Burroughs, Edgar Rice - Tarzan und die Fremdenlegion
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<strong>Edgar</strong> <strong>Rice</strong> <strong>Burroughs</strong><br />
<strong>Tarzan</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Fremdenlegion</strong><br />
Aus dem Amerikanischen übersetzt<br />
von Bernhard Schaffer<br />
KRANICHBORN
Deutsche Erstveröffentlichung<br />
1. Auflage<br />
2012 Walter Mayrhofer, Wien<br />
Layout von Walter Handtke<br />
Cover Art Joe Jusko<br />
Titel der amerikanischen Originalausgabe<br />
<strong>Tarzan</strong> and the Foreign Legion<br />
by <strong>Edgar</strong> <strong>Rice</strong> <strong>Burroughs</strong><br />
eBook by Brrazo 04/2018
Vorwort<br />
Etliche Jahre sind seit der letzten Veröffentlichung eines<br />
<strong>Tarzan</strong>-Buches aus dem Kranichborn-Verlag vergangen <strong>und</strong><br />
<strong>die</strong> Existenz <strong>die</strong>ser deutschen Erstausgabe erschien mir<br />
zunächst rätselhaft. Ich dachte anfänglich, dass <strong>die</strong> Insolvenz<br />
des Verlages im Jahre 1996 eigentlich <strong>die</strong> für ein Jahr später<br />
angekündigte Ausgaben ausschließt <strong>und</strong> konnte nicht recht an<br />
<strong>die</strong> Kranichborn-Version glauben. Nachdem nichts meine<br />
Zweifel widerlegen konnte, suchte ich nach Belegen für oder<br />
gegen <strong>die</strong> Kranichborn-Ausgabe. Im Laufe meiner Recherchen<br />
sollte ich eine Reihe hervorstechender Tatsachen zusammentragen,<br />
<strong>die</strong> ich dem Leser hiermit unterbreiten möchte. Sollte<br />
man sie nicht glaubwürdig finden, so wird man doch jedenfalls<br />
mit mir darin übereinstimmen, dass es ein ganz<br />
bemerkenswerter <strong>und</strong> interessanter Fall ist.<br />
Zunächst gelang es mir, einen Wegbegleiter von Günter<br />
Schäfer, dem Herausgeber des ehemaligen Kranichborn-<br />
Verlages, ausfindig zu machen. Dieser erzählte mir, dass<br />
ihm Herr Schäfer noch 1996 auf der Leipziger Buchmesse<br />
bestätigte, dass weitere Übersetzungen von Ruprecht<br />
Willnow vorliegen würden <strong>und</strong> er nach Geldgeber für <strong>die</strong><br />
Finanzierung der Veröffentlichungen suche. Wegen<br />
Krankheit <strong>und</strong> Insolvenz kam es aber nicht mehr dazu. Herr<br />
Schäfer schloss ihm gegenüber letztlich aus, dass es zu den<br />
bis dahin erschienenen <strong>Tarzan</strong>-Bänden noch weitere<br />
Produktionen geben würde.<br />
Nun gibt es aber zum Glück aller Sammler <strong>und</strong> Fans das<br />
schöne Wien an der Donau, welches schon öfter <strong>die</strong> Kulisse<br />
für einen aufregenden Thriller bot. Diesmal sollte das<br />
Drehbuch von einem unscheinbar auftretenden Herrn<br />
geschrieben werden – den wir Walter Mayrhofer nennen<br />
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wollen. Vom Spookhouse-Selbstverleger inspiriert, der im<br />
Jahr 2004 den Titel <strong>Tarzan</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Schiffbrüchigen in<br />
geringer Auflage herausbrachte, kam Mayrhofer nämlich auf<br />
<strong>die</strong> Idee, einige bis dato von <strong>Edgar</strong> <strong>Rice</strong> <strong>Burroughs</strong> nie in<br />
deutscher Sprache veröffentlichte, prächtigen Geschichten<br />
neues Leben einzuhauchen. Diese in einem Gewande,<br />
welches viele Fans des Dschungelhelden schon immer<br />
erhofft hatten <strong>und</strong> <strong>die</strong> Akteure im Verborgenen lassen sollte.<br />
Der geniale Kopf dachte dabei an <strong>die</strong> <strong>Tarzan</strong>-Bände aus dem<br />
Leipziger Kranichborn-Verlag. Mittels seines Netzwerkes<br />
gelang es ihm, alle erforderlichen Akteure für <strong>die</strong><br />
Umsetzung <strong>und</strong> Produktion seiner Idee zu gewinnen. Als<br />
erstes startete man einen Versuch, den Übersetzer Ruprecht<br />
Willnow über einen Leipziger Kontaktmann ausfindig zu<br />
machen <strong>und</strong> nach dem Verbleib der bereits von ihm<br />
geschaffenen Übersetzungen zu forschen. Der Kontakt zum<br />
Übersetzer konnte zwar hergestellt werden, nicht aber der<br />
Zugriff auf <strong>die</strong> Übersetzungen. Das war zwar ein<br />
Rückschlag für den Drehbuchautoren, aber in Wien fand<br />
sich auch schnell ein Übersetzer, der Layouter war bereits an<br />
Board. Von allen angekündigten Erstausgaben des<br />
Kranichborn-Verlages erschien TARZAN UND DIE<br />
VERBOTENE STADT am reizvollsten – vielleicht lag es ja<br />
an Titel <strong>und</strong> Tatort. Die Übersetzung erforderte eine gewisse<br />
Zeit, beim Layout konnte man sich an den Original-<br />
Ausgaben orientieren <strong>und</strong> eine Druckerei in Wien zu finden,<br />
<strong>die</strong> ein kleines Zubrot vertragen konnte, war eine leichte<br />
Übung. Die Erfolgsgeschichte sollte auch eine Fortsetzung<br />
finden, geplant war <strong>Tarzan</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Schiffbrüchigen,<br />
gleichfalls von Kranichborn angekündigt. Aber es kam dann<br />
etwas dazwischen. Da sollten doch im Jahr 2012 tatsächlich<br />
beim Verlag Walde + Graf <strong>die</strong> Titel erscheinen, <strong>die</strong> man<br />
selber geplant hatte. Letztlich realisierte man dann<br />
TARZAN UND DIE FREMDENLEGION.<br />
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Kapitel 1<br />
Wahrscheinlich sind nicht alle Holländer dickköpfig –<br />
ungeachtet der Tatsache, daß ihnen neben vielen Tugenden<br />
Dickköpfigkeit als eine ihrer nationalen Eigentümlichkeiten<br />
zugeschrieben wird. Falls es aber einigen Holländern an<br />
Dickköpfigkeit mangelt, so verblieb ein gerüttelt Maß <strong>die</strong>ser<br />
Anlage in der Person des Hendrik van der Meer. So wie er<br />
sie ausübte, war Dickköpfigkeit eine hohe Kunst. Sie wurde<br />
ihm auch zum liebsten Zeitvertreib. Von Beruf war er<br />
Kautschuk-Pflanzer in Sumatra. Darin war er erfolgreich;<br />
aber es war seine Dickköpfigkeit, <strong>die</strong> ihn seinen Fre<strong>und</strong>en<br />
entfremdete.<br />
Deshalb wollte er auch nicht wahrhaben, daß <strong>die</strong> Japaner<br />
Niederländisch Ostin<strong>die</strong>n einnehmen könnten, nicht einmal<br />
nachdem sie auf den Philippinen einmarschiert waren <strong>und</strong><br />
Hongkong <strong>und</strong> Singapur fielen. Frau <strong>und</strong> Tochter zu<br />
evakuieren, gedachte er ebenso wenig. Man könnte ihn der<br />
Dummheit bezichtigen, aber darin war er nicht allein. In<br />
Großbritannien <strong>und</strong> den Vereinigten Staaten gab es<br />
Millionen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Stärke <strong>und</strong> <strong>die</strong> Ressourcen Japans<br />
unterschätzten – einige in Führungspositionen.<br />
Hinzu kam, daß Hendrik van der Meer <strong>die</strong> Japaner haßte.<br />
Falls jemand etwas hassen kann, worauf er verächtlich<br />
hinabschaut wie auf Ungeziefer. „Abwarten“, sagte er. „Es<br />
wird nicht lang dauern, bis wir sie zurück auf ihre Bäume<br />
jagen.“ Mit seiner Prophezeiung irrte er nur bezüglich der<br />
zeitlichen Abfolge. Was ihm das Genick brach.<br />
Und <strong>die</strong> Japaner kamen, worauf Hendrik van der Meer<br />
sich ins Bergland zurückzog. Mit ihm gingen seine Frau<br />
Elsje Verschoor, <strong>die</strong> er vor achtzehn Jahren aus Holland<br />
mitgebracht hatte, <strong>und</strong> seine Tochter Corrie. Zwei<br />
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chinesische Diener begleiteten sie, Lum Kam <strong>und</strong> Sing Tai.<br />
Dazu bewogen sie zwei sehr triftige Gründe. Der eine war<br />
<strong>die</strong> Furcht vor den Japanern, von denen sie nur zu gut<br />
wußten, was sie von ihnen zu erwarten hatten. Der andere<br />
war ihre echte Zuneigung zur Familie van der Meer. Die<br />
Plantagenarbeiter aus Java blieben zurück. Sie wußten, daß<br />
<strong>die</strong> Invasoren mit der Bewirtschaftung der Plantage<br />
weitermachen würden.<br />
Die Japaner kamen also, <strong>und</strong> Hendrik van der Meer ging<br />
ins Bergland. Aber nicht rechtzeitig. Die Japaner folgten<br />
ihm auf dem Fuße. Methodisch spürten sie alle Niederländer<br />
auf. Von den Eingeborenen aus den Kampongs, in denen<br />
van der Meer Rastpausen einlegte, erhielten sie stets<br />
Informationen. Aus welchen natürlichen oder unglaublichen<br />
Quellen <strong>die</strong> Eingeborenen ihr Wissen hatten, da doch <strong>die</strong><br />
Japaner noch Meilen weit entfernt waren, war<br />
unergründlich. Sie wußten solche Dinge, wie primitive<br />
Völker es immer tun, so schnell wie weiter entwickelte<br />
Völker sie über Telegraphen oder Radio erfahren. Sie<br />
wußten sogar, aus wie vielen Soldaten <strong>die</strong> Patrouille bestand<br />
– einem Sergeant, einem Korporal <strong>und</strong> neun Gefreiten.<br />
„Sehr schlimm“, sagte Sing Tai, der in China gegen <strong>die</strong><br />
Japaner gekämpft hatte. „Oftmals ist ein Offizier ein wenig<br />
menschlich, aber Rekruten sind es nie. Wir dürfen sie nicht<br />
fangen lassen“, er deutete auf <strong>die</strong> beiden Frauen hin.<br />
Als sie höher ins Gebirge kamen, wurde es ein harter<br />
Marsch. Es regnete jeden Tag, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Pfade waren total<br />
verschlammt. Van der Meer war nicht mehr jung, aber<br />
immer noch kräftig <strong>und</strong> stets unbeugsam.<br />
Corrie war damals siebzehn, ein schlankes, blondes<br />
Mädchen. Doch strotzte sie vor Ges<strong>und</strong>heit, Kraft <strong>und</strong><br />
Ausdauer. Sie konnte es allemal mit den Männern ihrer<br />
Gruppe aufnehmen. Aber mit Elsje van der Meer war es<br />
anders. Sie besaß zwar den Willen, jedoch nicht <strong>die</strong> Kraft.<br />
7
Und es gab keine Rast. Kaum hatten sie ein Kampong<br />
erreicht <strong>und</strong> sich auf den Boden einer Hütte geworfen, naß,<br />
schlammig, erschöpft, drängten <strong>die</strong> Eingeborenen sie schon<br />
zum Aufbruch. Manchmal ergab sich das, weil <strong>die</strong> Patrouille<br />
der Japaner aufholte. Häufig aber, weil <strong>die</strong> Eingeborenen<br />
befürchteten, der Feind könnte <strong>die</strong> bei ihnen<br />
untergeschlüpften Weißen vorfinden.<br />
Sogar <strong>die</strong> Pferde schafften es schließlich nicht mehr, <strong>und</strong><br />
so war man zum Gehen gezwungen. Nun waren sie schon<br />
hoch im Gebirge. Kampongs waren weit entfernt. Die<br />
Eingeborenen waren verängstigt <strong>und</strong> nicht allzu fre<strong>und</strong>lich.<br />
Vor wenigen Jahren noch waren sie Kannibalen gewesen.<br />
Drei Wochen lang stolperte man voran, auf der Suche nach<br />
einem fre<strong>und</strong>lichen Kampong, in dem sie sich verstecken<br />
könnten. Aber nun zeigte es sich, daß Elsje van der Meer<br />
kaum noch weiter konnte. Zwei Tage lang waren sie auf<br />
kein Kampong gestoßen. An Nahrung besaßen sie nur, was<br />
Wald <strong>und</strong> Dschungel ihnen boten.<br />
Dann, eines späten Nachmittags, fanden sie ein<br />
jämmerliches Dorf. Die Eingeborenen waren mürrisch <strong>und</strong><br />
unfre<strong>und</strong>lich, doch verweigerten sie ihnen nicht <strong>die</strong><br />
bescheidene Gastfre<strong>und</strong>schaft, <strong>die</strong> sie anzubieten hatten. Der<br />
Häuptling hörte sich ihre Geschichte an. Dann sagte er<br />
ihnen, da sie nicht in seinem Dorf bleiben konnten, wolle er<br />
sie an einen anderen, entlegenen Ort führen lassen, fern aller<br />
gebahnten Wege, wo <strong>die</strong> Japaner sie nie finden würden.<br />
Während van der Meer noch wenige Wochen zuvor<br />
Befehle erteilt hätte, schluckte er jetzt seinen Stolz hinunter<br />
<strong>und</strong> bat den Häuptling, ihnen wenigstens zu erlauben, über<br />
Nacht zu bleiben, damit seine Frau Kraft sammeln könnte<br />
für <strong>die</strong> Reise, <strong>die</strong> vor ihnen lag. Aber Hoesin weigerte sich.<br />
„Geht jetzt“, sagte er, „dann werde ich euch Führer geben.<br />
Bleibt ihr, so mache ich euch zu Gefangenen <strong>und</strong> übergebe<br />
euch den Japanern, wenn sie kommen.“ Wie <strong>die</strong> Anführer<br />
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anderer Dörfer, an denen sie vorbei gezogen waren,<br />
fürchtete er den Zorn der Invasoren, falls sie entdeckten, daß<br />
er Weißen Unterschlupf gewährte.<br />
Also setzte man den Alptraum fort <strong>und</strong> durchwanderte ein<br />
Gebiet, das von einem fürchterlichen Abgr<strong>und</strong><br />
durchschnitten war, wo ein Fluß sich in Tuff-Ablagerungen<br />
eingegraben hatte, <strong>die</strong> von nahen Vulkanen über <strong>die</strong> Zeiten<br />
hinweg aufgeschichtet wurden. Und <strong>die</strong>ser Fluß durchschnitt<br />
ihren Pfad, nicht nur einmal, sondern oft. Manchmal<br />
konnten sie ihn durchwaten. Dann wieder konnte er nur über<br />
brüchige, schwankende Seilbrücken überquert werden – <strong>und</strong><br />
das in tiefer, mondloser Nacht.<br />
Elsje van der Meer, nun zu schwach zum Gehen, wurde<br />
von Lum Kam in einem behelfsmäßigen Trageband<br />
getragen, das er über den Rücken geb<strong>und</strong>en hatte. Die<br />
Führer, <strong>die</strong> bald den Schutz eines Kampongs erreichen<br />
wollten, drängten ständig zu vermehrter Geschwindigkeit,<br />
denn zweimal hatten sie das Fauchen von Tigern<br />
vernommen – jenes fauchende Grunzen, das das Blut<br />
erstarren läßt.<br />
Van der Meer hielt sich nahe an Lum Kam, um ihn zu<br />
stützen, falls er auf dem schlammigen Pfad ausglitt. Corrie<br />
folgte hinter ihrem Vater, <strong>und</strong> Sing Tai machte den Schluß.<br />
Die beiden Führer waren an der Spitze der kleinen Gruppe.<br />
„Sie müde, Missy?“, fragte Sing Tai. „Vielleicht besser,<br />
ich trage Sie.“<br />
„Wir alle sind müde“, erwiderte das Mädchen, „aber ich<br />
halte schon durch.“<br />
Sie hatten begonnen, einen steilen Pfad hinaufzusteigen.<br />
„Sehr bald da“, sagte Sing Tai. „Führer sagt Kampong oben<br />
auf Felsklippe.“<br />
Doch so bald waren sie nicht dort, denn <strong>die</strong>s war der<br />
beschwerlichste Teil der Reise. Sie mußten oft anhalten <strong>und</strong><br />
rasten. Lum Kams Herz pochte. Aber <strong>die</strong>ses treue Herz war<br />
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es, zusammen mit einem eisernen Willen, das ihn davon<br />
abhielt, erschöpft niederzusinken.<br />
Endlich hatten sie <strong>die</strong> Anhöhe erreicht, <strong>und</strong> nun sagte<br />
ihnen H<strong>und</strong>egebell, daß sie sich einem Kampong näherten.<br />
Die erwachten Eingeborenen traten ihnen entgegen. Die<br />
Führer erklärten, warum sie hierher kamen, <strong>und</strong> sie wurden<br />
eingelassen. Taku Muda, der Häuptling, begrüßte sie mit<br />
fre<strong>und</strong>lichen Worten. „Ihr seid hier sicher“, sagte er. „Ihr<br />
seid unter Fre<strong>und</strong>en.“<br />
„Meine Frau ist erschöpft“, erklärte van der Meer. „Sie<br />
braucht Rast, bevor wir weiter können. Aber ich will euch<br />
nicht dem Zorn der Japaner aussetzen, sollten sie<br />
herausfinden, daß ihr uns geholfen habt. Laßt uns heute<br />
Nacht ausruhen; <strong>und</strong> morgen, wenn meine Frau<br />
weitergebracht werden kann, sucht uns ein Versteck tiefer<br />
im Gebirge. Vielleicht gibt es eine Höhle in einer entlegenen<br />
Schlucht.“<br />
„Höhlen gibt es“, antwortete Taku Muda, „aber ihr werdet<br />
hier bleiben. Hier seid ihr sicher. Kein Feind wird euch in<br />
meinem Dorf finden.“<br />
Sie erhielten Essen <strong>und</strong> eine trockene Hütte zum<br />
Schlafen. Doch Elsje van der Meer konnte nichts essen. Sie<br />
glühte vor Fieber, aber es gab nichts, was sie für sie tun<br />
konnten. Hendrik van der Meer <strong>und</strong> Corrie saßen den Rest<br />
der Nacht neben ihr. Welcher Art müssen <strong>die</strong> Gedanken<br />
<strong>die</strong>ses Mannes gewesen sein, dessen Dickköpfigkeit <strong>die</strong>ses<br />
Leid über <strong>die</strong> Frau, <strong>die</strong> er liebte, heraufbeschworen hatte?<br />
Noch vor Mittag starb Elsje van der Meer.<br />
Es gibt so etwas wie Trauer, <strong>die</strong> für Tränen zu<br />
schmerzlich ist. Vater <strong>und</strong> Tochter saßen st<strong>und</strong>enlang<br />
tränenlos neben ihrer Toten, gelähmt von der Katastrophe,<br />
<strong>die</strong> sie überwältigt hatte. Nur dumpf wurden ihnen der<br />
plötzliche Aufruhr <strong>und</strong> das Geschrei in der Umgebung<br />
bewußt. Da stürzte Sing Tai zu ihnen.<br />
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„Schnell!“, rief er. „Japaner kommen. Ein Mann, Führer,<br />
letzte Nacht bringen. Hoesin böser Mann. Er schicken.“<br />
Van der Meer stand auf. „Ich werde gehen <strong>und</strong> mit ihnen<br />
reden“, sagte er. „Wir haben nichts angestellt. Vielleicht<br />
werden sie uns nichts antun.“<br />
„Sie nicht kennen Affen-Männer“, sagte Sing Tai.<br />
Van der Meer zuckte <strong>die</strong> Schultern. „Es gibt sonst nichts,<br />
was ich tun kann. Wenn ich scheitere, Sing Tai, versuchst du<br />
Missy wegzubringen. Laß sie nicht in ihre Hände fallen.“<br />
Er ging zum Eingang der Hütte <strong>und</strong> kletterte <strong>die</strong> Leiter<br />
zum Boden hinab. Lum Kam begleitete ihn. Die Japaner<br />
waren auf der anderen Seite der Siedlung. Van der Meer<br />
ging mutig auf sie zu, mit Lum Kam an seiner Seite. Keiner<br />
der Männer war bewaffnet. Corrie <strong>und</strong> Sing Tai sahen sie<br />
aus dem dunklen Hütteninneren. Sie konnten beobachten,<br />
aber nicht gesehen werden.<br />
Sie sahen, wie <strong>die</strong> Japaner <strong>die</strong> zwei Männer umzingelten.<br />
Sie vernahmen <strong>die</strong> Stimme des weißen Mannes <strong>und</strong> das<br />
Affengebrabbel der Japaner, aber sie konnten nicht<br />
verstehen, was gesagt wurde. Plötzlich sahen sie einen<br />
Gewehrkolben über <strong>die</strong> Köpfe der Männer erhoben. Ebenso<br />
plötzlich wurde er hinabgestoßen. Sie wußten, daß am<br />
anderen Ende des Gewehrs ein Bajonett war. Sie hörten<br />
einen Schrei. Da wurden noch mehr Gewehrkolben erhoben<br />
<strong>und</strong> vorgestoßen. Die Schreie verstummten. Nur das<br />
Gelächter eines der Untergebenen war zu hören.<br />
Sing Tai ergriff das Mädchen am Arm. „Kommen!“, sagte<br />
er <strong>und</strong> zog sie in der Hütte nach hinten. Dort gab es eine<br />
Öffnung, <strong>und</strong> darunter war der harte Boden. „Ich hinunter“,<br />
sagte Sing Tai. „Dann Missy hinunter. Ich fangen.<br />
Verstehen?“<br />
Sie nickte. Nachdem der Chinese wohlbehalten unten<br />
angekommen war, lehnte sich das Mädchen prüfend aus der<br />
Öffnung. Sie sah, daß sie fast ganz hinunter klettern konnte.<br />
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In Sing Tais Arme zu springen, hätte ihn leicht verletzen<br />
können. So aber gelangte sie bis auf ein paar Fuß über dem<br />
Boden sicher hinunter, <strong>und</strong> Sing Tai hob sie das letzte Stück<br />
hinab. Dann führte er sie in den Dschungel, der nahe am<br />
Kampong wucherte.<br />
Vor der Dämmerung fanden sie eine Höhle in einer<br />
Kalkklippe. Dort versteckten sie sich zwei Tage lang. Dann<br />
kehrte Sing Tai zur Erk<strong>und</strong>ung, <strong>und</strong> um was Eßbares<br />
aufzutreiben falls <strong>die</strong> Japaner fort waren, zum Kampong<br />
zurück.<br />
Am späten Nachmittag kehrte er mit leeren Händen zur<br />
Höhle zurück. „Alle weg“, sagte er. „Alle tot. Hütten<br />
verbrannt.“<br />
„Armer Taku Muda“, seufzte Corrie. „Das war sein Lohn<br />
für einen Akt der Menschlichkeit.“<br />
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Kapitel 2<br />
Zwei Jahre vergingen. Corrie <strong>und</strong> Sing Tai hatten<br />
Unterschlupf in einem entlegenen Berg-Kampong bei<br />
Häuptling Tiang Umar gef<strong>und</strong>en. Nur gelegentlich trafen<br />
Nachrichten aus der Außenwelt bei ihnen ein. Die einzigen<br />
Neuigkeiten, <strong>die</strong> gute Nachrichten für sie gewesen wären,<br />
hätten gelautet, daß <strong>die</strong> Japaner von der Insel vertrieben<br />
wurden. Aber solche Botschaft kam nicht. Manchmal kehrte<br />
ein Dorfbewohner, der weit entfernt Handel trieb, mit<br />
Geschichten über große japanische Siege zurück, vom<br />
Versenken amerikanischer Marine, von deutschen Siegen in<br />
Afrika, Europa oder Rußland. Für Corrie sah <strong>die</strong> Zukunft<br />
hoffnungslos aus.<br />
Eines Tages kam ein Eingeborener, der nicht aus Tiang<br />
Umars Dorf stammte. Lang schaute er Corrie <strong>und</strong> Sing Tai<br />
an, doch sagte er nichts. Nachdem er fortgegangen war,<br />
meinte der Chinese zu dem Mädchen: „Dieser Mann<br />
schlimme Nachricht. Er aus Kampong von Häuptling<br />
Hoesin. Jetzt er geht sagen, <strong>und</strong> Affen-Männer kommen.<br />
Sie also vielleicht besser Knabe. Dann wir gehen fort <strong>und</strong><br />
noch mehr verstecken.“<br />
Sing Tai kürzte Corries goldenes Haar auf passende<br />
Länge <strong>und</strong> färbte es schwarz. Auch ihre Augenbrauen<br />
schwärzte er. Sie war bereits von der tropischen Sonne<br />
kräftig gebräunt, <strong>und</strong> mit der blauen Hose <strong>und</strong> der weiten<br />
Bluse, <strong>die</strong> er ihr zugeschnitten hatte, mochte sie bei nicht<br />
allzu genauer Überprüfung als Knabe durchgehen. Dann<br />
gingen sie abermals fort <strong>und</strong> nahmen ihre endlose Flucht<br />
wieder auf. Tiang Umar schickte ihnen Männer, um sie zu<br />
einer neuen Zuflucht zu führen. Sie war unfern vom Dorf –<br />
eine Höhle in der Nähe eines kleinen Gebirgsbaches. Dort<br />
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waren viele verschiedene eßbare Dinge zu finden, <strong>die</strong> in<br />
einem Urwald von Sumatra wachsen, <strong>und</strong> im Bach waren<br />
Fische. Gelegentlich schickte Tiang Umar ein paar Eier <strong>und</strong><br />
ein Hühnchen, ab <strong>und</strong> zu Schweine- oder H<strong>und</strong>efleisch.<br />
Letzteres konnte Corrie nicht verzehren, daher blieb das<br />
alles für Sing Tai übrig. Ein Junge namens Alam brachte<br />
immer <strong>die</strong> Nahrungsmittel. Die Drei wurden bald Fre<strong>und</strong>e.<br />
14
Kapitel 3<br />
Hauptmann Tokujo Matsuo <strong>und</strong> Leutnant Hideo Sokabe<br />
führten eine Abteilung Soldaten tief ins Bergland, um<br />
strategische Punkte für schwere Küstengeschütze zu<br />
ermitteln <strong>und</strong> praktische Wege zu erk<strong>und</strong>en, <strong>die</strong> dorthin<br />
führten.<br />
Sie kamen in Hoesins Kampong, wo <strong>die</strong> van der Meers<br />
verraten worden waren. Durch einen Bericht hatten sie von<br />
ihm als einem, der mit den Japanern kollaborierte, erfahren.<br />
Trotzdem war es nötig, ihn mit ihrer Überlegenheit zu<br />
beeindrucken; darum schlugen sie ihm ins Gesicht, als er bei<br />
ihrem Erscheinen versäumte, sich bis zur Hüfte zu<br />
verbeugen. Einer der Rekruten durchbohrte einen<br />
Eingeborenen, der <strong>die</strong> Verbeugung verweigerte, mit einem<br />
Bajonett. Ein anderer verschleppte ein kreischendes<br />
Mädchen in den Dschungel. Hauptmann Matsuo <strong>und</strong><br />
Leutnant Sokabe zeigten grinsend ihre Zähne. Dann<br />
verlangten sie Verpflegung.<br />
Hoesin hätte ihnen lieber <strong>die</strong> Kehlen durchgeschnitten,<br />
aber er ließ ihnen <strong>und</strong> ihren Männern Nahrung bringen. Die<br />
Offiziere sagten, sie würden ihm <strong>die</strong> Ehre erweisen, sein<br />
Dorf zu ihrem Hauptquartier zu machen, solang sie in der<br />
Umgebung blieben. Hoesin sah dem Untergang ins<br />
Angesicht. Verzweifelt durchsuchte er sein Gedächtnis nach<br />
einem Opfer, durch das er seine unwillkommenen Gäste<br />
loswerden konnte. Da fiel ihm <strong>die</strong> Geschichte ein, <strong>die</strong> ihm<br />
einer seiner Leute vor ein paar Tagen aus einem anderen<br />
Dorf berichtet hatte. Über <strong>die</strong> grübelte er während einer<br />
schlaflosen Nacht nach.<br />
Am folgenden Morgen fragte er sie, ob sie am Auffinden<br />
von Feinden interessiert waren, <strong>die</strong> Zuflucht in den Bergen<br />
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gesucht hatten. Sie sagten, das wären sie. „Vor zwei Jahren<br />
kamen drei Weiße <strong>und</strong> zwei Chinesen in mein Dorf. Ich<br />
schickte sie weiter in ein anderes Dorf, weil ich nicht Feinde<br />
von Groß Ostasien aufnehmen wollte. Der Name des weißen<br />
Mannes war van der Meer.“<br />
„Wir haben von ihm gehört“, sagten <strong>die</strong> Japaner. „Er<br />
wurde getötet.“<br />
„Ja. Ich schickte Führer, um euren Soldaten zu zeigen, wo<br />
sie sich versteckten. Aber <strong>die</strong> Tochter <strong>und</strong> einer der<br />
Chinesen entkamen. Die Tochter ist sehr schön.“<br />
„Das hörten wir auch. Was ist nun?“<br />
„Ich weiß, wo sie ist.“<br />
„Und du hast es nicht gemeldet?“<br />
„Ich habe von ihrem Versteck eben erst erfahren. Ich<br />
kann euch einen Führer geben, der euch hinbringt.“<br />
Hauptmann Matsuo zuckte <strong>die</strong> Schultern. „Bring uns zu<br />
essen“, befahl er.<br />
Matsuo <strong>und</strong> Sokabe besprachen <strong>die</strong> Angelegenheit bei der<br />
Mahlzeit. „Vielleicht sollten wir der Sache nachgehen“,<br />
sagte jener. „Es ist nicht gut, Feinde im Rücken zu haben.“<br />
„Und es heißt, sie sei schön“, fügte Sokabe hinzu.<br />
„Aber wir können nicht beide gehen“, sagte Matsuo.<br />
Da er sowohl faul wie auch der befehlshabende Offizier<br />
war, beschloß er, Leutnant Sokabe mit einer Abteilung<br />
auszuschicken, damit sie das Mädchen fänden <strong>und</strong> holten.<br />
„Du wirst den Chinesen töten“, befahl er, „<strong>und</strong> du wirst das<br />
Mädchen zurückbringen – unversehrt. Verstehst du?<br />
Unversehrt.“<br />
Leutnant Hideo Sokabe kam ein paar Tage später in<br />
Häuptling Tiang Umars Kampong. Als sehr überlegene<br />
Persönlichkeit schlug Leutnant Sokabe den alten Häuptling<br />
so heftig, daß der niederstürzte. Dann trat Leutnant Sokabe<br />
ihn in den Bauch <strong>und</strong> ins Gesicht. „Wo sind das weiße<br />
Mädchen <strong>und</strong> der Chinese?“, fragte er.<br />
16
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“<br />
„Du lügst. Gleich wirst du mir <strong>die</strong> Wahrheit sagen.“ Er<br />
befahl einem Feldwebel, ihm Bambusspäne zu holen, <strong>und</strong><br />
als sie ihm gebracht wurden, spießte er einen unter Tiang<br />
Umars Fingernagel. Der alte Mann schrie vor Schmerz.<br />
„Wo ist das weiße Mädchen?“, fragte der Japaner.<br />
„Ich weiß von keinem weißen Mädchen“, beharrte Tiang<br />
Umar.<br />
Der Japaner trieb einen weiteren Splitter unter einen<br />
anderen Nagel, aber der alte Mann blieb weiter dabei, von<br />
einem weißen Mädchen nichts zu wissen.<br />
Als Sokabe daran ging, <strong>die</strong> Folter fortzusetzen, kam eine<br />
der Frauen des Häuptlings <strong>und</strong> warf sich vor ihm auf <strong>die</strong><br />
Knie. Sie war eine alte Frau – Tiang Umars älteste Gattin.<br />
„Wenn du ihn nicht weiter quälst, will ich dir sagen, wie du<br />
das weiße Mädchen <strong>und</strong> den Chinesen finden kannst“, sagte<br />
sie.<br />
„So ist’s besser“, sagte Sokabe. „Wie?“<br />
„Alam weiß, wo sie stecken“, sagte <strong>die</strong> alte Frau <strong>und</strong><br />
zeigte auf einen Jungen.<br />
Corrie <strong>und</strong> Sing Tai saßen am Eingang ihrer Höhle. Es<br />
war eine Woche her, seit Alam ihnen Nahrung gebracht<br />
hatte. „Sehr bald jemand kommen“, sagte Sing Tai <strong>und</strong><br />
lauschte. „Zu viele. Kommen hinein in <strong>die</strong> Höhle.“<br />
Alam zeigte Leutnant Hideo Sokabe <strong>die</strong> Höhle. Tränen<br />
strömten dem Jungen aus den Augen. Hätte allein sein<br />
Leben davon abgehangen, wäre er gestorben, bevor er <strong>die</strong>se<br />
verhaßten Affen-Männer zum Versteck jenes Mädchens<br />
geführt hätte, das er aufrichtig verehrte. Aber der Leutnant<br />
hatte gedroht, jeden im Dorf umzubringen, wenn er sich<br />
weigerte, es zu tun. Und Alam wußte, daß er sein Wort<br />
halten würde.<br />
Hideo Sokabe <strong>und</strong> seine Männer betraten <strong>die</strong> Höhle.<br />
Sokabe mit gezogenem Schwert, <strong>die</strong> Männer mit fixierten<br />
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Bajonetten. Im Halbdunkel sah Sokabe einen Chinesen <strong>und</strong><br />
einen jungen eingeborenen Knaben. Er ließ sie herauszerren.<br />
„Wo ist das Mädchen?“, wollte er von Alam wissen. „Dafür<br />
wirst du sterben, auch alle deine Leute. Tötet sie“, sagte er<br />
zu seinen Männern.<br />
„Nein!“, schrie Alam. „Das ist das Mädchen. Sie trägt nur<br />
Knabenkleider.“<br />
Sokabe riß Corries Bluse auf. Dann grinste er. Ein Soldat<br />
durchbohrte Sing Tai mit einem Bajonett, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Abteilung<br />
marschierte mit ihrer Gefangenen weg.<br />
Sergeant Joe „Da Bum“ Bubonovitch aus Brooklyn,<br />
Assistenzingenieur <strong>und</strong> Schütze, stand mit den anderen<br />
Mannschaftsmitgliedern der großen Liberator im<br />
Flügelschatten der Lovely Lady.<br />
