Das Loch im Eisernen Vorhang - KAB
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20_ Gesellschaft<br />
Wirtschaftsraum Grenzland <strong>im</strong> Zeitenwandel<br />
<strong>Das</strong> <strong>Loch</strong> <strong>im</strong><br />
<strong>Eisernen</strong> <strong>Vorhang</strong><br />
Vor fünfzig Jahren wurde die Mauer gebaut und ein Eiserner <strong>Vorhang</strong> senkte<br />
sich über Europa. Nur einige Arbeiter aus Nordbayern fanden ein „<strong>Loch</strong>“ <strong>im</strong><br />
Lehestener Schieferbruch, bis sie am 12. September 1961 die Kündigung<br />
erhielten. Damit verloren nicht nur Arbeiter ihr Ein- und Auskommen, sondern<br />
das DDR-Reg<strong>im</strong>e schloss die letzte Verbindung zwischen Ost und West.
69 Schieferarbeiter aus den nur wenige<br />
Kilometer entfernt gelegenen Gemeinden<br />
<strong>im</strong> Landkreis Kronach verdienten<br />
seinerzeit mit Sondergenehmigungen,<br />
wegen Facharbeitermangel <strong>im</strong> Osten,<br />
ihre Brötchen „drüben“ in Thüringen.<br />
Günter Hoderlein aus Reichenbach war<br />
als junger Bursche einer der Schieferarbeiter,<br />
die bis in den Spätsommer 1961<br />
auf dem Staatsbruch Lehesten arbeiteten.<br />
Er erinnert sich noch gut an diese<br />
Zeit und erzählt von Grenzkontrollen<br />
und Normvorgaben. „Schikanen“, sagt<br />
er, habe es nicht gegeben: „Die Thüringer<br />
Kollegen waren in Ordnung.“ Bei der<br />
Planerfüllung habe jeder Arbeiter eine<br />
Flasche Bergmannschnaps als Leistungsprämie<br />
bekommen. Den akzisefreien<br />
Fusel für eine Mark und zwölf Pfennig<br />
gab’s aber erst am Monatsende, wenn<br />
der Sowjetstern auf dem Dach der HO-<br />
Verkaufsstelle <strong>im</strong> Staatsbruch rot leuchtete.<br />
Einmal <strong>im</strong> Monat durften die Nordbayern<br />
in die Stadt Lehesten. „<strong>Das</strong> war<br />
eine tolle Sache“, sagt Hoderlein. Gern<br />
wurde diese Gelegenheit für einen Arztbesuch<br />
in der Polyklinik genutzt. Der<br />
68-Jährige erinnert sich, dass die Grundnahrungsmittel<br />
in der DDR billig waren<br />
und er sich mit seinen Kollegen gern<br />
Brot und andere Lebensmittel in die<br />
Rucksäcke packte und über die Grenze<br />
mit nach Hause nahm.<br />
Achtzehn Prozent ihres Lohns bekamen<br />
die bayerischen Schieferarbeiter in DDR-<br />
Mark vergütet. Weil sie jedoch kein Ostgeld<br />
haben durften, wurde dieser Teil auf<br />
speziellen Einkaufskarten für die HO <strong>im</strong><br />
Staatsbruch verbucht. Der Ludwigstädter<br />
He<strong>im</strong>atchronist Siegfried Scheidig<br />
schreibt in seiner Publikation „Der blaue<br />
Stein und das <strong>Loch</strong> <strong>im</strong> <strong>Eisernen</strong> <strong>Vorhang</strong>“,<br />
dass die DDR-Schieferwerke zur „Westmarkentlohnung“<br />
monatlich etwa 250<br />
Tonnen Lehestener Dach- und Wandschiefer<br />
beziehungsweise Schiefergriffel<br />
an das Land Bayern lieferten. Umgekehrt<br />
ermöglichte die DDR-Führung den bayerischen<br />
Arbeitern Kuraufenthalte und<br />
