E_1933_Zeitung_Nr.066
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N° 66 - <strong>1933</strong> AUTOMOBIL-REVUE 21<br />
F E U I L L E T O N<br />
Dies unablässige Brausen! Und immer<br />
noch meinte er eine fremde Stimme zu hören.<br />
Diese ewige Unruhe! Wieder, wie schon<br />
im Sturm bei Heiligendamm, höre er das Unerfüllte,<br />
Unerlöste in dieser Stimme, die von<br />
Jahrtausend zu Jahrtausend raunte und<br />
stöhnte. Nordwinde sangen dazu um Giebel<br />
und Klippen. Wo hatte er doch einst die Verse<br />
gelesen:<br />
«Eine Stimm' ist in den Winden,<br />
Die dich hindert, Trost zu finden.<br />
Georg legte sich zu Bett, las, bis er wieder<br />
müde wurde, und schlief endlich ein. Aber<br />
bald sah er sich im Gerichtssaal vor den Geschworenen.<br />
Der Staatsanwalt, in dessen<br />
schmalem Gesicht die Brillengläser funkelten,<br />
hatte festgestellt, dass er, der des Brudermordes<br />
angeklagte Richard Nicola, von den<br />
beiden Brüdern der moralisch weitaus minderwertigere<br />
sei. Er habe seinen Bruder Georg<br />
damals verdächtigt und verleumdet, habe<br />
ihn aus der Heimat getrieben und unglücklich<br />
gemacht. Und als sein Bruder Georg, der<br />
allgemein als ein gütiger Mensch geschildert<br />
wurde, nach jahrzehntelangem, geduldig getragenem<br />
Leiden endlich zurückgekehrt sei,<br />
sein gutes Recht zu fordern, da habe sich der<br />
gewissenlose Verleumder nicht anders zu<br />
helfen gewusst, als diesen Gläubiger in mehrfachem<br />
Sinne — zu ermorden.<br />
«Sie hätten also,» fragte Georg, «dem Georg<br />
Nicola eine solche Tat nicht zugetraut?»<br />
«Niemals! das allgemeine Zeugnis über<br />
diesen unglücklichen Mann, das Opfer Ihrer<br />
Brutalität, lässt eine solche Tat seinerseits<br />
als vollkommen unmöglich erscheinen.»<br />
«Da danke ich Ihnen herzlich, Herr Staatsanwalt,<br />
für Ihre so warme Verteidigungsrede.<br />
Denn — erlauben Sie die beiläufige Bemerkung,<br />
dass ich Georg Nicola bin und der,<br />
den Sie aus dem See herausgefischt haben,<br />
ist mein Bruder Richard.» Ein Raunen der<br />
Erregung geht durch den Gerichtssaal. Der<br />
Staatsanwalt schäumt vor Wut über den<br />
«frechen Scherz». Aber der Beweis ist leicht<br />
zu führen. Schon die verkürzte Sehne am<br />
Fussgelenk genügt...<br />
Georg erwachte wieder, war aber ruhiger.<br />
Der Morgen dämmerte noch immer nicht?<br />
Hinter der Fenstergardine ein kaum wahrnehmbarer<br />
grauer Schimmer, das Zimmer<br />
war noch dunkel. Das «Noctal» wirkte nach,<br />
er schlief wieder ein, und es war heller Morgen,<br />
als er erwachte. Abermals in jähem<br />
Schreck. In den letzten Minuten, vielleicht<br />
nur Sekunden vor seinem Erwachen hatte er<br />
noch einmal, wie schon früher, den Arm gesehen,<br />
den winkenden Arm am Seegrund, der<br />
aus dem Sack ragte und von dem Wasser<br />
hin und her bewegt wurde. Die quälende Vision<br />
von der letzten Armbewegung des sterbenden<br />
Richard her. Er winkte und winkte.<br />
«Komm her, Bruder, hier ist dein Platz...<br />
Schon einmal, als unser Dasein begann, lagen<br />
wir im Dunkel dicht beieinander und der<br />
Herzschlag unserer Mutter trieb uns gemeinsam<br />
das Blut durch die Adern. Viele Monate<br />
lang. Und niemand wusste, dass wir zwei<br />
waren. Wie der Anfang, so das Ende. Der<br />