„Ich fand, sie waren echt klasse Kerle“, sagte er in<br />
sichtlichem Widerspruch zu einer Bemerkung, <strong>die</strong> der<br />
Turmschütze Sergeant Tony „Shrimp“ Rosetti aus Chicago<br />
gemacht hatte.<br />
„Yeah? Na. Dann glaub ich auch, daß George III. ein<br />
klasser Kerl war. Sag, wir hatten mal ’nen Bürgermeister in<br />
Chicago, der <strong>die</strong>sen Kerl aufforderte rüberzukommen. Er<br />
sagte, er würd’ ihm eine in <strong>die</strong> Schnauze hauen.“<br />
„Du hast das durcheinander gebracht, Shrimp.“<br />
„Yeah? Na, ich mag’s nicht, wenn ich ’n blutigen Briten<br />
in der Lovely Lady rumkutschiere. Was ich so hör’, isser ’n<br />
Herzog oder so was.“<br />
„Mir scheint, da kommt dein Herzog jetzt“, sagte<br />
Bubonovitch.<br />
Ein Jeep hielt unter dem Flügel der B-24, um drei<br />
Offiziere abzusetzen – einen RAF Gruppen-Kapitän, einen<br />
AAF Colonel <strong>und</strong> einen AAF Major. Captain Jerry Lucas<br />
aus Oklahoma City, der Pilot der Lovely Lady, trat vor, <strong>und</strong><br />
der AAF Colonel stellte ihn dem Gruppen-Kapitän Clayton<br />
vor.<br />
18
„Alles bereit, Jerry?“, fragte der amerikanische Colonel.<br />
„Alles bereit, Sir.“<br />
Die Elektriker <strong>und</strong> Waffentechniker, <strong>die</strong> an ihren<br />
Vorrichtungen <strong>und</strong> Feuerwaffen <strong>die</strong> letzten, liebevollen<br />
Überprüfungen gemacht hatten, sprangen durch <strong>die</strong><br />
Öffnungen der Bombenschächte heraus, <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />
Kampfmannschaft kletterte an Bord.<br />
Captain John Clayton flog als Beobachter von einem<br />
Flugstützpunkt in Burma aus auf eine Erk<strong>und</strong>ungsmission,<br />
für Flugaufnahmen des von Japan besetzten Sumatra in<br />
Niederländisch Ostin<strong>die</strong>n. Er ging nach dem Einsteigen aufs<br />
Flugdeck <strong>und</strong> stand während des Starts hinter den Piloten.<br />
Später, während des langen Fluges, nahm er den Platz des<br />
Copiloten ein, manchmal den des Piloten. Er sprach mit dem<br />
Navigator <strong>und</strong> dem Funker. Er zwängte sich auf dem Weg<br />
zum Heck den Catwalk entlang durch das Bombendepot<br />
zwischen den Treibstoff-Reservetanks, <strong>die</strong> für den langen<br />
Flug benötigt wurden. Das Flugzeug führte keine Bomben<br />
mit sich.<br />
Shrimp, Bubonovitch, der Heckschütze <strong>und</strong> der andere<br />
Schütze verteilten sich über das Deck zwischen Rettungs-<br />
Flößen <strong>und</strong> Fallschirmen. Shrimp sah als Erster, wie Clayton<br />
<strong>die</strong> kleine Luke nach vorn zum Kugelturm öffnete.<br />
„Pst!“, warnte er. „Da kommt der Herzog.“<br />
Clayton zwängte sich um den Kugelturm herum, stieg<br />
über Shrimp <strong>und</strong> Bubonovitch <strong>und</strong> hielt neben dem<br />
Fotografen an, der mit seiner Kamera herumhantierte.<br />
Keiner der Rekruten stand auf. Wenn ein Kampfflugzeug<br />
aufsteigt, bleiben <strong>die</strong> militärischen Formalitäten auf dem<br />
Boden zurück. Der Fotograf, ein Sergeant des Signal Corps,<br />
schaute auf <strong>und</strong> lächelte. Clayton lächelte zurück <strong>und</strong> setzte<br />
sich neben ihm hin.<br />
Kalter Wind wirbelte auf um den kleinen Kugelturm <strong>und</strong><br />
hinaus durch das offene Fenster des Heckschützen. Der<br />
19
Motorenlärm war ohrenbetäubend. Clayton, der seinen<br />
M<strong>und</strong> bis auf einen Zoll dem Ohr des Fotografen näherte<br />
<strong>und</strong> brüllte, stellte einige Fragen über <strong>die</strong> Kamera. Schreiend<br />
antwortete der Fotograf. Eine B-24 im Flug schränkt jede<br />
Unterhaltung ein, aber Clayton erhielt <strong>die</strong> gewünschten<br />
Informationen.<br />
Dann setzte er sich auf den Rand eines Rettungs-Floßes<br />
zwischen Shrimp <strong>und</strong> Bubonovitch. Er reichte eine Packung<br />
Zigaretten herum. Nur Shrimp lehnte ab. Bubonovitch bot<br />
Clayton Feuer an, Shrimp schaute angewidert drein. Er<br />
dachte an George III., konnte sich aber nicht entsinnen, was<br />
der getan hatte. Alles was er wußte war, daß er keine Briten<br />
leiden konnte.<br />
Schreiend fragte Clayton Bubonovitch nach seinem<br />
Namen <strong>und</strong> woher er stammte. Als Bubonovitch Brooklyn<br />
nannte, nickte Clayton. „Von Brooklyn habe ich eine Menge<br />
gehört“, sagte er.<br />
„Wahrscheinlich über <strong>die</strong> Bums“, sagte Bubonovitch.<br />
Clayton lächelte <strong>und</strong> nickte.<br />
„Die nennen mich ‚Da Bum’“, sagte Bubonovitch <strong>und</strong><br />
grinste. Bald zeigte er dem Engländer seine Fotos von Frau<br />
<strong>und</strong> Baby. Shrimp blieb unnahbar <strong>und</strong> überheblich.<br />
Es dämmerte, als sie das Nordwest-Kap von Sumatra<br />
sichteten, <strong>und</strong> es war ein perfekter Tag für eine Foto-<br />
Erk<strong>und</strong>ung. Wolken lagen über den Bergen, <strong>die</strong> das<br />
Rückgrat der elfh<strong>und</strong>ert Meilen langen Insel bilden, <strong>die</strong> sich<br />
südlich <strong>und</strong> westlich von der Malaiischen Halbinsel über<br />
den Äquator erstreckt. Aber <strong>die</strong> Küstenlinie war wolkenlos,<br />
so weit man sie ausnehmen konnte. Und <strong>die</strong> Küstenlinie war<br />
es, an der sie hauptsächlich interessiert waren.<br />
Die Japaner mußten völlig überrascht worden sein, denn<br />
sie hatten fast eine halbe St<strong>und</strong>e lang fotografiert, ehe sie<br />
Flak-Feuer auf sich zogen. Und auch das war ziemlich<br />
wirkungslos. Aber als sie <strong>die</strong> Küste entlang flogen,<br />
20
steigerten sich Häufigkeit <strong>und</strong> Zielsicherheit. Das Flugzeug<br />
bekam von ein paar nahen Granatexplosionen einige Splitter<br />
ab, doch lange blieb ihnen das Glück treu.<br />
In der Nähe von Padang röhrten aus der Sonne drei Zeros<br />
auf sie herab. Bubonovitch erwischte den Anführer. Sie<br />
konnten sehen, wie das Flugzeug in Flammen ausbrach <strong>und</strong><br />
zu Boden taumelte. Die beiden anderen zogen ab <strong>und</strong><br />
blieben eine Weile auf Respektabstand. Dann flogen sie<br />
zurück. Doch Frequenz <strong>und</strong> Treffsicherheit des Flak-<br />
Beschusses erhöhten sich. Der innere Steuerbord-Motor<br />
erhielt einen direkten Treffer, <strong>und</strong> Splitter trafen das<br />
Cockpit. Lucas’ Flak-Weste rettete ihn, aber der Kopilot<br />
wurde direkt ins Gesicht getroffen. Der Navigator öffnete<br />
den Sicherheitsgurt des Copiloten <strong>und</strong> zerrte ihn aus dem<br />
Cockpit, um erste Hilfe zu leisten. Er war schon tot.<br />
So dicht <strong>und</strong> nahe war <strong>die</strong> Flak jetzt, daß das große<br />
Luftschiff wie ein Bronco zu bocken schien. Im Versuch,<br />
das zu vermeiden, drehte Lucas landeinwärts weg von der<br />
Küste, wo, wie er wußte, <strong>die</strong> meisten Flugabwehr-Batterien<br />
standen. Im Inland lagen auch <strong>die</strong> Wolken über den Bergen,<br />
in denen sie untertauchen konnten, wenn sie auf Heimkurs<br />
abdrehten.<br />
Heim! Liberators waren in der Vergangenheit mit drei<br />
Motoren weit geflogen. Der 23-jährige Captain mußte<br />
schnell entscheiden. Es war ein Blitz-Entschluß, aber er<br />
wußte, er war richtig. Er befahl, alles außer <strong>die</strong> Fallschirme<br />
von Bord zu werfen – Waffen, Munition, Rettungs-Flöße,<br />
alles. Darin lag <strong>die</strong> einzige Chance, <strong>die</strong> sie hatten, ihre Basis<br />
zu erreichen. Um <strong>die</strong> Zeros kümmerte sich Lucas nicht.<br />
Zeros blieben üblicherweise auf Distanz zu den schweren<br />
Bombern. Abgesehen von einer Wasserfläche, der zu<br />
überquerenden Malakka-Straße, konnte er sich <strong>die</strong> ganze<br />
Strecke lang nahe am Land halten <strong>und</strong> <strong>die</strong> Küste von Malaya<br />
nordwestlich umgehen. Falls sie über See aussteigen<br />
21
mußten, würden sie in Strandnähe sein; <strong>und</strong> ihre Mae Wests<br />
würden zum Einsatz kommen. Deshalb glaubte er, sie<br />
könnten <strong>die</strong> Rettungs-Flöße abwerfen.<br />
Als sie den Bergen <strong>und</strong> Wolken zusteuerten, wurde <strong>die</strong><br />
Flak immer heftiger. Die Japaner mußten den Plan des<br />
Piloten erraten haben. Lucas wußte, daß einige der<br />
Berggipfel sich auf zwölftausend Fuß erhoben. Er flog jetzt<br />
auf zwanzigtausend, verlor aber langsam an Höhe. Sie<br />
waren schon weit in den Bergen, als eine Gebirgsbatterie das<br />
Feuer auf sie eröffnete. Lucas vernahm ein fürchterliches<br />
Bersten, <strong>und</strong> das Flugzeug schlingerte wie ein verw<strong>und</strong>etes<br />
Ding. Er sprach über Intercom. Es gab keine Antwort. Er<br />
schickte den Funker nach hinten, um nach Beschädigungen<br />
zu sehen. Im Sitz des Copiloten half Clayton ihm an den<br />
Kontrollen. Es brauchte <strong>die</strong> vereinte Kraft beider Männer,<br />
um das Flugzeug am Vornüberkippen zu hindern.<br />
Lucas rief dem Navigator zu: „Sieh zu, daß jeder springt,<br />
dann springst du.“<br />
Der Navigator schob seinen Kopf in den Bug-<br />
Geschützstand, um dem Bug-Schützen zu sagen, er solle<br />
springen. Der Bug-Schütze war tot. Der Funker kam zurück<br />
aufs Flugdeck. „Das ganze gottverdammte Heck ist<br />
weggeschossen“, sagte er. „Dutch <strong>und</strong> der Fotograf wurden<br />
mitgerissen.“<br />
„Okay“, sagte Lucas. „Spring, aber mach flott.“ Dann<br />
wandte er sich zu Clayton. „Besser, Sie steigen aus, Sir.“<br />
„Ich warte auf Sie, wenn es Ihnen nichts ausmacht,<br />
Captain“, sagte Clayton.<br />
„Springen Sie!“, schnappte Lucas. Clayton lächelte. „Na<br />
gut“, sagte er.<br />
„Ich habe <strong>die</strong> Klappe des Bombendepots geöffnet“, sagte<br />
Lucas. „Machen Sie schnell!“<br />
Clayton erreichte den Catwalk im Bombendepot. Das<br />
Schiff schmierte über einen Flügel ab. Offenbar taumelte es<br />
22
in eine Absturz-Spirale. Ein Mann konnte es nicht halten. Er<br />
wollte abwarten, bis Lucas sprang – bis zur letzten Minute.<br />
Die letzte Minute wurde es. Das Schiff torkelte <strong>und</strong><br />
schleuderte dabei Clayton vom Catwalk. Sein Körper prallte<br />
an <strong>die</strong> Wand des Bombendepots <strong>und</strong> rollte dann hinaus in<br />
<strong>die</strong> dünne Luft.<br />
Bewußtlos flog er dem Tod entgegen. Durch dichte,<br />
verhüllende Wolken fiel sein Körper. Die Lovely Lady, deren<br />
drei Motoren immer noch dröhnten, raste an ihm vorbei.<br />
Wenn sie nun abstürzte, brannte sie sicher aus <strong>und</strong> ließ dem<br />
Feind nichts übrig, was informativ oder brauchbar wäre.<br />
Nur vorübergehend betäubt, kam Clayton bald wieder zu<br />
sich. Es war wie ein Erwachen in einem fremden Raum. Er<br />
war durch eine Wolkenbank geflogen <strong>und</strong> befand sich nun<br />
darunter in strömendem Tropenregen. Dem kalten Regen<br />
verdankte er seine Rettung. Gerade rechtzeitig wiederbelebt,<br />
zog er <strong>die</strong> Reißleine, während noch ein paar restliche<br />
Sek<strong>und</strong>en verblieben.<br />
Sein Fallschirm blähte sich über ihm, <strong>und</strong> durch <strong>die</strong><br />
plötzliche Verzögerung des Falles klappte sein Körper<br />
grotesk herum. Direkt unter ihm wogte ein Blättermeer unter<br />
den rasend auftreffenden Regenmassen. Innerhalb von<br />
Sek<strong>und</strong>en krachte sein Körper durch Blätter <strong>und</strong> Zweige, bis<br />
der Fallschirm hängen blieb <strong>und</strong> ihn ein paar H<strong>und</strong>ert Fuß<br />
über dem Boden aufhielt. So nahe war er dem Tod<br />
gekommen.<br />
Gleichzeitig vernahm er aus einer Entfernung einiger<br />
H<strong>und</strong>ert Schritte ein Reißen <strong>und</strong> Krachen – eine dumpfe<br />
Explosion, gefolgt von einem Flammenausbruch. Der<br />
Scheiterhaufen der Lovely Lady erleuchtete den bedrückend<br />
triefnassen Wald.<br />
Clayton faßte nach einem Ästchen <strong>und</strong> zog sich zu einem<br />
größeren Ast, der ihn tragen würde. Dann schlüpfte er aus<br />
dem Geschirr des Fallschirms <strong>und</strong> der Schwimmweste.<br />
23
Seine Uniform <strong>und</strong> seine Unterwäsche, alles war bis auf <strong>die</strong><br />
Haut durchtränkt <strong>und</strong> naß. Seine Mütze hatte er im Fallen<br />
verloren. Nun zog er <strong>die</strong> Schuhe aus <strong>und</strong> warf sie weg.<br />
Pistole <strong>und</strong> Patronengürtel folgten. Dann seine Socken,<br />
Uniformrock <strong>und</strong> Uniformhose, <strong>die</strong> Unterwäsche. Nur ein<br />
Gurtband <strong>und</strong> sein Messer in der Scheide behielt er.<br />
Darauf kletterte er empor, bis er den verfangenen<br />
Fallschirm lösen konnte. Er schnitt alle Leinen ab, wickelte<br />
den Seidenstoff zu einem kleinen Bündel zusammen <strong>und</strong><br />
schnallte es mit den Leinen auf seinen Rücken. Dann begann<br />
er den Abstieg zum Boden hinunter. Mit Leichtigkeit<br />
schwang er sich von Ast zu Ast hinab. Von den untersten<br />
Ästen hingen riesige Kletterpflanzen hinab zum<br />
Bodenbewuchs. An denen hangelte er sich mit der<br />
Geschicklichkeit eines Affen hinunter.<br />
Aus dem Seidenstoff seines Fallschirms fertigte er ein<br />
Lendentuch. Ein Wohlgefühl durchströmte ihn. Was er<br />
verloren hatte, hatte er nun wieder gewonnen. Das, was er<br />
am meisten liebte. Freiheit. Die zivilisierte Kleidung, sogar<br />
<strong>die</strong> Uniform der Streitkräfte seines Landes, war ihm nicht<br />
mehr als ein Sinnbild der Zwänge. Sie hatten ihn gefesselt<br />
wie <strong>die</strong> Ketten den Galeerensklaven, obwohl er seine<br />
Uniform mit Stolz getragen hatte. Aber in Ehren frei zu sein,<br />
war besser. Und etwas sagte ihm, daß das Schicksal ihn<br />
ausersehen haben mochte, daß er seinem Land nackt ebenso<br />
<strong>die</strong>nen sollte wie uniformiert. Warum sonst hatte ihn das<br />
Schicksal so in eine Festung des Feindes geworfen?<br />
Der strömende Regen rann an seinem bronzefarbenen<br />
Körper hinab. Er zauste sein schwarzes Haar. Er hob ihm<br />
sein Gesicht entgegen. Ein Schrei der Erregung zitterte auf<br />
seinen Lippen, wurde aber nicht ausgestoßen. Er war in<br />
Feindesland.<br />
Sein erster Gedanke galt nun seinen Kameraden. Wer den<br />
Lärm des Flugzeugabsturzes vernommen hatte, würde<br />
24
natürlich versuchen, es zu erreichen. Dahin machte er sich<br />
auf den Weg. Im Gehen suchte er auf dem Boden. Er hielt<br />
nach einer bestimmten Pflanze Ausschau. Sie in <strong>die</strong>sem<br />
fremden, fernen Land zu finden, hegte er wenig Hoffnung.<br />
Aber er fand sie, üppig wachsend sogar. Er pflückte einige<br />
der Pflanzen <strong>und</strong> weichte sie zwischen seinen Handflächen<br />
auf. Dann verteilte er den Saft über seinen ganzen Körper,<br />
über Gesicht, Glieder <strong>und</strong> Kopf.<br />
Danach schwang er sich auf <strong>die</strong> Bäume, wo leichter<br />
voranzukommen war als durch üppiges, verfilztes<br />
Unterholz. Bald holte er einen Mann ein, der auf das<br />
Flugzeugwrack zu taumelte. Es war Jerry Lucas. Über ihm<br />
hielt er an <strong>und</strong> rief ihn beim Namen. Der Pilot schaute in alle<br />
Richtungen außer nach oben, sah aber niemanden. Aber er<br />
hatte <strong>die</strong> Stimme erkannt.<br />
„Wo zum Kuckuck sind Sie, Clayton?“<br />
„Wenn ich springe, würde ich auf Ihrem Kopf landen.“<br />
Lucas sah nach oben, worauf ihm der M<strong>und</strong> offen blieb.<br />
Ein fast nackter Riese hing über ihm. Sein erster Gedanke<br />
war: Der Kerl ist übergeschnappt. Vielleicht hat er sich bei<br />
der Landung den Kopf angeschlagen, vielleicht war er bloß<br />
unter Schock. „Geht’s Ihnen gut?“, fragte er.<br />
„Ja“, antwortete Clayton. „Und Ihnen?“<br />
„Voll einsatzfähig.“<br />
Sie befanden sich in nur kurzer Distanz von der Lovely<br />
Lady. Die Flammen erhoben sich hoch über sie, <strong>und</strong> einige<br />
der Bäume brannten. Als sie sich so weit näherten, wie <strong>die</strong><br />
Hitze es zuließ, sahen sie Bubonovitch. Sobald der Lucas<br />
sah, begrüßte er ihn freudig. Aber Clayton bemerkte er erst,<br />
nachdem <strong>die</strong>ser von einem Baum herabgesprungen war.<br />
Bubonovitch griff nach seinem 45er. Dann erkannte er den<br />
Engländer.<br />
„Meine Güte!“, rief er. „Was ist aus Ihrer Kleidung<br />
geworden?“<br />
25
„Ich habe sie weggeworfen.“<br />
„Weggeworfen?“<br />
Clayton nickte. „Sie war durchnäßt <strong>und</strong> unbequem.“<br />
Bubonovitch schüttelte den Kopf. Seine Augen wanderten<br />
über den Engländer. Da sah er das Messer. „Wo ist Ihr<br />
Revolver?“, fragte er.<br />
„Den habe ich auch weggeworfen.“<br />
„Sie müssen verrückt sein“, sagte Sergeant Bubonovitch.<br />
Lucas, der hinter Clayton stand, schüttelte heftig den Kopf<br />
gegen seinen Kameraden hin. Aber der Vorwurf schien<br />
Clayton nicht aufzuregen, wie der Pilot befürchtete. Er sagte<br />
nur: „Nein, nicht ganz so verrückt. Sie werden den Ihrigen<br />
sehr bald wegwerfen. Innerhalb von vier<strong>und</strong>zwanzig St<strong>und</strong>en<br />
wird er rostig sein <strong>und</strong> unbrauchbar. Aber werfen Sie Ihr<br />
Messer nicht weg. Und halten Sie es sauber <strong>und</strong> scharf. Es<br />
wird töten <strong>und</strong> nicht so viel Lärm machen wie ein 45er.“<br />
Lucas betrachtete <strong>die</strong> Flammen, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> Löcher<br />
seines geliebten Flugzeugs flackerten. „Sind alle<br />
herausgekommen?“, fragte er Bubonovitch.<br />
„Ja. Lt. Burnham <strong>und</strong> ich sind zusammen gesprungen. Er<br />
sollte hier irgendwo in der Nähe sein. Alle, <strong>die</strong> am Leben<br />
waren, kamen heraus.“<br />
Lucas hob seinen Kopf <strong>und</strong> rief: „Lucas hier! Lucas<br />
hier!“<br />
Die Antwort war grad noch zu vernehmen: „Rosetti an<br />
Lucas; Rosetti an Lucas! Um Himmels Willen, kommt <strong>und</strong><br />
holt mich da raus!“<br />
„Roger!“, schrie Lucas, <strong>und</strong> <strong>die</strong> drei Männer zogen in <strong>die</strong><br />
Richtung los, aus der Shrimps Stimme gekommen war.<br />
Sie fanden ihn – im Geschirr seines Fallschirms hängend,<br />
gut h<strong>und</strong>ert Fuß über dem Boden. Lucas <strong>und</strong> Bubonovitch<br />
schauten hinauf <strong>und</strong> kratzten sich <strong>die</strong> Köpfe – wenigstens<br />
bildlich.<br />
„Wie werdet ihr mich hinunter holen?“, fragte Shrimp.<br />
26
„Weiß der Teufel“, sagte Lucas.<br />
„Nach einiger Zeit wirst du reif <strong>und</strong> abfallen“, sagte<br />
Bubonovitch.<br />
„Sehr komisch, was, du Neunmalkluger? Wo habt ihr den<br />
Typen ohne Kleider aufgegabelt?“<br />
„Das ist Gruppenkapitän Clayton, du Dämlicher“,<br />
antwortete Bubonovitch.<br />
„Oh.“ Es ist erstaunlich, wie viel Geringschätzung in ein<br />
Wort aus zwei Buchstaben gepackt werden kann. Und<br />
Sergeant Rosetti bekam viel hinein. Es war nicht zu<br />
überhören. Lucas wurde rot.<br />
Clayton lächelte. „Ist der junge Mann auf Engländer<br />
allergisch?“<br />
„Verzeihen Sie’s ihm, Sir; er weiß es nicht besser. Er<br />
kommt aus einer Vorstadt von Chicago namens Cicero.“<br />
„Wie werdet ihr mich hinunter holen?“, fragte Shrimp<br />
wieder.<br />
„Vielleicht werden wir uns bis morgen etwas ausdenken“,<br />
sagte Bubonovitch.<br />
„Ihr werdet mich doch nicht <strong>die</strong> ganze Nacht hier oben<br />
hängen lassen!“, heulte der Kugelturm-Schütze.<br />
„Ich werde ihn herunter holen“, sagte Clayton.<br />
Von dem Baum, in dem Shrimp hing, baumelten keine<br />
Ranken nahe genug zum Boden herab, daß Clayton sie hätte<br />
erreichen können. Er ging zu einem anderen Baum <strong>und</strong><br />
schwang sich auf dessen Ranken hinauf wie ein Affe. Dann<br />
fand er etwa fünfzig Fuß über dem Boden eine lose Liane.<br />
Nachdem er ihre Tragfähigkeit geprüft hatte, schwang er<br />
sich daran weiter, indem er sich vom Stamm mit den Füßen<br />
abstieß. Zwei Mal versuchte er eine Liane zu erreichen, <strong>die</strong><br />
von dem Baum hing, in welchem Shrimp gefangen war.<br />
Seine ausgestreckten Finger konnten sie nur berühren. Aber<br />
beim dritten Mal erfaßte er sie.<br />
Er erprobte <strong>die</strong> Festigkeit <strong>die</strong>ser Liane so, wie er es bei<br />
27
der vorigen getan hatte. Dann kletterte er, <strong>die</strong> erste um den<br />
Arm geschlungen, zu Shrimp. Als er vor ihm ankam, konnte<br />
er ihn immer noch nicht ganz erreichen. Der Schütze hing<br />
nur ein wenig zu weit vom Baumstamm entfernt.<br />
Clayton warf ihm das lose Ende der Liane hinüber, <strong>die</strong> er<br />
ihm von einem Baum daneben mitgebracht hatte. „Nehmen<br />
Sie“, sagte er, „<strong>und</strong> halten Sie sie fest.“<br />
Rosetti griff zu <strong>und</strong> Clayton zog ihn zu sich heran, bis er<br />
eine der Fallschirmleinen ergreifen konnte. Clayton saß auf<br />
einem starken Ast. Er zog Rosetti zu sich herauf.<br />
„Schlüpfen Sie aus dem Fallschirmgeschirr <strong>und</strong> der<br />
Schwimmweste“, wies er ihn an.<br />
Als Shrimp das getan hatte, warf er ihn sich über <strong>die</strong><br />
Schulter, schnappte <strong>die</strong> Liane, <strong>die</strong> er von dem nahen Baum<br />
mitgebracht hatte, <strong>und</strong> glitt von dem Ast.<br />
„Hui!“, schrie Rosetti, als sie durchs Leere schwangen.<br />
Sich mit einer Hand festhaltend, ergriff Clayton einen<br />
baumelnden Zweig <strong>und</strong> brachte sie zum Anhalten. Dann<br />
kletterte er an der Liane hinab zum Boden. Als er Rosetti<br />
von seiner Schulter löste, fiel der Junge in Ohnmacht.<br />
Lucas <strong>und</strong> Bubonovitch waren einen Augenblick lang<br />
sprachlos.<br />
„Wenn ich’s nicht mit eigenen Augen gesehen hätte,<br />
würde ich es niemals glauben“, sagte der Pilot.<br />
„Ich glaub’s noch immer nicht“, sagte Bubonovitch.<br />
„Wollen wir <strong>die</strong> anderen suchen?“, fragte Clayton. „Ich<br />
denke, wir sollten versuchen, sie zu finden <strong>und</strong> uns dann<br />
vom Flugzeug entfernen. Der Rauch ist Meilen weit zu<br />
sehen, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Japaner werden genau wissen, was das ist.“<br />
Mehrere St<strong>und</strong>en lang suchten sie <strong>und</strong> riefen, ohne<br />
Erfolg. Und gerade vor der Dämmerung stießen sie auf <strong>die</strong><br />
Leiche des Navigators Lt. Burnham. Sein Fallschirm war<br />
nicht aufgegangen. Mit ihren Messern hoben sie ein seichtes<br />
Grab aus. Dann hüllten sie ihn in seinen Fallschirm <strong>und</strong><br />
28
egruben ihn. Jerry Lucas sprach ein kurzes Gebet. Dann<br />
gingen sie weg.<br />
Schweigend folgten sie Clayton. Seine Augen<br />
durchforschten <strong>die</strong> Bäume, an denen sie vorüberkamen, <strong>und</strong><br />
es war klar, daß er etwas suchte. Ganz spontan hatten sie alle<br />
unbeschränktes Vertrauen zu dem Engländer gefaßt. Shrimp<br />
wandte selten seine Augen von ihm ab. Wer kann sagen,<br />
was der kleine Cicero-Kumpel dachte? Seit seiner Rettung<br />
vom Baum hatte er nichts gesprochen. Nicht einmal bedankt<br />
hatte er sich bei Clayton. Es hatte zu regnen aufgehört, <strong>und</strong><br />
<strong>die</strong> Moskitos umschwärmten sie. „Ich begreife nicht, wie Sie<br />
es ertragen, Captain“, sagte Lucas <strong>und</strong> klatschte auf <strong>die</strong><br />
Mücken auf Gesicht <strong>und</strong> Händen.<br />
„Tut mir Leid!“, rief Clayton. „Ich wollte es euch<br />
zeigen.“ Er suchte herum <strong>und</strong> fand ein paar der Pflanzen, <strong>die</strong><br />
er vorhin am Nachmittag entdeckt hatte. „Zerquetscht <strong>die</strong><br />
Blätter“, sagte er, „<strong>und</strong> reibt den Saft auf alle bloßen<br />
Körperteile. Danach werden euch <strong>die</strong> Moskitos nicht mehr<br />
belästigen.“<br />
Bald fand Clayton, wonach er gesucht hatte – Bäume,<br />
deren Blätter einander etwa zwanzig Fuß über dem Boden<br />
überlappten. Locker schwang er sich hinauf <strong>und</strong> begann eine<br />
Plattform zu bauen. „Wenn jemand von euch Männern hier<br />
herauf kommen kann, könnt ihr mir helfen. Wir sollten<br />
<strong>die</strong>ses Ding fertig haben, bevor es dunkel ist.“<br />
„Was ist das?“, fragte Bubonovitch.<br />
„Etwas, worauf wir heute Nacht schlafen werden.<br />
Vielleicht viele Nächte lang.“<br />
Die drei Männer kletterten langsam <strong>und</strong> vorsichtig hinauf.<br />
Sie schnitten Zweige ab <strong>und</strong> legten sie quer über jene Äste,<br />
<strong>die</strong> Clayton ausgesucht hatte, um damit eine feste Plattform<br />
zu bilden, etwa zehn mal sieben Fuß groß.<br />
„Wäre es nicht einfacher gewesen, einen Unterstand auf<br />
dem Boden zu bauen?“, fragte Lucas.<br />
29
„Viel einfacher“, stimmte ihm Clayton bei, „aber dann<br />
hätte einer von uns vor dem Morgen tot sein können.“<br />
„Warum?“, fragte Bubonovitch.<br />
„Weil das hier Tiger-Gelände ist.“<br />
„Warum glauben Sie das?“<br />
„Ich habe sie den ganzen Nachmittag gerochen, fern <strong>und</strong><br />
nah.“<br />
Sergeant Rosetti warf Clayton einen schnellen Blick aus<br />
den Augenwinkeln zu <strong>und</strong> schaute dann ebenso schnell weg.<br />
Der Engländer knotete mehrere Längen der<br />
Fallschirmleinen zusammen, bis er ein Seil hatte, das bis<br />
zum Boden reichte. Er gab Bubonovitch das Ende des Seils.<br />
„Holen Sie’s ein, wenn ich es Ihnen sage, Sergeant“, befahl<br />
er. Dann sprang er schnell auf den Boden hinab.<br />
„Gerochen hat er sie!“, gab Sergeant Rosetti skeptisch<br />
von sich.<br />
Clayton sammelte ein Bündel großer Pflanzenblätter,<br />
befestigte es am Seilende <strong>und</strong> wies Bubonovitch an, es<br />
hochzuziehen. Drei solche Bündel beschaffte er, bevor er<br />
auf <strong>die</strong> Plattform zurückkam. Mit Unterstützung der anderen<br />
breitete er einen Teil auf dem Boden der Plattform aus, <strong>und</strong><br />
mit dem Rest baute er ein Schutzdach.<br />
„Fleisch werden wir morgen bekommen“, sagte Clayton.<br />
„Früchte <strong>und</strong> Gemüse hier kenne ich nicht, mit ein paar<br />
Ausnahmen. Wir werden beobachten, was <strong>die</strong> Affen<br />
fressen.“<br />
Affen gab es viele in ihrer Umgebung. Den ganzen<br />
Nachmittag waren sie da gewesen – schnatternd, zeternd,<br />
<strong>und</strong> <strong>die</strong> Neuankömmlinge kritisierend.<br />
„Ich kann eine genießbare Frucht erkennen“, sagte<br />
Bubonovitch. „Seht ihr? Auf dem nächsten Baum, Durio<br />
zibethinus, Durian genannt. Der Siamang frißt eben eine –<br />
Symphalangus syndactylus – der schwarze Gibbon von<br />
Sumatra, der größte aller Gibbons.“<br />
30
„Jetzt hat’s ihn wieder“, sagte Shrimp. „Nicht einmal eine<br />
Ameise kann er Ameise nennen.“<br />
Lucas <strong>und</strong> Clayton grinsten. „Ich werde ein paar <strong>die</strong>ser<br />
Früchte holen, der Duriozibeth-wie-sie-auch-heißen“, sagte<br />
Letzterer. Er schwang sich gewandt auf den benachbarten<br />
Baum <strong>und</strong> pflückte vier der großen, stachelhäutigen Durians.<br />
Nachdem er eine nach der anderen seinen Gefährten<br />
zugeworfen hatte, schwang er sich zurück.<br />
Rosetti war der Erste, der seine aufschnitt. „Sie stinkt“,<br />
sagte er. „So hungrig bin ich nicht.“ Er machte Anstalten, sie<br />
wegzuwerfen. „Sie ist verdorben.“<br />
„Warte“, warnte ihn Bubonovitch. „Ich habe über <strong>die</strong><br />
Durian gelesen, daß sie stinkt, aber gut schmeckt. Die<br />
Eingeborenen rösten <strong>die</strong> Samen wie Walnüsse.“<br />
Clayton hatte Bubonovitch aufmerksam zugehört.<br />
Während sie <strong>die</strong> Früchte aßen, dachte er: Was für ein Land!<br />
Was für eine Armee! Ein Sergeant, der wie ein College-<br />
Professor spricht – <strong>und</strong> dabei aus Brooklyn kommt! Er<br />
dachte auch, wie wenig der Rest der Welt Amerika kannte –<br />
<strong>die</strong> Nazis am wenigsten von allen. Jitterbug, Playboys, eine<br />
dekadente Rasse! Er dachte, wie tapfer <strong>die</strong>se Jungen mit<br />
ihren Waffen gekämpft hatten; wie Lucas sich überzeugt<br />
hatte, daß seine Mannschaft <strong>und</strong> sein Passagier draußen<br />
waren, ehe er absprang.<br />
Die Nacht war hereingebrochen. Die Dschungellaute <strong>und</strong><br />
<strong>die</strong> Dschungelstimmen waren jetzt anders. Überall gab es<br />
Bewegung r<strong>und</strong> um sie – nicht zu sehen, heimlich. Ein<br />
hohles, grunzendes Husten erhob sich unter ihrem Baum.<br />
„Was war’n das?“, fragte Shrimp.<br />
„Der Gestreifte“, sagte Clayton.<br />
Shrimp wollte fragen, was das war, aber bis jetzt hatte er<br />
noch kein Wort an den Briten gerichtet. Schließlich siegte<br />
schließlich <strong>die</strong> Neugier über den Stolz.<br />
„Der Gestreifte?“, fragte er.<br />
31
„Tiger.“<br />
„Hui! Sie glauben, da unten lauft ’n Tiger ’rum?“<br />
„Ja. Zwei von ihnen.“<br />
„Hui! Hab’ sie mal im Zoo von Chicago geseh’n.<br />
Schätze, ’s wär’ nicht so ges<strong>und</strong> da unten. Hab’ gehört, <strong>die</strong><br />
fressen Leute.“<br />
„Wir haben es Ihnen zu danken, Captain, daß wir nicht da<br />
unten sind“, sagte Jerry Lucas.<br />