arrangierte kulturelle Veranstaltungen.<br />
Zum Jahreswechsel 1957/58 habe sich<br />
die Lage allerdings verschärft, erinnert<br />
sich Hoderlein. Bereits Anfang September<br />
1961 gab es Bemühungen seitens<br />
der Lehstener Betriebsleitung, die bayerischen<br />
Arbeiter mit ihren Familien zum<br />
Übersiedeln in die DDR zu bewegen.<br />
Als Bayer kann man sich zwar vorstellen<br />
Thüringer zu werden, aber DDR-Bürger?<br />
Nein! Prompt erhielten sie die Kündigung.<br />
Wenige Tage später wurde das<br />
letzte <strong>Loch</strong> <strong>im</strong> <strong>Eisernen</strong> <strong>Vorhang</strong> dichtgemacht.<br />
Der Schiefer prägt auf den Dächern und<br />
Hausfassaden <strong>im</strong>mer noch das Bild der<br />
Gegend rund um Lehesten, doch der<br />
Schieferabbau lohnt sich heute nicht<br />
mehr. Geblieben ist die überregionale<br />
Dachdeckerschule am Friedrichsbruch<br />
in Lehesten, die seit über hundert Jahren<br />
jungen Menschen das Dachdeckerhandwerk<br />
beibringt. Schiefer spielt noch eine<br />
wichtige Rolle in der Ausbildung, wo<br />
neben dem alten Schieferhandwerk das<br />
Ornamente-Verlegen an Hausfassaden<br />
oder das Verlegen der Wangenkehlen <strong>im</strong><br />
Impuls 12/2011 _21<br />
Der einstige Staatsbruch, das Terrain steht heute unter Wasser. (links)<br />
Teil der Dachdeckerausbildung ist das Schieferhandwerk. Fotos Fischer/Archiv<br />
altdeutschen Schieferdach vermittelt<br />
wird. Auch die Abraumhalden an der<br />
Landesgrenze Bayern-Thüringen sind<br />
noch Zeugnisse der langen Traditionen.<br />
Günter Hoderlein fährt heute noch oft<br />
die Wegstrecke von Reichenbach über<br />
Haßlach und Lauenhain nach Lehesten<br />
zu seinen Thüringer Kumpels. Damals<br />
führte eine Buslinie direkt zu seinem<br />
Arbeitsplatz. Gelegentlich macht Hoderlein<br />
noch einen Abstecher in den alten<br />
Staatsbruch, der jetzt ein Museum ist.<br />
Einige der zum Transport und zu Verarbeitung<br />
dienenden Anlagen sind nach wie<br />
vor funktionsfähig. Der alte Staatsbruch<br />
ist längst geflutet.<br />
Einige Thüringer aus dem Lehestener<br />
Umland haben heute Arbeit in Bayern<br />
gefunden, andere in den etwas südlich<br />
gelegenen Gewerbegebieten Spechtsbrunn,<br />
Neuhaus-Schierschnitz oder Sonneberg,<br />
dem ehemaligen Grenzterrain.<br />
Im Spechtsbrunner Gewerbepark sind<br />
heute 200 Menschen beschäftigt. In<br />
Neuhaus-Schierschnitz sind neue Fabrikanlagen<br />
an die einstige innerdeutsche<br />
Grenze gerückt. „An der Stelle des Grenzzaunes<br />
steht nunmehr der Betriebszaun<br />
einiger Unternehmen“, sagt Bürgermeister<br />
Hennrik Oberender stolz. Auf dem<br />
einstigen Todesstreifen produzieren<br />
mittlerweile 17 Betriebe. Viele Arbeitnehmer<br />
kommen heute wieder aus<br />
Nordbayern. <strong>Das</strong> Lehester <strong>Loch</strong> ist nur<br />
noch Geschichte. Unweit der Werkhallen<br />
gibt es eine an die Zeit der<br />
Teilung erinnernde Grenzkapelle.<br />
HANS-JÜRGEN FISCHER