Medical Tribune 15/2018
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10 NEUROLOGIE<br />
<strong>Medical</strong> <strong>Tribune</strong> j Nr. <strong>15</strong> j 11. April <strong>2018</strong><br />
Aus der Toolbox der Gentherapie<br />
ÖGN <strong>2018</strong> ■ Gentherapien geben Grund zur Hoffnung. Aber wie funktionieren diese Techniken eigentlich? Welche<br />
Methoden gibt es und wo gibt es schon Erfolge? Eine Bestandsaufnahme am Beispiel neuromuskulärer Erkrankungen.<br />
Cephalgien<br />
nach dem<br />
Schlaganfall<br />
DR. RÜDIGER HÖFLECHNER<br />
Wer unter einer seltenen neuromuskulären<br />
Erkrankung leidet, ist vom<br />
Schicksal gleich mehrfach gestraft:<br />
Zur oft dramatischen Symptomatik<br />
kommen die diagnostische Odyssee<br />
durch den Mangel an Wissen und Experten<br />
und die häufig fehlenden therapeutischen<br />
Optionen. Für Wissenschaftler<br />
und Industrie sind Krankheiten<br />
mit geringen Fallzahlen meist<br />
ein wenig interessantes und lukratives<br />
Forschungsfeld. Dennoch hat es<br />
in letzter Zeit im Bereich seltener Erkrankungen<br />
einige bemerkenswerte<br />
Erfolge gegeben. Zu verdanken ist das<br />
vor allem dem intensiven Lobbying<br />
von Patientenorganisationen, neuen<br />
gesetzlichen Regelungen (Orphan<br />
Drug Act), Registern, mit denen seltene<br />
Fälle heute weltweit erfasst werden<br />
und nicht zuletzt dem wissenschaftlichen<br />
Fortschritt.<br />
In den letzten Jahren standen unter<br />
den Medikamenten, die eine Zulassung<br />
als Orphan Drug erhielten,<br />
meist Biologicals an vorderster Front.<br />
Ein anderer Ansatz, von dem seltene<br />
Erkrankungen in Zukunft besonders<br />
profitieren könnten, ist die Gentherapie.<br />
Welche Techniken stehen dafür<br />
heute zur Verfügung? Auf der Jahrestagung<br />
der Österreichischen Gesellschaft<br />
für Neurologie warf Univ.-Prof.<br />
Dr. Fritz Zimprich, Universitätsklinik<br />
für Neurologie, Medizinische Universität<br />
Wien, einen Blick in die Toolbox<br />
der Gentherapeuten.<br />
Antisense-Oligonukleotide<br />
(ASOs) mit Zielort mRNA<br />
Zielort der derzeit am weitesten entwickelten<br />
Gentherapie-Technik ist die<br />
messenger RNA, also das Bindeglied<br />
zwischen der chromosomalen DNA<br />
und der Proteinsynthese in den Ribosomen.<br />
Vorläufermolekül der mRNA<br />
ist die prä-mRNA, aus der die nicht<br />
kodierenden Abschnitte (= Introns)<br />
noch durch Spleißen herausgeschnitten<br />
werden müssen. Die fertige mRNA<br />
besteht nur noch aus aneinandergereihten<br />
Exons, die eine Bauanweisung<br />
für Proteine enthalten.<br />
Bei vielen genetischen Erkrankungen<br />
führt eine fehlerhafte mRNA<br />
dazu, dass funktionsgestörte, schädliche<br />
oder gar keine Proteine gebildet<br />
werden. Antisense-Oligonukleotide<br />
(ASOs) sind nun künstlich hergestellte<br />
Oligonukleotide, deren Basenpaare<br />
komplementär zur mRNA<br />
sind. Wenn die ASOs an die fehlerhafte<br />
mRNA binden, wird dadurch<br />
deren Abbau veranlasst oder zumindest<br />
die Translation, also die Übersetzung<br />
der genetischen Information in<br />
eine Aminosäuresequenz, verhindert.<br />