„Schätze, wir wären ein Haufen Rotkäppchen im Wald,<br />
ohne ihn“, sagte Bubonovitch.<br />
„Ich hab ’ne höllische Menge in Colonel Saffarans<br />
Dschungel-Trainingskurs gelernt“, sagte Shrimp, „aber nix<br />
über’n Umgang mit Tigern.“<br />
„Sie jagen meist des Nachts“, erklärte Clayton. „Dann<br />
muß man wachsam sein.“ Nach einer Weile sagte er zu<br />
Bubonovitch: „Von dem Wenigen, das ich über Brooklyn<br />
gelesen habe, kam ich zur Ansicht, daß <strong>die</strong> Brooklyner eine<br />
ganz eigene englische Aussprache haben. Sie sprechen wie<br />
jeder andere.“<br />
„Sie auch“, sagte Bubonovitch.<br />
Clayton lachte. „Ich wurde nicht in Oxford ausgebildet.“<br />
„Bum hat in Brooklyn eine höhere Bildung bekommen“,<br />
erklärte Lucas. „Er hielt durch bis zur sechsten Stufe.“<br />
Bubonovitch <strong>und</strong> Rosetti versanken im Schlaf. Clayton<br />
<strong>und</strong> Lucas saßen mit baumelnden Beinen am Rand der<br />
Plattform <strong>und</strong> schmiedeten Zukunftspläne. Sie kamen<br />
überein, daß ihre besten Chancen darin lagen, an der<br />
Südwestküste der Insel fre<strong>und</strong>liche Eingeborene zu finden,<br />
von denen ein Boot zu bekommen <strong>und</strong> es dann nach<br />
Australien zu versuchen. Darüber <strong>und</strong> über viele andere<br />
Dinge redeten sie. Lucas sprach von seiner Mannschaft. Von<br />
ihr sprach er mit Stolz. Über <strong>die</strong> Verschollenen machte er<br />
sich Sorgen. Jene, <strong>die</strong> tot waren, waren tot. Es gab nichts,<br />
was man jetzt für sie tun konnte. Aber Clayton konnte, wenn<br />
32
er von ihnen sprach, an seiner gepreßten Stimme erkennen,<br />
was er ihretwegen empfand.<br />
Er sprach von Rosetti. „Er ist wirklich ein guter Junge“,<br />
sagte er, „<strong>und</strong> als Kugelturm-Schütze Spitze. Die Natur hat<br />
ihn für <strong>die</strong>sen Job geschaffen. Shrimp hat das DFC <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />
Air medal mit drei Sternen.“<br />
„Mit Briten hat er bestimmt nicht viel am Hut“, lachte<br />
Clayton.<br />
„Bei all den Iren <strong>und</strong> Italienern in Chicago überrascht das<br />
nicht. Und dann hatte Shrimp auch nie viele Chancen,<br />
irgendwas zu lernen. Sein Vater wurde bei einem<br />
Bandenkrieg in Cicero getötet, als er noch ein Kind war, <strong>und</strong><br />
ich glaube, seine Mutter war bloß eine Gangsterbraut. Bei<br />
einem solchen Hintergr<strong>und</strong> muß man dem Jungen manches<br />
nachsehen. Schulbildung hat er nicht viel, aber er ist auf<br />
dem geraden Weg geblieben.“<br />
„Bubonovitch interessiert mich“, sagte der Engländer. „Er<br />
ist ein ungewöhnlich intelligenter Mann.“<br />
„Ja. Er ist nicht nur intelligent, er ist auch äußerst gut<br />
gebildet. Bubonovitch ist ein Columbia-Absolvent. Bum<br />
interessierte sich für <strong>die</strong> Ausstellungen des American<br />
Museum of Natural History in New York, als er <strong>die</strong> High<br />
School besuchte. Da spezialisierte er sich auf Zoologie,<br />
Botanik, Anthropologie <strong>und</strong> all <strong>die</strong> anderen -ologien, <strong>die</strong> ein<br />
Bursche kennen muß, wenn er für das Museum brauchbar<br />
sein soll. Nach seinem Abschluß ergatterte er einen Job dort.<br />
Es macht ihm Vergnügen, vor Shrimp <strong>die</strong> Dinge beim<br />
wissenschaftlichen Namen zu nennen, bloß um ihn zu<br />
ärgern.“<br />
„Dann ist es vielleicht gut für Sergeant Rosettis<br />
Blutdruck, daß ich keinen Oxford-Akzent habe“, sagte<br />
Clayton.<br />
33
Kapitel 4<br />
Während Corrie van der Meer mit ihren Häschern dahin<br />
trottete, war ihr Verstand nur mit zwei Problemen<br />
beschäftigt: Wie konnte sie entkommen, <strong>und</strong> wie konnte sie<br />
sich selbst umbringen, wenn sie nicht entkommen konnte.<br />
Alam, der neben ihr ging, redete mit ihr in seiner eigenen<br />
Sprache, <strong>die</strong> sie – im Gegensatz zu den Japanern – verstand.<br />
„Verzeih mir“, bettelte er, „daß ich sie zu dir führte. Sie<br />
haben Tiang Umar gefoltert, doch er wollte nicht reden.<br />
Dann hielt es seine alte Frau nicht länger aus, <strong>und</strong> sie sagte<br />
ihnen, daß ich wüßte, wo du steckst. Sie sagten, daß sie alle<br />
im Dorf töten würden, wenn ich sie nicht zu deinem<br />
Versteck führe. Was hätte ich tun sollen?“<br />
„Du hast recht getan, Alam. Sing Tai <strong>und</strong> ich waren nur<br />
zwei. Es ist besser, wenn zwei sterben, als alle Menschen<br />
eines Dorfes.“<br />
„Ich will nicht, daß du stirbst“, sagte Alam. „Lieber<br />
würde ich selber sterben.“<br />
Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Was ich befürchte“,<br />
sagte sie, „ist, daß ich keine Möglichkeit zu sterben finde –<br />
rechtzeitig.“<br />
Leutnant Sokabe verbrachte <strong>die</strong> Nacht im Kampong von<br />
Tiang Umar. Die Dorfbewohner waren trotzig <strong>und</strong> mürrisch;<br />
daher postierte Sokabe zwei Wachen vor der Tür des<br />
Hauses, in dem er <strong>und</strong> seine Gefangene schliefen. Um<br />
weitere Möglichkeiten auszuschließen, daß sie entkommen<br />
könnte, band er sie an Hand- <strong>und</strong> Fußgelenken. Weiter<br />
belästigte er sie nicht. Vor Hauptmann Tokujo Matsuo<br />
empfand er eine gehörige Angst; dessen Launen waren<br />
notorisch gemein. Außerdem hatte er einen Plan.<br />
Als er am nächsten Morgen aufbrach, nahm er Alam als<br />
34
Dolmetscher mit, für den Fall daß er einen brauchte. Corrie<br />
war froh über <strong>die</strong> Gesellschaft <strong>die</strong>ses fre<strong>und</strong>lichen Jungen. Sie<br />
redeten miteinander, wie sie es am Vortag getan hatten. Corrie<br />
fragte Alam, ob er eine der Guerilla-Banden gesehen hätte,<br />
über <strong>die</strong> sie von Zeit zu Zeit Gerüchte vernommen hatte;<br />
Banden im Bergland, <strong>die</strong> von entkommenen Holländern<br />
gebildet wurden – Pflanzer, Be<strong>die</strong>nstete, Soldaten.<br />
„Nein, <strong>die</strong> habe ich nicht gesehen; aber gehört habe ich<br />
von ihnen. Ich habe gehört, daß sie viele Japaner getötet<br />
haben. Sie sind verzweifelte Männer. Die Japaner suchen sie<br />
immer. Sie bieten den Eingeborenen reiche Belohnung für<br />
Hinweise auf ihre Verstecke; daher mißtrauen <strong>die</strong>se Männer<br />
allen Eingeborenen, <strong>die</strong> sie nicht kennen, <strong>und</strong> halten sie für<br />
Spione. Es heißt, daß ein Eingeborener, der ihnen in <strong>die</strong><br />
Hände fällt, nie mehr in sein Dorf zurückkehrt, außer sie<br />
wissen, daß sie ihm trauen können. Und wer könnte es ihnen<br />
verdenken? Auch habe ich gehört, daß viele Eingeborene<br />
sich ihnen angeschlossen haben.“<br />
Sie kamen an dem Platz vorbei, an dem das Dorf von<br />
Taku Muda gestanden hatte. Es gab keine Spur mehr, daß je<br />
ein Mensch seinen Fuß hierher gesetzt hätte, so vollständig<br />
hatte der Dschungel es zurückerobert.<br />
Der Vormittag schritt voran. Sie marschierten unter<br />
düsteren Wolken, in einem tropischen Gußregen. Der dunkle<br />
Wald stank nach verwesender Vegetation. Er verbreitete <strong>die</strong><br />
Dünste des Todes. Tod! Das Mädchen wußte, daß jeder ihrer<br />
Schritte sie ihm näher brachte. Es sei denn – <strong>die</strong> Hoffnung<br />
stirbt nicht so leicht in einer jungen Brust. Es sei denn, was?<br />
Sie hörte das Dröhnen von Motoren über ihr. Aber <strong>die</strong>ser<br />
Lärm war ihr vertraut. Die Japaner flogen immer über <strong>die</strong><br />
Insel. Dann erreichte aus der Ferne ein Krachen <strong>und</strong><br />
Zerreißen ihre Ohren, gefolgt von einer dumpfen Explosion.<br />
Die Motoren vernahm sie nicht mehr. Sie glaubte natürlich,<br />
daß es ein Flugzeug der Feinde gewesen war, <strong>und</strong><br />
35
Befriedigung erfüllte sie. Die Japaner schnatterten aufgeregt<br />
darüber. Leutnant Sokabe schlug eine Erk<strong>und</strong>ung vor. Er<br />
sprach mit einem Wachtmeister. Endlich kamen sie zu dem<br />
Schluß, daß sie das Flugzeug in <strong>die</strong>sem Wirrwarr von<br />
Dschungel <strong>und</strong> Wald nie finden könnten. Es war zu weit<br />
entfernt.<br />
Als sie das Kampong erreichten, das Hauptmann Tokujo<br />
Matsuo für <strong>die</strong> Einquartierung seiner Abteilung requiriert<br />
hatte, war es fast dunkel. Matsuo stand im Eingang des<br />
Hauses, das <strong>die</strong> zwei Offiziere für sich beschlagnahmt<br />
hatten, <strong>und</strong> sah <strong>die</strong> Gruppe ankommen.<br />
Er rief Sokabe zu: „Wo sind <strong>die</strong> Gefangenen?“<br />
Der Leutnant packte Corrie grob am Arm <strong>und</strong> zog sie aus<br />
der Reihe <strong>und</strong> auf den Hauptmann zu. „Hier“, sagte er.<br />
„Ich habe dich ausgeschickt wegen eines Chinesen <strong>und</strong><br />
eines gelbhaarigen holländischen Mädchens, <strong>und</strong> du bringst<br />
einen schwarzhaarigen Eingeborenenjungen zurück.<br />
Erkläre.“<br />
„Den Chinesen haben wir getötet“, sagte Sokabe. „Das ist<br />
das holländische Mädchen.“<br />
„Ich bin nicht zu Scherzen aufgelegt, du Narr“, schnaubte<br />
Matsuo.<br />
Sokabe stieß das Mädchen <strong>die</strong> Leiter hinauf, <strong>die</strong> zum<br />
Eingang führte. „Ich scherze nicht“, sagte er. „Das ist das<br />
Mädchen. Sie hat sich mit dem Gewand eines eingeborenen<br />
Jungen verkleidet <strong>und</strong> ihre Haare schwarz gefärbt. Schau!“<br />
Roh zog er mit seinen schmutzigen Fingern Corries Haare<br />
auseinander <strong>und</strong> entblößte <strong>die</strong> blonde Farbe nahe der<br />
Kopfhaut.<br />
Matsuo stu<strong>die</strong>rte eingehend <strong>die</strong> Gesichtszüge des<br />
Mädchens. Dann nickte er. „Sie genügt mir“, sagte er. „Ich<br />
werde sie behalten.“<br />
„Sie gehört mir“, sagte Sokabe. „Ich habe sie gef<strong>und</strong>en<br />
<strong>und</strong> hergebracht. Sie ist mein.“<br />
36
Matsuo spuckte aus. Sein Gesicht lief rot an. Aber er<br />
brachte Beherrschung auf. „Du vergißt dich, Leutnant<br />
Sokabe“, sagte er. „Du erhältst deine Befehle von mir. Ich<br />
bin hier der komman<strong>die</strong>rende Offizier.“<br />
„Du magst ein Hauptmann sein“, sagte Sokabe; „aber<br />
jetzt, wegen der großen Ausbreitung der kaiserlichen Armee<br />
<strong>und</strong> vielen Ausfällen, sind viele Offiziere von niederer<br />
Geburt. Meine ehrenwerten Ahnen waren Samurai. Mein<br />
ehrenwerter Onkel ist ein General. Dein Vater <strong>und</strong> alle deine<br />
Onkel sind Bauern. Wenn ich meinem ehrenwerten Onkel<br />
einen Brief schreibe, wirst du nicht länger Hauptmann sein.<br />
Bekomme ich das Mädchen?“<br />
Da schrie es Mord in Matsuos Herz. Aber er entschied<br />
sich für Heuchelei – bis zu einem Zeitpunkt, da Sokabe ein<br />
tödlicher Unfall zustoßen mochte. „Ich dachte, du seiest<br />
mein Fre<strong>und</strong>“, sagte er, „<strong>und</strong> nun wendest du dich gegen<br />
mich. Laß uns nicht unbedacht handeln. Das Mädchen ist<br />
nichts. Überlassen wir <strong>die</strong> Entscheidung <strong>die</strong>ser<br />
Angelegenheit unserem Oberst. Er wird bald zur Inspektion<br />
hier sein.“ Und ehe er herkommt, dachte Matsuo, wird dir<br />
ein Unfall zustoßen.<br />
„So ist es gerecht“, stimmte Sokabe zu. Was für ein<br />
Unglück wird es sein, dachte er, sollte mein Hauptmann<br />
sterben, ehe der Oberst eintrifft.<br />
Das Mädchen verstand nichts von dem, was sie sagten.<br />
Sie wußte nicht, daß sie vorläufig in Sicherheit war.<br />
Früh am nächsten Morgen verließ Alam das Kampong,<br />
um zu seinem Dorf zurückzukehren.<br />
*<br />
Jerry Lucas wurde von wildem Rütteln der Plattform<br />
geweckt. Es weckte auch Bubonovitch <strong>und</strong> Rosetti. „Was,<br />
zur Hölle!“, rief <strong>die</strong>ser aus.<br />
37
Bubonovitch sah um sich. „Ich sehe nichts.“<br />
Jerry lehnte sich weit vor <strong>und</strong> schaute nach oben. Er sah<br />
eine riesige schwarze Gestalt wenige Fuß über ihm, <strong>die</strong> den<br />
Baum wild schüttelte. „Himmel!“, schrie er. „Seht ihr, was<br />
ich sehe?“<br />
Die beiden anderen blickten auf. „Hui!“ sagte Rosetti.<br />
„So ein Riesentrumm! Ich hab nicht gewußt, daß Affen so<br />
groß werden.“<br />
„Das ist kein Affe, du Dummer“, sagte Bubonovitch. „Er<br />
ist unter der Bezeichnung Pongo pygmaeus bekannt,<br />
weshalb allerdings als pygmaeus, dafür bin ich in meinem<br />
Studium noch zu wenig fortgeschritten. Er sollte Pongo<br />
giganteum heißen.“<br />
„Sprich US-verständlich“, knurrte Shrimp.<br />
„Es ist ein Orang-Utan, Shrimp“, sagte Lucas.<br />
„Aus dem Malaiischen. Orang-utan bedeutet wilder<br />
Mensch“, fügte Bubonovitch hinzu.<br />
„Was will er?“, fragte Shrimp. „Was zur Hölle soll sein<br />
Bäumeschütteln? Versucht er uns hinunter zu schütteln?<br />
Hui, was für’n Trumm! Ist der ein Menschenfresser,<br />
Professor Bubonovitch?“<br />
„Hauptsächlich ein Herbivore“, antwortete Bubonovitch.<br />
Rosetti wandte sich an Lucas: „Fressen Affen Leute,<br />
Cap?“<br />
„Nein“, erwiderte Lucas. „Laßt sie einfach in Ruhe, dann<br />
werden sie euch in Ruhe lassen. Aber reizt das Baby nicht.<br />
Könnte euch in Nullkommanichts auseinandernehmen.“<br />
Shrimp untersuchte seinen 45er. „Mich wird der nicht<br />
auseinandernehmen, nicht so lang ich meine Dicke Berta<br />
dabei habe.“<br />
Der Orang-Utan, der seine Neugier befriedigt hatte, zog<br />
gemächlich davon. Shrimp begann an seinem 45er zu reiben.<br />
„Hui! Hat schon mit’m Rosten begonnen, grad wie –“ Er<br />
schaute umher. „Sagt, wo ist der Herzog?“<br />
38
„Himmel! Er ist fort“, sagte Lucas. „Hab’s gar nicht<br />
bemerkt.“<br />
„Vielleicht ist er hinunter gefallen“, spekulierte Rosetti<br />
<strong>und</strong> schaute über <strong>die</strong> Kante. „War gar kein so übler Kerl für<br />
einen Briten.“<br />
„Das ist ein beachtliches Zugeständnis, da es von dir<br />
kommt“, sagte Bubonovitch.<br />
Shrimp setzte sich plötzlich auf <strong>und</strong> schaute <strong>die</strong> anderen<br />
an. „Mir fällt grad zufällig ein“, sagte er, „hat einer von euch<br />
in der Nacht <strong>die</strong>sen Schrei gehört?“<br />
„Hab ich“, sagte Lucas. „Was ist damit?“<br />
„Klang so, als ob jemand umgebracht würde, oder?“<br />
„Na, menschlich hat’s nicht geklungen.“<br />
„Klar. Das isses. Der Herzog ist hinabgefallen, <strong>und</strong> der<br />
Tiger hat ihn erwischt. Das war sein Schrei.“<br />
Bubonovitch zeigte hin <strong>und</strong> sagte: „Da kommt sein<br />
Geist.“<br />
Die anderen schauten. „Himmel, was für ein Kerl!“, sagte<br />
Rosetti.<br />
Wer sich da durch <strong>die</strong> Bäume auf sie zu schwang, einen<br />
toten Hirsch auf der Schulter, war der Engländer. Er sprang auf<br />
<strong>die</strong> Plattform. „Hier ist das Frühstück“, sagte er. „Greift zu.“<br />
Er warf den Kadaver hin, zog sein Messer <strong>und</strong> hackte ein<br />
ordentliches Stück heraus. Mit kräftigen Fingern riß er <strong>die</strong><br />
Haut vom Fleisch, dann hockte sich auf <strong>die</strong> ihnen<br />
gegenüberliegende Plattform-Ecke <strong>und</strong> versenkte seine<br />
starken Zähne ins rohe Fleisch. Shrimp sperrte den M<strong>und</strong><br />
auf <strong>und</strong> seine Augen weiteten sich. „Werden Sie’s nicht<br />
kochen?“, fragte er.<br />
„Womit?“, wollte Clayton wissen. „Hier um uns ist<br />
nichts, das trocken genug wäre, daß es brennt. Wenn Sie<br />
Fleisch haben wollen, müssen Sie lernen, es roh zu essen,<br />
bis wir ein dauerhaftes Lager finden <strong>und</strong> etwas, das brennen<br />
würde.“<br />
39
„Na“, sagte Shrimp, „ich glaub’, ich bin hungrig genug.“<br />
„Ich will alles einmal ausprobieren“, sagte Bubonovitch.<br />
Jerry Lucas hackte ein kleines Stück ab <strong>und</strong> begann<br />
darauf herum zu kauen. Clayton betrachtete <strong>die</strong> drei Männer,<br />
wie sie Stücke des warmen, rohen Fleisches kauten. „Das ist<br />
nicht <strong>die</strong> Art, wie man es ißt“, sagte er. „Reißt Stücke ab, <strong>die</strong><br />
ihr schlucken könnt, <strong>und</strong> dann schluckt sie im Ganzen. Kaut<br />
nicht.“<br />
„Wie hab’n Sie das alles gelernt?“, erk<strong>und</strong>igte sich<br />
Rosetti.<br />
„Von den Löwen.“<br />
Rosetti starrte <strong>die</strong> anderen an, schüttelte seinen Kopf <strong>und</strong><br />
versuchte dann, ein zu großes Stück Hirsch zu schlucken. Er<br />
würgte <strong>und</strong> keuchte. „Hui!“, sagte er, nachdem er den<br />
Bissen ausgespuckt hatte. „Bin nie in ’ner Löwenschule<br />
gewesen.“ Doch dann machte er es besser.<br />
„So schlecht ist es nicht, wenn man es im Ganzen<br />
schluckt“, gab Lucas zu.<br />
„Und es füllt euch den Magen <strong>und</strong> gibt euch Kraft“, sagte<br />
Clayton.<br />
Er schwang sich auf den nächsten Baum <strong>und</strong> holte mehr<br />
Durian-Früchte. Nun aßen sie sie mit Genuß. „Danach“,<br />
sagte Shrimp, „gibt’s nix mehr, was ich nicht essen könnt’.“<br />
„Ich bin in der Nähe an einem Fluß vorbei gekommen“,<br />
sagte Clayton. „Dort können wir trinken. Ich glaube, wir<br />
ziehen besser los. Wir müssen einiges erk<strong>und</strong>en, ehe wir fixe<br />
Pläne machen können. Ihr könnt etwas von <strong>die</strong>sem Fleisch<br />
in euren Taschen mitnehmen, wenn ihr glaubt, bald wieder<br />
hungrig zu werden. Aber es gibt überall reichlich Wild. Wir<br />
werden nicht hungern.“<br />
Keiner wollte etwas von dem Fleisch mitnehmen, daher<br />
warf Clayton den Kadaver auf den Boden hinab. „Für den<br />
Gestreiften“, sagte er.<br />
Die Sonne schien, <strong>und</strong> der Wald strotzte vor Leben.<br />
40
Bubonovitch war in seinem Element. Hier waren Tiere <strong>und</strong><br />
Vögel, von denen er aus Büchern gelernt hatte, oder deren<br />
tote Figuren er in Museen aufgestellt gesehen hatte. Und es<br />
gab viele, <strong>die</strong> er weder gesehen noch von ihnen gehört hatte.<br />
„Ein richtiges lebendiges Naturgeschichtemuseum“, sagte er.<br />
Clayton hatte sie zum Fluß geführt, <strong>und</strong> nachdem sie<br />
ihren Durst gestillt hatten, brachte er sie zu einem deutlich<br />
erkennbaren Wildpfad, den er bei der Jagd nach ihrem<br />
Frühstück entdeckt hatte. Er wand sich bergab in <strong>die</strong><br />
Richtung, <strong>die</strong> einzuschlagen er <strong>und</strong> Lucas sich entschieden<br />
hatten – zur Westküste, viele, viele lange Tagesmärsche<br />
entfernt.<br />
„Menschen sind auf <strong>die</strong>sem Pfad in letzter Zeit keine<br />
gewesen“, sagte Clayton, „aber viele andere Tiere waren da<br />
– Elefanten, Nashörner, Tiger, Hirsche. Es war <strong>die</strong>ser Pfad,<br />
auf dem ich unser Frühstück fand.“<br />
Shrimp wollte fragen, wie er den Hirsch gefangen hatte,<br />
erkannte jedoch, daß er schon allzu vertraulich mit dem<br />
Briten gewesen war. Dennoch mußte er zugeben, daß der<br />
kein übler Kerl war, auch wenn er es haßte, das<br />
einzugestehen.<br />
Sie zogen gegen den Wind, <strong>und</strong> Clayton hielt an <strong>und</strong> hob<br />
warnend <strong>die</strong> Hand. „Da ist ein Mensch vor uns“, sagte er<br />
leise.<br />
„Ich seh’ keinen nicht“, sagte Rosetti.<br />
„Ich ebenso wenig“, sagte Clayton, „aber er ist dort.“ Ein<br />
paar Minuten lang stand er reglos. „Er geht den selben Weg<br />
wie wir“, sagte er. „Ich werde vorausgehen <strong>und</strong> ihn mir<br />
ansehen. Ihr Übrigen kommt langsam nach.“ Er schwang<br />
sich auf einen Baum <strong>und</strong> verschwand vor ihnen.<br />
„Du kannst keinen seh’n, du kannst keinen hör’n; aber<br />
<strong>die</strong>ser Kerl erzählt uns, da ist einer vor uns – <strong>und</strong> in welche<br />
Richtung er geht!“ Rosetti sah Lucas anklagend an.<br />
„Bisher hat er sich noch nicht geirrt“, sagte Jerry.<br />
41
Kapitel 5<br />
Sing Tai starb nicht. Das Bajonett des Japaners verursachte<br />
eine böse W<strong>und</strong>e, verletzte jedoch kein lebenswichtiges<br />
Organ. Zwei Tage lang lag Sing Tai in einer Blutlache, tief<br />
in seiner Höhle verborgen. Dann kroch er heraus. Vom<br />
Schock benommen, von Blutverlust, Nahrungs- <strong>und</strong><br />
Wassermangel geschwächt, oft vor Schmerzen am Rande<br />
der Ohnmacht, stolperte er langsam auf dem Pfad zum Dorf<br />
von Tiang Umar dahin. Orientalen ergeben sich leichter dem<br />
Tod als Menschen aus dem Westen, so sehr unterscheiden<br />
sich ihre Weltanschauungen. Aber Sing Tai wollte nicht<br />
sterben. So lang es Hoffnung gab, daß seine geliebte weiße<br />
Miß leben mochte <strong>und</strong> ihn brauchte, mußte auch er leben.<br />
Im Dorf des Tiang Umar mochte er etwas von ihr hören.<br />
Dann würde er sich zwischen Leben <strong>und</strong> Sterben<br />
entscheiden können. Also schlug Sing Tais treues Herz<br />
weiter, wenn auch schwach. Doch gab es Momente, in<br />
denen er sich fragte, ob er <strong>die</strong> Kraft hatte, sich bis zum Dorf<br />
weiterzuschleppen. Solche Gedanken betrübten ihn, als er zu<br />
seiner Überraschung plötzlich einen fast nackten Riesen auf<br />
dem Pfad vor sich auftauchen sah – einen bronzehäutigen<br />
Riesen mit schwarzem Haar <strong>und</strong> grauen Augen. Das, dachte<br />
Sing Tai, ist vielleicht das Ende.<br />
Clayton sprang von einem überhängenden Baum auf den<br />
Pfad herab. Er redete Sing Tai auf Englisch an, <strong>und</strong> Sing Tai<br />
antwortete in einem Englisch, das nur eine Spur von Pidgin<br />
enthielt. In Hongkong hatte Sing Tai Jahre lang in den<br />
Häusern von Engländern gelebt.<br />
Clayton sah <strong>die</strong> blutdurchtränkte Kleidung <strong>und</strong> erkannte<br />
<strong>die</strong> äußeren Zeichen einer Schwäche, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Nähe eines<br />
42
Zusammenbruchs anzeigte. „Wie bist du verletzt worden?“,<br />
fragte er.<br />
„Japanischer Affen-Mann rammte Bajonett in mich –<br />
hier.“ Er wies auf <strong>die</strong> Stelle in seiner Seite.<br />
„Warum?“, fragte Clayton, <strong>und</strong> Sing Tai erzählte seine<br />
Geschichte.<br />
„Sind <strong>die</strong> Japaner hier in der Nähe?“<br />
„Ich glaube nicht.“<br />
„Wie weit ist es bis zu dem Dorf, das du zu erreichen<br />
versuchst?“<br />
„Jetzt nicht mehr weit – vielleicht so eine Meile.“<br />
„Sind <strong>die</strong> Leute in <strong>die</strong>sem Dorf fre<strong>und</strong>lich zu den<br />
Japanern?“<br />
„Nein. Hassen Japaner sehr viel.“<br />
Claytons Gefährten erschienen nun an einer Biegung des<br />
Pfades.<br />
„Seht ihr“, sagte Lucas. „Wieder richtig.“<br />
„Der Kerl hat immer Recht“, maulte Shrimp, „aber ich<br />
versteh’ nicht, wie er’s gemacht hat – mit keiner Glaskugel<br />
nicht oder sonst nix.“<br />
Sing Tai sah ihre Ankunft mit Besorgnis. „Sie sind meine<br />
Fre<strong>und</strong>e“, sagte Clayton. „Amerikanische Flieger.“<br />
Clayton wiederholte Sing Tais Geschichte vor den<br />
anderen, <strong>und</strong> es wurde beschlossen, zu Tiang Umars Dorf<br />
weiterzugehen. Clayton nahm den Chinesen behutsam auf<br />
seine Arme <strong>und</strong> trug ihn auf dem Pfad weiter. Als Sing Tai<br />
sagte, daß sie dem Dorf nahe wären, setzte ihn der<br />
Engländer ab <strong>und</strong> wies alle an zu warten, während er zur<br />
Erk<strong>und</strong>ung vorausging. Die Japaner-Truppe war nicht mehr<br />
da, <strong>und</strong> er kehrte bald zurück.<br />
Tiang Umar nahm sie fre<strong>und</strong>lich auf, als Sing Tai erklärte,<br />
wer sie waren. Mit Sing Tai als Dolmetscher erzählte ihnen<br />
Tiang Umar, daß <strong>die</strong> Japaner am vorherigen Morgen<br />
abgezogen waren <strong>und</strong> das holländische Mädchen sowie einen<br />
43
seiner jungen Männer mitgenommen hatten. Er wußte, daß es<br />
im Südwesten ein Japaner-Lager gab, einen Tagesmarsch<br />
entfernt. Wenn man in seinem Kampong warten würde, war<br />
er sicher, daß der Junge Alam heimkommen werde, da ihn <strong>die</strong><br />
Japaner nur als Dolmetscher für <strong>die</strong> Dörfer mitgenommen<br />
hatten, durch <strong>die</strong> sie kommen mochten.<br />
Sie entschieden sich zu warten, besonders Clayton drang<br />
darauf. Und als es beschlossen war, entfernte er sich allein<br />
in den Wald. „Er wird wahrscheinlich mit einem<br />
Wasserbüffel unterm Arm zurückkommen“, sagte Shrimp<br />
voraus. Aber als er zurückkehrte, hatte er nur einige harte,<br />
schlanke Zweige <strong>und</strong> etwas Bambus. Damit <strong>und</strong> mit einigen<br />
Hühnerfedern sowie mit einer Faserschnur, <strong>die</strong> ihm Tiang<br />
Umar gegeben hatte, fertigte er einen Bogen an, einige<br />
Pfeile <strong>und</strong> einen Speer. Die Spitzen seiner Waffen härtete er<br />
im Feuer. Aus Fallschirmseide machte er einen Köcher.<br />
Seine Gefährten sahen interessiert zu. Rosetti war nicht<br />
besonders beeindruckt, als Clayton erklärte, daß seine<br />
Bewaffnung ihnen nicht nur reichlich Wild garantierte,<br />
sondern als Verteidigungs- <strong>und</strong> Angriffswaffen Menschen<br />
gegenüber <strong>die</strong>nen würden. „Halten wir ihm das Wild,<br />
derweil er drauf schießt?“, fragte er Bubonovitch. „Ich sag’<br />
euch, wenn mich einer von euch Kerlen je mit so ’nem Ding<br />
piekst, <strong>und</strong> ich krieg’s raus –“<br />
„Sei nicht blöd“, sagte Bubonovitch. Aber Waffen waren<br />
für Rosetti 45er, Maschinenpistolen <strong>und</strong> Maschinengewehre,<br />
nicht aber Bambussplitter mit Hühnerfedern am einen Ende.<br />
Am späten Nachmittag kehrte Alam zurück. Sofort war er<br />
von einer Horde schnatternder Eingeborener umgeben.<br />
Schließlich erfaßte Sing Tai, was er erzählte, <strong>und</strong><br />
wiederholte es für Clayton. Alam wußte, daß <strong>die</strong> zwei<br />
japanischen Offiziere sich um das Mädchen gestritten hatten<br />
<strong>und</strong> daß sie zu dem Zeitpunkt, da er am Morgen das Dorf<br />
verlassen hatte, noch in Sicherheit gewesen war.<br />
44
Sing Tai bat Clayton mit Tränen in den Augen, das<br />
Mädchen Corrie vor den Japanern zu retten. Clayton <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />
Amerikaner besprachen <strong>die</strong> Angelegenheit. Alle waren für<br />
den Versuch, aber nicht alle aus demselben Gr<strong>und</strong>. Clayton<br />
<strong>und</strong> Bubonovitch wünschten <strong>die</strong> Rettung des Mädchens.<br />
Lucas <strong>und</strong> Rosetti wünschten, <strong>die</strong> Japaner zu schädigen. An<br />
dem Mädchen waren sie wenig interessiert, beide eher<br />
frauenfeindlich. Lucas war ein Frauenhasser, weil das<br />
Mädchen, das er in Oklahoma City zurückgelassen hatte,<br />
einen anderen geheiratet hatte. Rosettis Haß entsprang<br />
seinem lebenslangen Haß gegen seine Mutter. Zeitig am<br />
nächsten Morgen brachen sie auf, geführt von Alam.<br />
Sie bewegten sich langsam <strong>und</strong> vorsichtig voran, Clayton<br />
als K<strong>und</strong>schafter vor den anderen. Shrimp verstand nicht,<br />
wozu sie Alam dabei hatten, <strong>und</strong> war sicher, sie würden sich<br />
verirren. In einer komischen Zeichensprache seiner eigenen<br />
Erfindung fragte er Alam ständig, ob sie auf dem richtigen<br />
Pfad wären. Der Eingeborene, der nicht <strong>die</strong> geringste<br />
Ahnung hatte, was Shrimps wildes Gestikulieren bedeutete,<br />
nickte <strong>und</strong> grinste, sobald Rosetti mit Gefuchtel <strong>und</strong><br />
Grimassen anfing.<br />
Lucas <strong>und</strong> Bubonovitch sorgten sich nicht so sehr wie<br />
Shrimp. Sie hatten mehr Vertrauen zu dem Engländer als<br />
er. Wie auch immer, sie konnten nicht wissen, daß<br />
Clayton keinen Führer brauchte, der ihm <strong>die</strong> Spur einer<br />
Abteilung Soldaten zeigte, <strong>die</strong> ein weißes Mädchen <strong>und</strong><br />
einen eingeborenen Jungen dabei hatten. Die Anzeichen<br />
dafür, daß sie vor kurzem vorbeigekommen waren, waren<br />
für seine geschärften Sinne überall am Pfad entlang<br />
ersichtlich.<br />
Es war schon dunkel, als sie das Dorf erreichten. Clayton<br />
hieß <strong>die</strong> anderen warten, während er auf K<strong>und</strong>schaft voraus<br />
ging. Er traf das Dorf schlecht bewacht an <strong>und</strong> betrat es<br />
ohne Schwierigkeiten. Die Nacht war mondlos, <strong>und</strong> Wolken<br />
45
verhüllten <strong>die</strong> Sterne. In einigen Häusern gab es schwache<br />
Beleuchtung.<br />
Nahe der Stelle, <strong>die</strong> er betreten hatte, machte sein scharfer<br />
Geruchssinn das weiße Mädchen aus. Aus ihrem Haus<br />
vernahm er das zornige Geschnatter von zwei Japanern.<br />
Er verließ das Dorf an der gleichen Stelle, an der er es<br />
betreten hatte, <strong>und</strong> umr<strong>und</strong>ete es bis zum anderen Ende. Dort<br />
gab es einen Wächter. Clayton wollte keinerlei Bewachung<br />
hier. Der Kerl patrouillierte hin <strong>und</strong> her. Clayton kauerte sich<br />
hinter einen Baum <strong>und</strong> wartete. Der Wächter tauchte auf.<br />
Etwas sprang von hinten gegen ihn; <strong>und</strong> ehe er einen<br />
Warnschrei ausstoßen konnte, drang eine scharfe Klinge tief<br />
in seine Kehle. Clayton schleppte <strong>die</strong> Leiche aus dem Dorf<br />