Ring schliesst sich. Wir schlummern wieder<br />
beisammen im Dunkel. Und niemand weiss<br />
davon, und nichts ist geschehen und alles<br />
war nur ein wüster Traum.»<br />
Georg öffnete die Augen. Das Zimmer war<br />
von den Fenstervorhängen verdunkelt. Georg<br />
erhob sich schnell, zog die Vorhänge zurück<br />
Und stand nun im flutenden Sonnenlicht.<br />
Blau und weit lachte das Meer ringsum,<br />
freundlich grüssten die Schaumkronen weit<br />
hinaus bis zum Horizont, wie wehende Tücher.<br />
Dazwischen Segel und schaukelnde Möwen,<br />
in der Ferne die Rauchfahne eines nahenden<br />
Dampfers. Auf dem Falm die ersten<br />
Spaziergänger.<br />
Eine grosse Ruhe überkam ihn. Er frühstückte<br />
bei offenem Fenster. Die im Sonnenlicht<br />
schimmernde See war ihm wieder die<br />
alte Freundin, die ihn einst hinaus ins Leben<br />
und dann im Dunkel wieder zurück in die<br />
männliche Stimme war es. Er hat ja ein<br />
Recht dazu. Denn das gab im tiefsten Grunde<br />
für mich den Ausschlag: Mutter hat ihn geliebt<br />
wie mich...<br />
«Vielleicht war sie die Einzige, die ihn<br />
liebte?»<br />
Rufe aus dem Dunkel.<br />
Roman von Karl Strecker.<br />
(Fortsetzung von 1. Seite «Autler-Feierabtnd».)<br />
•T.I^AI»<br />
In &Jn<br />
«Die Mutter ist immer die Einzige, in ih:<br />
lebt das Weltgesetz.»<br />
«Und du, Georg? Suchtest du dich au<br />
diese rotgrüne Klippe zu retten aus deinem<br />
Schiffbruch?»<br />
Er lächelte und stand auf.<br />
40.<br />
Am 28. April fuhr um die Mittagsstunde<br />
eine Berliner Kraftdroschke an dem Kurhau:<br />
eines beliebten Ausflugsortes vor, der am<br />
Nordufer eines langgestreckten Sees im<br />
Oberspreegebiet lag. Zuerst sprang ein bild<br />
hübscher Foxterrier aus dem Wagen, dann<br />
folgte gemächlicher Georg. Er entlohnte den<br />
Fahrer und begab sich, ohne seinen Ulster<br />
abzulegen, in die offene Veranda, von der<br />
aus man einen weiten Blick über den See<br />
hatte.<br />
Er bestellte ein Mittagessen und breitet<br />
inzwischen eine Spezialkarte dieses Seegebietes<br />
vor sich aus f die er einer Aktentasche<br />
entnahm. Mitunter Hess er einen nachdenk<br />
liehen Blick über die silbergetäfelte Wasser<br />
fläche schweifen, endlich bezeichnete er au<br />
der Karte ein rechteckiges Uferstück am See<br />
mit einem Rotstift.<br />
Als er die Karte wieder in die Mappe legte<br />
fielen ihm einige Briefe in die Hand. Er hatte<br />
seine Post noch vom Hotel abholen lassen,<br />
aber es war ihm nicht der Mühe wert gewesen,<br />
sie zu lesen. Jetzt fand er bei flüchtiger<br />
Durchsicht einen Brief, der die Handschrif<br />
Plaths trug, und einige andere von unbekannter<br />
Hand, vermutlich Bettelbriefe. Er zerriss<br />
sie ungelesen und öffnete nur ein Schreiben<br />
von der Bank, vielleicht, dass es noch etwas<br />
nachträglich zu ordnen gab, obwohl er seiner<br />
Meinung nach sorgfältig über alle Einzelheiten<br />
verfügt hatte. Die Bank teilte ihm mit,<br />
dass sich aus den letzten Verkäufen noch ein<br />
Ueberschuss von elftausendvierhundert Mark<br />
ergeben habe. Georg lächelte. «Nun habe ich<br />
ja wieder ein kleines Vermögen, vielleicht<br />
beginne ich noch einmal von vorn.»<br />
Er fand in seiner Mappe noch ein paar Bogen<br />
Briefpapier mit Umschlägen und beauftragte<br />
die Bank, das Geld an Käthe zu überweisen.<br />
