E_1934_Zeitung_Nr.100
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N» 100<br />
III. Blatt<br />
BERN, 11. Dez. <strong>1934</strong><br />
Weihnachts-Beilage<br />
100<br />
HL Blatt<br />
BERN, 11. Dez. <strong>1934</strong><br />
Der Weihnachts-Engel<br />
Von Dora von Stockert-Meynert.<br />
« Berti, jetzt sind die Engel gewiss schon bei der<br />
Arbeit >, sagte die kleine Elli zu ihrem Bruder. Der<br />
Siebenjährige, der sich gerade mit den ersten<br />
Schreib versuchen abmühte, brummte: «Wenn du<br />
immerzu bei allen Türen horchst, werden sie sich<br />
ärgern. Mach lieber in deinem Puppenwinkel Ordnung,<br />
damit sie nicht gleich wieder alles forttragen,<br />
•wenn sie sehen, wie du mit deinen Sachen umgehst.»<br />
Elli zog erschrocken ihre vorjährige Weihnachtspuppe<br />
hervor und versuchte sie durch allerlei kleine<br />
Kunstgriffe aufzufrischen, um das Christkind über<br />
ihren traurigen Zustand zu täuschen. Dann nahm<br />
sie die Elendsgestalt in den Arm und ging wieder<br />
zu. dem fleissigen Berti. « Ich möchte wissen, ob<br />
Mutter dabei ist», flüsterte sie scheu und feierlich.<br />
Der Bruder Hess den Federstiel sinken und<br />
schaute die Schwester an: « Du weisst, Papa will<br />
nicht, dass du soviel von Mutter redest. »<br />
Elli schob gekränkt die Unterlippe vor: « Ich<br />
tu's ja nur, wenn er's nicht hört. Aber Luise sagte<br />
neulich, wie ich sie fragte, wann Mutter denn zurückkommen<br />
wird, ja, da sagte sie, ich möge mir<br />
vorstellen, Mutter sei ein Engel im Himmel. »<br />
Berthold wurde blass und glitt von seinem Sitz,<br />
als wenn er den Halt verloren hätte. « Die Luise<br />
ist dumm », schrie er. « Mutter ist nicht gestorben,<br />
sonst hätte man es uns doch gesagt. Und wenn<br />
Mutter lebt, kann sie auch kein Engel im Himmel<br />
sein. »<br />
Der Knabe schwieg und schaute erschreckt vor<br />
sich hin. Vielleicht war sie aber doch gestorben.<br />
Wenn sie wirklich nur verreist gewesen wäre, hätte<br />
sie schon längst zurück sein müssen. « Du, Elli >,<br />
sagte er zögernd, c wenn sie aber wirklich ein Engel<br />
geworden ist, wird sie heute ganz sicher unsern<br />
Baum putzen. Komm, schaun wir durch das<br />
Schlüsselloch. »<br />
Nun machte das um ein Jahr jüngere Schwesterchen<br />
ein weises Gesicht: « Luise sagt, wir können<br />
sie nicht sehen, weil Engel für die Menschen<br />
unsichtbar sind. Dazu brauchte man himmlische<br />
Augen. »<br />
Berthold dachte einen Augenblick nach, dann<br />
richtete er sich energisch auf: « Himmlische Augen<br />
haben wir aber nicht, und deshalb soll der liebe<br />
Gott uns Mutter wieder zurückgeben. Er hat genüg<br />
Engel, und wir brauchen Mutter. Wir müssen sie<br />
wieder haben! »<br />
«Wen müsst ihr wieder haben? » fragte die<br />
Stimme des Vaters hinter ihnen.<br />
« Mutter », schrie Elli trotzig. « Was macht sie<br />
beim lieben Gott?»<br />
Der Vater machte eine entsetzte Bewegung.<br />
< Wer hat denn gesagt, dass ...» Er hrach ab<br />
und fuhr den Kindern mit ungeschickter Hand über<br />
die Köpfe, c Seid brav Ich habe noch zu tun.<br />
Wenn ihr läuten hört, läuft ihr in den Salon. Dann<br />
wird das Christkind gekommen sein. » ,<br />
Er nickte ihnen zu und ging schnell aus dem<br />
Zimmer. Draussen rief er in die Küche: « Luise,<br />
ziehen Sie den Kindern bessere Kleider an und legen<br />
Sie die Platte mit dem Weihnachtslied in das<br />
Grammoiphon. »<br />
« Schon gut, Herr», entgegnete die Wirtschafterin.<br />
« Ich werde alles machen. » Gleich darauf<br />
wendete sie sich zu ihrer Gehilfin: «Ob sie heute<br />
wenigstens herdenken wird, an ihre Würmer.»<br />
Schnee fiel, und es dunkelte. Berthold und Elli<br />
hatten ihre Stühle ans Fenster geschoben und sich<br />
darauf gekniet, um besser hinausschauen zu können.<br />
Vielleicht gelang es ihnen, den Weihnachtsbaum<br />
zu sehen, wenn die Engel mit ihm geflogen<br />
kamen. Für einen Baum braucht niemand himmlische<br />
Augen. Da ist einer wie der andere. Sonst<br />
würde ihn der Weihnachtsmann nicht auf dem Kirchenplatz<br />
unten einkaufen.<br />
Die Nasen an die Scheiben gedrückt, waren die<br />
Kinder so davon in Anspruch genommen, den Himmel<br />
zu beobachten, dass sie keinen Blick für die<br />
Frau hatten, die sich dem Hause näherte und mit<br />
solcher Leichtigkeit das Schloss zur Türe des Vorgartens<br />
öffnete, als ob sie mit seinem Geheimnis<br />
•vertraut wäre.<br />
Scheu Um sich blickend, schlich die" Frau den<br />
Weg entlang. Plötzlich blieb sie stehen und starrtö<br />
Weihnachts-Schnee<br />
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