Eine Erkrankung, bei der die Zerstörung<br />
toxischer mRNA-Moleküle<br />
durch ASOs im Tiermodell bereits<br />
recht gut funktioniert, ist die Myotone<br />
Dystrophie Typ 1 (häufigste hereditäre<br />
Muskelerkrankung des Erwachsenenalters).<br />
Die Sicherheit und<br />
Verträglichkeit dieser Therapie wurde<br />
auch bereits bei Menschen in Phase-I-<br />
Erste klinische Studien mit CRISPR-Cas9 verliefen erfolgreich.<br />
und Phase-II-Studien untersucht.<br />
Durch ein cleveres Design kann<br />
man mit ASOs aber auch einzelne<br />
Exons blockieren und dadurch erreichen,<br />
dass diese beim Spleißmechanismus<br />
übersprungen werden (Exon<br />
Skipping). Ein Beispiel für einen erfolgreichen<br />
Einsatz von Exon Skipping<br />
ist die Duchenne-Muskeldystrophie:<br />
Bei einem Teil der Patienten<br />
kommt es durch eine Mutation im<br />
Dystrophin-Gen zu einer Deletion der<br />
Exons 49 und 50. Dadurch wird bei<br />
der Translation der Leserahmen verschoben<br />
und die Proteinbildung vorzeitig<br />
abgebrochen. Schaltet man nun<br />
durch eine ASO-Therapie zusätzlich<br />
noch das Exon 51 aus, wird der Leserahmen<br />
wiederhergestellt. Durch die<br />
fehlenden Exons ist das entstehende<br />
Protein zwar etwas kürzer als normal,<br />
aber funktionstüchtig.<br />
In einer Zulassungsstudie konnte<br />
gezeigt werden, dass diese Therapie,<br />
für die 13 % aller Duchenne-Patienten<br />
geeignet sind, auch in der Praxis<br />
wirkt: Bei zwölf Buben mit bevorstehendem<br />
Verlust der Gehfähigkeit kam<br />
es durch die Behandlung nicht nur<br />
zu einer signifikanten Erhöhung der<br />
Dystrophin-positiven Muskelfasern,<br />
sondern auch zu einer klinischen Verbesserung<br />
im 6-Minuten-Gehtest.<br />
Ganz anders funktioniert die<br />
ASO-Therapie bei der spinalen Muskelatrophie,<br />
der zweithäufigsten autosomal<br />
rezessiven Erkrankung im<br />
Kindesalter: Ursache dieser Störung<br />
ist eine Deletion im SMN1-Gen, die<br />
zu einem Verlust des SMN-Proteins<br />
und zum Absterben der Motoneurone<br />
führt. Das Spannende ist, dass<br />
es im Körper noch eine zweite, fast<br />
idente Kopie dieses Gens gibt: SMN2<br />
produziert jedoch bei Gesunden nur<br />
wenig funktionales Protein, weil einem<br />
Großteil der mRNA-Moleküle das<br />
Exon 7 fehlt.<br />
Hier ist es Forschern gelungen,<br />
durch spezifische ASOs so in den<br />
Spleißvorgang von SMN2 einzugreifen,<br />
dass der Verlust des 7. Exons verhindert<br />
und dadurch vermehrt funktionsfähiges<br />
SMN-Protein gebildet<br />
wird. In der ENDEAR-Studie konnte<br />
gezeigt werden, dass Kinder mit spinaler<br />
Muskelatrophie, denen der Antisense-Wirkstoff<br />
Nusinersen intrathekal<br />
injiziert wurde, im Vergleich<br />
zur Placebogruppe signifikant häufiger<br />
überlebten und Meilensteine der<br />
motorischen Entwicklung erreichten.<br />
„Das ist zwar noch keine Heilung der<br />
Erkrankung, aber doch eine deutliche<br />
Verbesserung“, so Zimprich.<br />
Gentransfer<br />
mit viralen Vektoren<br />
Schon seit rund 20 Jahren werden genetisch<br />
modifizierte Viruspartikel verwendet,<br />