hinaus <strong>und</strong> kehrte zu seinen Gefährten zurück. Flüsternd gab<br />
er Anweisungen; dann führte er sie ans andere Ende des<br />
Dorfes. „Eure 45er“, hatte er ihnen gesagt, „werden<br />
wahrscheinlich <strong>die</strong> Patronen abschießen, <strong>die</strong> im Lauf sind.<br />
Die Möglichkeit besteht, daß <strong>die</strong> Mechanismen schon so<br />
verrostet sind, daß sie <strong>die</strong> Hülsen nicht auswerfen <strong>und</strong> auch<br />
nicht nachladen, aber feuert, so lange sie schießen. Wenn sie<br />
klemmen, werft Steine ins Dorf, um <strong>die</strong> Aufmerksamkeit in<br />
<strong>die</strong>se Richtung zu lenken. Und brüllt <strong>die</strong> ganze Zeit hindurch<br />
wie <strong>die</strong> Teufel. Fangt damit in drei Minuten an. In vier<br />
Minuten macht euch davon von dort, <strong>und</strong> zwar schnell. Wir<br />
treffen uns auf dem Pfad oben hinter dem Dorf.“<br />
Er kehrte zum oberen Dorfende zurück <strong>und</strong> versteckte<br />
sich unter dem Haus, in dem <strong>die</strong> zwei Offiziere <strong>und</strong> das<br />
Mädchen waren. Eine Minute später ertönten Schüsse am<br />
unteren Dorfende, <strong>und</strong> lautes Geschrei durchbrach <strong>die</strong> Stille<br />
der Nacht. Clayton grinste. Es klang, als griffe eine größere<br />
Streitmacht das Dorf an.<br />
Eine Sek<strong>und</strong>e darauf rannten <strong>die</strong> zwei Offiziere aus dem<br />
Haus <strong>und</strong> riefen Befehle. Soldaten schwärmten aus anderen<br />
Häusern, <strong>und</strong> alles rannte in <strong>die</strong> Richtung des Aufruhrs.<br />
46
Dann eilte Clayton <strong>die</strong> Leiter hinauf, <strong>die</strong> zum Hauseingang<br />
führte <strong>und</strong> trat ein. Das Mädchen lag auf Schlafmatten im<br />
Hintergr<strong>und</strong> des einzigen Raumes. Hand- <strong>und</strong> Fußgelenke<br />
waren gefesselt. Sie sah, wie der fast nackte Mann zu ihr her<br />
den Raum im Lauf durchquerte. Er beugte sich herab <strong>und</strong><br />
nahm sie auf seine Arme, trug sie aus dem Haus <strong>und</strong> hinaus<br />
in den Dschungel. Panik erfüllte sie. Was für ein neuer<br />
Schrecken erwartete sie?<br />
Im schwachen Licht des Raums drinnen hatte sie nur<br />
gesehen, daß der Mann groß war <strong>und</strong> seine Haut braun.<br />
Draußen auf dem Dschungelpfad trug er sie eine kurze<br />
Strecke weit. Dann hielt er an <strong>und</strong> setzte sie ab. Sie spürte<br />
etwas Kaltes gegen ihre Handgelenke gepreßt – <strong>und</strong> ihre<br />
Hände waren frei. Dann wurden <strong>die</strong> Schnüre um ihre<br />
Fesseln durchgeschnitten. „Wer sind Sie?“, fragte sie auf<br />
Holländisch. „Still!“, warnte er sie.<br />
Gleich darauf kamen vier andere zu ihnen, <strong>und</strong> sie alle<br />
bewegten sich still mit ihr auf dem dunklen Pfad weiter. Wer<br />
waren sie? Was wollten sie von ihr? Das eine Wort „still“,<br />
auf Englisch gesprochen, hatte sie ein wenig beruhigt. Eine<br />
St<strong>und</strong>e lang zogen sie in ungebrochenem Schweigen weiter,<br />
Clayton ständig nach Verfolgern lauschend. Schließlich<br />
sprach er. „Ich glaube, wir haben sie durcheinander<br />
gebracht“, sagte er. „Wenn sie uns suchen, dann<br />
wahrscheinlich in der anderen Richtung.“<br />
„Wer sind Sie?“, fragte Corrie, <strong>die</strong>smal auf Englisch.<br />
„Fre<strong>und</strong>e“, antwortete Clayton. „Sing Tai hat uns von<br />
Ihnen erzählt. Also kamen wir <strong>und</strong> holten Sie.“<br />
„Sing Tai ist nicht tot?“<br />
„Nein, nur schwer verw<strong>und</strong>et.“<br />
Alam beruhigte sie. „Du bist jetzt in Sicherheit“, sagte er.<br />
„Die sind Amerikaner.“<br />
„Amerikaner sind sie?“, fragte sie ungläubig. „Sind sie<br />
endlich gelandet?“<br />
47
„Nur <strong>die</strong>se wenigen. Ihr Flugzeug wurde abgeschossen.“<br />
„Das ist ein echt sauberer Trick gewesen, Captain“, sagte<br />
Bubonovitch. „Die haben wir wirklich genarrt.“<br />
„Hätte beinah für mich schlechter ausgehen können, weil<br />
ich euch zu sagen vergessen habe, in welche Richtung ihr<br />
schießen sollt. Zwei Kugeln kamen mir für meinen<br />
Geschmack zu nahe.“ Er wandte sich dem Mädchen zu.<br />
„Fühlen Sie sich kräftig genug, den Rest der Nacht zu<br />
marschieren?“, fragte er.<br />
„Ja, vollkommen“, erwiderte sie. „Wissen Sie, ich bin das<br />
Laufen gewohnt. Während der letzten zwei Jahre hab ich das<br />
ausgiebig getan, um den Japanern aus dem Weg zu gehen.“<br />
„Zwei Jahre lang?“<br />
„Ja, ständig, seit der Invasion. Ich hab mich <strong>die</strong> ganze<br />
Zeit über in den Bergen versteckt. Mit Sing Tai.“ Clayton<br />
erk<strong>und</strong>igte sich, <strong>und</strong> sie erzählte ihm ihre Geschichte – <strong>die</strong><br />
Flucht von der Plantage, den Tod ihrer Mutter, den Mord an<br />
ihrem Vater <strong>und</strong> Lum Kam, den Verrat durch einige<br />
Eingeborene, <strong>die</strong> Loyalität anderer.<br />
In der Morgendämmerung kamen sie im Dorf Tiang<br />
Umars an, aber sie blieben dort nur so lang, bis sie<br />
Lebensmittel hatten; dann zogen sie weiter, alle außer Alam.<br />
Während der Nacht war ein Plan ausgearbeitet worden. Er<br />
beruhte auf der Annahme, daß <strong>die</strong> Japaner vielleicht zu<br />
<strong>die</strong>sem Dorf zurückkommen würden, um nach dem<br />
Mädchen zu suchen. Corrie wollte weiterhin nichts tun, was<br />
<strong>die</strong> Sicherheit <strong>die</strong>ser mit ihr befre<strong>und</strong>eten Menschen<br />
gefährden könnte.<br />
Corrie <strong>und</strong> Sing Tai kannten viele Verstecke in den<br />
abgelegenen Weiten des Gebirges. Wegen ihres<br />
Unvermögens, ausreichend Nahrung zu bekommen, waren<br />
sie gezwungen gewesen, sich Tiang Umars Dorf zu nähern.<br />
Aber jetzt würde das anders sein.<br />
Sing Tai hatten sie zurücklassen müssen, da er zum<br />
48
Reisen nicht in der Lage war. Tiang Umar versicherte ihnen,<br />
er könne den Chinesen so verstecken, daß ihn <strong>die</strong> Japaner<br />
nicht finden würden, sollten sie zum Dorf zurückkehren.<br />
„Wenn ich kann, werde ich dich wissen lassen, wo ich<br />
bin, Tiang Umar“, sagte Corrie; „dann kannst du vielleicht<br />
Sing Tai zu mir schicken, wenn er kräftig genug zum Reisen<br />
ist.“<br />
Corrie führte <strong>die</strong> Gruppe tief in <strong>die</strong> Wildnis des<br />
gebirgigen Hinterlandes. Hier gab es zerklüftete Schluchten<br />
<strong>und</strong> Gebirgsbäche, Teak-Forste, riesige Bambuswälder,<br />
offene Bergwiesen, dicht von mannshohen Gräsern<br />
bewachsen.<br />
Lucas <strong>und</strong> Clayton hatten beschlossen, weiter so ins<br />
Gebirge vorzudringen <strong>und</strong> dann nach Südosten<br />
abzuschwenken, bevor man sich der Küste zuwandte. Auf<br />
<strong>die</strong>sem Weg würden sie das Gebiet vermeiden, wo das<br />
Flugzeug abgestürzt war. Ebenso würden sie kaum zu einem<br />
Dorf gelangen, falls überhaupt, dessen Einwohner ihnen<br />
Japaner auf <strong>die</strong> Spur brächten.<br />
Clayton stöberte oft voraus nach Nahrung <strong>und</strong> kam nie<br />
mit leeren Händen zurück, mochte es ein Rebhuhn oder ein<br />
Fasan sein, manchmal ein Hirsch. Und jetzt machte er in<br />
ihren Lagern Feuer, so daß <strong>die</strong> Amerikaner kochen konnten.<br />
Auf ihrem Weg führten immer Clayton <strong>und</strong> Corrie, dann<br />
kam Bubonovitch. Lucas <strong>und</strong> Shrimp als Nachhut hielten<br />
sich dem holländischen Mädchen so fern wie möglich. Das<br />
kam allein davon, daß sie Frauen prinzipiell abgeneigt<br />
waren.<br />
„Aber ich schätze, wir müssen das Weibsbild aushalten“,<br />
sagte Rosetti. „Wir können sie nicht den Japanern<br />
überlassen.“<br />
Jerry Lucas stimmte ihm bei. „Wäre sie ein Mann, oder<br />
sogar ein Affe, wäre es nicht so schlimm. Aber ich habe<br />
einfach keine Zeit für Frauen.“<br />
49
„So übel ist sie nicht anzuschau’n“, gab Shrimp<br />
widerwillig zu.<br />
„Die sind <strong>die</strong> Schlimmsten“, sagte Jerry. „Äußerst<br />
egoistisch <strong>und</strong> habgierig. Quetschen immer jemanden aus.<br />
Gib mir! Gib mir! Gib mir! Das ist alles, woran sie denken.“<br />
„Wer auch <strong>die</strong>se kleine Holländer-Braut heiraten mag,<br />
wird eine Menge Sorgen bekommen. Alle Wölfe aus dem<br />
Wald werden an seiner Hintertür heulen. Hast du schon <strong>die</strong><br />
Lichter bemerkt, wenn sie lächelt?“<br />
„Gehst du ihr auf den Leim, Shrimp?“<br />
„Hölle, nein! Aber ich hab’ Augen im Kopf, oder?“<br />
„Ich schau gar nicht hin“, log Jerry.<br />
Gerade da brach ein Schwarm Rebhühner aus der<br />
Deckung. Clayton hatte schon einen Pfeil auf seinem Bogen<br />
liegen. Mit dem Surren der Sehne fiel schon ein Rebhuhn.<br />
Die Bewegungen des Mannes waren so flink, sicher <strong>und</strong><br />
geschmeidig wie wechselndes Licht.<br />
„Hui!“, rief Rosetti. „Ich gesteh’s. Der Kerl ist kein<br />
Mensch. Wie zur Hölle hat er gewußt, daß <strong>die</strong> Vögel<br />
aufsteigen würden? Wie hat er sie mit dem Ding erwischen<br />
können?“<br />
Jerry schüttelte den Kopf. „Frag mich nicht. Vielleicht<br />
riecht er sie, oder er hört sie. Eine Menge von dem, was er<br />
tut, ist einfach bloß unheimlich.“<br />
„Ich werd’ mit einem der Dinger schießen lernen“, sagte<br />
Shrimp.<br />
Gleich darauf überwand Rosetti seine Anglophobie so weit,<br />
daß sie ihm erlaubte Clayton zu bitten, daß er ihm zeigte, wie<br />
man Pfeil <strong>und</strong> Bogen macht. Lucas <strong>und</strong> Bubonovitch äußerten<br />
das gleiche Verlangen. Am nächsten Tag besorgte Clayton das<br />
benötigte Material, <strong>und</strong> sie alle gingen unter seiner Anleitung<br />
daran Waffen anzufertigen, sogar Corrie.<br />
Das holländische Mädchen flocht <strong>die</strong> Bogensehnen aus<br />
den Fasern der langen, zähen Gräser, <strong>die</strong> sie auf den offenen<br />
50
Flächen in den Bergen fanden. Wegen der Federn schoß<br />
Clayton Vögel ab, <strong>und</strong> er zeigte den anderen, wie sie ihre<br />
Pfeile richtig befiederten. Das Anfertigen der Waffen war<br />
eine angenehme Unterbrechung der langen Tage des<br />
Felsenkletterns, des Kämpfens durch Dschungelgestrüpp<br />
<strong>und</strong> des Abstiegs so manchen Steilabfalls – bloß, um einen<br />
anderen hinaufzuklettern.<br />
Es war das erste Mal, daß <strong>die</strong> Fünf eine längere<br />
Unterhaltung hatten, denn nach jedem harten Tagesmarsch<br />
war Schlaf ihr größtes Verlangen gewesen.<br />
Das holländische Mädchen saß neben Jerry Lucas. Er sah<br />
zu, wie ihre flinken Finger <strong>die</strong> Fasern flochten, <strong>und</strong> dachte,<br />
sie habe schöne Hände – klein <strong>und</strong> wohlgeformt. Er<br />
bemerkte auch, daß sie trotz zweier Jahre bitterer Mühsal<br />
auf ihre Nägel geachtet hatte. Irgendwie wirkte sie immer<br />
gepflegt <strong>und</strong> ordentlich.<br />
„Es wird Spaß machen, mit denen zu jagen“, sagte sie zu<br />
ihm in ihrem korrekten fast Oxford-Englisch.<br />
„Falls wir etwas treffen können“, erwiderte er. Sie spricht<br />
besseres Englisch als ich, dachte er.<br />
„Wir müssen sehr viel üben“, sagte sie. „Es ist nicht<br />
richtig, daß wir vier Erwachsenen uns in allem auf einen<br />
Mann verlassen, als ob wir kleine Kinder wären.“<br />
„Nein“, sagte er.<br />
„Ist er nicht w<strong>und</strong>ervoll?“<br />
Jerry murmelte ein „Ja“ <strong>und</strong> machte mit seiner Arbeit<br />
weiter. Mit ungeschickten, ungeübten Fingern versuchte er<br />
einen Pfeil zu befiedern. Er wünschte, das Mädchen sollte<br />
still bleiben.<br />
Corrie warf ihm einen fragenden Blick zu, ihre Augen<br />
zeigten es. Dann bemerkte sie seine ungeschickten<br />
Versuche, eine Feder an ihrem Platz zu halten <strong>und</strong> sie dabei<br />
mit ein wenig Fasern dort zu befestigen. „Hier“, sagte sie.<br />
„lassen Sie mich Ihnen helfen. Sie halten <strong>die</strong> Feder, <strong>und</strong> ich<br />
51
werde <strong>die</strong> Faser um den Schaft binden. Halten sie sie nahe<br />
der Kerbe. Da, so ist’s richtig.“ Ihre Hände berührten<br />
mehrmals <strong>die</strong> seinen, während sie <strong>die</strong> Fasern um den Schaft<br />
führte. Er empfand den Kontakt angenehm; <strong>und</strong> weil er das<br />
verspürte, wurde er darüber zornig.<br />
„Da“, sagte er fast grob, „ich kann das selber machen. Sie<br />
brauchen sich nicht zu bemühen.“<br />
Sie sah ihn überrascht an. Dann kehrte sie zum Flechten<br />
der Bogensehnen zurück. Sie sagte zwar nichts, aber der<br />
kurze Blick bei der Begegnung ihrer Augen zeigte<br />
Überraschung <strong>und</strong> Kränkung in den ihren. Dasselbe hatte er<br />
einmal an einem Hirsch gesehen, den er geschossen hatte;<br />
<strong>und</strong> nie wieder hatte er einen Hirsch erlegt.<br />
Du bist ein verdammter Feigling, dachte er bei sich.<br />
Dann, mit einem großen Aufwand von Willensstärke, sagte<br />
er: „Tut mir Leid. Ich wollte nicht grob sein.“<br />
„Sie mögen mich nicht“, sagte sie. „Weshalb? Habe ich<br />
irgendetwas getan, was Sie beleidigte?“<br />
„Natürlich nicht. Und was läßt Sie glauben, daß ich Sie<br />
nicht mag?“<br />
„Das ist ganz offensichtlich gewesen. Der kleine Sergeant<br />
mag mich auch nicht. Manchmal ertappe ich ihn dabei, wie<br />
er mich anschaut, als wollte er mir den Kopf abbeißen.“<br />
„Manche Männer sind Frauen gegenüber schüchtern“,<br />
sagte er.<br />
Das Mädchen lächelte. „Sie nicht“, sagte sie.<br />
Eine Weile schwiegen sie. Dann sagte er: „Würden Sie<br />
mir wieder helfen? Ich bin schrecklich ungeschickt bei<br />
sowas.“<br />
Corrie dachte: Er ist doch ein Gentleman.<br />
Abermals band sie <strong>die</strong> Federn fest, während er sie<br />
hinhielt. Und ihre Hände berührten sich. Zu seinem Verdruß<br />
ertappte sich Jerry dabei, daß er seine so bewegte, daß sie sie<br />
öfter berührte.<br />
52
Eine Menge Zeit wurde für das Bogenschießen<br />
aufgewandt, auch unterwegs. Corrie beschämte <strong>die</strong> Männer.<br />
Sie war sehr schnell <strong>und</strong> sehr genau, <strong>und</strong> sie spannte den<br />
Bogen kräftig – <strong>die</strong> gesamte Länge des zwei Fuß, acht Zoll<br />
langen Pfeils, bis <strong>die</strong> Federn ihr rechtes Ohr berührten.<br />
Clayton lobte sie. Shrimp meinte zu Bubonovitch, das sei<br />
jedenfalls Sport für Weicheier. Jerry bew<strong>und</strong>erte heimlich<br />
ihr Können <strong>und</strong> schämte sich vor sich selbst, daß er es<br />
bew<strong>und</strong>erte.<br />
Corrie erklärte, daß sie in Holland während ihrer<br />
Schulzeit zwei Jahre lang einem Bogenschützen-Club<br />
angehört hatte <strong>und</strong> daß sie nach der Rückkehr zur Plantage<br />
ihres Vaters weitergeübt hatte. „Wenn ich jetzt nicht gut<br />
darin gewesen wäre, hielte ich mich für ziemlich dumm.“<br />
Schließlich begann Shrimp mit seiner Treffsicherheit zu<br />
prahlen. Sie alle waren ganz gut, zum Unheil jedes Vogels<br />
oder Wildes, das ihnen über den Weg lief. Sie hatten in einer<br />
Kalkklippe ein paar trockene Höhlen gef<strong>und</strong>en, <strong>und</strong> Clayton<br />
hatte entschieden, daß sie dort bleiben sollten, bis neue<br />
Kleidung <strong>und</strong> Schuhwerk hergestellt waren.<br />
Der Engländer hatte ein Hirschfell grob gehärtet <strong>und</strong> aus<br />
Bambus eine Ahle <strong>und</strong> Nadeln angefertigt. Mit den gleichen<br />
zähen Fasern, <strong>die</strong> sie für ihre Bogen <strong>und</strong> Pfeile benutzten,<br />
machte Corrie einfache Sandalen für sie, mit Hilfe <strong>die</strong>ser<br />
Materialien <strong>und</strong> Werkzeuge. Eines Morgens arbeitete sie<br />
allein, während <strong>die</strong> Männer auf der Jagd waren. Ihre<br />
Gedanken durchwanderten <strong>die</strong> zwei Jahre, <strong>die</strong> vergangen<br />
waren – Jahre der Trauer, Entbehrung <strong>und</strong> Gefahr. Sie<br />
dachte an ihre gegenwärtige Lage – allein in der Weite der<br />
Bergwildnis mit vier fremden Männern. Und sie erkannte,<br />
daß sie sich nie sicherer gefühlt hatte <strong>und</strong> daß sie zum ersten<br />
Mal seit zwei Jahren glücklich war.<br />
Sie schmunzelte, als sie sich erinnerte, wie erschrocken<br />
sie war, als der fast nackte braune Mann sie in den Wald<br />
53
davon getragen hatte. Und wie überrascht sie gewesen war,<br />
als sie erfuhr, daß er ein Offizier der Royal Air Force war.<br />
Ihn <strong>und</strong> Sergeant Bubonovitch hatte sie gleich von Anfang<br />
an gemocht. Ihr Herz hatte sich von dem Augenblick an für<br />
den Sergeant erwärmt, da er ihr <strong>die</strong> Bilder von Frau <strong>und</strong><br />
Kind gezeigt hatte. „Den kleinen Sergeant“ oder Captain<br />
Lucas hatte sie nicht gemocht. Sie hatte sie beide für<br />
Bauernflegel gehalten; aber der Captain war schlimmer,<br />
denn er war ein gebildeter Mann <strong>und</strong> hätte es besser wissen<br />
sollen.<br />
Das war, was sie bis vor kurzem gedacht hatte, aber seit<br />
dem Tag, da sie ihm beim Befiedern seiner Pfeile geholfen<br />
hatte, war er anders. Noch immer suchte er ihre Gesellschaft<br />
nicht, aber er wich ihr nicht aus, wie er es davor getan hatte.<br />
Bubonovitch hatte ihr erzählt, was für ein guter Pilot er sei<br />
<strong>und</strong> wie ihn seine Mannschaft verehrte. Er zählte<br />
verschiedene Beispiele für Lucas’ Mut auf, <strong>und</strong> sie<br />
verblaßten nicht vom Erzählen. Mannschaftsmitglieder sind<br />
so, wenn sie einen Offizier mögen.<br />
Daraus schloß Corrie, daß Lucas ein harter Mann war <strong>und</strong><br />
möglicherweise ein Frauenhasser. Und <strong>die</strong>se letztere<br />
Vorstellung fand sie fesselnd. Amüsant auch. Sie<br />
schmunzelte bei dem Gedanken, wie sich ein Frauenfeind in<br />
einer solchen Situation fühlen mußte – Tag für Tag in eine<br />
enge Kameradschaft mit einer Frau gezwungen. Und einer<br />
jungen <strong>und</strong> schönen Frau, fügte sie im Geist hinzu. Denn<br />
Corrie war achtzehn, <strong>und</strong> sie wußte, daß sie mehr als schön<br />
war – sogar in Lumpen <strong>und</strong> mit <strong>die</strong>sem schrecklichen Haar<br />
auf dem Kopf, größtenteils ein rostiges Schwarz, aber blond<br />
an den Wurzeln. Sie hatte keinen Spiegel, aber sie hatte ihr<br />
Ebenbild in stillen Wassertümpeln gesehen. Da mußte sie<br />
immer lachen. Sie lachte leicht <strong>und</strong> oft in <strong>die</strong>sen Tagen,<br />
denn sie war seltsam glücklich.<br />
Sie fragte sich, ob Captain Lucas sie nicht gemocht hätte,<br />
54
wenn sie einander unter normalen Umständen getroffen<br />
hätten – sie in eleganten Kleidern <strong>und</strong> mit einer schönen,<br />
blonden, schicklichen Frisur. Hätte sie sich selbst analysiert,<br />
würde sie sich vielleicht auch gefragt haben, warum er ihr so<br />
viel durch ihre Gedanken ging. Natürlich sah er auf eine<br />
extrem maskuline Weise gut aus. Sie hielt ihn für alt <strong>und</strong><br />
wäre überrascht gewesen zu erfahren, daß er erst<br />
drei<strong>und</strong>zwanzig war. Verantwortung <strong>und</strong> viele St<strong>und</strong>en<br />
intensiver nervlicher Belastung hatten ihn rasch reifen<br />
lassen.<br />
Ihre Gedanken wurden vom Klang von Stimmen<br />
unterbrochen. Erst nahm sie an, daß <strong>die</strong> Jäger zurückkehrten.<br />
Dann, als <strong>die</strong> Klänge näher kamen, erkannte sie den Tonfall<br />
der Eingeborenensprache; <strong>und</strong> einen Augenblick später<br />
tauchten mehrere Eingeborene am Höhleneingang auf. Sie<br />
waren schmutzige, bösartig wirkende Männer. Zehn waren<br />
es. Sie nahmen sie mit. Aus ihren Gesprächen erfuhr sie<br />
bald, warum: Die Japaner hatten für ihre <strong>und</strong> Sing Tais<br />
Ergreifung eine Belohnung ausgesetzt.<br />
Die Sonne ging unter, als <strong>die</strong> Jäger zur Höhle<br />
zurückkehrten. Der kurzen äquatorialen Dämmerung folgte<br />
bald <strong>die</strong> Dunkelheit. Die Männer vermißten das Mädchen<br />
sofort <strong>und</strong> fingen an, nach einer Erklärung zu suchen.<br />
„Sie ist uns vielleicht davongelaufen“, sagte Shrimp.<br />
„Sei kein verdammter Narr“, fuhr Lucas ihn an. Shrimp<br />
blieb vor Staunen der M<strong>und</strong> offen. Er war sicher gewesen,<br />
daß der Captain ihm zustimmen würde. „Warum sollte sie<br />
uns davonlaufen?“, fragte Lucas. „Wir bieten ihr <strong>die</strong> einzige<br />
Chance, den Japanern zu entkommen. Wahrscheinlich ist sie<br />
jagen gegangen.“<br />
„Was bringt Sie auf <strong>die</strong> Idee, sie könnte uns<br />
davongelaufen sein, Rosetti?“, fragte Clayton, während er<br />
den Boden unmittelbar vor dem Höhleneingang untersuchte.<br />
„Ich kenne <strong>die</strong> Weiberröcke“, sagte Shrimp.<br />
55
„Ich brauche bessere Beweise als solche“, sagte der<br />
Engländer.<br />
„Nun, jagen ging sie nicht“, sagte Bubonovitch.<br />
„Woher weißt du das?“, fragte Lucas.<br />
„Ihr Bogen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Pfeile sind hier.“<br />
„Nein, jagen ging sie nicht, <strong>und</strong> weggelaufen ist sie auch<br />
nicht“, sagte Clayton. „Sie wurde gewaltsam von einer<br />
Bande Eingeborener weggebracht. Einer Bande von zehn.<br />
Sie gingen dorthin.“ Er wies <strong>die</strong> Richtung.<br />
„Haben Sie eine Kristallkugel?“, fragte Bubonovitch<br />
skeptisch.<br />
„Ich habe etwas Verläßlicheres – zwei Augen <strong>und</strong> eine<br />
Nase. Die haben Sie auch, Mann, aber Ihre sind nichts wert.<br />
Sie sind Generationen lang vom verweichlichten Leben<br />
abgestumpft, weil sie Gesetze hatten, <strong>und</strong> zum Schutz von<br />
Polizei <strong>und</strong> Soldaten umgeben waren.“<br />
„Und wie war das bei Ihnen, Clayton?“, fragte Lucas<br />
anzüglich.<br />
„Ich habe einfach überlebt, weil meine Sinne so geschärft<br />
sind wie <strong>die</strong> meiner Feinde – für gewöhnlich weitaus<br />
schärfer.“<br />
„Was macht Sie so sicher, daß sie nicht freiwillig mit den<br />
Eingeborenen ging?“, fragte Jerry Lucas. „Sie könnte einige<br />
gute Gründe haben, von denen wir natürlich nichts wissen<br />
können. Aber bestimmt glaube ich, daß sie uns nicht im<br />
Stich gelassen hat.“<br />
„Sie wurde nach sehr kurzem Kampf mit Gewalt<br />
weggebracht. Die Zeichen auf dem Boden sind klar. Hier<br />
könnt ihr sehen, wo sie festgehalten <strong>und</strong> ein paar Fuß weit<br />
geschleppt wurde. Dann verschwinden ihre Spuren. Sie<br />
hoben sie hoch <strong>und</strong> trugen sie. Der Geruch der<br />
Eingeborenen hängt in den Gräsern.“<br />
„Nun, worauf warten wir dann noch?“, fragte Lucas.<br />
„Gehen wir.“<br />
56
„Klar“, sagte Shrimp. „Laßt uns <strong>die</strong>se schmutzigen<br />
Kreaturen verfolgen. Sie können nicht einfach –“ Plötzlich<br />
hielt er inne, verblüfft von der seltsamen Reaktion, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />
Entführung des verhaßten „Weibsbilds“ hervorgerufen hatte.<br />
Es hatte zu regnen begonnen – in einem plötzlichen<br />
tropischen Guß. „Hat keinen Zweck, jetzt loszuziehen“,<br />
sagte Clayton. „Dieser Regen wird <strong>die</strong> Geruchsspur<br />
auslöschen, <strong>und</strong> den sichtbaren Spuren könnten wir im<br />
Finstern nicht folgen. Sie werden in der Nacht irgendwo<br />
lagern. Eingeborene mögen es nicht, nach dem<br />
Dunkelwerden zu reisen, wegen der großen Katzen. Wir<br />
ziehen sofort los, wenn es mir am Morgen hell genug ist, <strong>die</strong><br />
Spur zu erkennen.“<br />
„Das arme Kind“, sagte Jerry Lucas.<br />
Sobald es hell genug war, um etwas zu sehen, brachen sie<br />
auf, um Corries Entführer aufzuspüren. Die Amerikaner<br />
sahen kein Anzeichen irgendeiner Spur, aber für <strong>die</strong> geübten<br />
Augen des Engländers verlief sie klar <strong>und</strong> deutlich. Er sah,<br />
wo man Corrie nach einem kurzen Stück abgesetzt <strong>und</strong> zu<br />
gehen gezwungen hatte.<br />
Später am Vormittag hielt Clayton an <strong>und</strong> schnupperte.<br />
Eine sanfte Brise wehte aus der Richtung, aus der sie<br />
gekommen waren. „Ihr steigt besser auf <strong>die</strong> Bäume“, sagte<br />
er zu den anderen. „Da kommt ein Tiger auf dem Pfad hinter<br />
uns her. Er ist nicht sehr weit weg.“<br />
57
Kapitel 6<br />
Corries Entführer hatten am Rand einer Bergwiese gelagert,<br />
als <strong>die</strong> Dunkelheit hereinbrach. Sie machten Feuer, um <strong>die</strong><br />
großen Katzen fernzuhalten, <strong>und</strong> kauerten sich in seiner<br />
Nähe aneinander. Einen Mann ließen sie es unterhalten.<br />
Das müde Mädchen schlief einige St<strong>und</strong>en lang. Als sie<br />
erwachte, sah sie, daß das Feuer erloschen war, <strong>und</strong> wußte,<br />
daß der Wächter eingeschlafen war. Sie erkannte, daß sie<br />
nun entkommen könnte. Sie schaute auf den finsteren,<br />
unzugänglichen Wald – nichts als ein festes Stück von<br />
Schwärze. Doch darin lauerte vermutlich der Tod. In der<br />
anderen Richtung, der Richtung, in <strong>die</strong> sie <strong>die</strong>se Männer<br />
brachten, lag etwas Schlimmeres als der Tod.<br />
Leise erhob sie sich. Der Wächter lag ausgestreckt neben<br />
der Asche des erloschenen Feuers. Sie umging ihn <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />
anderen. Einen Augenblick später betrat sie den Wald.<br />
Obwohl der Pfad tief ausgetreten war, war es schwierig, ihm<br />
im Finstern zu folgen, <strong>und</strong> sie kam langsam voran <strong>und</strong><br />
stolperte häufig. Doch sie ging weiter, damit sie vor<br />
Tageslicht möglichst viel Abstand zwischen sich <strong>und</strong> ihre<br />
Häscher brachte.<br />
Sie fürchtete sich. Der Wald war voller Geräusche –<br />
schleichender, quälender Geräusche. Und einige davon<br />
mochten <strong>die</strong> Tritte oder Flügelschläge des Todes sein.<br />
Dennoch tastete sie sich auf ihrem Weg weiter, tiefer <strong>und</strong><br />
tiefer in <strong>die</strong> <strong>und</strong>urchdringliche Düsternis, bis sie ein Geräusch<br />
vernahm, das ihr das Blut gefrieren ließ – das Keuchen eines<br />
Tigers. Und dann hörte sie ein Krachen durch das Unterholz,<br />
als ob er ihre Witterung aufgefangen oder sie gehört hätte.<br />
Sie griff mit ausgestreckten Händen vom Pfad seitwärts.<br />
Sie betete, daß sie einen Baum finden möge, den sie<br />
58
erklettern konnte. Eine herabhängende Ranke schlug ihr ins<br />
Gesicht, als sie dagegen rannte. Sie packte sie <strong>und</strong> begann<br />
zu klettern. Das Krachen des Körpers der Bestie durch das<br />
verfilzte Gestrüpp erklang näher. Corrie kämpfte sich<br />
empor. Von unten kam wiederholt abscheuliches Gebrüll,<br />
als der Tiger sprang. Der Aufprall seines Körpers riß ihr fast<br />
<strong>die</strong> Ranke aus den Händen, aber Schrecken <strong>und</strong><br />
Verzweiflung verliehen ihr Kraft. Einmal noch schwang <strong>die</strong><br />
Ranke wild, als <strong>die</strong> Bestie abermals sprang, aber nun wußte<br />
das Mädchen, daß sie sie nicht erreichen konnte, wenn <strong>die</strong><br />
Ranke hielt. Da lag <strong>die</strong> Gefahr. Noch zwei Mal sprang der<br />
Tiger, aber schließlich erreichte Corrie <strong>die</strong> unteren Äste –<br />
eine belaubte Zuflucht, wenigstens vor den großen Katzen.<br />
Einige Zeit lang blieb der Fleischfresser unter dem Baum,<br />
gelegentlich knurrend. Endlich hörte ihn das Mädchen<br />
abziehen. Sie überlegte, ob sie hinuntersteigen <strong>und</strong> ihre<br />
Flucht fortsetzen sollte. Sie war überzeugt, daß Clayton<br />
schließlich nach ihr suchen würde, aber vor dem Tageslicht<br />
konnte er nichts tun. Sie dachte an Jerry Lucas. Auch wenn<br />
er sie nicht mochte, würde er auf der Suche nach ihr<br />
wahrscheinlich helfen – nicht, weil sie Corrie van der Meer<br />
war, sondern weil sie eine Frau war.<br />
Sie beschloß, das Tageslicht abzuwarten. Manchmal jagte<br />
der Gestreifte am Tag, aber meistens des Nachts. Und das<br />
war, was <strong>die</strong> Malaien Tigerwetter nannten – eine dunkle,<br />
sternenlose, dunstige Nacht.<br />
Bald endete <strong>die</strong> lange Nacht, <strong>und</strong> Corrie kletterte hinab<br />
auf den Pfad, um ihre unterbrochene Flucht fortzusetzen. Sie<br />
zog jetzt eilig weiter.<br />
Auf den Ästen eines Baumes, <strong>die</strong> über den Pfad hingen,<br />
warteten <strong>die</strong> Überlebenden der Lovely Lady darauf, daß der<br />
Tiger vorüberlief, damit sie wieder hinabsteigen konnten.<br />
Sie hatten nicht <strong>die</strong> Absicht, ihm in <strong>die</strong> Quere zu kommen.<br />
So oft schon waren sie Clayton auf <strong>die</strong> Bäume gefolgt, daß<br />
59
Shrimp sagte, er erwartete, daß ihm bald ein Schwanz<br />
wachsen würde. „Das ist alles, was dir noch fehlt“,<br />
versicherte Bubonovitch ihm.<br />
Die gewöhnlichen Laute eines Urwalds bei Tag umgaben<br />
sie. Daran waren sie nun schon so gewöhnt – <strong>die</strong> heiseren<br />
Vogelrufe, das schreckliche Dröhnen der Siamang-Gibbons,<br />
das Geschnatter der kleineren Affen – aber kein Tigerlaut.<br />
Shrimp entschied, es sei ein Fehlalarm gewesen.<br />
Unter ihnen war der Pfad nicht weiter als h<strong>und</strong>ert Fuß zu<br />
