soziologie heute August 2011
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<strong>August</strong> <strong>2011</strong> <strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong> 13<br />
<strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong>: Herr Professor<br />
Stiegnitz, Sie sind selbst Jude. Wie<br />
fühlt man sich als Jude in Österreich?<br />
Stiegnitz: Im Schatten des Holocaust,<br />
mit sechs Millionen jüdischen<br />
Opfern, vergeht kein Tag, keine Woche,<br />
wo sich die Medien, vorwiegend<br />
in Österreich und in Deutschland,<br />
nicht mit dem Thema „Juden“, „Jüdischkeit“<br />
und vor allem „Antisemitismus“<br />
beschäftigen. Diese Inflation<br />
einer moralischen Restitution<br />
– das unschöne Wort „Wiedergutmachung“<br />
will niemand mehr hören<br />
– beeinflusst auch die soziologische<br />
Situation der Juden, die allerdings<br />
generationsspezifisch ist.<br />
<strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong>: Sie haben in einer<br />
Langzeitstudie Unterschiede bei der<br />
selbst gestalteten Position der Juden<br />
in der Gesellschaft herausgearbeitet.<br />
Worin bestehen diese Unterschiede?<br />
Die wichtigsten Jahreszahlen des jüdischen Volkes<br />
Um 1750 v. Chr. verlässt Abraham das Zweistromland<br />
und wird mit seinen Stämmen in Kanaan sesshaft<br />
Um 1240 v. Chr. führt der ägyptische Prinz Moses<br />
das Volk der Apiru, wie dort die hebräischen Sklaven<br />
hießen, über die Sinai-Halbinsel Richtung kanaanatische<br />
Heimat<br />
Um 1000 v. Chr. legt Königsmörder David die Grundsteine<br />
Jerusalems<br />
587 v. Chr. beginnt das babylonische Exil; Nebukadnezar<br />
zerstört Jerusalem und den Tempel<br />
538 v. Chr. kehren die Hebräer nach Jerusalem<br />
zurück<br />
520 v. Chr. wird der Tempel wieder aufgebaut<br />
63 v. Chr. das Imperium Romanum erobert das Land.<br />
Das Jahr 30: die Kreuzigung des Wander- und<br />
Wunderrabbiners Jesus – und das Jahr 70 n. Chr.,<br />
die endgültige Zerstörung des Tempels.<br />
Stiegnitz: In Österreich leben <strong>heute</strong><br />
rund 7.000 Juden, die Mitglieder in<br />
einer der fünf Kultusgemeinden, in<br />
Wien, Linz, Salzburg, Innsbruck und<br />
Graz sind und ungefähr noch einmal<br />
so viele außerhalb der Gemeinden.<br />
Unter den rund 14.000 Juden, die<br />
<strong>heute</strong> in Österreich leben, bilden<br />
die österreichischen Reemigranten<br />
einen eher kleinen Teil. Die meisten<br />
kamen aus Osteuropa: von 1945 bis<br />
Ende der 80-er Jahre aus Ungarn,<br />
Polen, aus der damaligen Tschechoslowakei<br />
und aus Rumänien, anschließend<br />
aus Russland und einige<br />
Rückwanderer aus Israel.<br />
• Die ersten Jahrgänge (1910-1920) haben<br />
Holocaust und Emigration als erduldete<br />
Opfer er-, und wenn sie Glück<br />
hatten, auch überlebt. Diese Generation<br />
ruderte nach der Befreiung von<br />
der Nazi-Barbarei möglichst weit weg<br />
von all dem, was man mit „Judentum“<br />
in Verbindung bringen konnte.<br />
• Die zweite Generation, die der <strong>heute</strong><br />
ca. 70-Jährigen, fand nur zaghaft<br />
zu ihren „jüdischen Wurzeln“. Diese<br />
Generation, die Holocaust bzw. Emigration<br />
