E_1948_Zeitung_Nr.018
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Nr. 18 - MITTWOCH, 14. APRIL 1918<br />
AUTOMOBIL-REVUE<br />
SPORTNACHRICHTEN<br />
Ist man zum Rennfahrer geboren?<br />
Oder kann man sich das dazu notwendige Rüstzeug aneignen?<br />
Die Frage, ob ein Rennfahrer sozusagen als<br />
Meister vom Himmel falle oder ob man dieses<br />
Metier wie irgendein anderes erlernen könne, beschäftigt<br />
die Fachkreise, seit überhaupt Rennen<br />
ausgetragen werden. Die Auffassungen darüber<br />
gehen weit auseinander Während die ©inen die<br />
Tbese vertreten, eine starke persönliche Veranlagung<br />
sei unerlässlich, ja ausschlaggebend, um<br />
es am Lenkrad izu einer gewissen Meisterschaft zu<br />
bringen, verfechten andere ebenso überzeugt den<br />
Standpunkt, die erforderlichen Kenntnisse Hessen<br />
sich ohne weiteres aneignen, unter der Voraussetzung<br />
immerhin, dass man von der Natur mit einer<br />
nicht aHzu knapp bemessenen Dosis an Intelligenz<br />
ausgestattet und vom unbeugsamen Willen<br />
beseelt sei, Grosses zu leisten. Eine dritte Gruppe<br />
endlich, die der Wirklichkeit zweifellos am nächsten<br />
kommt, erblickt in einem günstigen Zusammenwirken<br />
von Begabung und erlerntem Können<br />
die Hauptbedingung jeglichen Erfolges am Volant.<br />
In jüngster Zeit hat die Diskussion um dieses<br />
Problem neuen Auftrieb erhalten durch eine Veröffentlichung<br />
des bekannten italienischen Autosport-Publizisten<br />
Giovanni Canestrini, die<br />
unter dem Titel Automobilismo sportivo e tunstico<br />
als 28. Schrift-in der vom Verlag Sperling- und Kupfer<br />
in Mailand herausgegebenen Bücherreihe,über<br />
physische und sportliche Erziehung erschienen ist.<br />
Canestrini, seit Mitte des vergangenen Jahres Generalsekretär<br />
des reorganisierten italienischen<br />
Automobilclubs und ehedem langjähriger Betreuer<br />
autömobilsportlicher Belange in der «Gazzetta<br />
del'lo Sport>, für die er übrigens nach wie vor<br />
•tätig ist, gilt we.it über die Grenzen seiner Heimat<br />
hinaus als einer der besten Kenner der Materie<br />
und ebenso brillanter wie geistreicher Journalist in<br />
einer Person, den ein Mailänder Fachblatt unlängst<br />
wie folgt charakterisierte: Canestrini könnte Präsident<br />
der Republik, Regierungschef, Minister, Bischof,<br />
Kardinal und sogar Papst werden, er würde<br />
nie aufhören, sich journalistisch zu betätigen, denn<br />
der*Journalismus liegt ihm im Blut. Wem sich aber<br />
der <strong>Zeitung</strong>sschreiber-Bazillus im Blut festgesetzt<br />
hat, den lässt er nicht wieder los.<br />
Erst Kletterer - dann Läufer und fchliesslich<br />
Fahrer<br />
Der erste Abschnitt seines Buches, das ein gutes<br />
Dutzend Studien-' zu automobilsportiichen und<br />
-touristischen Problemen mit stark technischem Einschlag<br />
enthält und auf Schritt und Tritt verrät, dass<br />
sein Verfasser mif dem Auto aufs engste verwachsen<br />
ist, segelt unter dem bezeichnenden Titel<br />
«Guidatare si nasce o si diventa?> (Wird man als<br />
Fahrer geboren oder kann man das Fahren erlernen?),<br />
bezeichnend deshalb, weil Canestrini<br />
durch die Art der Fragestellung bereits auf die<br />
Verschiedenheit der herrschenden Auffassungen<br />
anspielt. In einem historischen Exkurs erinnert er<br />
einleitend, auf die Darwinsche Abstammungslehre<br />
sich stützend, daran, wie unser Vorfahr einst<br />
— in grauer Vorzeit — auf den Bäumen hauste<br />
und dessen Bewegung sich somit auf die Kletterei<br />
beschränkte, wie er dann später zur Erde herabstieg<br />
und festzustellen begann, dass lediglich die<br />
Fortbewegung in horizontaler Richtung ihn in die<br />
Möglichkeit versetzte, sich den Attacken seiner<br />
Feinde zu entziehen und die Nahrung zu verschaffen.<br />
So wurde aus dem Kletterer allmählich ein<br />
Läufer. Das lenkte die Entwicklung seines Nervensystems<br />
in völlig neue Bahnen und verursachte<br />
dank des regelmässigen Muskeltrainings die unablässige<br />
Bildung von Zellen, die zur Bewegung antrieben,<br />
was wiederum zur Folge hatte, dass das<br />
Nervensystem von.Generation izu Generation ©ine<br />
Verfeinerung erfuhr und so für gesteigerte Geschwindigkeiten<br />
vorbereitet wurde.<br />
Zum Fahren geboren ? Nein!<br />
Es ist eine Erfahrungstatsache, dass Leute, die<br />
täglich der Körperertüchtigung obliegen, einen<br />
stärkeren Drang zur Bewegung in sich verspüren<br />
ols jene, die auf physisches Training verzichten.<br />
