappschüsse,<br />
spontan festgehaltene<br />
Augenblicke, die unter den in<br />
Bildern und Stationen erzählten<br />
Familiengeschichten frische<br />
Einsprengsel sind.<br />
Eine Familie entsteht nicht<br />
alleine durch Fortpflanzung,<br />
Blutsbande, sie wird in gewissen<br />
Kreisen auch konstruiert.<br />
Das heißt: zielgerichtet inszeniert<br />
und zurechtgestutzt, um<br />
einen gesellschaftlichen, geistigen<br />
oder materiellen Status<br />
zu bewahren. Familienbande<br />
können Geborgenheit und Sicherheit<br />
geben oder auch erdrückend<br />
sein; man kann in einer<br />
Familie aufgehen oder auch in<br />
ihr untergehen. Obwohl naheliegend,<br />
wurde der Familienroman,<br />
ein Genre, das bis weit in<br />
die Literaturgeschichte zurückreicht,<br />
in der Ausstellung nicht<br />
zu sehr in den Vordergrund<br />
gerückt, sondern es sollte hier<br />
mehr um die Hintergründe der<br />
literarisch verarbeiteten Stoffe<br />
gehen. Auch um den Versuch,<br />
intellektuelle und künstlerische<br />
Traditionen aufzuzeigen sowie<br />
ihre Brüche und ihren Zerfall,<br />
wodurch sich familiäre Beziehungsgefüge<br />
auflösen, ins Unheil<br />
wenden können. In einem<br />
Familienroman wie den „Buddenbrooks“<br />
von Thomas Mann,<br />
bis heute ein Maßstab in dieser<br />
Gattung, wird exemplarisch<br />
vorgeführt, wie sich Fiktion<br />
und Wirklichkeit durchdringen<br />
können.<br />
Facetten eines komplexen<br />
Themas<br />
Viele der „Manuskripte,<br />
Briefe und Fotos zeigen“, so<br />
die Kuratorin Ellen Strittmatter,<br />
„wie häufig Literatur im<br />
Gespräch, in einer familiären<br />
Schreib- und Denkgemeinschaft<br />
entsteht: unter Schwestern<br />
und Brüdern, zwischen<br />
Liebenden, Eltern und Kindern.“<br />
Gerade dafür ist wiederum<br />
die Familie Mann ein<br />
prominentes Beispiel. Aber hier<br />
wie dort ist die Frage: Was ist<br />
gegeben, und was ist gemacht<br />
oder nur Anschein? Die Fälle<br />
sind ganz verschieden. Einerseits<br />
ist es die Last der Nachgeborenen,<br />
einen berühmten<br />
Namen zu tragen, andererseits<br />
ist es auch die Versuchung, sich<br />
damit zu schmücken und zu<br />
versuchen, sich Vorteile damit<br />
zu verschaffen. Die Facetten<br />
sind weit gefächert.<br />
Mit der Auswahl an Dokumenten<br />
werden Einblicke in die<br />
lichtesten und finstersten Winkel<br />
von Familienverhältnissen<br />
gegeben. Sie reichen vom<br />
Stammbuch August von Goethes,<br />
jenes unglücklichen, an<br />
Alkoholsucht zugrunde gegangenen<br />
Sohns eines berühmten<br />
Vaters, bis hin zu einem satten<br />
Familienporträt der Familie<br />
Enzensberger, die sich geradezu<br />
unzertrennlich zusammengeklumpt,<br />
dabei etwas selbstgefällig,<br />
aber auch selbstgewiss<br />
in die Kamera schaut. Nichts<br />
weist auf dem Familienfoto der<br />
pietistisch steifen Familie Hesse<br />
darauf hin, dass Sohn Hermann<br />
einmal heftig aus der Art<br />
schlagen, zum „Steppenwolf“<br />
werden wird. Oder die Familie<br />
Chaplin: man sieht Papa, Mama<br />
und die zahlreichen Kinder auf<br />
dem Sofa und darum herum<br />
versammelt, und allesamt sind<br />
sie vertieft in Bücher über den<br />
unvergesslichen Charly Chaplin.<br />
Wenn das keine Parodie<br />
eines Familienfotos ist...<br />
Dieses alles wird zum Ausschnitt<br />
einer besonderen Abteilung<br />
der Fotografiegeschichte,<br />
die bildpolitische Fragen<br />
aufwirft und vorgebliche familiäre<br />
Einheiten hinterfragt.<br />
Ob nun in der Familienfotografie<br />
herkömmliche Bildsprachen<br />
übernommen oder ob sie<br />
neu erfunden werden, immer<br />
spricht daraus die Sehnsucht<br />
nach Unsterblichkeit.<br />
Foto: DLA Marbach<br />
Anschauliche Gliederung<br />
In der ersten Abteilung der<br />
Ausstellung wird die Familie<br />
als ein Ort der Dauer und des<br />
Fortwirkens dargestellt. Hier<br />
werden solche Gegenstände<br />
gezeigt, die für Familientraditionen<br />
stehen, erste und letzte<br />
Dinge eines Lebens. Da reicht<br />
die Spanne vom steifen Taufkleidchen<br />
eines Thomas, das<br />
schon von Bürde spricht, bis<br />
hin zu einer besonderen Kuriosität.<br />
Es ist der Autoschlüssel<br />
von Max Frisch, der zu jenem<br />
Jaguar gehörte, den der Schriftsteller<br />
dem Regisseur Volker<br />
Schlöndorff nach der geglückten<br />
Verfilmung des Romans<br />
„Homo Faber“ mit den Worten<br />
vermachte: „Da wo ich hingehe,<br />
brauche ich ihn nicht mehr.“<br />
Ein quasi familiäres Erbe, der<br />
letzte Wille eines Gleichgesinnten,<br />
Seelenverwandten.<br />
Im zweiten Raum, benannt<br />
„Die Familie. Als Vorstellung<br />
und Aufstellung“, erhält die<br />
sichtliche Kombinationslust<br />
der Kuratorin Ellen Strittmatter<br />
noch eine Steigerung, was mit<br />
dem vorgefundenen und ausgewählten<br />
Material zu tun hat,<br />
das familiäre Ordnungssysteme<br />
transportiert. Da sprießen die<br />
Stammbäume mit ihren vielen<br />
Verzweigungen aus realen<br />
oder erfundenen Samen; da<br />
bilden sich Wurzelgeflechte aus<br />
mythischen Urgründen bis in<br />
schwindelnde Wipfel; da bilden<br />
sich schicksalhafte, erträumte<br />
und erwünschte Lebenslinien,<br />
Berührungen und Überschneidungen.<br />
Das führt so bis in<br />
unsere Zeit, etwa bis zu dem<br />
Medienforscher Friedrich Kittler,<br />
der mit dem Computer eine<br />
Stammtafel seiner Ordner und<br />
Unterordner aufstellte. Auf<br />
ein tragisches Kapitel neuerer<br />
deutscher Geschichte verweist<br />
eine grafisches Arrangement