nur als Kinder erlebte, wurde<br />
in die ungute Rolle eines „Sozial-Puffers“<br />
gezwungen. Sie verstanden die<br />
Ahnungs- und Widerstandslosigkeit<br />
ihrer Eltern nicht. Mitglieder dieser<br />
zweiten, reemigrierten Generation<br />
kamen als junge Menschen mit ihren<br />
vertriebenen Eltern in die „alte Heimat“<br />
nach Österreich zurück, wo sie<br />
allerdings kaum jemand mehr haben<br />
wollte. Eine furchtbare, tief-belastende,<br />
neurotisierende Situation. Das<br />
einzig Gemeinsame dieser Reemigranten<br />
war ihr fehlendes „jüdisches<br />
Bewusstsein“. Die meisten sozialpsychologischen<br />
Begriffe, vor allem die<br />
des „Selbstbewusstseins“ und der<br />
„Identifikation“ stehen auf tönernen<br />
Füßen. Erst recht im Leben dieser<br />
zweiten jüdischen Diaspora-Generation.<br />
Meist als Kinder assimilierter,<br />
getaufter oder kommunistisch-atheistischer<br />
Eltern fanden sie den wirklichen<br />
Zugang zur jüdischen Religion<br />
nicht und blieben daher im formellen<br />
Bereich zu den hohen Feiertagen<br />
hängen.<br />
• Die dritte jüdische Generation –<br />
<strong>heute</strong> zwischen 40 und 50 Jahren<br />
– lebt vollintegriert, meist in einem<br />
akademischen Beruf, im städtischen<br />
Bereich. Einige wenige kehrten in<br />
das Emigrationsland ihrer Eltern und<br />
Großelten, meist nach England, zurück.<br />
<strong>soziologie</strong> <strong>heute</strong>: Sie selbst sind mit<br />
einer österreichischen Christin verheiratet.<br />
Wie wirkt sich solch eine<br />
„Mischehe“ aus?<br />
Stiegnitz: „Es ist nicht leicht, ein<br />
Jude zu sein …“ Diesen Satz hört<br />
meine Frau, die – im Gegensatz zu<br />
mir, eine gebürtige Österreicherin<br />
und Christin ist – unzählige Male.<br />
Fast so oft höre ich ihre Antwort: „Es<br />
ist auch nicht leicht, eine Nicht-Jüdin<br />
zu sein …“. Meine Frau hat, wie nahezu<br />
immer, Recht. Jetzt aber im Ernst:<br />
Ich habe zwar das Wort „Mischehe“<br />
nicht gern, weil es unangenehme Assoziationen<br />
erweckt, doch im Prinzip<br />
stimmt es. In unserer Ehe allerdings<br />
nicht mehr, da wir uns beide in der<br />
Mitte getroffen haben. Als ehemaliger<br />
Ungarnflüchtling habe auch ich mich,<br />
wie nahezu alle Ex-Magyaren, schnell<br />
assimiliert und in die österreichische<br />
Gesellschaft integriert. Als Jude war<br />
ich bemüht, mein diesbezügliches<br />
Bekenntnis nicht so sehr aus Negationen<br />
(Antisemitismus) zu stärken,<br />
sondern suchte andere, meist geistige<br />
Quellen. Meine Frau wiederum<br />
versteht <strong>heute</strong> die sicherlich komplizierte<br />
psychische Situation eines assimilierten<br />
Juden sehr gut. Sicherlich<br />
unter meinem Einfluss ist sie gegenüber<br />
den geringsten antisemitischen<br />
Ausdrücken hellhörig geworden.<br />
Während „Mischehen“ im Kreise<br />
ungarischer Juden bis zu den 60-er,<br />
70-er Jahren Seltenheitswert besaßen,<br />
steigt anschließend der Anteil<br />
der jüdisch-christlichen Ehen merklich<br />
an. Kinder aus diesen Ehen, die<br />
aus unterschiedlichen Gründen auf<br />
„jüdische Wurzelsuche“ gingen, haben<br />
sich mit großer Freude fromm-