Dann bezahlte er und spazierte ans<br />
Seeufer hinaus. Da Strolch durchaus mit<br />
Herrchen spielen wollte, warf Georg seinen<br />
Handstock in den See. Der Terrier sprang<br />
sofort hinterdrein, ruderte tapfer auf den<br />
schwimmenden Stock los und brachte ihn in<br />
hoch erhobener Schnauze stolz wieder zurück.<br />
Herrchen, mühsam dem Sprühregen des<br />
sich schüttelnden Hundes entgehend, war inzwischen<br />
zum Bootsplatz gegangen; wo Ruder-<br />
und kleine Segelboote zu vermieten waren.<br />
Der Bootsinhaber riet zu einer Segelpartie,<br />
der Wind sei ungewöhnlich günstig.<br />
«Gerade den See hinunter,» bestätigte Georg.<br />
«Sagen Sie mal, wie lange fährt man<br />
wohl bis Kolmanz?»<br />
«Bis Kolmanz? Da müssen Sie ja nachher<br />
durch den Kanal! Vor Sonnenuntergang kommen<br />
Sie da kaum hin.»<br />
«Ich glaube doch — bei dem Wind. Und<br />
dunkel wird es nicht, vorgestern war Vollmond.<br />
Also — ich werde die Fahrt machen,<br />
und zwar allein.»<br />
Der Graubart lachte. Natürlich wollte er<br />
sein Boot nicht so ohne weiteres in fremde<br />
Hände geben. Aber Georg hinterlegte zu seiner<br />
Verblüffung den Preis des Bootes als<br />
Pfand.<br />
Eine Viertelstunde später sass er am Steuer,<br />
die Segelleine in der Hand. Das einsame Gaffelsegel<br />
bauschte sich sogleich im frischen<br />
Südwestwind. Die Wellen rauschten vorne am<br />
Bug und klopften wie Finger an die Bootswand.<br />
Die Seefläche blinkte stahlhell, hellgrüne<br />
Ufer zogen vorüber.<br />
Georg atmete tief. Durstig sog sein Auge<br />
die Schönheit des Frühlingsnachmittags ein.<br />
In den Gärten der Dörfer blühten schon die<br />
Kirschbäume, frischer Grasduft wehte von<br />
den Ufern, die ganze Welt war jung und lächelte<br />
in den Aquarellfarben des Apriltages.<br />
So lag damals, erinnerte er sich, sein Leben<br />
vor ihm, als er in die Welt hinauszog;<br />
neu und jung voll frühlingshafter Verheissung.<br />
«Auch damals fuhr ich allein über das Wasser,<br />
aber es war der Ozean, und ich schiffte<br />
Heimat gerufen... Jetzt hatte er einen anderen<br />
Ruf gehört... Und er musste an dastetem Boot.,. Wie kam das alles? Zuerst<br />
mit tausend Masten. Jetzt — still auf geret-<br />
Wort seiner Mutter denken: «Wenn man alt nach meiner Rückkehr habe ich schnell gesiegt.<br />
Aber der Fluch des Sieges war mir auf<br />
und müde geworden ist, klingt einem das<br />
Rauschen wie ein Wiegenlied.»<br />
den Fersen, die Vergeltung für meine .Schicksalskorrektur'<br />
mit Gewalt, mit Verachtung<br />
Wie? War es etwa die Stimme seiner Mutter<br />
gewesen, die ihn gerufen und ihm im Dunkel<br />
den Weg gewiesen? Aber nein, eine Leben nach den Gesetzen des grossen<br />
des heiligen Du. So lief auch mein kleines<br />
Weltgeschehens<br />
... Mir scheint, es ist alles in Ordnung.»<br />
Auf einem Landvorsprung standen Bäume<br />
im Frühlingskleid, wie Vorposten des nahen<br />
Waldes. Lichtgrün wehte das lange Haar der<br />
Birken von weissen Stämmen. Dazwischen<br />
stand eine Eiche, sie trug an knorrigen Zweigen<br />
noch ihr welkes Laub, fhre vergilbten<br />
Blätter vom vorigen Sommer. Georg blickte<br />
sie an und schüttelte langsam den Kopf: «Man<br />
kann den vergangenen Sommer nicht in einen<br />
neuen Frühling stellen, alter Baum!»...<br />
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