um genetisches Material gezielt<br />
in Zellen einzubringen. Geeignet<br />
dafür sind vor allem Adeno-assoziierte<br />
Viren (AAV), weil diese einen<br />
variablen Zelltropismus aufweisen.<br />
„Das heißt, man kann mit diesen Vektoren<br />
unterschiedliche Zellen ansteuern“,<br />
erklärt Zimprich. Da sie nicht in<br />
die chromosomale DNA eingebaut<br />
werden, sind die AV V auch relativ sicher.<br />
„Nachteil ist, dass sie nur eine<br />
relativ kleine Trägerlast von 5kB haben,<br />
was für viele Anwendungen zu<br />
wenig ist.“ Mittlerweile gibt es schon<br />
über 100 klinische Studien, in denen<br />
Adeno-assoziierten Viren als Vektoren<br />
dienten. Ein Beispiel, in dem das besonders<br />
gut funktioniert hat, ist die<br />
spinale Muskelatrophie, bei der ja<br />
auch bereits ASOs erfolgreich angewandt<br />
wurden: Während von <strong>15</strong> Kindern,<br />
denen einmalig in AAV verpackte<br />
SMN-Gene infundiert wurden,<br />
keines im Alter von 20 Monaten<br />
eine künstliche Beatmung benötigte,<br />
kamen in einer historischen Vergleichsgruppe<br />
zum selben Zeitpunkt<br />
nur noch acht Prozent ohne permanente<br />
Beatmung aus. „Von den zwölf<br />
Kindern, die eine höhere Dosis erhalten<br />
hatten, erlernten elf Sitzen, einen<br />
motorischen Meilenstein, der im Normalfall<br />
bei dieser Erkrankung überhaupt<br />
nie erreicht wird“, unterstreicht<br />
der Neurologe die beeindruckende Effektivität<br />
des Gentransfers.<br />
Genomeditierung<br />
mittels Genschere<br />
Bei dieser Technik, die zwar noch in<br />
den Kinderschuhen steckt, aber besonders<br />
vielversprechend ist, ist das<br />
Ziel eine permanente Korrektur des<br />
genetischen Defekts im chromosomalen<br />
Kontext.<br />
Verwendet werden dafür Enzyme,<br />
die die doppelsträngige DNA an einer<br />
genau definierten Stelle schneiden.<br />
Am bekanntesten ist die CRISPR-<br />
Cas9-Methode, bei der die Genschere<br />
mit einer guide-RNA an den Defekt<br />
herangeführt wird. Im Bereich des<br />
DNA-Bruchs kann dann entweder<br />
ein neues Gen eingeschleust oder ein<br />
schädliches Gen herausgeschnitten<br />
werden (Paste- oder Cut-Variante).<br />
Es gibt auch schon erste klinische<br />
Studien mit dieser neuartigen molekularbiologischen<br />
Methode, z.B. bei HIV<br />
und Sichelzellanämien. Im Tierversuch<br />
funktioniert Genomediting auch<br />
bereits bei neuromuskulären Erkrankungen:<br />
Bei der mdx-Maus, einem<br />
Modell für die Duchenne-Muskeldystrophie,<br />
konnten Forscher durch<br />
die Deletion eines Exons des Dystrophin-Gens<br />
mittels CRISPR-Cas9 einen<br />
verschobenen Leserahmen wiederherstellen<br />
und eine signifikante Kraftverbesserung<br />
der Tiere beobachten.<br />
„Obwohl Gentherapien vielerorts<br />
bereits an der Schwelle zur klinischen<br />
Anwendung stehen, müssen<br />
noch viele Fragen geklärt werden“, betont<br />
Zimprich. Vor einer breiten Anwendung<br />
dieser Techniken bedarf es<br />
noch methodischer Verbesserungen,<br />
ethischer Diskussionen und gesetzlicher<br />
Regelungen. Auch Wirksamkeit,<br />
Sicherheit und Verträglichkeit müssen<br />
gewährleistet sein.<br />