sehen, etwa je fünfzig in jeder Richtung zwischen zwei<br />
Biegungen. Plötzlich tauchte der Tiger auf, sich gelenkig,<br />
schmiegsam <strong>und</strong> auf weichen Pfoten voranschleichend.<br />
Zugleich kam an der jenseitigen Biegung eine schlanke<br />
Gestalt in Sicht. Es war Corrie. Der Tiger <strong>und</strong> das Mädchen<br />
hielten beide an, einander weniger als h<strong>und</strong>ert Schritt weit<br />
gegenüber. Der Tiger gab ein tiefes Grollen von sich <strong>und</strong><br />
begann vorwärts zu trotten. Corrie wirkte vor Schreck<br />
gelähmt. Im ersten Moment bewegte sie sich nicht. Und in<br />
demselben Moment sah sie einen fast nackten Mann dem<br />
Fleischfresser von oben herab auf den Rücken springen.<br />
Unverzüglich sprangen ihm drei andre Männer nach, auf den<br />
Pfad herab. Sie rissen Messer aus ihren Scheiden, als sie<br />
dem Mann nachrannten, der mit der großen Katze kämpfte.<br />
Und der Erste unter ihnen war Sergeant Rosetti, der<br />
Frauenfeind.<br />
Ein stählerner Arm umfing den Hals des Tigers, mächtig<br />
muskulöse Beine umklammerten seine Lenden, <strong>und</strong> der freie<br />
Arm des Mannes stieß der Bestie eine scharfe Klinge in <strong>die</strong><br />
linke Seite. Rasendes Gebrüll entrang sich der wilden Kehle<br />
der großen Katze, während sie sich in ohnmächtiger Wut hin<br />
<strong>und</strong> her warf. Und zu Corries Schrecken vermischte sich<br />
damit ebenso wildes Gebrüll, das aus der Kehle des Mannes<br />
drang. Ungläubig beobachteten <strong>die</strong> drei Amerikaner den<br />
kurzen Kampf zwischen den Beiden – zwei<br />
60
Dschungelbestien – wegen der wilden Sprünge <strong>und</strong><br />
Drehungen des verw<strong>und</strong>eten Tigers nicht in der Lage, dem<br />
Mann beizuspringen.<br />
Aber was ihnen so lange vorkam, war nur eine Sache von<br />
Sek<strong>und</strong>en. Die große Gestalt des Tigers erschlaffte <strong>und</strong> sank<br />
zu Boden. Und der Mann erhob sich, setzte einen Fuß auf<br />
ihn <strong>und</strong> gab mit zum Himmel erhobenem Gesicht einen<br />
fürchterlichen Schrei von sich – den Siegesschrei des<br />
Affenbullen. Corrie fürchtete sich plötzlich vor <strong>die</strong>sem<br />
Mann, der immer so zivilisiert <strong>und</strong> kultiviert gewirkt hatte.<br />
Sogar <strong>die</strong> Männer waren erschrocken.<br />
Plötzliche Erkenntnis erleuchtete Jerry Lucas’ Augen.<br />
„John Clayton“, sagte er, „Lord Greystoke – <strong>Tarzan</strong> von den<br />
Affen!“<br />
<strong>Tarzan</strong> schüttelte sein Haupt, als wollte er seinen<br />
Verstand von einer Besessenheit klären. Der dünne Schleier<br />
der Zivilisation war in der Hitze des Kampfes von ihm<br />
abgefallen. Vorübergehend hatte er sich in <strong>die</strong> wilde,<br />
vorzeitliche Bestie zurückverwandelt, als <strong>die</strong> er aufgezogen<br />
worden war. Aber beinah sofort wurde er wieder zu seinem<br />
zweiten Ich. Er begrüßte Corrie mit einem Lächeln. „Sie<br />
sind ihnen also entkommen“, sagte er.<br />
Corrie nickte. Sie zitterte, immer noch erschüttert <strong>und</strong><br />
knapp vor einem Tränenausbruch, Tränen der Erleichterung<br />
<strong>und</strong> Dankbarkeit. „Ja, in der Nacht bin ich ihnen<br />
entkommen. Aber wenn Sie nicht gewesen wären, hätte es<br />
mir nicht viel genützt, oder?“<br />
„Wir hatten Glück, daß wir zur rechten Zeit am rechten<br />
Ort waren. Setzen Sie sich lieber ein wenig hin. Sie wirken<br />
erschöpft.“<br />
„Das bin ich.“ Sie setzte sich an den Wegrand, <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />
vier Männer versammelten sich um sie herum. Jerry Lucas<br />
strahlte vor Freude <strong>und</strong> Erleichterung. Sogar Shrimp war<br />
glücklich über alles.<br />
61
„Ich bin froh, daß Sie wieder da sind, Miß, bestimmt“,<br />
sagte er. Als ihm dann klar wurde, was er gesagt hatte,<br />
wurde er rot. Shrimps Seelenleben hatte in der letzten Zeit<br />
heftige Schläge erlitten. Eine Reihe von lebenslangen<br />
Ängsten waren ihm ausgetrieben worden. Er war gezwungen<br />
worden, einen Engländer zu bew<strong>und</strong>ern <strong>und</strong> ein Weibsbild<br />
zu mögen. Corrie berichtete ihnen von ihrer Gefangennahme<br />
<strong>und</strong> Flucht, <strong>und</strong> sie <strong>und</strong> <strong>die</strong> Amerikaner besprachen, wie der<br />
Tiger getötet worden war. „Hatten Sie keine Angst?“, fragte<br />
sie <strong>Tarzan</strong>.<br />
<strong>Tarzan</strong>, der sich nie in seinem Leben gefürchtet hatte, nur<br />
vorsichtig gewesen war, kam bei der Beantwortung einer<br />
solchen Frage, <strong>die</strong> ihm oft gestellt wurde, in Verlegenheit.<br />
Er wußte einfach nicht, was Angst war.<br />
„Ich wußte, daß ich <strong>die</strong> Bestie töten kann“, sagte er.<br />
„Ich dachte, Sie sind übergeschnappt, als ich Sie auf sie<br />
hinabspringen sah“, sagte Bubonovitch. „Ich war wirklich<br />
erschrocken.“<br />
„Dennoch seid ihr mir gefolgt, um mir zu helfen, ihr alle.<br />
Wenn ihr geglaubt habt, ihr hättet dabei getötet werden<br />
können, war das wirklich mutig.“<br />
„Warum haben Sie uns nicht gesagt, daß Sie <strong>Tarzan</strong><br />
sind?“, fragte Jerry.<br />
„Was für einen Unterschied hätte das gemacht?“<br />
„Wir waren echt blöd, daß wir Sie nicht schon lang<br />
vorher erkannt haben“, sagte Bubonovitch.<br />
Corrie sagte, sie könnte weitergehen. Die Männer<br />
sammelten <strong>die</strong> Bogen ein, <strong>die</strong> sie beiseite geworfen hatten,<br />
als sie auf den Boden herab gesprungen waren, <strong>und</strong> sie<br />
machten sich auf den Weg zurück zu ihrem Lager.<br />
„Komisch, keiner von uns dachte daran, ihn mit den<br />
Pfeilen zu erschießen“, sagte Shrimp.<br />
„Die hätten ihn nur noch zorniger gemacht“, sagte<br />
<strong>Tarzan</strong>. „Natürlich, wenn man ihm einen durchs Herz<br />
62
schießt, würde das einen Tiger töten, aber er würde lang<br />
genug leben, daß er eine schreckliche Menge Unheil<br />
anrichtet.“<br />
„Von einem Löwen oder Tiger zerfleischt zu werden,<br />
muß eine schreckliche Art zu sterben sein“, sagte Corrie<br />
schaudernd.<br />
„Im Gegenteil, es scheint eher eine rasche Art zu sein –<br />
wenn man sterben muß“, sagte <strong>Tarzan</strong>. „Eine Anzahl von<br />
Männern, <strong>die</strong> von Löwen angefallen wurden <strong>und</strong> überlebt<br />
haben, berichteten über ihre Eindrücke. Sie erklärten<br />
einhellig, daß sie weder Schmerz noch Furcht verspürt<br />
hatten.“<br />
„Sollen sie nur“, sagte Shrimp. „Ich würd’ mich lieber an<br />
eine Maschinenpistole halten.“<br />
<strong>Tarzan</strong> hielt sich auf dem Rückweg zum Lager ans Ende<br />
der kleinen Gruppe, damit Usha, der Wind, seiner Nase<br />
rechtzeitig <strong>die</strong> Warnung vor den Eingeborenen zutrug, falls<br />
sie Corrie verfolgten. Shrimp ging neben ihm <strong>und</strong> beäugte<br />
jede seiner Bewegungen voll Bew<strong>und</strong>erung. Wer hätte<br />
gedacht, sagte er sich, daß ich je mit <strong>Tarzan</strong> von den Affen<br />
im Dschungel herumrenne. Jerry <strong>und</strong> Corrie führten<br />
unterwegs. Er ging unmittelbar hinter einer ihrer Schultern.<br />
Aus <strong>die</strong>ser Position konnte er ihr Profil betrachten. Er fand,<br />
es war ein sehr nettes Profil zum Anschauen.<br />
„Sie müssen sehr müde sein“, sagte er. Er bedachte, daß<br />
sie <strong>die</strong>sen Weg den ganzen gestrigen Tag <strong>und</strong> den heutigen<br />
gegangen war, so gut wie ohne Schlaf dazwischen.<br />
„Ein wenig“, erwiderte sie. „Aber ich bin das Laufen<br />
gewohnt. Ich bin recht zäh.“<br />
„Wir erschraken, als wir bemerkten, daß Sie weg waren,<br />
<strong>und</strong> <strong>Tarzan</strong> entdeckte, daß Sie entführt worden waren.“<br />
Sie warf ihm einen schnellen, fragenden Blick zu. „Sie –<br />
ein Frauenfeind!“, warf sie ihm vor.<br />
„Wer sagt, ich sei ein Frauenfeind?“<br />
63
„Sie <strong>und</strong> der kleine Sergeant.“<br />
„Ich hab’ Ihnen das nicht gesagt, <strong>und</strong> Shrimp weiß nicht,<br />
was das ist.“<br />
„Ich habe nicht den Ausdruck gemeint. Ich meinte, daß<br />
Sie beide Frauenfeinde sind. Keiner sagte es. Es war ganz<br />
offensichtlich.“<br />
„Vielleicht hielt ich mich für einen“, sagte er. Dann<br />
erzählte er ihr von dem Mädchen, das ihm den Laufpaß<br />
gegeben hatte.<br />
„Und Sie lieben sie so sehr?“<br />
„Tu ich nicht. Ich glaube, es war mein verletzter Stolz.<br />
Jetzt weiß ich’s besser.“<br />
„Sie meinen, es ist besser, vor der Heirat herauszufinden,<br />
daß sie flatterhaft ist, als nachher?“<br />
„Belassen wir’s dabei – vorläufig. Ich weiß nur, ich<br />
möchte nicht, daß sie jetzt noch in mich verliebt wäre.“<br />
Corrie dachte darüber nach. Was für Schlüsse sie daraus<br />
auch zog, sie behielt sie für sich. Als sie ein paar Minuten<br />
später das Lager erreichten, summte sie ein fröhliches<br />
kleines Liedchen. Nachdem sie in <strong>die</strong> Höhle gegangen war,<br />
sagte Bubonovitch zu Jerry: „Wie geht es dem Frauenfeind<br />
an <strong>die</strong>sem Nachmittag?“<br />
„Halt <strong>die</strong> Klappe“, sagte Jerry.<br />
<strong>Tarzan</strong> hatte auf seine Fragen über <strong>die</strong> Entführer von<br />
Corrie erfahren, daß sie zu zehnt waren <strong>und</strong> mit Kris <strong>und</strong><br />
Parang bewaffnet. Sie hatten keine Feuerwaffen. Die<br />
Japaner hatten alle derartigen Waffen, <strong>die</strong> sie finden<br />
konnten, konfisziert.<br />
Die Fünf versammelten sich am Höhleneingang <strong>und</strong><br />
besprachen Zukunftspläne, einschließlich der Taktiken für<br />
den Fall, daß <strong>die</strong> Stammesleute zurückkehrten. Wer wollte,<br />
hatte in solchen Diskussionen gleich viel mitzureden. Aber<br />
seit sie das Flugzeug verlassen hatten, wo Jerry <strong>die</strong> Autorität<br />
des Vorgesetzten besessen hatte, gab es eine<br />
64
stillschweigende Übereinkunft, <strong>Tarzan</strong> als Anführer zu<br />
akzeptieren. Jerry anerkannte <strong>die</strong> Zweck<strong>die</strong>nlichkeit. In<br />
seinen Gedanken war nie <strong>die</strong> Frage aufgetaucht, ebenso<br />
wenig wie in denen der anderen, ob der Engländer in seinen<br />
Kenntnissen <strong>und</strong> Erfahrungen über den Dschungel besser<br />
ausgestattet war, oder in den Fähigkeiten seiner<br />
Sinneswahrnehmungen <strong>und</strong> körperlichen Tapferkeit. Er<br />
führte sie sicherer an <strong>und</strong> beschützte sie besser als sonst<br />
einer. Sogar Shrimp mußte das anerkennen, wenn ihm das<br />
anfangs auch schwer fiel.<br />
Nun wäre er einer der eifrigsten Unterstützer des Briten<br />
gewesen, hätte es Andersmeinende gegeben.<br />
„Corrie erzählte mir“, sagte <strong>Tarzan</strong>, „daß eine Gruppe<br />
von zehn Männern sie entführt hat. Die meisten von ihnen,<br />
sagt sie, sind mit einem langen, geraden Kris bewaffnet,<br />
nicht von der Art mit der gewellten Klinge, <strong>die</strong> <strong>die</strong> meisten<br />
von uns kennen. Sie alle tragen Parangs, schwere Messer,<br />
<strong>die</strong> eher als Werkzeug denn als Waffe gedacht sind.<br />
Feuerwaffen haben sie keine.<br />
Falls sie kommen, werden wir sie anhalten müssen, ehe<br />
sie uns zu nahe kommen. Corrie wird als Dolmetsch helfen.<br />
Da sie uns im Verhältnis zwei zu eins überlegen sind, sollten<br />
wir uns ohne Schwierigkeiten halten können. Wir sind vier<br />
Bogenschützen –“<br />
„Fünf,“ verbesserte ihn Corrie.<br />
<strong>Tarzan</strong> lächelte. „Wir sind fünf Bogenschützen, <strong>und</strong> alle<br />
treffsicher. Wir werden versuchen sie zu bewegen, lieber<br />
wegzugehen <strong>und</strong> uns in Ruhe zu lassen. Wir werden nicht<br />
schießen, bevor es unbedingt nötig ist.“<br />
„Blödsinn“, sagte Shrimp. „Wir sollten es ihnen zeigen<br />
dafür, daß sie <strong>die</strong> Kleine gestohlen haben.“ Corrie schenkte<br />
ihm einen überraschten, ungläubigen Blick. Jerry <strong>und</strong><br />
Bubonovitch grinsten. Shrimp wurde rot.<br />
„Noch ein Frauenfeind weniger“, flüsterte Bubonovitch<br />
65
Jerry zu. „Ich weiß, was Sie empfinden, Rosetti“, sagte<br />
<strong>Tarzan</strong>. „Ich glaube, wir fühlen alle gleich. Aber vor Jahren<br />
habe ich gelernt, nur wegen Nahrung <strong>und</strong> Verteidigung zu<br />
töten. Ich habe das von denen gelernt, <strong>die</strong> ihr Bestien nennt.<br />
Wer aus anderen Gründen tötet, etwa aus Vergnügen oder<br />
Rache, setzt sich herab, macht sich zum Wilden. Ich werde<br />
euch sagen, wann ihr schießt.“<br />
„Vielleicht werden sie gar nicht kommen“, sagte Corrie.<br />
<strong>Tarzan</strong> schüttelte den Kopf. „Sie werden kommen. Sie<br />
sind schon fast hier.“<br />
66
Kapitel 7<br />
Als Iskandar erwachte, schien ihm <strong>die</strong> Sonne voll ins<br />
Gesicht. Er erhob sich auf einem Ellbogen. Seine Augen<br />
erfaßten <strong>die</strong> Szene vor ihm. Seine neun Genossen schliefen.<br />
Der Wächter schlief neben dem erloschenen Feuer. Die<br />
Gefangene war nicht da. Sein häßliches Gesicht verzog sich<br />
im Zorn. Iskandar packte seinen Kris <strong>und</strong> sprang auf <strong>die</strong><br />
Beine. Die Schreie des Wächters weckten <strong>die</strong> anderen<br />
Schläfer. „Schwein!“, brüllte Iskandar <strong>und</strong> hackte auf Kopf<br />
<strong>und</strong> Leib seines Opfers los, während der Mann auf Händen<br />
<strong>und</strong> Füßen von ihm weg zu kriechen versuchte. „Die Tiger<br />
hätten kommen <strong>und</strong> uns alle töten können. Und deinetwegen<br />
ist <strong>die</strong> Frau entkommen.“<br />
Ein letzter Hieb gegen <strong>die</strong> Schädelbasis, der <strong>die</strong><br />
Wirbelsäule abtrennte, beendete <strong>die</strong> Folter. Iskandar wischte<br />
seinen blutigen Kris an der Kleidung des Toten ab <strong>und</strong><br />
wandte sein finsteres Gesicht seinen Männern zu.<br />
„Kommt!“, befahl er. „Sie kann nicht weit sein. Beeilt<br />
euch!“<br />
Bald fanden sie Corries Fußabdrücke auf dem Pfad <strong>und</strong><br />
eilten zur Verfolgung. Auf halbem Weg zur Höhle, wo sie<br />
sie gefangen hatten, stießen sie auf den Körper eines Tigers.<br />
Iskandar untersuchte ihn sorgfältig. Er sah <strong>die</strong><br />
Messerw<strong>und</strong>en hinter seiner linken Schulter. Er sah viele<br />
Fußabdrücke auf dem schlammigen Pfad. Da waren jene des<br />
Mädchens <strong>und</strong> andere, von gleichen rohen Sandalen<br />
hinterlassene, <strong>die</strong> sie trug, aber größer – <strong>die</strong> Fußspuren von<br />
Männern. Iskandar war verunsichert. Da schien es<br />
ausreichende Beweise zu geben, daß jemand den Tiger<br />
erstochen hatte. Aber das war unmöglich. Niemand hätte in<br />
<strong>die</strong> Reichweite <strong>die</strong>ser schrecklichen Klauen <strong>und</strong> Zähne<br />
67
kommen können <strong>und</strong> am Leben bleiben. Sie zogen weiter,<br />
<strong>und</strong> am Nachmittag kamen sie in Sichtweite der Höhle.<br />
„Da kommen sie“, sagte Jerry Lucas.<br />
„Dort sind nur vier Männer“, sagte Iskandar. „Tötet <strong>die</strong><br />
Männer, aber tut der Frau nichts.“ Die neun<br />
Stammesangehörigen rückten zuversichtlich mit gezücktem<br />
Kris vor.<br />
<strong>Tarzan</strong> erlaubte ihnen, bis auf h<strong>und</strong>ert Fuß<br />
heranzukommen. Dann ließ er ihnen von Corrie zurufen:<br />
„Halt! Kommt nicht weiter heran!“<br />
Jeder der Fünf hatte einen Pfeil auf seinen Bogen gelegt.<br />
Mit der linken Hand hielten sie weitere Pfeile. Iskandar<br />
lachte <strong>und</strong> gab den Befehl zum Angriff. „Gebt es ihnen“,<br />
sagte <strong>Tarzan</strong> <strong>und</strong> schickte einen Pfeil durch Iskandars Bein.<br />
Der stürzte. Vier der anderen wurden von der ersten<br />
Pfeilsalve getroffen. Zwei von den übrigen hielten an, doch<br />
zwei kamen herbei, brüllend wie Dämonen. <strong>Tarzan</strong> schoß<br />
einem jeden von ihnen einen Pfeil durchs Herz. Sie waren zu<br />
nahe, um so wie Iskandar verschont zu werden. So nahe, daß<br />
der eine im Sturz fast <strong>Tarzan</strong>s Füße berührte.<br />
Er drehte sich zu Corrie um. „Sagen Sie ihnen, wenn sie<br />
ihre Waffen wegwerfen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Hände erheben, werden wir<br />
sie nicht töten.“<br />
Nachdem das Mädchen <strong>die</strong> Anweisungen übersetzt hatte,<br />
murrten <strong>die</strong> Eingeborenen trotzig; weder warfen sie ihre<br />
Waffen weg, noch hoben sie <strong>die</strong> Hände. „Legt Pfeile auf<br />
eure Bögen – wir nähern uns langsam“, befahl <strong>Tarzan</strong>. „Bei<br />
der ersten Drohbewegung schießt, um zu töten.“<br />
„Sie warten hier, Corrie“, sagte Jerry. „Es kann zu einem<br />
Kampf kommen.“<br />
Sie lächelte ihm zu, doch ignorierte sie seine<br />
Anweisungen; also blieb er vor ihr, als sie vorwärts gingen.<br />
Es war ein langer Pfeil, den <strong>Tarzan</strong> auf seinen Bogen gelegt<br />
hatte, einen schweren Bogen, den nur <strong>Tarzan</strong> spannen<br />
68
konnte. Er zielte mit dem Pfeil auf Iskandars Herz <strong>und</strong><br />
flüsterte mit Corrie.<br />
„Er wird bis zehn zählen“, erklärte das Mädchen dem<br />
Eingeborenen. „Wenn ihr nicht alle eure Waffen<br />
weggeworfen <strong>und</strong> eure Hände erhoben habt, bevor er das<br />
Zählen beendet, wird er dich töten. Dann wird er <strong>die</strong> anderen<br />
töten.“<br />
<strong>Tarzan</strong> begann zu zählen, Corrie übersetzte. Bei Fünf gab<br />
Iskandar auf. Er hatte in <strong>die</strong> grauen Augen des Riesen<br />
geschaut, der über ihm stand, <strong>und</strong> fürchtete sich. Die<br />
anderen folgten dem Beispiel ihres Anführers.<br />
„Rosetti“, sagte <strong>Tarzan</strong>, „sammeln Sie ihre Waffen ein<br />
<strong>und</strong> bringen Sie unsere Pfeile zurück. Wir werden sie in<br />
Schach halten.“ Rosetti sammelte erst <strong>die</strong> Waffen ein; dann<br />
zog er <strong>die</strong> Pfeile aus den Gliedern <strong>und</strong> Leibern der Fünf, <strong>die</strong><br />
getroffen, aber nicht getötet worden waren. Mit den Toten<br />
ging er sanfter um.<br />
„Sagen Sie ihnen, sie sollen ihre Toten nehmen <strong>und</strong> von<br />
hier abziehen, Corrie. Und daß wir sie alle töten werden,<br />
wenn sie uns noch einmal belästigen.“<br />
Corrie übersetzte <strong>und</strong> fügte noch als Pointe aus eigenem<br />
hinzu: „Dieser Mann, der durch mich spricht, ist kein<br />
gewöhnlicher Mann. Nur mit einem Messer bewaffnet,<br />
springt er einem Tiger auf den Rücken <strong>und</strong> tötet ihn. Wenn<br />
ihr klug seid, werdet ihr ihm gehorchen.“<br />
„Nur eine Minute noch, Corrie“, sagte Jerry. „Fragen Sie<br />
sie, ob sie vor Kurzem amerikanische Flieger gesehen<br />
haben, <strong>die</strong> aus einem zerstörten Flugzeug herauskamen; oder<br />
von welchen gehört haben.“<br />
Corrie legte Iskandar <strong>die</strong> Frage vor <strong>und</strong> erhielt eine<br />
mürrische Verneinung. Der Häuptling kam auf <strong>die</strong> Beine<br />
<strong>und</strong> gab seinen Männern Befehle. Von denen war keiner<br />
ernstlich verw<strong>und</strong>et. Sie hoben ihre Toten auf <strong>und</strong> machten<br />
sich auf den Weg, aber Iskandar hielt sie auf. Dann wandte<br />
69
er sich <strong>Tarzan</strong> zu. „Wirst du uns unsere Waffen lassen?“,<br />
fragte er. Corrie übersetzte.<br />
„Nein.“ Dies schien keine Übersetzung zu erfordern oder<br />
eine Diskussion zuzulassen. Der Häuptling schaute noch<br />
einmal in <strong>die</strong> grauen Augen des Riesen, der den Tiger<br />
getötet hatte, den er auf dem Pfad gesehen hatte. Und was er<br />
dort sah, machte ihm Angst. Dies sind nicht <strong>die</strong> Augen eines<br />
Menschen, dachte er. Dies sind <strong>die</strong> Augen eines Tigers.<br />
Einen malaiischen Fluch ausstoßend, befahl er seinen<br />
Männern zu marschieren, <strong>und</strong> folgte ihnen.<br />
„Wir hätten sie alle umbringen sollen“, sagte Shrimp.<br />
„Die werden den ersten Gelbbäuchen, <strong>die</strong> sie sehen,<br />
erzählen wo wir zu finden sind.“<br />
„Wenn wir <strong>die</strong>sem Plan bis zu seinen logischen Schlüssen<br />
folgen würden“, sagte <strong>Tarzan</strong>, „müßten wir jedes<br />
menschliche Wesen töten, dem wir begegnen. Ein jeder<br />
könnte uns den Japanern verraten.“<br />
„Sie halten nicht viel vom Leute-Umbringen.“<br />
Verneinend schüttelte <strong>Tarzan</strong> den Kopf.<br />
„Nicht mal Japaner?“<br />
„Da ist es anders. Wir befinden uns im Krieg mit ihnen.<br />
Nicht aus Haß noch aus Rache – <strong>und</strong> ohne besonderes<br />
Vergnügen werde ich jeden Japaner töten, den ich kann, bis<br />
der Krieg vorbei ist. Das ist meine Pflicht.“<br />
„Sie hassen sie nicht mal?“<br />
„Was nützte es, wenn ich es täte? Wenn all <strong>die</strong> Millionen<br />
Menschen der Alliierten Länder ein ganzes Jahr<br />
ausschließlich dem Japaner-Haß widmen würden, würde das<br />
nicht einen Japaner töten noch den Krieg um einen Tag<br />
verkürzen.“<br />
Bubonovitch lachte. „Und es würde ihnen allen<br />
Magengeschwüre verursachen.“<br />
<strong>Tarzan</strong> lächelte. „Ich kann mich nur an ein einziges Mal<br />
in meinem Leben erinnern, da ich Haß verspürte, oder<br />
70
einmal nur aus Rache getötet habe – Kulonga, den Sohn von<br />
Mbonga. Er tötete Kala, meine Pflegemutter. Ich war damals<br />
nicht bloß sehr jung, sondern Kala war auch das einzige<br />
Wesen auf der Welt, das mich liebte oder das ich liebte. Und<br />
damals hielt ich sie für meine eigene Mutter. Diese Tat habe<br />
ich nie bereut.“<br />
Während sie sprachen, kochte Corrie ihr Mahl. Jerry half<br />
ihr. Sie brieten Fasane <strong>und</strong> Hirsch über einem Feuer gleich<br />
drinnen vor dem Höhleneingang. Bubonovitch untersuchte<br />
<strong>die</strong> Waffen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Eingeborenen dagelassen hatten. Er<br />
wählte für sich einen Kris aus. Jerry <strong>und</strong> Shrimp folgten<br />
seinem Beispiel, <strong>und</strong> Jerry brachte Corrie einen Parang.<br />
„Warum haben Sie den Banditen gefragt, ob er von<br />
amerikanischen Fliegern vernommen hätte, <strong>die</strong> kürzlich<br />
abgesprungen waren?“, fragte Corrie Lucas.<br />
„Zwei von meiner Mannschaft, von denen ich weiß, daß<br />
sie abgesprungen sind, werden vermißt – Douglas, mein<br />
Funker, <strong>und</strong> Davis, mein Mittschiffsschütze. Wir haben sie<br />
gesucht, aber keine Spur von ihnen gef<strong>und</strong>en. Gef<strong>und</strong>en<br />
haben wir <strong>die</strong> Leiche Lieutenant Burnhams, dessen<br />
Fallschirm nicht aufgegangen war. Daraus schlossen wir,<br />
hätte sich der Fallschirm eines der anderen auch nicht<br />
geöffnet, dann hätten wir <strong>die</strong> Leiche in der Nähe finden<br />
müssen. Wir alle sind innerhalb von wenigen Sek<strong>und</strong>en<br />
abgesprungen.“<br />
„Wie viele wart ihr?“<br />
„Elf – neun von der Mannschaft, Captain Clayton <strong>und</strong> ein<br />
Fotograf. Mein Bombenschütze wurde zurückgelassen, weil<br />
er krank war. Wir führten auch keine Bomben mit. Es war<br />
nur eine Foto- <strong>und</strong> Erk<strong>und</strong>ungsmission.“<br />
„Sehen wir mal“, sagte Corrie. „Vier von euch sind da,<br />
Lieutenant Burnham macht fünf, <strong>und</strong> <strong>die</strong> zwei Vermißten<br />
machen sieben. Was wurde aus den anderen Vieren?“<br />
„Im Kampf getötet.“<br />
71
„Arme Burschen“, sagte Corrie.<br />
„Nicht <strong>die</strong> Toten sind es, <strong>die</strong> leiden“, sagte Jerry. „Es sind<br />
<strong>die</strong>, <strong>die</strong> zurückbleiben – ihre Kumpel <strong>und</strong> ihre Leute zu<br />
Hause. Vielleicht sind sie besser dran. Schließlich ist <strong>die</strong><br />
Welt höllisch“, fügte er bitter hinzu, „<strong>und</strong> <strong>die</strong>, <strong>die</strong> ihr<br />
entkommen, sind <strong>die</strong> Glücklichen.“<br />
Sie legte ihre Hand auf seine. „So dürfen Sie das nicht<br />
empfinden. Auf Sie mag noch eine Menge Glück auf <strong>die</strong>ser<br />
Welt warten – auf uns alle.“<br />
„Sie waren meine Fre<strong>und</strong>e“, sagte er, „<strong>und</strong> sie waren sehr<br />
jung. Sie haben keine Chance bekommen, etwas aus ihrem<br />
Leben zu machen. Es erscheint mir einfach nicht richtig.<br />
<strong>Tarzan</strong> sagt, es hilft nichts zu hassen, <strong>und</strong> ich weiß, er hat<br />
Recht. Aber hassen tu ich nicht <strong>die</strong> paar armen Typen, <strong>die</strong><br />
auf uns schießen <strong>und</strong> auf <strong>die</strong> wir schießen, sondern jene, <strong>die</strong><br />
für das Entstehen von Kriegen verantwortlich sind.“<br />
„Ich weiß“, sagte sie. „Ich hasse sie auch. Aber ich hasse<br />
alle Japaner. Ich hasse <strong>die</strong> paar armen Typen, <strong>die</strong> auf uns<br />
schießen <strong>und</strong> auf <strong>die</strong> wir schießen. Ich philosophiere nicht<br />
so wie Sie <strong>und</strong> <strong>Tarzan</strong>. Ich will sie hassen. Ich mache mir oft<br />
Vorwürfe, weil ich glaube, ich hasse sie nicht bitter genug.“<br />
Jerry konnte sehen, daß Haß sich in ihren Augen spiegelte,<br />
<strong>und</strong> er dachte, wie schrecklich es war, daß sich solche<br />
Gefühle in der Brust von jemandem entwickelt haben<br />
konnten, der von Natur aus so süß <strong>und</strong> lieb war. Er sagte zu<br />
ihr, was sie zu ihm gesagt hatte: „So dürfen Sie das nicht<br />
empfinden.“<br />
„Sie haben nie zugeschaut, wie Ihre Mutter zu Tode<br />
gehetzt <strong>und</strong> ihr Vater von den Bajonetten <strong>die</strong>ser gelben<br />
Bestien aufgespießt wurde. Hätten Sie’s <strong>und</strong> Sie würden sie<br />
nicht hassen, würden Sie nicht wert sein, sich einen Mann zu<br />
nennen.“<br />
„Ich glaube, Sie haben Recht“, sagte er. Er drückte ihr <strong>die</strong><br />
Hand. „Armes kleines Mädchen.“<br />
72
„Bemitleiden Sie mich nicht“, sagte sie fast ärgerlich.<br />
„Ich hab’ damals nicht geheult. Ich habe seither nicht<br />
geweint. Aber wenn Sie mich bemitleiden, werde ich’s.“<br />
Hatte sie Sie betont? Er vermeinte es – nur ein wenig.<br />
Weshalb, fragte er sich, sollte ihn das leicht erschauern<br />
lassen? Ich muß plemplem sein, dachte er. Nun hatte sich<br />
<strong>die</strong> kleine Gruppe um das Lagerfeuer zum Essen<br />
versammelt. Sie hatten großflächige Blätter als Teller,<br />
gespitzte Bambussplitter als Gabeln, <strong>und</strong> natürlich hatten sie<br />
ihre Messer. Getrunken wurde aus Kürbisschalen.<br />
Außer Fasan <strong>und</strong> Hirsch hatten sie Obst <strong>und</strong> <strong>die</strong> gerösteten<br />
Durian-Kerne. Sie lebten gut in <strong>die</strong>sem Land des Überflusses.<br />
„Denkt an <strong>die</strong> armen H<strong>und</strong>egesichter auf dem Stützpunkt“,<br />
sagte Shrimp, „<strong>die</strong> Dosenfutter essen <strong>und</strong> Müll.“<br />
„Ich tausche sofort meine Stelle mit einem solchen<br />
H<strong>und</strong>egesicht“, sagte Jerry.<br />
„Was ist ein H<strong>und</strong>egesicht?“, fragte Corrie.<br />
„Na, ich glaub’, ursprünglich sollte damit ein Mehlkloß<br />
gemeint sein; aber jetzt heißt das allgemein sowas wie<br />
Rekrut, besonders <strong>die</strong> Gefreiten.“<br />
„Jeder G.I. Joe“, sagte Shrimp.<br />
„Was für eine komische Sprache!“, sagte Corrie. „Und<br />
ich hab’ geglaubt, ich verstünde Englisch. Aber was ist ein<br />
Mehlkloß? Und ein G.I. Joe?“<br />
„Ein Mehlkloß ist ein Infanterist. Ein G.I. Joe ist ein<br />
amerikanischer Soldat – Government Issue, Regierungs-<br />
Ausgabe. Bleiben Sie bei uns, Corrie, <strong>und</strong> wir werden Ihr<br />
Amerikanisch verbessern, <strong>und</strong> Ihr Englisch ruinieren“,<br />
beschloß Jerry das Thema.<br />
„Wenn Sie der Konversation mit Sergeant Rosetti<br />
besondere Aufmerksamkeit schenken, wird Beides ruiniert“,<br />
sagte Bubonovitch.<br />
„Was paßt nicht mit meinem Amerikanisch,<br />
Schlaumeier?“, wollte Shrimp wissen.<br />
73
„Ich glaube, Sergeant Shrimp ist prima“, sagte Corrie.<br />
Rosetti errötete heftig. „Mach einen Bückling, Schnucki“,<br />
sagte Bubonovitch.<br />
Vor dem Essen hatte <strong>Tarzan</strong> zwei große Rindenschwarten<br />
von einem riesigen Waldbaum geschnitten. Die Schwarten<br />
waren gut zolldick, zäh <strong>und</strong> fest. Aus ihnen schnitt er zwei<br />
Scheiben, 25 Zentimeter im Durchmesser, so genau wie er<br />
abschätzen konnte. Etwa in <strong>die</strong> Mitte des Umfangs jeder<br />
<strong>die</strong>ser Scheiben schnitt er sechs tiefe Kerben <strong>und</strong> ließ<br />
zwischen ihnen fünf Vorsprünge. Jerry <strong>und</strong> <strong>die</strong> anderen, <strong>die</strong><br />
um das Feuer saßen, sahen ihm zu. „Was zum Kuckuck<br />
sollen <strong>die</strong> nun wieder?“, fragte der Pilot. „Die schauen aus<br />
wie r<strong>und</strong>e, flache Füße mit fünf Zehen.“<br />
„Danke“, sagte <strong>Tarzan</strong>. „Ich hab’ nicht gewußt, daß ich<br />
ein so guter Bildhauer bin. Die sollen <strong>die</strong> Feinde täuschen.<br />
