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Wirtschaftszeitung_26032018

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20 LEBEN &<br />

Ein lichterloh brennender Triump<br />

Beim Osterräderlauf im kleinen westfälischen Örtchen Lügde wird ein uralter Brauch gepflegt. Das<br />

Traditionsspektakel hat eine lange Geschichte –und wird von den „Dechen“ akribisch vorbereitet.<br />

„Wir wollen die Räder seh‘n, wir wollen<br />

die Räder, Räder seh‘n!“ Stimmgewaltig<br />

artikuliert der Laienchor<br />

seine Forderung. Es ist naheliegend,<br />

jetzt an eine Sportveranstaltung<br />

oder gar ein krawalliges Event zu<br />

denken. Bei einerBrauchtumsveranstaltung<br />

sind solche Stimmungsgesänge<br />

dagegen eher ungewöhnlich.<br />

Im ostwestfälischen Fachwerk-<br />

Städtchen Lügde, das auf halber<br />

Strecke zwischen Detmold und<br />

Hameln liegt, wird ein uralter<br />

Brauch gepfl<br />

egt. Der Osterräderlauf<br />

ist ein in dieser Größenordnung einmaliges<br />

Traditionsspektakel mit langer<br />

Geschichte. Dass der Brauch lebendig<br />

bleibt, dafür sorgendie engagierten Mitglieder<br />

des Dechenvereins. „Der Begriff<br />

des Dechen taucht in einer Kirchenchronik<br />

von1410auf“, erzählt Dieter Stumpe,<br />

der seit ewigen Zeiten im Verein mitarbeitet.<br />

Die Dechen hätten die Aufgabe<br />

gehabt, Riten und Gebräuche zu überwachen,<br />

waren somit Brauchtumswächter.<br />

„Dieser Tradition sind unsere über 600<br />

Mitglieder verpfl<br />

ichtet“, so der Lügder<br />

Senior stolz. Viel für einen kleinen Ort<br />

fernab der Metropolen.<br />

Bevor die sechs brennenden Holzräder<br />

nach Einbruch der Dunkelheit am Ostersonntag<br />

den Osterberg herunterrollen<br />

können, braucht es tatsächlich sehr viele<br />

Hände, die anpacken –nicht nur am Tag<br />

selbst. „Irrsinnig viel Arbeit steckt hinter<br />

so einem Osterräderlauf.“ Dieter Stumpe<br />

spricht aus Erfahrung. „Aber dieser<br />

Brauch gehört eben zu Lügde.“ Und das<br />

wohl schon seit weit über tausend Jahren.<br />

„Der Eintrag in die Listedes immateriellen,<br />

deutschen Kulturerbes ist denn<br />

auch unser Ziel“, hofft der Deche.<br />

Als Karl derGroße in der Gegend weilte,<br />

soll er von dem germanischen Brauch,<br />

mit Feuerrädern<br />

„Der Eintrag in die Liste des<br />

immateriellen deutschen Kulturerbes<br />

ist unser Ziel.“<br />

Dieter Stumpe<br />

den Frühling zu<br />

begrüßen, erfahrenhaben.<br />

Da der<br />

Herrscher den<br />

Kult nicht gegen<br />

den Willen der<br />

Bevölkerung verbieten<br />

wollte,<br />

setzteereinekleine,<br />

aber weitreichende Änderung durch.<br />

Die Speichen der Räder sollten ein Kreuzsymbol<br />

aufw<br />

eisen. Das tun sie bis heute.<br />

Aus einem heidnischen war ein christlicher<br />

Brauch geworden, der einst auch in<br />

anderen Orten Mitteleuropas gepfl<br />

egt<br />

wurde.<br />

WeramOstersamstag durch den Ort spaziert,<br />

wird sechs große festgekettete<br />

Holzräder im Flüsschen Emmer liegen<br />

sehen. „Schon seit Montag werden die<br />

hier gewässert“, informiert Dieter Stumpe.<br />

Das feucht gewordene Holz schütze<br />

davor, dass die Räder in Flammen aufgingen.<br />

Stattdessen werde das in die Räder<br />

gestopfte Roggenstroh angezündet.<br />

„Und das wird vom Dechenverein noch<br />

selbst nach traditioneller Art angebaut<br />

und geerntet.“<br />

Doch zunächst mal müssen die Osterräder<br />

mit Hilfe eines alten Treckers aus<br />

dem Wasser gezogen werden. Nun kann<br />

man ihre Inschriften lesen. „Meine Ahnen<br />

sind die Keltenund Germanen, jetzt<br />

laufe ich in Christi Namen“, steht etwa<br />

auf dem Rad aus dem Jahr 1985.<br />

„Deutschland einig Vaterland“ lautet die<br />

Inschrift von<br />

1990. Jedes Rad,<br />

das neu gefertigt<br />

werden muss, erhält<br />

auch ein neues<br />

Motto. Nach<br />

der mühsamen<br />

Fleißige Strohmänner: Die Dechen –freiwillige Helfer, die sich für den Erha<br />