Das Problem der enormen Kosten<br />
– derzeit bei manchen Behandlungen<br />
noch mehrere hunderttausend Euro<br />
pro Jahr – sieht der Neurologe pragmatisch:<br />
„Im Prinzip ist die den Therapien<br />
zugrunde liegende Technik<br />
relativ einfach. Wenn etwas einmal<br />
funktioniert, ist es verhältnismäßig<br />
leicht für andere genetische Defekte<br />
adaptierbar. Es ist daher davon auszugehen,<br />
dass die Kosten in Zukunft<br />
deutlich sinken werden.“<br />
<strong>15</strong>. Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft<br />
für Neurologie; Linz, März <strong>2018</strong><br />
DGN <strong>2018</strong> ■ Erstaunlich wenig<br />
wusste man bisher über Kopfschmerzen<br />
während und nach einem ischämischen<br />
Schlaganfall. In den ersten<br />
drei Tagen nach einem Apoplex leiden<br />
39 % der Patienten unter Kopfschmerzen,<br />
berichtete Dr. Torsten Kraya von<br />
der Klinik für Neurologie der Universität<br />
Halle-Wittenberg. In vier Zen tren<br />
in Halle, Dresden und München wurden<br />
808 Patienten in den ersten drei<br />
Tagen nach einem Schlaganfall dazu<br />
befragt.<br />
Frauen hatten mit 44 % signifikant<br />
häufiger Kopfschmerzen als Männer<br />
(35 %) und Jüngere öfter als Ältere.<br />
Ischämien im hinteren Stromgebiet<br />
gingen mit 45 % deutlich häufiger mit<br />
den Beschwerden einher als Läsionen<br />
im vorderen arteriellen Versorgungsgebiet.<br />
Die Intensität beschrieb ein Drittel<br />
als mittel-, 7 % als (sehr) stark.<br />
Meist handelte es sich um dumpf<br />
drückende Symptome, die eher frontal<br />
und bilateral auftraten. 69 %, die<br />
von einer vorbestehenden Kopfschmerzerkrankung<br />
berichteten, litten<br />
auch im Zusammenhang mit einem<br />
Schlaganfall an den Beschwerden,<br />
Patienten ohne vorbestehenden Kopfschmerz<br />
nur zu 29 %. Nach drei Monaten<br />
wiesen noch 34 %, nach sechs Monaten<br />
31 % Kopfschmerzen auf. „Das<br />
ist deutlich häufiger als in der Literatur<br />
beschrieben“, betonte Kraya. Auch<br />
Zur Risikogruppe gehören<br />
Patienten unter 60 Jahren.<br />
hierbei waren wieder insbesondere Patienten<br />
mit einem Apoplex im hinteren<br />
Kreislauf und mit vorbestehender<br />
Kopfschmerzerkrankung betroffen.<br />
Kraya empfahl, bei Risikopatienten<br />
mit Schlaganfall auch an Kopfschmerz<br />
zu denken und diesen therapeutisch zu<br />
berücksichtigen. Dazu gehören alle unter<br />
60 Jahre, Frauen, Personen mit vorbestehender<br />
Kopfschmerzerkrankung<br />
oder mit einem Apoplex im hinteren<br />
Stromgebiet.<br />
FK<br />
90. Kongress der Deutschen Gesellschaft für<br />
Neurologie<br />
■ TERMIN<br />
4 th Congress of the European<br />
Academy of Neurology (EAN)<br />
Der europäische Neurologie-Kongress<br />
findet heuer vom 16. bis 19. Juni<br />
in Lissabon, Portugal, statt. Das diesjährige<br />
Schwerpunktthema lautet<br />
„Neurogenetics“. Bis zum 2. Mai gelten<br />
noch reduzierte Registrierungskosten.<br />
Weitere Informationen unter:<br />
https://www.ean.org/lisbon<strong>2018</strong>/<br />
FOTOS: TEKA77, RAPIDEYE / GETTYIMAGES<br />
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