Ich zweifle nicht, daß <strong>die</strong>ser alte Gauner mit Japanern<br />
zurückkehren wird, so schnell er kann. Diese Eingeborenen<br />
müssen nun mal gute Fährtenleser sein, <strong>und</strong> sie müssen sehr<br />
vertraut mit unseren Fußspuren sein, denn sie haben sie bis<br />
hierher verfolgt. Die Spuren unserer selbstgefertigten<br />
Sandalen werden selbst für den dümmsten Fährtensucher<br />
erkennbar sein, daher müssen wir sie auslöschen.<br />
Zunächst werden wir in einer anderen Richtung in den<br />
Wald gehen als jener, <strong>die</strong> wir einschlagen wollen, <strong>und</strong> wir<br />
werden Spuren hinterlassen, <strong>die</strong> man sofort unserer<br />
Gruppe zuschreibt. Dann werden wir durchs Gestrüpp, wo<br />
wir ohne Hinterlassen von Fußabdrücken laufen können,<br />
zum Lager zurückkehren <strong>und</strong> auf dem Weg losziehen, den<br />
wir vorhaben. Drei von uns werden im Gänsemarsch<br />
gehen, jeder steigt genau in <strong>die</strong> Stapfen des Vordermanns.<br />
Ich werde Corrie tragen. Es würde sie ermüden,<br />
Männerschritte zu machen. Bubonovitch wird den Schluß<br />
übernehmen <strong>und</strong> an jeden Fuß eins von <strong>die</strong>sen Dingern<br />
geschnürt haben. Damit wird er auf jeden Fußabdruck<br />
74
steigen, den wir gemacht haben. Er wird seine Schritte<br />
ganz schön spreizen müssen, um so zu gehen, aber er ist<br />
ein großer Mann mit langen Beinen. Damit wird er <strong>die</strong><br />
Fußabdrücke eines Elefanten machen <strong>und</strong> unsere<br />
auslöschen.“<br />
„Oje!“, machte Rosetti. „Der Fuß eines Elefanten ist nicht<br />
so groß!“<br />
„Bei <strong>die</strong>sen indischen Elefanten bin ich selbst nicht so<br />
sicher“, gab <strong>Tarzan</strong> zu. „Aber der Umfang des Vorderfußes<br />
eines afrikanischen Elefanten ist <strong>die</strong> Hälfte der Schulterhöhe<br />
des Tieres. Somit werden <strong>die</strong> da auf einen Elefanten von<br />
annähernd neun Fuß Größe hinweisen. Unglücklicherweise<br />
wiegt Bubonovitch nicht so viel wie ein Elefant. Daher wird<br />
<strong>die</strong> Fährte nicht so lebensecht sein, wie ich möchte. Aber ich<br />
setzte auf <strong>die</strong> Wahrscheinlichkeit, daß sie der Elefantenspur<br />
nicht viel Aufmerksamkeit schenken werden, wenn sie nach<br />
der unsrigen suchen. Tun sie’s doch, werden sie fürchterlich<br />
überrascht sein, <strong>die</strong> Fährte eines zweibeinigen Elefanten zu<br />
entdecken.<br />
Wären wir in Afrika, würde das Problem durch den<br />
Umstand kompliziert, daß der afrikanische Elefant vorne<br />
fünf Zehen hat <strong>und</strong> hinten drei. Dann hätten wir ein weiteres<br />
Paar von <strong>die</strong>sen Dingern benötigt, <strong>und</strong> Jerry hätte <strong>die</strong><br />
Hinterbeine spielen müssen.“<br />
„Das Südkap des Elefanten aufm Weg nach Norden,<br />
Captain“, sagte Shrimp.<br />
„Ich bin nicht egoistisch“, sagte Jerry. „Soll Bubonovitch<br />
der ganze Elefant sein.“<br />
„Setzt lieber Shrimp an <strong>die</strong> Spitze der Kolonne“, sagte<br />
Bubonovitch, „ich könnte auf ihn drauf steigen.“<br />
„Ich glaube, wir legen uns jetzt besser hin“, sagte <strong>Tarzan</strong>.<br />
„Wie spät haben Sie’s, Jerry?“<br />
„Acht Uhr.“<br />
„Sie haben <strong>die</strong> erste Nachtwache – zweieinhalb St<strong>und</strong>en<br />
75
lang. Das wird grad hinkommen. Shrimp übernimmt <strong>die</strong><br />
letzte – 3:30 bis 6:00. Gute Nacht!“<br />
Am folgenden Morgen brachen sie nach einem kalten<br />
Frühstück zeitig auf. Zuerst legten sie <strong>die</strong> falsche Fährte.<br />
Dann zogen sie in <strong>die</strong> Richtung los, <strong>die</strong> sie zu nehmen<br />
gedachten. Bubonovitch, der den Abschluß machte, stampfte<br />
fest auf <strong>die</strong> Fußabdrücke drauf, <strong>die</strong> jene vor ihm<br />
hinterließen. Nach einer Meile, einem Abstand, den <strong>Tarzan</strong><br />
als ausreichend für <strong>die</strong> Tarnung ihrer Fährte hielt, war er ein<br />
ziemlich müder Elefant. Er setzte sich neben dem Pfad hin<br />
<strong>und</strong> nahm seine beschwerlichen Sohlen ab. „Meine Güte!“,<br />
sagte er. „Mich hat’s wohl bis zum Kinn gespreizt.“ Er warf<br />
<strong>die</strong> Dinger auf den Weg. <strong>Tarzan</strong> hob sie auf <strong>und</strong> warf sie ins<br />
Dickicht. „Das war eine anstrengende Aufgabe, Sergeant;<br />
aber Sie waren der beste Mann dafür.“<br />
„Ich hätte Corrie tragen können.“<br />
„Du – mit Frau <strong>und</strong> Kind!“, neckte ihn Shrimp.<br />
„Ich glaube, der Gruppenführer hat dir gegenüber seinen<br />
Rang hervorgekehrt“, sagte Jerry.<br />
„Oh nein“, sagte <strong>Tarzan</strong>; „es war bloß so, daß ich Corrie<br />
nicht den Wölfen vorwerfen wollte.“<br />
Corrie lachte, ihre Augen leuchteten. Sie mochte <strong>die</strong>se<br />
Amerikaner mit ihrem seltsamen Humor, mit ihrer<br />
unkonventionellen Art. Und der Engländer, obwohl etwas<br />
zurückhaltender, war ihnen ziemlich ähnlich. Jerry hatte ihr<br />
erzählt, daß er ein Viscount war, aber seine Persönlichkeit<br />
beeindruckte sie mehr als sein Titel.<br />
Plötzlich hob <strong>Tarzan</strong> den Kopf <strong>und</strong> prüfte <strong>die</strong> Luft mit<br />
seiner Nase. „Auf <strong>die</strong> Bäume!“, sagte er.<br />
„Kommt etwas?“, fragte Corrie.<br />
„Ja. Ein Verwandter des Sergeants – mit Vorder- <strong>und</strong><br />
Hinterende. Es ist ein einzelner Bulle, <strong>und</strong> manchmal sind<br />
<strong>die</strong> gemein.“<br />
Er half Corrie auf einen überhängenden Ast, während <strong>die</strong><br />
76
anderen sich auf <strong>die</strong> nächsten Bäume verteilten. <strong>Tarzan</strong><br />
lächelte. Sie wurden geübter. Er blieb auf dem Pfad stehen.<br />
„Sie werden doch nicht dort bleiben?“, fragte Jerry.<br />
„Eine Weile. Ich mag Elefanten. Sie sind meine Fre<strong>und</strong>e.<br />
Die meisten von ihnen mögen mich. Ich werde genug Zeit<br />
haben zu merken, ob er angreifen wird.“<br />
„Aber das ist kein afrikanischer Elefant“, beharrte Jerry.<br />
„Der indische Elefant ist nicht so wild wie der<br />
afrikanische, <strong>und</strong> ich will etwas versuchen. Ich habe eine<br />
Theorie. Wenn sie sich als falsch erweist, werde ich mich<br />
auf <strong>die</strong> Bäume schwingen. Er wird mich warnen, denn falls<br />
er angreifen will, wird er seine Ohren heben, seinen Rüssel<br />
hochrollen <strong>und</strong> trompeten. Nun redet bitte nicht <strong>und</strong> macht<br />
keinen Lärm. Er kommt näher.“<br />
Die Vier auf den Bäumen harrten erwartungsvoll. Corrie<br />
ängstigte sich – ängstigte sich um <strong>Tarzan</strong>. Jerry hielt es für<br />
närrisch, daß ein Mann solch ein Risiko einging. Shrimp<br />
wünschte, er hätte eine Maschinenpistole – für alle Fälle.<br />
Plötzlich kam <strong>die</strong> große Gestalt des Tieres in Sicht.<br />
<strong>Tarzan</strong> wirkte dagegen zwergenhaft. Als <strong>die</strong> kleinen Augen<br />
<strong>Tarzan</strong> sahen, hielt das Tier an. Sogleich reckte es seine<br />
Ohren weg <strong>und</strong> rollte den Rüssel hoch. Es wird angreifen,<br />
dachten jene auf den Bäumen.<br />
Corries Lippen bewegten sich in lautlosem Flehen:<br />
„Schnell, <strong>Tarzan</strong>! Schnell!“<br />
Und dann sprach <strong>Tarzan</strong>. Er redete mit dem Elefanten in<br />
der Sprache, <strong>die</strong>, wie er glaubte, den meisten Tieren vertraut<br />
war – der Muttersprache der großen Affen. Wenige konnten<br />
sie sprechen, aber er wußte, viele verstanden sie. „Yo,<br />
Tantor, yo!“, sagte er.<br />
Der Elefant schwankte hin <strong>und</strong> her. Er trompetete nicht.<br />
Langsam senkten sich <strong>die</strong> Ohren, <strong>und</strong> der Rüssel entrollte<br />
sich. „Yud!“, sagte <strong>Tarzan</strong>.<br />
Das große Tier zögerte einen Augenblick <strong>und</strong> näherte sich<br />
77
dann dem Mann. Es hielt vor ihm an, <strong>und</strong> der Rüssel streckte<br />
sich aus <strong>und</strong> bewegte sich über seinen Körper. Corrie<br />
umklammerte den Ast ihres Baumes, um nicht hinunter zu<br />
fallen. Jetzt konnte sie verstehen, wieso manche Frauen in<br />
Augenblicken großer Erregung unwillkürlich aufschreien<br />
oder ohnmächtig werden.<br />
<strong>Tarzan</strong> streichelte kurz den Rüssel <strong>und</strong> flüsterte leise mit<br />
der hoch über ihm aufragenden Masse. „Abu tandnala!“,<br />
sagte er gleich. Langsam kniete sich der Elefant hin. <strong>Tarzan</strong><br />
schlang den Rüssel um seinen Leib <strong>und</strong> sagte: „Nala b’yat!“,<br />
<strong>und</strong> Tantor hob ihn hoch <strong>und</strong> setzte ihn auf seinen Kopf.<br />
„Unk!“, befahl <strong>Tarzan</strong>. Der Elefant lief den Pfad hinab,<br />
vorbei unter den Bäumen, auf denen <strong>die</strong> staunenden Vier<br />
saßen <strong>und</strong> kaum zu atmen wagten. Shrimp war der Erste, der<br />
das lange Schweigen brach. „Jetzt hab’ ich alles geseh’n,<br />
was es gibt, pff! Was für ein Kerl!“<br />
Bald kehrte <strong>Tarzan</strong> zurück, zu Fuß <strong>und</strong> allein. „Wir gehen<br />
lieber weiter“, sagte er, <strong>und</strong> <strong>die</strong> anderen sprangen von den<br />
Bäumen herab.<br />
Jerry war irritiert von dem, was er für ein eitles Zur-<br />
Schau-Stellen von Mut <strong>und</strong> Können hielt. „Was bezweckte<br />
es, so eine Gefahr auf sich zu nehmen?“, fragte er in<br />
scharfem Ton.<br />
„Im Umgang mit wilden Tieren muß man viele Dinge<br />
wissen, wenn man überleben will“, erklärte <strong>Tarzan</strong>. „Dies ist<br />
ein fremdes Land für mich. In meinem Land sind <strong>die</strong><br />
Elefanten meine Fre<strong>und</strong>e. Bei mehr als einer Gelegenheit<br />
haben sie mir das Leben gerettet. Ich wollte das Naturell der<br />
Elefanten hier kennen lernen, <strong>und</strong> ob ich sie mir so zu Willen<br />
machen kann wie zu Hause. Es ist möglich, daß ihr eines<br />
Tages froh sein werdet, daß ich das tat. Wahrscheinlich werde<br />
ich <strong>die</strong>sen Bullen nie wieder sehen; sollten wir einander aber<br />
begegnen, wird er mich kennen <strong>und</strong> ich ihn. Tantor <strong>und</strong> ich<br />
haben ein gutes Gedächtnis für Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Feinde.“<br />
78
„Tut mir Leid, daß ich so gesprochen habe“, sagte Jerry,<br />
„aber uns alle erschreckte es mit anzusehen, daß Sie so eine<br />
Gefahr eingehen.“<br />
„Für mich war es nicht gefährlich“, sagte <strong>Tarzan</strong>; „ihr<br />
aber laßt so etwas bleiben.“<br />
„Was hätt’ er mit einem von uns getan?“, fragte<br />
Bubonovitch.<br />
„Euch aufgespießt wahrscheinlich, sich auf euch gekniet<br />
<strong>und</strong> dann eure Reste in hohem Bogen in den Wald<br />
geschleudert.“<br />
Corrie schauderte. Shrimp schüttelte den Kopf. „Und ich<br />
hab’ <strong>die</strong> im Zirkus mit Erdnüssen gefüttert.“<br />
Bald gelangten sie in einen Wald von außerordentlich<br />
geradstämmigen Bäumen, eingehüllt von gigantischen<br />
Kletterpflanzen, Ranken <strong>und</strong> riesigen Schmarotzerpflanzen,<br />
<strong>die</strong> über ihnen eine dichte Decke bildeten. Das<br />
Dämmerlicht, das Kathedralen-Aussehen, <strong>die</strong> Geräusche<br />
nicht sichtbarer Dinge legten sich allen auf das Gemüt, nur<br />
<strong>Tarzan</strong> nicht. Sie trotteten schweigend weiter <strong>und</strong> sehnten<br />
sich nach Sonnenlicht. Und dann, an einer Wendung des<br />
Pfades, kamen sie plötzlich in seinen vollen Glanz, da der<br />
Wald abrupt am Rand einer Schlucht endete. Unter ihnen lag<br />
ein enges Tal, das über Jahrtausende von einem Flüßchen in<br />
Tuff- <strong>und</strong> Kalksteinformationen eingeschnitten wurde. Es<br />
schoß wild auf seinem Gr<strong>und</strong> dahin. Es war ein liebliches<br />
Tal, grün <strong>und</strong> mit Bäumen besetzt.<br />
<strong>Tarzan</strong> untersuchte seinen Anblick sorgfältig. Es gab kein<br />
Anzeichen menschlichen Lebens; aber einiges Rotwild äste<br />
dort, <strong>und</strong> seine scharfen Augen erfaßten einen schwarzen<br />
Fleck, beinah nicht zu unterscheiden vom dichten Schatten<br />
eines Baumes. Er wies <strong>die</strong> anderen darauf hin. „Hütet euch<br />
vor dem“, warnte er. „Er ist unendlich gefährlicher als<br />
Tantor, zuweilen sogar mehr als der Gestreifte.“<br />
„Was ist es, ein Wasserbüffel?“, fragte Jerry.<br />
79
„Nein. Es ist Buto, das Nashorn. Er sieht sehr schlecht,<br />
aber sein Gehör- <strong>und</strong> Geruchssinn sind äußerst empfindlich.<br />
Er hat eine häßliche <strong>und</strong> nicht einzuschätzende<br />
Charakteranlage. Für gewöhnlich wird es vor euch<br />
weglaufen. Aber man kann es niemals sagen. Ohne jede<br />
Provokation kann er donnernd über euch kommen, so<br />
schnell wie ein gutes Pferd, <strong>und</strong> wenn er euch erwischt, wird<br />
es euch aufspießen <strong>und</strong> hochschleudern.“<br />
„Unsere nicht“, sagte Corrie. „Sie haben unten Hauer,<br />
<strong>und</strong> <strong>die</strong> verwenden sie statt ihrer Hörner.“<br />
„Jetzt erinnere ich mich, das gehört zu haben“, sagte<br />
<strong>Tarzan</strong>, „ich dachte an das afrikanische Nashorn.“<br />
Der Pfad wandte sich plötzlich nach rechts an den Rand<br />
des Steilhangs <strong>und</strong> verlief über dessen Kante, eng <strong>und</strong> in<br />
gefährlich steilem Winkel hinab. Sie alle waren froh, als sie<br />
den Talboden erreichten.<br />
„Bleibt hier“, sagte <strong>Tarzan</strong>, „<strong>und</strong> macht keinen Lärm. Ich<br />
werde versuchen, einen der Hirsche für uns zu bekommen.<br />
Von hier wird Buto euren Geruch nicht erhalten; <strong>und</strong> wenn<br />
ihr keinen Lärm macht, wird er euch nicht hören. Ich werde<br />
ihn links herum umgehen. Das Gebüsch dort wird mich<br />
verbergen, bis ich in Reichweite der Hirsche komme. Falls<br />
ich einen erwische, werde ich direkt zum Fluß hinab gehen,<br />
wo ihn der Pfad kreuzt. Ihr könnt dann hinkommen <strong>und</strong><br />
mich dort treffen. Der Pfad geht in etwa h<strong>und</strong>ert Schritt an<br />
Buto vorbei. Wenn er euch wittert oder vernimmt <strong>und</strong><br />
aufsteht, bewegt euch nicht, außer er läuft auf euch zu; dann<br />
sucht euch einen Baum.“<br />
Gebückt bewegte sich <strong>Tarzan</strong> leise durch <strong>die</strong> hohen<br />
Gräser. Der Wind, der aus der Richtung der Hirsche zum<br />
Rhinozeros wehte, trug zu beiden keinen Geruch der<br />
Eindringlinge hin. Wenn <strong>Tarzan</strong> <strong>die</strong> Hirsche erreichte,<br />
würde er das tun, <strong>und</strong> wenn <strong>die</strong> anderen im Wind querten,<br />
um zum Fluß zu gelangen.<br />
80
<strong>Tarzan</strong> verschwand aus der Sicht der am Fuß der Felsen<br />
Wartenden. Sie fragten sich, wie er Deckung finden konnte,<br />
wenn da keine zu sein schien. Alles schien nach Plan zu<br />
laufen, als es eine abrupte Unterbrechung gab. Sie sahen,<br />
wie ein Hirsch plötzlich den Kopf hob <strong>und</strong> nach hinten<br />
schaute; dann war er mitsamt der Herde, zu der er gehörte,<br />
weg wie der Blitz. Fast genau auf sie zu kamen sie. Sie<br />
sahen, wie <strong>Tarzan</strong> sich aus dem Gras erhob <strong>und</strong> auf einen<br />
jungen Bock zu sprang. Sein Messer blitzte in der Sonne,<br />
<strong>und</strong> beide stürzten <strong>und</strong> verschwanden im Gras. Die vier<br />
Zuschauer waren gefesselt von <strong>die</strong>sem primitiven Drama –<br />
der Urzeitjäger pirscht sich an seine Beute <strong>und</strong> tötet sie. So<br />
muß es vor langen Zeiten gewesen sein.<br />
Schließlich sagte Jerry: „Na, dann gehen wir.“<br />
„Hui!“, rief Shrimp aus. „Schaut!“<br />
Sie schauten. Buto hatte sich erhoben <strong>und</strong> schaute<br />
suchend her, <strong>und</strong> das mit seinen schwachen, kleinen Augen.<br />
Aber er lauschte <strong>und</strong> witterte auch im Wind.<br />
„Nicht bewegen“, flüsterte Jerry.<br />
„Und da gibt’s keine Bäume nicht“, keuchte Shrimp. Er<br />
hatte Recht. In ihrer unmittelbaren Umgebung gab es keine<br />
Bäume.<br />
„Nicht bewegen“, warnte Jerry nochmals. „Wenn es<br />
angreift, dann wird es alles angreifen, was sich bewegt.“<br />
„Da kommt es“, sagte Bubonovitch. Das Nashorn trottete<br />
auf sie zu. Es wirkte eher verwirrt als zornig. Sein<br />
schwacher Gesichtssinn hatte vielleicht etwas Fremdes in<br />
der Landschaft entdeckt. Etwas, das es weder hören noch<br />
riechen konnte. Und <strong>die</strong> Neugier bewog es nachzusehen.<br />
Zugleich bewegten sich <strong>die</strong> drei Männer vorsichtig<br />
zwischen Corrie <strong>und</strong> das langsam sich nähernde Tier. Es war<br />
ein Moment voller Spannung. Falls Buto angriff, würde<br />
jemand verletzt werden, vielleicht getötet. Sie beobachteten<br />
das Tier aus schmalen Augen. Sie sahen, wie sich der kleine<br />
81
Schwanz hob <strong>und</strong> der Kopf senkte, als das Nashorn in Trab<br />
fiel. Es hatte sie gesehen <strong>und</strong> kam geradewegs auf sie zu.<br />
Auf einmal galoppierte es. „Das war’s dann“, sagte Jerry.<br />
Im selben Augenblick sprang Shrimp von ihnen weg <strong>und</strong><br />
rannte quer über den Pfad des angreifenden Tieres. Und das<br />
Nashorn schwenkte herum <strong>und</strong> lief ihm nach. Shrimp rannte,<br />
wie er noch nie zuvor gerannt war; aber er konnte nicht so<br />
schnell laufen wie ein Pferd oder ein Nashorn.<br />
Vor Schreck gelähmt sahen <strong>die</strong> anderen zu.<br />
Schreckenslahm <strong>und</strong> hilflos. Dann sahen sie <strong>Tarzan</strong>. Er<br />
rannte auf Mann <strong>und</strong> Tier zu, <strong>die</strong> genau auf ihn zukamen.<br />
Doch was konnte er tun? Das fragten sich <strong>die</strong> Zuschauer.<br />
Das Biest war jetzt knapp hinter Shrimp, <strong>und</strong> <strong>Tarzan</strong> war<br />
nur ein paar Schritt weit entfernt. Dann stolperte Shrimp <strong>und</strong><br />
stürzte. Corrie hielt sich mit den Händen <strong>die</strong> Augen zu. Jerry<br />
<strong>und</strong> Bubonovitch, wie aus einer vorübergehenden Lähmung<br />
befreit, begannen auf den Schauplatz der unabwendbaren<br />
Tragö<strong>die</strong> loszulaufen. Corrie, gegen ihren Willen<br />
gezwungen, nahm <strong>die</strong> Hände von ihren Augen. Sie sah, wie<br />
das Nashorn den Kopf senkte, als wolle es den vordersten<br />
Mann aufspießen, der jetzt praktisch vor seinen<br />
Vorderbeinen war. Da sprang <strong>Tarzan</strong>, überschlug sich in der<br />
Luft <strong>und</strong> kam rittlings auf den Schultern des Tieres auf. Die<br />
Ablenkung reichte, <strong>die</strong> Aufmerksamkeit des Tieres von<br />
Shrimp zu wenden. Es galoppierte über ihn hinweg <strong>und</strong><br />
bockte, um den Mann von seinem Rücken zu werfen.<br />
<strong>Tarzan</strong> hielt sich auf seinem Sitz lang genug, um sein<br />
Messer durch <strong>die</strong> dicke Haut zu stoßen <strong>und</strong> direkt hinter<br />
dem Kopf <strong>die</strong> Wirbelsäule des Tieres zu durchtrennen.<br />
Gelähmt taumelte es zu Boden. Einen Augenblick später war<br />
es tot.<br />
Bald war <strong>die</strong> ganze Gruppe um <strong>die</strong> Jagdbeute<br />
versammelt. Eine erleichterte <strong>und</strong> vermutlich etwas zittrige<br />
Gruppe. <strong>Tarzan</strong> wandte sich Shrimp zu. „Das war eines der<br />
82
tapfersten Dinge, <strong>die</strong> ich je einen tun sah, Sergeant“, sagte<br />
er.<br />
„Shrimp hat seine Medaillen nicht ohne Gr<strong>und</strong> erhalten,<br />
Captain“, sagte Bubonovitch.<br />
83
Kapitel 8<br />
Nun waren sie gut mit Fleisch versorgt – zu reichlich. Ein<br />
Hirsch <strong>und</strong> ein Nashorn waren wohl mehr als ausreichend<br />
für fünf Personen. <strong>Tarzan</strong> hatte einige der besten Stücke<br />
des jungen Bocks abgeschnitten <strong>und</strong> zerlegte jetzt den<br />
Nashornrücken. Er hatte in einem Loch, das er gegraben,<br />
neben dem Fluß ein Feuer anzünden lassen. Über einem<br />
zweiten Feuer brieten <strong>die</strong> anderen <strong>die</strong> Stücke des<br />
Rotwilds.<br />
„Das werden Sie nicht essen, wie?“, fragte Shrimp,<br />
während er auf den großen Brocken Nashornfleisch zeigte,<br />
an dem noch <strong>die</strong> Haut war.<br />
„In ein paar St<strong>und</strong>en werdet ihr es essen“, sagte <strong>Tarzan</strong>.<br />
„Es wird euch schmecken.“<br />
Als ein Glutbett den Boden des Lochs bedeckte, das er<br />
ausgehoben hatte, legte er den Buckel mit der Haut nach<br />
unten hinein, bedeckte ihn mit Blättern <strong>und</strong> dann mit dem<br />
Aushub. Er nahm ein Stück Wild, zog sich ein wenig von<br />
den anderen zurück, hockte sich auf <strong>die</strong> Schenkel hin <strong>und</strong> riß<br />
mit seinen kräftigen Zähnen rohe Fleischstücke ab. Die<br />
anderen hatten schon seit langem aufgehört, <strong>die</strong>ser<br />
scheinbaren Unart Beachtung zu schenken.<br />
„Was ist dir durch den Sinn gegangen, Shrimp, während<br />
du vor dem Rhinoceros Dicerorhinus sumatrensis auf den<br />
Beinen warst?“, fragte Bubonovitch. „Bestimmt hast du<br />
kaum den Boden berührt. Ich wette, du machtest <strong>die</strong> h<strong>und</strong>ert<br />
Schritt in weniger als acht Sek<strong>und</strong>en.“<br />
„Ich werd’ dir sagen, was ich gedacht hab’. Ich hab’ ein<br />
Ave Maria begonnen, wie ich geseh’n hab’, daß mir da nix<br />
weniger als ein Wirbelsturm auf den Fersen war. Ich hab’<br />
gedacht, wenn ich das eine Ave Maria fertig hab’, bevor es<br />
84
mich einholt, könnt’ ich eine Chance haben. Dann bin ich<br />
gestolpert. Aber <strong>die</strong> Heilige Maria hat mich erhört <strong>und</strong><br />
gerettet.“<br />
„Ich dachte, <strong>Tarzan</strong> war’s“, sagte Bubonovitch.<br />
„Natürlich war’s <strong>Tarzan</strong>; aber wer, zur Hölle, glaubst du,<br />
hat ihn da rechtzeitig hingebracht, du Depp?“<br />
„Es gibt keine Atheisten am Vorderende eines<br />
Rhinozeros“, sagte Jerry.<br />
„Ich habe auch gebetet“, sagte Corrie. „Ich habe gebetet,<br />
daß Gott keinem von euch etwas zustoßen lassen möge, <strong>die</strong><br />
ihr euer Leben gewagt habt, um unseres zu retten. Sie sind<br />
ein sehr tapferer Mann, Sergeant, denn Sie müssen gewußt<br />
haben, daß Ihre Chancen eins zu einer Million standen.“<br />
Rosetti war sehr unglücklich. Er wünschte, sie hätten über<br />
etwas anderes gesprochen. „Ihr habt mich ganz<br />
mißverstanden“, sagte er. „Ich hab’ überhaupt kein Hirn.<br />
Hätt’ ich’s, wär’ ich in <strong>die</strong> andere Richtung gelaufen; aber<br />
das ist mir nicht rechtzeitig eingefallen. Der Kerl, der den<br />
Mumm hatte, war unser Anführer. Sich vorzustellen, einen<br />
Hirsch <strong>und</strong> das Nashorn da mit nix als einem Messer zu<br />
töten!“ Jerry hatte Corrie, wenn er konnte, ohne daß es<br />
aussah, als starrte er sie an, mit einem schnellen Blick<br />
gestreift. Er sah, wie sie mit ihren schönen, weißen Zähnen<br />
am Fleisch riß. Er erinnerte sich, was sie über den Haß auf<br />
Japaner gesagt hatte: „Ich will sie hassen. Ich mache mir oft<br />
Vorwürfe, weil ich glaube, ich hasse sie nicht bitter genug.“<br />
Er dachte, welcher Art Frau wird sie nach dem Krieg sein –<br />
nach all dem, was sie durchgemacht hat?<br />
Er sah <strong>Tarzan</strong> am rohen Fleisch zerren. Er schaute <strong>die</strong><br />
anderen an, Hände <strong>und</strong> Gesichter verschmiert mit den Säften<br />
des Rotwilds, von verkohlten Teilen verschmutzt.<br />
„Ich frage mich, was für eine Art Welt <strong>die</strong>s sein wird,<br />
nachdem der Friede kommt“, sagte er. „Welche Sorte von<br />
Menschen werden wir sein? Die meisten von uns sind so<br />
85
jung, daß wir uns an kaum sonst etwas als den Krieg<br />
erinnern können werden – Töten, Haß, Blut. Ich frage mich,<br />
ob wir uns jemals zum Alltagsdasein eines bürgerlichen<br />
Lebens bereit finden können.“<br />
„Sag das nicht! Wenn ich jemals wieder meine Füße unter<br />
einen Schreibtisch kriege“, sagte Bubonovitch, „hoffe ich,<br />
daß Gott mich erschlägt, sollte ich sie je wieder<br />
hervorziehen.“<br />
„So denkst du jetzt, du Rumtreiber. Und ich hoffe, du hast<br />
Recht. Von mir weiß ich’s nicht. Manchmal hasse ich das<br />
Fliegen, aber es liegt mir jetzt im Blut. Vielleicht ist’s nicht<br />
bloß das Fliegen – es ist wahrscheinlich <strong>die</strong> Spannung <strong>und</strong><br />
Aufregung. Und wenn das wahr ist, dann sind’s das Fliegen<br />
<strong>und</strong> das Töten, was mir gefällt. Ich weiß nicht. Hoffentlich<br />
nicht. Es wird eine höllische Welt sein, wenn sehr viele<br />
junge Burschen so empfinden.<br />
Und nehmt Carrie her. Sie hat gelernt zu hassen. Gemacht<br />
dafür war sie nie. Das ist es, was der Krieg <strong>und</strong> <strong>die</strong> Japaner<br />
ihr angetan haben. Ich frag’ mich, ob Haß <strong>die</strong> Seele eines<br />
Menschen so verzerren kann, daß er nie mehr derselbe sein<br />
kann wie früher.“<br />
„Ich glaube, ihr braucht euch nicht zu sorgen“, sagte<br />
<strong>Tarzan</strong>. „Der Mensch paßt sich veränderten Bedingungen<br />
an. Besonders <strong>die</strong> Jungen reagieren schnell auf<br />
Veränderungen der Umwelt <strong>und</strong> der Umstände. Ihr werdet<br />
den rechten Platz im Leben einnehmen, wenn der Friede<br />
kommt. Nur <strong>die</strong> Schwachen <strong>und</strong> Wankenden werden zum<br />
Schlechteren verändert.“<br />
„Mit all den verschiedenen Methoden des Tötens <strong>und</strong><br />
Verstümmelns, wie wir’s gelernt haben, wie sich hinter<br />
einen Kerl schleichen <strong>und</strong> ihm den Hals abschneiden oder<br />
ihn erwürgen, <strong>und</strong> eine Menge noch schlimmerer Sachen als<br />
<strong>die</strong>, da wird’s einen Haufen Typen geben, <strong>die</strong> eine Mord-<br />
Ges.m.b.H. überall in den USA einrichten, glaubt mir’s“,<br />
86
sagte Shrimp. „Ich kenn’ solche Kerle. Hab’ nicht umsonst<br />
mein ganzes Leben in Chicago gelebt.“<br />
„Ich glaube, es wird uns sehr verändern“, sagte Corrie.<br />
„Wir werden nicht <strong>die</strong>selben Menschen sein, <strong>die</strong> wir<br />
geworden wären, hätten wir nicht das alles durchgemacht.<br />
Es ließ uns rasch erwachsen werden, <strong>und</strong> das bedeutet, wir<br />
haben einen großen Teil unserer Jugend verloren. Jerry hat<br />
mir gestern erzählt, daß er erst drei<strong>und</strong>zwanzig ist. Ich<br />
glaubte, er sei schon weit in den Dreißigern. Er hat zehn<br />
Jahre seiner Jugend verloren. Kann er derselbe Mann sein,<br />
der er gewesen wäre, hätte er <strong>die</strong>se zehn Jahre in Frieden<br />
<strong>und</strong> Sicherheit gelebt? Nein. Ich glaube, er wird ein besserer<br />
Mensch sein.<br />
Ich glaube, daß ich eine bessere Frau sein werde, wegen<br />
der bloßen Emotion, <strong>die</strong> er <strong>und</strong> <strong>Tarzan</strong> mißbilligen – Haß.<br />
Ich meine keine kleinen Gehässigkeiten. Ich meine einen<br />
gerechten Haß – einen gewaltigen, ansteigenden Haß. Und<br />
zum Ausgleich bringt es mit sich <strong>die</strong> Loyalität zu seinem<br />
Land <strong>und</strong> seinen Kameraden, <strong>die</strong> tiefen Fre<strong>und</strong>schaften <strong>und</strong><br />
Zuneigungen, <strong>die</strong> ein allgemeiner, heiliger Haß auf den<br />
gemeinsamen Feind erzeugt.“<br />
Eine Zeitlang sprach keiner. Sie schienen <strong>die</strong>se einmalige<br />
Lobrede auf den Haß zu überdenken. Es war Jerry, der das<br />
Schweigen brach. „Das ist ein neuer Aspekt“, sagte er. „Ich<br />
habe nie zuvor auf <strong>die</strong>se Weise über den Haß gedacht.<br />
Tatsächlich kommen <strong>die</strong> kämpfenden Männer nicht viel<br />
dazu, zu hassen. Das scheint das Vorrecht der Nicht-<br />
Kämpfenden zu sein.“<br />
„Nein“, sagte Corrie. „Das ist bloß eine Heldenpose in<br />
der Kämpferrolle. Wenn eine japanische Feindseligkeit ihr<br />
Ziel trifft, dann sicher mit der Folge, daß <strong>die</strong> hassen, <strong>die</strong><br />
erfahren, daß alliierte Kriegsgefangene geköpft worden sind.<br />
Das ist hier passiert, <strong>und</strong> ich garantiere, daß unsere<br />
holländischen Kämpfer dann das Hassen lernten.<br />
87
Außerdem“, sagte Corrie ätzend, „betrachte ich mich nicht<br />
als Nicht-Kämpfende.“<br />
Jerry lächelte. „Verzeihung. Diese Bemerkung war nicht<br />
auf Sie gemünzt. Sie sind eine von uns, <strong>und</strong> wir alle sind<br />
Kämpfer.“<br />
Beschwichtigt lächelte Corrie zu ihm zurück. Mochte sie<br />
auch eine gute Vollwert-Hasserin sein, aber Haß war das<br />
nicht, was zur Zeit aus ihren Augen glitzerte.<br />
Shrimp unterbrach <strong>die</strong> Diskussion. „Hui!“, rief er aus.<br />
„Gebt euch mal das! Riecht himmlisch.“<br />
Sie schauten <strong>und</strong> sahen, wie <strong>Tarzan</strong> seinen improvisierten<br />
Ofen abdeckte. „Kommt <strong>und</strong> greift zu!“, rief Shrimp.<br />
Zu ihrem Erstaunen fanden sie den Nashornrücken saftig,<br />
zart <strong>und</strong> delikat. Und während sie aßen, beobachtete sie ein<br />
Augenpaar aus der Deckung des Gebüschs, das am Rand der<br />