Zwischen Bewegung und Geist besteht unleugbar<br />
ein Zusammenhang, ein Band, das ständig auf die<br />
zur Bewegung antreibenden Zellen einwirkt und<br />
im Individuum neue Möglichkeiten erschliesst. Von<br />
unseren Altvordern also haben wir den Sinn für<br />
das Motorische, das Vorwärtstreibende ererbt,<br />
was nun freilich keineswegs besagen will, wir alle<br />
hätten Anlagen, gute Fahrer zu werden. Anderseits<br />
aber besteht nach Canestrini ebensolche Gewissheit<br />
darüber, dass man sich Fahrstil und Fahrsicherheit<br />
auf Grund praktischer Erfahrungen aneignen<br />
kann. Für den Autor gilt als selbstverständlich,<br />
tdass keiner als geborener Fahrer das Licht<br />
der W^lt erblickt, dagegen ist der Mensch — im<br />
Unterschied von andern Lebewesen — dazu geschaffen,<br />
sich veränderten Lebensbedingungen in<br />
kürzester Frist anzupassen, wie er auch lernte, im<br />
Flugzeug den Luftraum zu durchmessen und, an<br />
einen Fetzen Tuch baumelnd, vom Himmel herabzuschweben.<br />
Die Intelligenz macht's aus<br />
Das grosse Geheimnis, auf irgendeinem Lebensgebiet<br />
eine gewisse Vollkommenheit zu erreichen,<br />
liegt nach Canestrini in der Intelligenz<br />
begründet. Da aber jedem Menschen eine mehr<br />
oder minder beträchtliche Dosis an Intelligenz mit<br />
in die Wiege gelegt sei, neige man gewohnheitsmässig<br />
dazu, jedermanns Tun und Lassen als<br />
etwas Angeborenes, Instinktives zu deuten. Statt<br />
von einem Fahrer zu behaupten, er sei als solcher<br />
geboren, hält es der Verfasser daher für richtiger,<br />
zu sagen, er habe eine grosse Intelligenz bewiesen<br />
und den festen Willen an den Tag gelegt, sich<br />
in der Fahrkunst zu vervollkommnen. Dies allein<br />
entspreche der Wirklichkeit und könne dazu beitragen,<br />
alle jene zu ermutigen, die darauf brennten,<br />
sich am Volant auszuzeichnen, an denen aber<br />
ein Zweifel nage, ob sie hiezu geboren seien oder<br />
nicht. Nach Canestrini stehen dieselben Voraussetzungen<br />
am Anfang einer glanzvollen Laufbahn<br />
als Fahrer, als Mathematiker, als Maler Usw.: eine<br />
gewisse Intelligenz, persönliche Begabung, ausgeprägte<br />
Willenskraft und ein (zünftiger Schuss Leidenschaft,<br />
die Möglichkeit, sich restlos für etwas<br />
einzusetzen und zu begeistern.. Von Nazzaro, Nuvolani<br />
und Varzi u. a. hält es Canestrini für deplaciert,<br />
zu sagen, sie seien a priori dazu bestimmt<br />
gewesen, Rennfahrer zu werden. Nazzaro, der<br />
vielleicht nicht gerade das Beispiel eines intelligenten<br />
Fahrers war, eignete sich seinen grossartigen<br />
Stil im- Laufe eines langen Studiums und<br />
in harter, langwieriger Arbeit an. Nuvolgri war<br />
einige Jahre 'lang alles andere denn ein.Klassefobrer.<br />
Seinen persönlichen und nicht nachzuahmenden<br />
Stil verdankt er seinem Willen, um<br />
jeden Preis zu reüssieren. Aehnliches gut für Varzi.<br />
Fahrtechnik und Fahrkunst — zwei Paar Stiefel<br />
Wie man erst dann mit Fug und Recht behaupten<br />
darf, eine fremde Sprache zu beherrschen,<br />
wenn man in ihr zu denken vermag, so verleiht die<br />
Kenntnis von den Vorgängen in Motor und Getriebe,<br />
ja der Besitz einer Fahrbewilligung noch<br />
lange kein Anrecht darauf, sich als guter Fahrer<br />
zu wähnen. Denn just von dem Augenblick weg,<br />
da- man sich am Lenkrad wie a.u Hause fühlt, ist<br />
grosse Gefahr im Verzug und setzt der Notwendig^<br />
ke.it einer strengen Selbstkontrolle ein. Canestrini<br />
ruft in diesem Zusammenhang die Erinnerung an<br />
etwas wach, was jedem Fahrer geläuffg sein<br />
dürfte, an eine gewisse Unsicherheit und Befangenheit<br />
nämlich, die sich beim Ueberschreiten<br />
einer bestimmten Geschwindigkeit bemerkbar<br />
macht, wobei man die Gewalt über das Fahrzeug<br />
zu verlieren droht, die Strasse immer schmäler zu<br />
werden scfieint und die Beurteilung des Terrains<br />
wie der Objekte nicht mehr mit derselben Klarheit<br />
erfolgt wie noch kurz zuvor. Jenseits dieses Tempos,<br />
das für die Mehrzahl der Fahrer die Grenze<br />
bedeutet, genügt es nicht mehr, über eine solide<br />
Fahrtechnik- zu verfügen. Dort erweist es sich vielmehr,<br />
ob der gute Fahrer sein Vehikel dank seiner<br />
Fahrkunst meistern und beherrschen kann. Die<br />
Fabrtechnik lässt sich, lernen — die fahrkunst,dagegen<br />
und all das, was sie ausmacht — Intuition,<br />
Stil, Empfindung,. Improvisation,. Intelligenz,, und<br />
Phantasie — muss angeboren sein. ""* •