den es mit Haselnussruten.<br />

Verladeaktion<br />

werden die rund<br />

270 Kilogramm<br />

schweren und 1,70 Meter hohen Räder<br />

zum Marktplatz transportiert. Hier harren<br />

sie ihres großen Auftritts am nächsten<br />

Tag.<br />

Bevoresauf den knapp 300 Meter hohen<br />

Osterberg geht, werden die Räder –und<br />

das Roggenstroh – mit einem Umzug<br />

durch die historische Altstadt Lügdes<br />

dem Publikum präsentiert. Aufdem Weg<br />

zum Gipfel spaziert man an den Wiesen<br />

vorbei, über die die Räder später rollen<br />

werden. „Wir müssen immer noch an<br />

einen Pächter sogenanntes Überlaufgeld<br />

bezahlen, wegen vermeintlicher Ernteausfälle“,<br />

ärgert sich Dieter Stumpe.Aber<br />

auch die Verwaltung habe immer so einige<br />

Hürden aufgebaut. „Ich besitze Ordner<br />

voll mit Genehmigungen.“<br />

Oben angekommen werden die Osterräder<br />

von Böllerschüssen begrüßt, die bis<br />

weit ins Talzuhören sind. Dann beginnen<br />

die Dechen, nur gelegentlich von<br />

einem stärkenden Schluck unterbrochen,<br />

mit dem Vorbereitender Räder.Zuerst<br />

wird ein Holzstock durch die Nabe<br />

geführt, die Balancierstange, und mit<br />

Holzplättchen fixiert. Danach werden<br />

die langen Strohbüschel zwischen die<br />

Speichen gestopft und mit Haselnussruten<br />

umwickelt. Mit geschickten Handgriffen<br />

gehen die Männer in den grünen<br />

Overalls ans Werk. Man sieht, sie machen<br />

das nicht zum ersten Mal. „Vor ein paar<br />

Tagen haben unsere Leute etwa 500 Ruten<br />

geschnitten und sopräpariert, dass<br />

sie als Bindematerial zum Einfl<br />

echten<br />

des Roggenstrohs benutzt werden können“,<br />

erläutert Experte Stumpe.<br />

Während sich unten die Ränge, sprich die<br />

Wege und Wiesen, füllen, wird auf dem<br />

Osterberg das Hereinbrechen der Dämmerung<br />

erwartet. Erst dann kann der<br />

Lauf starten. Denn die archaische Bedeutung<br />

der Osterräder liegt im Triumphdes<br />

Lichtes, hier durch das Feuer symbolisiert,<br />

über die Dunkelheit. Schlichter ausgedrückt:<br />

Dem Winter soll der Garaus gemacht<br />

werden.<br />

Endlich ist es so weit. Das Osterfeuer<br />

wirdangesteckt, aufmerksam beäugt von<br />

der Feuerwehr. Und am 35 Meter hohen<br />

Osterkreuz geht das Licht an. Das Kreuz<br />

erinnert an ein bedeutendes Kapitel der<br />

Lügder Geschichte. 1935 wa<br />

rerVorläufer aus Protest geg<br />

nalsozialisten, die sich den<br />

logisch zunutze gemacht ha<br />

Nacht- und Nebelaktion er<br />

den.<br />

Unten werden nun die Ge<br />

stimmt und bald wirddas er<br />

Startplatz gerollt. Das Lich<br />

kreuzes erlischt. Wieder<br />

Schuss aus der Kanone. Dan<br />

Dechen das Rad oder genau<br />

Beeindruckendes Feuerwerk: Die lichterloh brennenden Osterräder machen sich auf den Weg bergab –beobachtet von der<br />

Links im Hintergrund leuchtet das Osterfeuer. ImTal werden die Räder von freiwilligen Helfern empfangen und schnell gel<br />

sie keinen großen Schaden anrichten.

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