Felsen jenseits des Flusses wuchs – beobachtete sie ein paar<br />
Minuten lang; dann kehrte der Besitzer der Augen in den<br />
Wald zurück.<br />
In <strong>die</strong>ser Nacht kämpften Wildh<strong>und</strong>e um <strong>die</strong> Kadaver, <strong>die</strong><br />
<strong>Tarzan</strong> erlegt hatte, bis vor der Dämmerung ein Tiger kam<br />
<strong>und</strong> sie von ihrem Festmahl vertrieb. Finster grollend<br />
blieben sie im Umkreis, bis der Herr des Dschungels<br />
abziehen würde.<br />
Der Krieg schafft neue Wörter. Der Zweite Weltkrieg ist<br />
keine Ausnahme. Das vielleicht berüchtigtste Wort, für das<br />
er verantwortlich ist, ist quisling – Landesverräter. Kriege<br />
verändern Wörter auch. Kollaborateur hatte früher eine<br />
schöne <strong>und</strong> ehrenvolle Bedeutung, aber ich bezweifle, daß<br />
<strong>die</strong>se den Zweiten Weltkrieg überleben wird. Niemand wird<br />
jemals wieder als Kollaborateur gelten wollen.<br />
Sie sind in jedem Land zu finden, in dem der Feind zu<br />
finden ist. Es gibt Kollaborateure in Sumatra. So einer war<br />
Amat. Er war ein mieses Geschöpf, das sich vor jedem<br />
japanischen Soldaten tief verbeugte <strong>und</strong> seiner Gunst wegen<br />
88
sich ihm anzubiedern suchte. Er war ein menschlicher<br />
Schakal, der sich von den Überresten der arroganten<br />
Eindringlinge ernährte, <strong>und</strong> den sie ins Gesicht schlugen,<br />
wenn er ihnen in <strong>die</strong> Quere kam.<br />
Daher leckte er seine vollen Lippen wie in der Erwartung<br />
eines Festmahls, als er <strong>die</strong> fünf weißen Menschen am Fluß<br />
im kleinen Tal lagern sah, <strong>und</strong> er eilte den Pfad zurück zum<br />
Dorf seines Volkes, in dem eine Abteilung japanischer<br />
Soldaten vorübergehend einquartiert war.<br />
Zwei Gründe hatte er zur Eile. Er war begierig, seine<br />
Information dem Feind mitzuteilen. Der andere war <strong>die</strong><br />
Angst. Er hatte nicht bemerkt, wie spät es war. Dunkelheit<br />
würde hereinbrechen, ehe er sein Dorf erreichen konnte.<br />
Dann ist’s, daß der Herr Tiger durch den Wald streift. Er<br />
war noch einige Meilen vom Dorf entfernt, <strong>und</strong> Zwielicht<br />
verkündete <strong>die</strong> kurze äquatoriale Dämmerung, als sich<br />
Amats Angst bestätigte. Das gräßliche Antlitz des Herrn des<br />
Dschungels lauerte genau auf seinem Pfad. Die<br />
schreckenerregenden Augen, das faltige, knurrende Gesicht<br />
eines Tigers, zwischen dem <strong>und</strong> seinem baldigen Opfer<br />
keine Eisenstäbe sind, sondern nur ein paar Schritt einsamen<br />
Dschungelpfads, sind ein so angsterregender Anblick, wie<br />
ihn <strong>die</strong> Augen eines Menschen nur je erblickt haben mögen.<br />
Der Tiger ließ Amat nicht lang im Zweifel über seine<br />
Absichten. Er griff an. Amat kreischte <strong>und</strong> sprang zu einem<br />
Baum. Weiter kreischend, kämpfte er sich hinauf. Der Tiger<br />
sprang ihm nach; <strong>und</strong> unglücklicherweise verfehlte er ihn.<br />
Schwitzend <strong>und</strong> keuchend kletterte Amat höher. Dort hing er<br />
zitternd; <strong>und</strong> dort können wir ihn bis morgen zurücklassen.<br />
89
Kapitel 9<br />
„Pff! Was für ein Land“, knurrte Shrimp, als sie sich einen<br />
steilen Pfad hinauf quälten, hinaus aus dem Tal, ins Licht<br />
eines neuen Tages. „Wenns d’ nicht in ein Loch hinab<br />
kraxelst, kraxelst du aus einem raus.“<br />
„Schau, <strong>die</strong> Aussicht, Mann. Hast du kein Auge für<br />
Schönheit?“<br />
„Sicher hab’ ich ein Auge für Schönheit; aber meine Füße<br />
nicht. Sie haben sich der Air Force angeschlossen, <strong>und</strong> jetzt<br />
sind sie nix als verdammte Teigknödel.“<br />
Aber alles hat ein Ende, <strong>und</strong> schließlich kamen sie oben<br />
am Steilabbruch an. <strong>Tarzan</strong> betrachtete den Pfad. „Hier war<br />
vor kurzem ein Eingeborener“, sagte er. „Vielleicht gestern<br />
am späten Nachmittag. Er kann uns gesehen haben. Grad<br />
hier stand er mehrere Minuten lang, von wo aus er auf unser<br />
Lager hinab schauen konnte.“<br />
Als <strong>die</strong> kleine Gruppe dem Pfad weiter in den Wald<br />
folgte, hastete Amat atemlos in sein Dorf, platzend vor<br />
Neuigkeiten, <strong>die</strong> während einer Nacht des Schreckens in ihm<br />
gebrodelt hatten. So aufgeregt war er, daß er sich vor einem<br />
japanischen Gefreiten zu verbeugen vergaß <strong>und</strong> geschlagen<br />
<strong>und</strong> beinah aufgespießt wurde. Aber schließlich stand er vor<br />
Leutnant Kumajiro Tada <strong>und</strong> vergaß <strong>die</strong>smal nicht darauf,<br />
sich sehr tief zu verneigen.<br />
Aufgeregt ratterte er eine Aufzählung dessen herunter,<br />
was er gesehen hatte. Tada, der kein Wort des<br />
Eingeborenendialekts verstand <strong>und</strong> an <strong>die</strong>sem Morgen<br />
besonders göttlich war, trat Amat in <strong>die</strong> Rippen. Amat schrie<br />
auf, griff auf <strong>die</strong> schmerzende Stelle <strong>und</strong> sank zu Boden.<br />
Tada zog sein Schwert. Es war schon lange her, seit er einen<br />
Kopf abgeschlagen hatte, <strong>und</strong> er hatte Lust darauf, vor dem<br />
90
Frühstück einen Kopf abzuschlagen.<br />
Ein Wachtmeister, der Amats Bericht mit angehört hatte<br />
<strong>und</strong> der den Dialekt verstand, salutierte <strong>und</strong> verbeugte sich.<br />
Er informierte den ehrenwerten Leutnant, indem er Luft<br />
durch <strong>die</strong> Zähne einsog, daß Amat eine Gruppe von Weißen<br />
gesehen hatte <strong>und</strong> daß es das gewesen war, was er dem<br />
ehrenwerten Leutnant zu erzählen versuchte. Zögernd schob<br />
Tada sein Schwert in <strong>die</strong> Scheide <strong>und</strong> hörte der Übersetzung<br />
des Wachtmeisters zu.<br />
91
Kapitel 10<br />
Einige Meilen von der Stelle, an der sie den Wald betreten<br />
hatten, hielt <strong>Tarzan</strong> an <strong>und</strong> untersuchte den Pfad sorgfältig.<br />
„Hier“, sagte er, „wurde unser eingeborener Fre<strong>und</strong> von<br />
einem Tiger auf einen Baum gehetzt. Die ganze Nacht lang<br />
blieb er auf <strong>die</strong>sem Baum, er kam erst vor Kurzem herunter,<br />
wahrscheinlich sobald es hell war. Ihr könnt <strong>die</strong> Abdrücke<br />
des Tieres im Lehm sehen, wo sie <strong>die</strong> Fährte des Burschen<br />
überdecken, <strong>die</strong> er letzte Nacht hinterließ. Hier ist’s, wo er<br />
heute Morgen herabgesprungen ist <strong>und</strong> seinen Weg<br />
fortgesetzt hat.“<br />
Sie zogen weiter <strong>und</strong> gelangten bald an eine Weggabelung.<br />
Abermals hielt <strong>Tarzan</strong> an. Er zeigte ihnen, welchen Weg der<br />
Eingeborene eingeschlagen hatte. Auf der Abzweigung wies er<br />
sie auf Spuren hin, <strong>die</strong> bewiesen, daß eine Anzahl Menschen<br />
wohl vor einigen Tagen dort gegangen waren. „Diese waren<br />
keine Eingeborenen“, sagte er, „<strong>und</strong> ich glaube auch nicht, daß<br />
sie Japaner waren. Das sind <strong>die</strong> Fußabdrücke sehr großer<br />
Männer. Jerry, ich schlage vor, ihr folgt dem Pfad, den der<br />
Eingeborene einschlug, während ich den anderen erk<strong>und</strong>e.<br />
Diese Leute könnten holländische Guerillas sein. In <strong>die</strong>sem<br />
Fall könnten sie uns sehr hilfreich werden. Lauft nicht zu<br />
schnell, ich werde euch dann einholen.“<br />
„Wir werden wahrscheinlich zu einem Eingeborenendorf<br />
kommen“, sagte Jerry. „Dann werden wir uns wohl lieber im<br />
Dschungel verkriechen, bis Sie nachkommen; so daß wir<br />
alle zusammen dort auftauchen können. Inzwischen kann ich<br />
den Ort erk<strong>und</strong>en.“ <strong>Tarzan</strong> nickte zustimmend <strong>und</strong> schwang<br />
sich auf <strong>die</strong> Bäume, um dem linken Seitenweg zu folgen. Sie<br />
beobachteten ihn, bis er außer Sicht war. „Dem Kerl<br />
gefällt’s, so mühsam zu wandern?“, sagte Shrimp.<br />
92
„Schaut nicht so mühsam aus, wenn man ihm zuschaut“,<br />
sagte Bubonovitch. „Das ist nur, wenn man’s selber versucht.“<br />
„Unter <strong>die</strong>sen Umständen ist es <strong>die</strong> ideale Art zu<br />
wandern“, sagte Jerry. „Es hinterläßt keine Fährte, <strong>und</strong> es<br />
gibt ihm einen Vorteil gegenüber jedem Feind, dem er<br />
begegnen könnte.“<br />
„Es ist schön“, sagte Corrie. „Er ist so anmutig, <strong>und</strong> er<br />
bewegt sich so leise.“ Sie seufzte. „Könnten wir alle es so<br />
machen, wie viel sicherer wären wir!“<br />
Sie zogen gemächlich auf dem Pfad zu Amats Dorf<br />
weiter, Bubonovitch an der Spitze, Rosetti hinter ihm. Jerry<br />
<strong>und</strong> Corrie folgten einige Schritte dahinter. Dann hielt<br />
Corrie an, um <strong>die</strong> Bänder eines ihrer Mokassins<br />
nachzubinden, <strong>und</strong> Jerry wartete auf sie. Die anderen<br />
gelangten hinter einer Biegung des gew<strong>und</strong>enen Pfades<br />
außer Sicht.<br />
„Fühlen Sie sich nicht etwas verloren ohne <strong>Tarzan</strong>?“,<br />
fragte Corrie, als sie sich wieder aufrichtete. Dann gab sie<br />
einen kleinen Schreckensruf von sich. „Oh, ich meine damit<br />
nicht, daß ich kein Vertrauen in Sie <strong>und</strong> Bubonovitch <strong>und</strong><br />
Rosetti habe, aber –“<br />
Jerry lächelte. „Entschuldigen Sie sich nicht. Ich<br />
empfinde ebenso wie Sie. Wir sind alle außerhalb unserer<br />
natürlichen Umgebung. Er ist’s nicht. Er ist richtig zuhause<br />
hier. Ich weiß nicht, was wir ohne ihn angefangen hätten.“<br />
„Wir wären so gewesen wie Rotkäppchen im –“<br />
„Horchen Sie!“, warnte Jerry, plötzlich alarmiert. Er<br />
vernahm Stimmen voraus. Heisere Stimmen in einer<br />
fremden Sprache. „Japaner!“, rief er aus. Er wollte auf <strong>die</strong><br />
Geräusche zu loslaufen. Dann hielt er ein <strong>und</strong> kehrte um. Es<br />
wurde ihm eine grausame Entscheidung, gleich wie er sie<br />
betrachtete. Er mußte entweder seine beiden Sergeanten<br />
oder das Mädchen im Stich lassen. Aber er war für seine<br />
schnellen Entscheidungen bekannt.<br />
93
Er packte Corrie am Arm <strong>und</strong> zog sie ins Gewirr des<br />
Unterholzes neben dem Pfad. Sie schlängelten sich immer<br />
tiefer hinein, so lang, bis der Klang der Stimmen nicht mehr<br />
näher kam. Wenn sie es taten, was anzeigte, daß <strong>die</strong> Japaner<br />
den Pfad in ihrer Richtung durchsuchten, legten sie sich<br />
unter dem Gewirr des tropischen Grüns flach auf den Boden.<br />
Ein Suchender hätte in einem Fuß Abstand vor ihnen vorbei<br />
gehen können, ohne sie zu sehen.<br />
Ein Dutzend Soldaten überraschten Bubonovitch <strong>und</strong><br />
Rosetti <strong>und</strong> nahmen sie gefangen. Sie hatten keine Chance<br />
gehabt. Die Japaner stießen sie herum <strong>und</strong> bedrohten sie mit<br />
ihren Bajonetten, bis Leutnant Tada sie zurückrief. Tada<br />
sprach Englisch. Er hatte als Tellerwäscher in einem Hotel<br />
in Eugene gearbeitet, während er <strong>die</strong> Universität von Oregon<br />
besuchte, <strong>und</strong> er hatte <strong>die</strong> Gefangenen sofort als Amerikaner<br />
eingeschätzt. Er verhörte sie, <strong>und</strong> jeder nannte seinen<br />
Namen, Rang <strong>und</strong> <strong>die</strong> Erkennungsnummer.<br />
„Ihr wart von dem Bomber, der abgeschossen wurde?“,<br />
wollte Tada wissen.<br />
„Wir haben Ihnen alle Informationen gegeben, mit denen<br />
wir auf Fragen antworten dürfen.“<br />
Tada sprach mit einem Soldaten auf Japanisch. Der Mann<br />
trat vor <strong>und</strong> stieß <strong>die</strong> Spitze seines Bajonetts gegen<br />
Bubonovitchs Bauch.<br />
„Werden Sie nun auf meine Frage antworten?“, knurrte<br />
Tada.<br />
„Sie kennen <strong>die</strong> Regeln, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Behandlung von<br />
Kriegsgefangenen bestimmen“, sagte Bubonovitch, „aber<br />
ich glaube nicht, daß das für Sie einen Unterschied<br />
ausmacht. Für mich schon. Ich werde keine weiteren Fragen<br />
beantworten.“<br />
„Sie sind ein verdammter Narr“, sagte Tada. Er wandte<br />
sich Rosetti zu. „Wie ist’s mit Ihnen?“, fragte er. „Werden<br />
Sie antworten?“<br />
94
„Nix zu machen“, sagte Rosetti.<br />
„Ihr wart zu fünft in eurer Gruppe – vier Männer <strong>und</strong> ein<br />
Mädchen. Wo sind <strong>die</strong> anderen drei? – Wo ist das<br />
Mädchen?“, ließ der Japaner nicht locker.<br />
„Hast g’sehn, wie viele in unsrer Gruppe sind. Schau’n<br />
wir aus wie fünf? Oder kannst nicht zählen? Schaut einer<br />
von uns wie ein Weibsbild aus? Jemand hat dir einen Bären<br />
aufgeb<strong>und</strong>en, Tojo.“<br />
„Okay, Schlaumeier“, schnappte Tada. „Ich werde euch<br />
bis morgen Zeit zum Nachdenken geben. Ihr antwortet<br />
morgen auf alle meine Fragen, oder ihr werdet beide<br />
geköpft.“<br />
„Undei ichei schätzei, dabei spaßtei erei nichtei“, sagte<br />
Rosetti zu Bubonovitch.<br />
„Darauf könnt ihr euer süßes Leben verwetten, daß ich<br />
nicht spaße, Yank“, sagte Tada.<br />
Shrimp war wie aus allen Wolken gefallen. „Pfui! Wer<br />
hätt’n gedacht, ein Nip würd’ Schweinchenlatein<br />
versteh’n!“, maulte er Bubonovitch zu.<br />
Tada schickte zwei seiner Männer den Pfad entlang, um<br />
nach den anderen Mitgliedern der Gruppe zu suchen. Er<br />
kehrte mit dem Rest <strong>und</strong> den beiden Gefangenen zu Amats<br />
Dorf zurück. Jerry <strong>und</strong> Corrie hatten alles was gesagt wurde<br />
mit angehört. Sie hörten den Haupttrupp in <strong>die</strong> Richtung<br />
abziehen, aus der er gekommen war, aber sie wußten nichts<br />
von den Zweien, <strong>die</strong> auf <strong>die</strong> Suche nach ihnen geschickt<br />
worden waren. In der Annahme, daß sie nun vor Entdeckung<br />
sicher wären, krochen sie aus ihrem Versteck.<br />
<strong>Tarzan</strong> schwang sich problemlos durch <strong>die</strong> mittleren<br />
Stockwerke des Waldes. Vielleicht zwei Meilen hatte er<br />
zurückgelegt, als seine Aufmerksamkeit durch eine<br />
Bewegung vor ihm erregt wurde. Er vernahm das vertraute<br />
Grunzen <strong>und</strong> Knurren <strong>und</strong> Schnattern der großen Affen <strong>und</strong><br />
nahm an, daß sie einen Feind angriffen oder angegriffen<br />
95
wurden. Da der Lärm direkt in seinem Weg lag, bewegte er<br />
sich darauf zu.<br />
Bald bot sich ihm der Anblick von vier erwachsenen<br />
Orang-Utans, <strong>die</strong> sich aufgeregt unter den Ästen eines<br />
großen Baumes schwangen. Schlagend <strong>und</strong> kreischend<br />
schossen sie vor <strong>und</strong> zurück. Und dann sah er den<br />
Gegenstand ihres Zorns – ein Python hielt einen jungen<br />
Orang-Utan umschlungen.<br />
<strong>Tarzan</strong> erfaßte <strong>die</strong> ganze Szene mit einem Blick. Der<br />
Python hatte noch nicht zu würgen begonnen. Er hielt nur<br />
das zappelnde Opfer fest, während er versuchte, <strong>die</strong><br />
angreifenden Affen abzuwehren. Das Geschrei des Jungen<br />
war der endgültige Beweis, daß es noch sehr am Leben war.<br />
<strong>Tarzan</strong> stieß den wilden Kampfschrei aus, um seinen<br />
alten Feind, Histah, <strong>die</strong> Schlange, herauszufordern, <strong>die</strong><br />
Gefahr für seine Fre<strong>und</strong>e, <strong>die</strong> Mangani – <strong>die</strong> großen Affen.<br />
Wenn er sich fragte, ob sie ihn als Fre<strong>und</strong> erkennen würden<br />
oder ihn als Feind attackierten, so beirrte ihn der Gedanke<br />
nicht. Er schwang sich schnell auf den Baum, auf welchem<br />
sich <strong>die</strong> Tragö<strong>die</strong> abspielte, nur einen Ast über dem Python<br />
<strong>und</strong> seinem Opfer.<br />
So gefesselt waren <strong>die</strong> Schauspieler <strong>die</strong>ses primitiven<br />
Dramas von der Haupthandlung, daß keiner seine<br />
Gegenwart bemerkte, bis er sprach. Er fragte sich, ob ihn <strong>die</strong><br />
großen Affen so wie Tantor verstehen würden.<br />
„Kreeg-ha!“, brüllte er. „<strong>Tarzan</strong>b<strong>und</strong>olo Histah!“<br />
Die Affen erstarrten <strong>und</strong> sahen hoch. Sie erblickten ein<br />
fast nacktes Menschen-Ding über dem Python, in der Hand<br />
des Menschen-Dings eine schimmernde Klinge.<br />
„B<strong>und</strong>olo! B<strong>und</strong>olo!“, brüllten sie – Töten! Töten! Und<br />
<strong>Tarzan</strong> wußte, daß sie ihn verstanden. Dann warf er sich mit<br />
voller Wucht auf den Python <strong>und</strong> sein Opfer. Stählerne<br />
Finger ergriffen <strong>die</strong> Schlange hinter dem Kopf, während<br />
<strong>Tarzan</strong> mit seinen kräftigen Beinen <strong>die</strong> Windungen <strong>und</strong> den<br />
96
jungen Affen umklammerte. Seine scharfe Klinge schnitt<br />
gerade hinter der Hand, <strong>die</strong> mit tödlichem Griff das Genick<br />
festhielt, tief in den sich windenden Leib. Die peitschenden<br />
Schlingen zuckten im Todeskampf, gaben den jungen<br />
Orang-Utan frei <strong>und</strong> versuchten, den Körper des Wesens,<br />
das sich an sie klammerte, zu zerquetschen. Das<br />
verzweifelte Ringen löste den Halt des Pythons von dem Ast<br />
des Baumes, <strong>und</strong> er stürzte hinab zum Boden, <strong>Tarzan</strong> mit<br />
sich reißend. Andere Äste bremsten ihren Sturz, <strong>und</strong> der<br />
Mensch wurde nicht verletzt. Aber auch <strong>die</strong> Schlange war<br />
noch lange nicht tot. Ihr wahnwitziges Winden machte es<br />
<strong>Tarzan</strong> unmöglich, seine Klinge wirkungsvoll einzusetzen.<br />
Die Schlange war schwer verw<strong>und</strong>et, doch immer noch ein<br />
äußerst ansehnlicher Feind. Wenn es ihr gelang, <strong>Tarzan</strong> mit<br />
ihren kräftigen Windungen zu umschlingen, würde sein<br />
Körper zerquetscht werden, lange bevor er sie töten konnte.<br />
Und nun sprangen <strong>die</strong> Affen neben den Teilnehmern<br />
<strong>die</strong>ses grimmigen Kampfes auf Leben <strong>und</strong> Tod auf den<br />
Boden herab. Knurrend, schnatternd <strong>und</strong> kreischend hüpften<br />
<strong>die</strong> vier kräftigen Erwachsenen auf <strong>die</strong> schlagenden<br />
Schlingen des Pythons <strong>und</strong> zerrten sie vom Leib des<br />
Menschen-Dings. Und <strong>Tarzan</strong>s Messer fand abermals sein<br />
Ziel.<br />
Als der abgetrennte Kopf auf den Boden rollte, sprang<br />
<strong>Tarzan</strong> zur Seite. Das taten auch <strong>die</strong> Affen, denn der<br />
Todeskampf der Riesenschlange konnte sich als ebenso<br />
tödlich erweisen wie ihr vom winzigen Gehirn gesteuerter<br />
Kampf.<br />
<strong>Tarzan</strong> drehte sich um <strong>und</strong> blickte den Affen entgegen;<br />
dann setzte er einen Fuß auf den toten Kopf <strong>und</strong> brüllte mit<br />
zum Himmel erhobenem Kopf den Siegesschrei des<br />
Affenbullen. Es scholl wild <strong>und</strong> grausig <strong>und</strong><br />
schreckenerregend durch den Urwald, <strong>und</strong> für einen<br />
Augenblick verstummten <strong>die</strong> Stimmen des Dschungels.<br />
97
Die Affen schauten das Menschen-Ding an. Ihr ganzes<br />
Leben lang war seine Art ihr natürlicher Feind gewesen.<br />
War er Fre<strong>und</strong> oder Feind?<br />
<strong>Tarzan</strong> schlug sich auf <strong>die</strong> Brust <strong>und</strong> sagte: „<strong>Tarzan</strong>.“ Die<br />
Affen nickten <strong>und</strong> sagten: „<strong>Tarzan</strong>“, denn <strong>Tarzan</strong> bedeutet<br />
Weiß-Haut in der Sprache der großen Affen. „<strong>Tarzan</strong> yo“,<br />
sagte der Mann. „Manganiyo?“<br />
„Mangani yo“, sagte der älteste <strong>und</strong> größte der Affen –<br />
Fre<strong>und</strong> großer Affen.<br />
Da entstand Lärm in den Bäumen, als käme heftiger Wind<br />
auf – das wilde Rascheln <strong>und</strong> Streifen von Blättern <strong>und</strong><br />
Zweigen. Affen <strong>und</strong> Mensch schauten erwartungsvoll in <strong>die</strong><br />
Richtung, aus der <strong>die</strong> Geräusche kamen. Alle wußten, was<br />
den Lärm verursachte. Nur der Mann wußte nicht, was er<br />
ankündigte.<br />
Bald sah er zehn oder zwölf riesige schwarze Gestalten<br />
durch <strong>die</strong> Bäume auf sie zu schwingen. R<strong>und</strong> um sie<br />
sprangen <strong>die</strong> Affen zum Boden herab. Sie hatten <strong>Tarzan</strong>s<br />
durchdringenden Schrei vernommen <strong>und</strong> waren herbeigeeilt<br />
um nachzusehen. Es hätte der Siegesschrei eines Feindes<br />
sein können, der ihren Stamm überw<strong>und</strong>en hatte. Es hätte<br />
eine Herausforderung zum Kampf sein können.<br />
Sie beäugten <strong>Tarzan</strong> mißtrauisch, einige von ihnen mit<br />
entblößten Zähnen. Er war ein Menschen-Ding, ein<br />
natürlicher Feind. Sie schauten von <strong>Tarzan</strong> zu Uglo, dem<br />
ältesten <strong>und</strong> größten der Affen. Uglo zeigte auf den Mann<br />
<strong>und</strong> sagte: „<strong>Tarzan</strong>. Yo.“ Dann erzählte er in der einfachen<br />
Sprache der Urmenschen <strong>und</strong> mit Zeichen <strong>und</strong> Gesten, was<br />
<strong>Tarzan</strong> getan hatte. Die neu Angekommenen nickten zum<br />
Einverständnis – alle außer einem. Oju, ein voll erwachsener<br />
junger Orang-Utan, fletschte drohend seine Zähne.<br />
„Oju b<strong>und</strong>olo!“, knurrte er – Oju töten!<br />
Vanda, <strong>die</strong> Mutter des kleinen Affen, der vor dem Python<br />
gerettet worden war, drückte sich eng an <strong>Tarzan</strong> <strong>und</strong><br />
98
streichelte ihn mit rauer, schwieliger Handfläche. Sie stellte<br />
sich zwischen <strong>Tarzan</strong> <strong>und</strong> Oju, aber jener schob sie sanft<br />
beiseite.<br />
Oju hatte eine Herausforderung ausgesprochen, <strong>die</strong><br />
<strong>Tarzan</strong> nicht ignorieren konnte, ohne das Ansehen vor dem<br />
Stamm zu verlieren. Das wußte er, <strong>und</strong> obwohl er nicht<br />
kämpfen wollte, zog er sein Messer <strong>und</strong> rückte gegen den<br />
knurrenden Oju vor.<br />
Oju war bei seinen fast sechs Fuß Größe <strong>und</strong> vollen<br />
dreih<strong>und</strong>ert Pf<strong>und</strong> Gewicht in der Tat ein beachtlicher<br />
Gegner. Seine außerordentlich langen Arme, seine<br />
herkulischen Muskeln, seine kräftigen Fänge <strong>und</strong> gewaltigen<br />
Kiefer ließen <strong>die</strong> Kampfkraft selbst des mächtigen <strong>Tarzan</strong><br />
schwächlich wirken.<br />
Oju trampelte vorwärts, seine schwieligen Knöchel auf<br />
dem Boden lassend. Uglo wäre eingeschritten. Er machte<br />
eine halbherzige Geste, zwischen <strong>die</strong> Beiden zu treten. Aber<br />
Uglo fürchtete sich wirklich. Er war König, aber er wurde<br />
alt. Er wußte, daß Oju vorhatte, seine Herrschaft<br />
herauszufordern. Würde er ihm jetzt entgegentreten, würde<br />
er bloß den Zeitpunkt seiner Entthronung vorverlegen. Er<br />
schritt nicht ein. Aber Vanda zeterte, <strong>und</strong> das taten auch <strong>die</strong><br />
anderen Affen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Rettung von Vandas Balu durch<br />
<strong>Tarzan</strong> miterlebt hatten.<br />
Oju war unbeirrt. Er tapste zuversichtlich heran, in<br />
Verachtung <strong>die</strong>ses mickrigen Menschen-Dings. Wenn er<br />
eine Hand kräftig an ihn legen konnte, wäre der Kampf so<br />
gut wie vorbei. Er streckte einen langen Arm nach seinem<br />
beabsichtigten Opfer aus. Es war ein taktischer Fehler.<br />
<strong>Tarzan</strong> bemerkte das langsame, dumme Vorrücken, <strong>die</strong><br />
ausgestreckte Hand; <strong>und</strong> er änderte seinen eigenen<br />
Kampfplan. Er nahm das Messer in seinen M<strong>und</strong> <strong>und</strong> hielt<br />
<strong>die</strong> Klinge zwischen den Zähnen fest. Damit hatte er beide<br />
Hände frei. Dann sprang er vorwärts, packte Ojus<br />
99
ausgestrecktes Handgelenk mit zehn kräftigen Fingern,<br />
drehte sich schnell, beugte sich vor <strong>und</strong> warf den Affen über<br />
seinen Kopf. Er warf ihn so, daß er schwer auf seinen<br />
Rücken fallen würde.<br />
Schlimm geprellt <strong>und</strong> brüllend vor Zorn rappelte sich Oju<br />
unbeholfen auf <strong>die</strong> Beine. <strong>Tarzan</strong> sprang ihm schnell auf den<br />
Rücken, solange er seine Balance noch nicht wieder hatte,<br />
umschloß mit seinen mächtigen Beinen seine Hüften <strong>und</strong><br />
schlang den linken Arm um seinen Hals. Dann drückte er<br />
dem Biest <strong>die</strong> Spitze seines Messers in <strong>die</strong> Seite – drückte<br />
sie, bis Oju in ein Schmerzgeschrei ausbrach.<br />
„Kagoda!“, verlangte <strong>Tarzan</strong>. Aufgeben heißt das bei den<br />
Affen. Ebenso wie: Ich ergebe mich. Der Unterschied ist nur<br />
eine Sache der Betonung.<br />
Oju streckte einen langen Arm nach hinten, um seinen<br />
Gegner zu packen. Das Messer grub sich wieder ein.<br />
Diesmal tiefer. Wieder fragte <strong>Tarzan</strong>: „Kagoda?“ Je mehr<br />
Oju versuchte, das Menschen-Ding von seinem Rücken zu<br />
entfernen, desto tiefer wurde das Messer hineingepreßt.<br />
<strong>Tarzan</strong> hätte den Affen töten können, aber das wollte er<br />
nicht. Kräftige junge Bullen sind <strong>die</strong> Stärke eines Stammes,<br />
<strong>und</strong> <strong>die</strong>ser Stamm war ihm äußerst fre<strong>und</strong>lich gesinnt.<br />
Oju stand jetzt still. Blut strömte an seiner Seite herunter.<br />
<strong>Tarzan</strong> verlagerte <strong>die</strong> Spitze des Messers zu Ojus Schädel-<br />
Basis <strong>und</strong> stach gerade so tief ein, daß er blutete <strong>und</strong><br />
Schmerzen empfand.<br />
„Kagoda!“, schrie Oju.<br />
<strong>Tarzan</strong> löste seinen Griff <strong>und</strong> trat beiseite. Oju humpelte<br />
davon <strong>und</strong> hockte sich hin, um seine W<strong>und</strong>en zu pflegen.<br />
<strong>Tarzan</strong> wußte, daß er sich einen Feind gemacht hatte, aber<br />
einen Feind, der sich immer vor ihm fürchten würde. Er<br />
wußte auch, daß er sich einen Platz als Stammesmitglied<br />
geschaffen hatte. Er würde immer Fre<strong>und</strong>e unter ihnen<br />
haben.<br />
100
Er zog Uglos Aufmerksamkeit auf <strong>die</strong> Menschenfährte<br />
auf dem Pfad. „Tarmangani?“, fragte er. Tar ist weiß,<br />
Mangani bedeutet Affen; Tarmangani also: weiße, große<br />
Affen, das heißt: weiße Menschen.<br />
„Sord Tarmangani“, sagte Uglo – böse weiße Menschen.<br />
<strong>Tarzan</strong> wußte, daß für <strong>die</strong> großen Affen alle weißen<br />
Menschen böse waren. Er würde sie selbst ausk<strong>und</strong>schaften<br />
müssen. Diese Menschen mochten sich als wertvolle<br />
Verbündete erweisen.<br />
Er fragte Uglo, ob <strong>die</strong> weißen Menschen reisten oder<br />
lagerten. Uglo sagte, daß sie lagerten. <strong>Tarzan</strong> fragte, in<br />
welcher Entfernung. Uglo streckte seine Arme zur vollen<br />
Länge gegen <strong>die</strong> Sonne hin aus <strong>und</strong> hielt <strong>die</strong> Handflächen<br />
einander zugekehrt <strong>und</strong> auf einen Fuß Abstand. Das ist so<br />
weit, wie <strong>die</strong> Sonne in einer St<strong>und</strong>e vorrücken würde.<br />
<strong>Tarzan</strong> interpretierte das, daß das Camp der weißen Männer<br />
etwa drei Meilen entfernt lag – so weit, wie <strong>die</strong> Affen für<br />
gewöhnlich in einer St<strong>und</strong>e durch <strong>die</strong> Bäume weiterkamen.<br />
Er schwang sich auf einen Baum <strong>und</strong> war unterwegs in<br />
<strong>die</strong> Richtung des Tarmangani-Camps. Es gibt kein Lebwohl<br />
oder Auf wiedersehen in der Affensprache. Die Mitglieder<br />
des Stammes kehrten zu ihren normalen Aktivitäten zurück.<br />
Oju kümmerte sich um seine W<strong>und</strong>en <strong>und</strong> um seine Wut. Er<br />
fletschte <strong>die</strong> Zähne gegen jeden, der ihm nahe kam.<br />
101
Kapitel 11<br />
Jerry erging sich in Selbstvorwürfen. „Ich fühle mich wie<br />
ein Feigling“, sagte er, „daß ich <strong>die</strong> beiden Burschen ihrem<br />
Schicksal überließ, während ich mich versteckte. Aber ich<br />
konnte Sie nicht hier allein lassen, Corrie, oder Ihre<br />
Gefangennahme riskieren.“<br />
„Auch wenn Sie nicht hier gewesen wären“, sagte Corrie,<br />
„war grad das, was Sie getan haben, das Richtige. Wären Sie<br />
mit ihnen gefangen worden, hätten Sie nicht mehr für sie tun<br />
können, als sie selbst für sich tun mögen. So aber können<br />
Sie <strong>und</strong> <strong>Tarzan</strong> etwas für sie tun.“<br />
„Danke, daß Sie es so darstellen. Trotzdem, ich –“ Er<br />
hielt lauschend inne. „Jemand kommt“, sagte er <strong>und</strong> zog das<br />
Mädchen zurück in <strong>die</strong> Deckung des Gestrüpps.<br />
Von dort aus, wo sie verborgen waren, hatten sie freie Sicht<br />
zurück auf den Pfad, gut fünfzig Schritt weit, ehe er aus ihrer<br />
Blicklinie abbog. Bald hörten sie deutlicher <strong>die</strong> Stimmen.<br />
„Japaner“, flüsterte Corrie. Sie nahm eine Handvoll Pfeile aus<br />
dem Köcher auf ihrem Rücken <strong>und</strong> legte einen auf ihren<br />
Bogen. Jerry grinste <strong>und</strong> folgte ihrem Beispiel.<br />
Einen Augenblick später schlenderten zwei Japaner<br />
sorglos in ihr Blickfeld. Ihre Gewehre waren über ihre<br />
Rücken gehängt. Aus <strong>die</strong>ser Richtung hatten sie nichts zu<br />
befürchten – glaubten sie. Sie hatten eine symbolische<br />
Gehorsamsgeste gemacht, um den Anweisungen ihres<br />
Offiziers zu gehorchen, daß sie auf dem Pfad zurück nach<br />
den fehlenden drei Weißen suchen sollten. Die in einem<br />
Hinterhalt auf sie Wartenden aufzustöbern, waren sie nicht<br />
allzu begierig. Sie würden langsam zum Lager<br />
zurückbummeln <strong>und</strong> melden, daß sie eine sorgfältige Suche<br />
unternommen hätten.<br />
102
Corrie lehnte sich näher an Jerry <strong>und</strong> flüsterte: „Sie<br />
übernehmen den Linken. Ich werde den anderen<br />
übernehmen.“ Jerry nickte <strong>und</strong> hob den Bogen.<br />
„Lassen Sie sie auf zwanzig Fuß herankommen“,<br />
antwortete er gleichfalls flüsternd. „Wenn ich sage jetzt,<br />
werden wir zugleich schießen.“<br />
Sie warteten. Die Japaner kamen sehr langsam näher <strong>und</strong><br />
plapperten, als hätten sie etwas Wichtiges zu reden.<br />
„Affengeschnatter“, murmelte Jerry.<br />
„Psst!“, ermahnte ihn das Mädchen. Sie stand da mit dem<br />
gespannten Bogen, <strong>die</strong> Pfeilfiederung an ihrem rechten Ohr.<br />
Jerry schielte aus den Augenwinkeln nach ihr. Jeanne d’<br />
Sumatra, dachte er. Die Japaner erreichten das Limit.<br />
„Jetzt!“, sagte Jerry. Zwei Bogensehnen schnalzten<br />
gleichzeitig. Corries Zielobjekt fiel mit einem Pfeil im<br />
Herzen nach vorn. Jerry hatte nicht so genau getroffen. Sein<br />
Opfer umklammerte den Schaft, der ihm tief in den Hals<br />
gedrungen war.<br />
Jerry sprang auf den Pfad, <strong>und</strong> der verw<strong>und</strong>ete Japaner<br />
versuchte, sein Gewehr abzunehmen. Fast wäre es ihm<br />
gelungen, als Jerry ihm einen schrecklichen Schlag aufs<br />
Kinn versetzte. Er stürzte, <strong>und</strong> der Pilot warf sich mit<br />
gezogenem Messer auf ihn. Zwei Mal stieß er <strong>die</strong> Klinge ins<br />
Herz des Mannes. Der Kerl wand sich zuckend <strong>und</strong> lag still.<br />
Jerry sah auf <strong>und</strong> sah Corrie, wie sie von der Leiche des<br />
anderen Japaners das Gewehr löste. Wie eine Rachegöttin<br />
sah er sie über ihrem Opfer stehen. Drei Mal stieß sie das<br />
Bajonett in <strong>die</strong> Brust des Soldaten. Der Amerikaner<br />
beobachtete das Gesicht des Mädchens. Es war nicht<br />
verzerrt vor Wut oder Haß oder Rache. Es erstrahlte in<br />
einem göttlichen Licht der Begeisterung.<br />
Sie wandte sich Jerry zu. „Das ist’s, was ich sie meinem<br />
Vater antun sah. Jetzt fühle ich mich glücklicher. Ich<br />
wünschte nur, er wäre noch am Leben gewesen.“<br />
103
„Sie sind großartig“, sagte Jerry.<br />
Sie nahmen das andere Gewehr an sich <strong>und</strong> <strong>die</strong> Gürtel<br />
<strong>und</strong> Munition der Toten. Dann schleppte Jerry <strong>die</strong> Leichen<br />
ins Unterholz. Corrie half ihm.<br />
„Sie können eine Kerbe in Ihr Schießeisen schnitzen,<br />
meine Dame“, sagte Jerry grinsend. „Sie haben Ihren Mann<br />
getötet.“<br />
„Nicht einen Mann habe ich getötet“, widersprach das<br />
Mädchen. „Ich habe einen Japaner getötet.“<br />
„Entfesselter Haß der stolzen Juno“, zitierte Jerry.<br />
„Sie denken, eine Frau sollte nicht hassen“, sagte Corrie.<br />
„Sie könnten eine Frau niemals mögen, <strong>die</strong> gehaßt hat.“<br />
„Ich mag Sie“, sagte Jerry sanft <strong>und</strong> feierlich.<br />
„Und ich mag Sie, Jerry. Sie sind so fein gewesen, ihr<br />
alle. Ihr habt mir nicht das Gefühl gegeben, ein Mädchen zu<br />
sein, sondern ein Mann unter Männern.“<br />
„Gott behüte!“, rief Jerry, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Beiden lachten.<br />
104
Kapitel 12<br />
<strong>Tarzan</strong>, der sich durch <strong>die</strong> Bäume über den Pfad heran<br />
geschwungen hatte, hielt plötzlich an <strong>und</strong> erstarrte zur<br />
Bewegungslosigkeit. Vor ihm sah er einen Mann auf einer<br />
Plattform auf einem Baum hocken, von wo aus eine Strecke<br />
weit der Pfad in der Richtung zu sehen war, aus der <strong>Tarzan</strong><br />
gekommen war. Der Mann war vollbärtig <strong>und</strong> voll<br />
bewaffnet. Ein weißer Mann war es. Offenbar war er ein<br />
Wachtposten, der den Pfad beobachtete, auf dem ein Feind<br />
erscheinen mochte.<br />
<strong>Tarzan</strong> entfernte sich vorsichtig vom Pfad weg. Wären<br />
ihm nicht <strong>die</strong> abgestumpften Sinne zivilisierter Menschen<br />
bekannt gewesen, hätte es ihn gew<strong>und</strong>ert, daß der Bursche<br />
sein Auftauchen nicht bemerkt hatte.<br />
Auf einem Umweg umkreiste er den Wächter; <strong>und</strong> ein, zwei<br />
Minuten später gelangte er an den Rand einer kleinen Bergwiese<br />
<strong>und</strong> blickte auf ein simples <strong>und</strong> unordentliches Lager hinab.<br />
Eine Schar von Männern lag im Schatten der Bäume herum.<br />
Eine Flasche wanderte unter ihnen von Hand zu Hand oder<br />
von M<strong>und</strong> zu M<strong>und</strong>. Auch eine Anzahl von Frauen trank mit<br />
ihnen. Die meisten von ihnen schienen Eurasier zu sein. Alle<br />
Männer trugen dichte Bärte, mit einer einzigen Ausnahme.<br />
Das war ein junger Mann, der bei ihnen saß <strong>und</strong> gelegentlich<br />
einen Schluck aus der Flasche nahm. Die Männer trugen<br />
Pistolen <strong>und</strong> Messer, <strong>und</strong> jeder hatte ein Gewehr griffbereit.<br />
Es war keine einladend wirkende Gesellschaft.<br />
<strong>Tarzan</strong> entschied, daß es desto besser wäre, je weniger er<br />
mit <strong>die</strong>sen Leuten zu tun hätte. Da brach plötzlich der Ast,<br />
auf dem er saß, <strong>und</strong> er stürzte keine h<strong>und</strong>ert Fuß von ihnen<br />
zu Boden. Sein Kopf schlug auf etwas Hartes, <strong>und</strong> er verlor<br />
das Bewußtsein.<br />
105
Als er zu sich kam, lag er unter einem Baum, an Händen<br />
<strong>und</strong> Füßen gefesselt. Männer <strong>und</strong> Frauen hockten oder<br />
standen r<strong>und</strong> um ihn. Als sie sahen, daß er das Bewußtsein<br />
wieder erlangte, sprach ihn einer der Männer auf<br />
Holländisch an. <strong>Tarzan</strong> verstand ihn, aber er schüttelte den<br />
Kopf, als würde er’s nicht.<br />
Der Bursche fragte ihn, wer er sei <strong>und</strong> was er bei ihnen<br />
herumzuspionieren hätte. Ein anderer versuchte es auf<br />
Französisch; das war <strong>die</strong> erste gesprochene Sprache<br />
zivilisierter Menschen, <strong>die</strong> er erlernt hatte. Aber er schüttelte<br />
weiter den Kopf. Der junge Mann versuchte Englisch.<br />
<strong>Tarzan</strong> gab vor nicht zu verstehen <strong>und</strong> sprach sie auf Suaheli<br />
an, der Sprache eines mohammedanischen Bantuvolkes von<br />
Sansibar <strong>und</strong> der afrikanischen Ostküste. Er wußte, sie<br />
würden das nicht verstehen.<br />
„Klingt wie Japanisch“, sagte einer der Männer.<br />
„Ist’s aber nicht“, sagte einer, der <strong>die</strong>se Sprache verstand.<br />
„Vielleicht ist er ein Wilder. Keine Kleidung, Pfeil <strong>und</strong><br />
Bogen. Fiel vom Baum wie ein Affe.“<br />
„Er ist ein verdammter Spion.“<br />
„Wozu wäre ein Spion gut, wenn er keine zivilisierte<br />
Sprache sprechen kann?“<br />
Sie überlegten. Es schien, wenigstens vorläufig, ihren<br />
Verdacht zu zerstreuen, daß ihr Gefangener ein Spion sein<br />
könnte. Sie hatten Wichtigeres zu erledigen, wie sich bald<br />
zeigte.<br />
„Ach, zur Hölle mit ihm“, sagte ein triefäugiger Riese.<br />
„Ich trockne schon wieder aus.“<br />
Er ging in Richtung der Bäume zurück, unter denen sie<br />
herumgelungert hatten – in Richtung der Bäume <strong>und</strong> der<br />
Flasche – <strong>und</strong> <strong>die</strong> anderen folgten ihm. Alle außer dem<br />
jungen Mann mit dem bartlosen Gesicht. Er hockte immer<br />
noch neben <strong>Tarzan</strong>, mit dem Rücken zu seinen abziehenden<br />
Gefährten. Als sie in sicherer Entfernung waren <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />
106
Flasche ihre Aufmerksamkeit beanspruchte, sprach er. Er<br />
sprach leise flüsternd <strong>und</strong> auf Englisch.<br />
„Ich bin sicher, daß Sie entweder ein Amerikaner oder ein<br />
Engländer sind“, sagte er. „Vielleicht einer der Amerikaner<br />
aus dem Bomber, der vor einiger Zeit abgeschossen wurde.<br />
In dem Fall können Sie mir vertrauen. Ich bin selbst<br />
praktisch ein Gefangener hier. Aber zeigen Sie ihnen nicht,<br />
daß Sie mit mir reden. Wenn Sie mir vertrauen wollen,<br />
machen Sie ein Zeichen, daß Sie mich verstehen.<br />
Sie sind einer Bande von Halsabschneidern in <strong>die</strong> Hände<br />
gefallen. Mit ein paar Ausnahmen sind sie Kriminelle, <strong>die</strong><br />
aus dem Gefängnis freigelassen <strong>und</strong> bewaffnet wurden, als<br />
<strong>die</strong> Japaner auf der Insel einmarschierten. Auch <strong>die</strong> meisten<br />
der Frauen sind Kriminelle, <strong>die</strong> ihre Strafen absaßen. Die<br />
anderen sind ebenso vom Bodensatz der Gesellschaft –<br />
äußerst nichtswürdig.<br />
Diese Leute sind ins Gebirge entkommen, als <strong>die</strong> Japaner<br />
das Land besetzten. Sie haben keinen Versuch unternommen,<br />
unsere Streitkräfte zu unterstützen. Sie dachten bloß an ihre<br />
eigene Haut. Nachdem sich mein Regiment ergeben hatte,<br />
gelang es mir zu entkommen. Ich rannte <strong>die</strong>sem Haufen in <strong>die</strong><br />
Quere; <strong>und</strong> in der Annahme, es sei eine loyale Guerillabande,<br />
trat ich ihnen bei. Als sie von meiner Herkunft erfuhren, hätten<br />
sie mich umgebracht, würde ich mich nicht mit einigen der<br />
Männer früher angefre<strong>und</strong>et haben. Aber sie trauen mir nicht.<br />
Wissen Sie, es gibt loyale Guerillas, <strong>die</strong> sich in den<br />
Bergen verstecken <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Verräter genau so gern<br />
töten würden wie <strong>die</strong> Japaner. Und <strong>die</strong>se Kerle befurchten,<br />
ich könnte mit ihnen in Verbindung kommen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Lage<br />
<strong>die</strong>ses Camps verraten. Das Schlimmste, was <strong>die</strong>se Leute<br />
bisher getan haben, sind Geschäfte mit den Feinden, doch<br />
sie werden Sie den Japanern ausliefern. Sie glauben, Sie<br />
seien einer der amerikanischen Flieger. Die Japaner würden<br />
einen ansehnlichen Preis für Sie zahlen.<br />
107
Diese Kerle destillieren üble Spirituosen, welche sie<br />
Schnaps nennen. Was sie nicht selbst trinken, verwenden sie<br />
für Tauschhandel mit Japanern <strong>und</strong> Eingeborenen. Unter<br />
anderem erhalten sie dafür Wacholderbeeren, Munition <strong>und</strong><br />
Reis von den Japanern. Daß <strong>die</strong> Japaner ihnen Munition<br />
überlassen, zeigt, daß sie sie als befre<strong>und</strong>et einstufen. Wie<br />
auch immer, es ist kaum mehr als ein Waffenstillstand, da<br />
keiner dem anderen sehr weit traut. Die Eingeborenen sind<br />
<strong>die</strong> Zwischenträger, <strong>die</strong> den Schnaps liefern <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />
Bezahlung dafür überbringen.“<br />
<strong>Tarzan</strong>, der nun wußte, daß sich sein Schicksal bereits<br />
entschieden hatte, erkannte, daß von weiteren Versuchen,<br />
dem jungen Mann etwas vorzumachen, nichts zu gewinnen<br />
sei. Auch hatte er einen guten Eindruck von dem Mann<br />
gewonnen. Er blickte in <strong>die</strong> Richtung der anderen. Sie alle<br />
waren in einen lauthalsigen Zank zwischen zwei ihrer Kerle<br />
vertieft <strong>und</strong> schenkten ihm <strong>und</strong> seinem Gefährten keine<br />
Beachtung.<br />
„Ich bin Engländer“, sagte er.<br />
Der junge Mann grinste. „Danke, daß Sie mir vertrauen“,<br />
sagte er. „Ich heiße Tak van der Bos. Ich bin Offizier der<br />
Reserve.“<br />
„Mein Name ist Clayton. Wollen Sie weg von <strong>die</strong>sen<br />
Leuten?“<br />
„Ja, aber was würde es nützen? Wohin könnte ich gehen?<br />
Ich würde sicher den Japanern in <strong>die</strong> Hände fallen, wenn<br />
mich nicht vielleicht stattdessen ein Tiger kriegen würde.<br />
Wüßte ich, wo einer unserer Guerillahaufen steckt, würde<br />
ich es bestimmt riskieren. Ich weiß es aber nicht.“<br />
„Meine Gruppe ist zu fünft“, sagte <strong>Tarzan</strong>. „Wir<br />
versuchen, <strong>die</strong> Südspitze der Insel zu erreichen. Wenn wir<br />
Glück haben, hoffen wir ein Boot zu requirieren, um uns<br />
nach Australien aufzumachen.“<br />
„Ein ziemlich ambitionierter Plan“, sagte van der Bos.<br />
108
„Es sind mehr als zwölfh<strong>und</strong>ert Meilen zum nächsten Punkt<br />
des australischen Kontinents. Und es sind fünfh<strong>und</strong>ert<br />
Meilen zum südlichen Ende <strong>die</strong>ser Insel.“<br />
„Ja“, sagte <strong>Tarzan</strong>. „Wir wissen das, aber wir gehen das<br />
Wagnis ein. Wir alle haben das Gefühl, es wäre besser, bei<br />
dem Versuch zu sterben, als uns auf Dauer wie ein Haufen<br />
gehetzter Hasen in den Wäldern zu verbergen.“<br />
Van der Bos war für einige Augenblicke still <strong>und</strong> dachte<br />
nach. Dann blickte er auf. „Das ist <strong>die</strong> richtige<br />
Entscheidung“, sagte er. „Ich würde gern mit euch kommen.<br />
Ich glaube, ich kann euch helfen. Ich kann ein Boot viel<br />
näher auftreiben, als wo ihr hin wollt. Aber erst müssen wir<br />
von <strong>die</strong>sen Kerlen wegkommen, <strong>und</strong> das wird nicht leicht<br />
sein. Es gibt nur einen Pfad in <strong>die</strong>ses kleine Tal, <strong>und</strong> der<br />
wird Tag <strong>und</strong> Nacht bewacht.“<br />
„Ja, ich habe den Wächter gesehen. Tatsächlich kam ich<br />
knapp an ihm vorbei. Ich kann genauso leicht wieder an ihm<br />
vorbei. Aber mit Ihnen ist es anders. Ich glaube nicht, daß es<br />
Ihnen auch gelänge. Wenn Sie mir heut Nacht ein Messer<br />
verschaffen, werde ich Sie an dem Posten vorbeibringen.“<br />
„Ich werd’s versuchen. Wenn sie betrunken genug sind,<br />
sollte es leicht sein. Dann werde ich Ihre Fesseln<br />
zerschneiden, <strong>und</strong> wir können losziehen.“<br />
„Diese Fesseln kann ich zerreißen, wann immer ich will“,<br />
sagte <strong>Tarzan</strong>.<br />
Van der Bos erwiderte nichts auf <strong>die</strong>se Behauptung.<br />
Dieser Bursche ist seiner ziemlich sicher, dachte er.<br />
Vielleicht ein wenig zu sicher. Und der Holländer begann zu<br />
überlegen, ob es klug von ihm gewesen war zu sagen, er<br />
würde mit ihm gehen. Er wußte, daß natürlich kein Mensch<br />
<strong>die</strong>se Fesseln zerreißen konnte. Womöglich konnte der<br />
Bursche auch seine Behauptung nicht wahrmachen, er<br />
könnte ihn an dem Wachtposten vorbei bringen.<br />
„Bewachen sie Sie nachts sehr sorgfältig?“, fragte <strong>Tarzan</strong>.<br />
109
„Sie bewachen mich überhaupt nicht. Das ist Tigerland.<br />
Haben Sie das bedacht?“<br />
„Oh ja. Aber das Risiko werden wir eingehen müssen.“<br />
110
Kapitel 13<br />
Nachdem man sie herumgeprügelt, mit Bajonetten in den<br />
Rücken gestochen <strong>und</strong> bespuckt hatte, waren Rosetti <strong>und</strong><br />
Bubonovitch zwei zornerfüllte, unglückliche Männer, lang<br />
bevor sie das Eingeborenendorf erreicht hatten. Hier wurden<br />
sie in eine Eingeborenenhütte gebracht <strong>und</strong> in einer Ecke des<br />
Raumes zu Boden geworfen. Dort wurden sie ihren eigenen<br />
Beschäftigungen überlassen, <strong>die</strong> fast gänzlich aus<br />
Beschimpfungen bestanden. Nach den Bezeichnungen aller<br />
Japaner von Hirohito an bis zu ihren Vorfahren, speziell<br />
jener von Leutnant Kumajiro Tada, <strong>und</strong> das in der<br />
bilderreichen, nicht druckreifen Palette von Cicero,<br />
Brooklyn <strong>und</strong> der Army, arbeiteten sie sich wieder bis zu<br />
Hirohito zurück.<br />
„Was nützt das?“, fragte Bubonovitch. „Wir treiben bloß<br />
unseren Blutdruck hinauf.“<br />
„Ich treib’ meinen Haß hinauf.“ sagte Rosetti. „Ich weiß<br />
jetzt genau, was das Corrie-Mädchen verspürt. Ich liebe es,<br />
<strong>die</strong> zu hassen.“<br />
„Genieße es, solang du kannst“, riet ihm Bubonovitch.<br />
„Dieser Ocker-Häutige wird dir deine Hasserei am Morgen<br />
abstutzen.“<br />
„Oje“, sagte Rosetti. „Ich will nicht sterben, Alter.“<br />
„Ich auch nicht, Shrimp.“<br />
Viel Schlaf gab es nicht für sie in <strong>die</strong>ser Nacht. Ihre<br />
Fesseln schnitten in Hand- <strong>und</strong> Fußgelenke. Der Hals war<br />
trocken <strong>und</strong> ausgedörrt. Weder Nahrung noch Wasser wurde<br />
ihnen gegeben. Die Nacht wurde zur Ewigkeit. Aber<br />
schließlich endete sie.<br />
„Oje! Ich wünschte, sie kommen <strong>und</strong> machen Schluß<br />
damit“, sagte Rosetti.<br />
111
„An Frau <strong>und</strong> Baby zu denken, ist der härteste Teil für<br />
mich. Meine Frau <strong>und</strong> ich hatten so große Pläne. Sie wird<br />
nie erfahren, was mit mir passiert ist, <strong>und</strong> darüber bin ich<br />
froh. Alles, was sie erfahren wird, ist, daß mein Flugzeug<br />
gestartet ist, von irgendwo nach irgendwohin, <strong>und</strong> nie<br />
zurückkam.“<br />
Das Geräusch von Füßen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Leiter zum Haus hinauf<br />
schlurften, drang an ihre Ohren.<br />
„Ich glaub’, das war’s dann“, sagte Bubonovitch. „Wirst<br />
du’s packen, Shrimp?“<br />
„Klar.“<br />
„Na, bis dann, Fre<strong>und</strong>.“<br />
„Bis dann, Alter.“<br />
Einige Soldaten betraten den Raum. Sie zerschnitten <strong>die</strong><br />
Fesseln <strong>und</strong> zerrten <strong>die</strong> beiden Männer auf <strong>die</strong> Beine.<br />
Sie konnten aber nicht stehen. Beide stolperten <strong>und</strong><br />
stürzten zu Boden. Die Soldaten traten sie gegen Kopf <strong>und</strong><br />
Magen, lachten <strong>und</strong> schnatterten dabei. Schließlich zerrten<br />
sie sie zum Eingang <strong>und</strong> ließen einen nach dem anderen <strong>die</strong><br />
Leiter hinab rutschen, größtenteils aber hinunter zum Boden<br />
fallen.<br />
Tada kam herüber <strong>und</strong> betrachtete sie. „Seid ihr bereit,<br />
meine Fragen zu beantworten?“, fragte er.<br />
„Nein“, sagte Bubonovitch.<br />
„Steht auf!“, schnappte der Japaner.<br />
Das Blut begann wieder in ihren tauben Beinen zu<br />
zirkulieren. Sie versuchten sich zu erheben, schließlich mit<br />
Erfolg. Aber sie stolperten beim Gehen wie Betrunkene.<br />
Sie wurden in <strong>die</strong> Mitte des Dorfes gebracht. Die Soldaten<br />
<strong>und</strong> <strong>die</strong> Eingeborenen bildeten einen Kreis um sie. Tada<br />
stand mit gezogenem Schwert neben ihnen. Er ließ sie<br />
hinknien <strong>und</strong> <strong>die</strong> Köpfe vorbeugen. Bubonovitch sollte der<br />
Erste sein.<br />
Tada holte mit seinem Schwert zum Schlag aus.<br />
112
*<br />
Als es im Camp ruhig wurde <strong>und</strong> <strong>die</strong> meisten Männer <strong>und</strong><br />
Frauen von Trunkenheit benommen schliefen, kroch van der<br />
Bos an <strong>Tarzan</strong>s Seite. „Ich habe ein Messer“, sagte er. „Ich<br />
werde Ihre Fesseln zerschneiden.“<br />
„Ich bin sie schon eine ganze Weile los“, sagte <strong>Tarzan</strong>.<br />
„Sie haben sie zersprengt?“, fragte der Holländer<br />
staunend.<br />
„Ja. Kommen Sie jetzt, aber leise. Geben Sie mir das<br />
Messer.“<br />
In kurzer Entfernung hielt <strong>Tarzan</strong> im Wald an. „Warten<br />
Sie hier“, flüsterte er. Dann war er fort. Er schwang sich<br />
leise auf <strong>die</strong> Bäume, langsam vordringend, häufig zum<br />
Lauschen anhaltend <strong>und</strong> um <strong>die</strong> Luft durch seine Nase<br />
ziehend zu prüfen. Schließlich hatte er den Wachtposten<br />
ausgemacht <strong>und</strong> kletterte auf denselben Baum, auf dem <strong>die</strong><br />
Plattform errichtet war, auf der der Mann hockte. Direkt<br />
über dem Kopf des Burschen verhielt er. Seine Augen<br />
durchdrangen <strong>die</strong> Finsternis. Sie erfaßten Gestalt <strong>und</strong><br />
Position des verlorenen Mannes. Dann hechtete <strong>Tarzan</strong> mit<br />
dem Kopf voraus, das Messer in der Hand. Das einzige<br />
Geräusch war der Aufprall zweier Körper auf der Plattform.<br />
Der Wächter starb lautlos, mit von einem Ohr zum anderen<br />
durchschnittener Kehle.<br />
<strong>Tarzan</strong> warf <strong>die</strong> Leiche auf den Pfad hinab <strong>und</strong> folgte mit<br />
dem Gewehr des Mannes. Er ging zurück, bis er auf van der<br />
Bos traf. „Kommen Sie“, sagte er. „Jetzt können Sie an dem<br />
Wachtposten vorbei.“<br />
Als sie zur Leiche kamen, stolperte van der Bos darüber.<br />
„Da haben Sie wirklich sauber gearbeitet“, sagte er.<br />
„Nicht so sauber“, sagte <strong>Tarzan</strong>. „Er bespritzte mich ganz<br />
mit Blut. Ich werde ein wandelnder Köder für den<br />
113
Gestreiften sein, bis wir Wasser erreichen. Nehmen Sie<br />
Pistole, Gurt <strong>und</strong> Munition von ihm. Hier ist sein Gewehr.<br />
Gehen wir jetzt.“<br />
Sie kamen auf dem Pfad schnell voran, <strong>Tarzan</strong> führte.<br />
Bald gelangten sie an einen kleinen Bach, <strong>und</strong> beide<br />
reinigten sich vom Blut, denn der Holländer hatte einiges<br />
davon abbekommen, als er den Gürtel von der Leiche löste.<br />
Kein Tiger hielt sie auf, <strong>und</strong> bald kamen sie zu der<br />
Gabelung, an der <strong>Tarzan</strong> zuletzt seine Gefährten gesehen<br />
hatte. Es gab von ihnen keine Witterung, <strong>und</strong> so folgten <strong>die</strong><br />
beiden Männer dem Pfad, den <strong>die</strong> anderen genommen haben<br />
mußten. Es war schon Tageslicht, als sie nahe vor sich einen<br />
Schuß vernahmen.<br />
*<br />
Jerry <strong>und</strong> Corrie entschlossen sich zu bleiben, wo sie waren, da<br />
sie auf <strong>Tarzan</strong> warteten. Sie glaubten, er werde bald<br />
zurückkehren. Es war nur gut für ihre Gemütsruhe, daß sie<br />
nicht wußten, welches Pech ihm zugestoßen war. Um sicherer<br />
zu sein, waren sie auf einen Baum geklettert, wo sie sich etwa<br />
zwanzig Fuß über dem Boden notdürftig <strong>und</strong> unbequem<br />
lagerten. Jerry sorgte sich um das Schicksal von Bubonovitch<br />
<strong>und</strong> Rosetti, <strong>und</strong> schließlich beschloß er, <strong>die</strong>sbezüglich etwas<br />
zu unternehmen. Die Nacht hatte sich endlos hingezogen, <strong>und</strong><br />
<strong>Tarzan</strong> war noch immer nicht zurückgekehrt.<br />
„Ich glaube nicht, daß er kommt“, sagte Jerry. „Etwas<br />
muß ihm zugestoßen sein. Jedenfalls werde ich nicht länger<br />
warten. Ich werde schauen gehen, ob ich Bubonovitch <strong>und</strong><br />
Rosetti aufspüren kann. Falls <strong>Tarzan</strong> dann kommt, werden<br />
wir wenigstens wissen, wo sie sind; <strong>und</strong> vielleicht können<br />
wir zusammen einen Plan ausarbeiten, sie zu befreien. Sie<br />
bleiben hier, bis ich zurückkomme. Hier werden Sie sicherer<br />
sein als unten auf dem Boden.“<br />
114
„Und angenommen, Sie kommen nicht zurück?“<br />
„Ich weiß nicht, Corrie. Das ist <strong>die</strong> schwierigste<br />
Entscheidung, <strong>die</strong> ich je zu treffen hatte – <strong>die</strong> Entscheidung<br />
zwischen Ihnen <strong>und</strong> den beiden Burschen. Aber ich habe <strong>die</strong><br />
Entscheidung getroffen, <strong>und</strong> ich hoffe, Sie werden<br />
verstehen. Sie sind Gefangene der Japaner, <strong>und</strong> wir alle<br />
wissen, wie Japaner ihre Gefangenen behandeln.“<br />
„Da gab es nur eins zu entscheiden für Sie. Ich wußte,<br />
daß Sie ihnen folgen würden, <strong>und</strong> ich gehe mit Ihnen.“<br />
„Nichts zu machen“, sagte Jerry. „Sie bleiben genau da,<br />
wo Sie sind.“<br />
„Ist das ein Befehl?“<br />
„Ja.“<br />
Er hörte einen schwachen Ansatz von Lachen. „Wenn Sie<br />
an Bord Ihres Schiffes einen Befehl geben, Captain, müßte<br />
Ihnen auch ein General gehorchen. Aber Sie sind nicht der<br />
Captain <strong>die</strong>ses Baumes. Los geht’s!“ Und Corrie glitt von<br />
dem Ast, auf dem sie gesessen hatte <strong>und</strong> kletterte zum<br />
Boden hinab.<br />
Jerry folgte ihr. „Sie gewinnen“, sagte er. „Ich hätte es<br />
besser wissen müssen, als daß ich versuchte, eine Frau zu<br />
komman<strong>die</strong>ren.“<br />
„Zwei Gewehre sind besser als eines“, sagte Corrie. „Ich<br />
bin ein guter Schütze.“<br />
Seite an Seite stapften sie den Pfad entlang. Häufig<br />
berührten einander ihre Arme; <strong>und</strong> einmal rutschte Corrie<br />
auf einem schlammigen Fleck, <strong>und</strong> Jerry umfing sie mit<br />
einem Arm, um sie vor einem Sturz zu bewahren. Er dachte,<br />
mit <strong>die</strong>ser Pranke hab’ ich oft jenes Mädchen daheim in<br />
Oklahoma City gehalten, aber das war nie so aufregend wie<br />
das hier. Ich glaube, du bist <strong>die</strong>sem kleinen Bengel<br />
verfallen, Jerry. Ich glaub’, dich hat’s schlimm erwischt.<br />
Es war sehr dunkel, <strong>und</strong> manchmal stießen sie gegen<br />
Bäume, wenn der Pfad abbog. Daher kamen sie langsam<br />
115
voran. Sie konnten sich den weiteren Weg nur ertasten <strong>und</strong><br />
hoffen, daß es bald dämmerte.<br />
„Was für ein Tag war das für uns“, sagte Jerry. „Alles<br />
was wir jetzt noch brauchten zur Vollkommenheit wäre, auf<br />
einen Tiger zu stoßen.“<br />
„Ich glaube, darüber brauchen wir uns nicht zu sorgen“,<br />
sagte Corrie.<br />
„Krieg ist Mist“, sagte Jerry. „Falls wir jemals<br />
heimkommen, wette ich, wir werden etwas wegen der<br />
verdammten Nips <strong>und</strong> Krauts unternehmen, damit es ihnen<br />
für ziemlich lange Zeit vergeht, Kriege anzufangen. Es wird<br />
zehn oder zwölf Millionen von uns geben, <strong>die</strong> den Krieg<br />
ordentlich satt haben. Wir werden einen Artillerie-Captain,<br />
einen Fre<strong>und</strong> von mir, zum Gouverneur von Oklahoma<br />
wählen <strong>und</strong> ihn dann in den Senat entsenden. Er haßt den<br />
Krieg. Ich kenne keinen Soldaten, der’s nicht täte, <strong>und</strong> wenn<br />
ganz Amerika genug Soldaten in den Kongreß entsendet,<br />
werden wir etwas erreichen.“<br />
„Ist’s schön in Oklahoma?“, fragte Corrie.<br />
„Es ist der schönste Staat in der Union“, bekannte Jerry.<br />
Der neue Tag warf seine Bettdecke ab <strong>und</strong> kroch aus den<br />
Federn. Bald würde er ganz wach sein, denn nahe am<br />
Äquator findet der Übergang von der Nacht zum Tag schnell<br />
statt. Eine lang ausgedehnte Dämmerung gibt es nicht.<br />
„Was für eine Erleichterung“, sagte Corrie. „Ich war der<br />
Nacht schon reichlich müde.“<br />
„Verflucht!“, rief Jerry. „Schauen Sie!“ Er legte sein<br />
Gewehr an <strong>und</strong> stand still. Auf dem Pfad direkt vor ihnen<br />
stand ein Tiger.<br />
„Nicht schießen!“, warnte Corrie.<br />
„Ich hab’s nicht vor, solang er sich um seine eigenen<br />
Sachen kümmert. Diese armselig kleine japanische Flinte<br />
vom Kaliber 0.25 würde ihn kaum ärgern, <strong>und</strong> ich mochte es<br />
nie, Tiger am frühen Morgen zu verärgern.“<br />
116
„Ich wünschte, er liefe weg“, sagte Corrie. „Er sieht<br />
hungrig aus.“<br />
Der Tiger, ein großes Männchen, stand einige Sek<strong>und</strong>en<br />
vollkommen still <strong>und</strong> beobachtete sie; dann wandte er sich<br />
um <strong>und</strong> setzte ins Unterholz.<br />
„Pffuh!“, stieß Jerry einen langen Seufzer der<br />
Erleichterung aus. „Mein Herz <strong>und</strong> mein Magen versuchten<br />
beide zugleich in meinen M<strong>und</strong> zu kommen. War ich<br />
erschrocken!“<br />
„Meine Knie sind ganz weich“, sagte Corrie. „Ich glaube,<br />
ich setze mich hin.“<br />
„Warten Sie!“, warnte Jerry. „Horchen Sie! Sind da nicht<br />
Stimmen?“<br />
„Ja. Nur wenig vor uns.“<br />
Sie bewegten sich sehr vorsichtig voran. Der Wald endete<br />
am Rand eines flachen Tales, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Beiden schauten auf<br />
ein kleines Kampong hinunter, kaum h<strong>und</strong>ert Schritte vor<br />
ihnen. Sie sahen Eingeborene <strong>und</strong> japanische Soldaten.<br />
„Da müssen unsere Burschen sein“, sagte Jerry.<br />
„Dort sind sie!“, flüsterte Corrie. „Oh Gott! Er ist dabei,<br />
sie umzubringen!“<br />
Tada holte mit seinem Schwert aus. Jerrys Gewehr<br />
feuerte, <strong>und</strong> Leutnant Kumajiro Tada taumelte vorwärts <strong>und</strong><br />
fiel ausgestreckt vor <strong>die</strong> Männer hin, <strong>die</strong> er hatte töten<br />
wollen. Dann schoß Corrie, <strong>und</strong> ein japanischer Soldat, der<br />
auf <strong>die</strong> zwei Gefangenen zueilte, starb. Die Beiden gaben<br />
eine Salve ab, <strong>die</strong> Soldat um Soldat umlegte <strong>und</strong> das Dorf in<br />
Panik versetzte.<br />
<strong>Tarzan</strong>, der beim ersten Schuß vorwärts eilte, war bald an<br />
ihrer Seite; <strong>und</strong> van der Bos stieß einen Moment später zu<br />
ihnen, mit noch einem Gewehr <strong>und</strong> einer Pistole. Diese<br />
nahm <strong>Tarzan</strong>.<br />
Bubonovitch <strong>und</strong> Rosetti nutzten den Vorteil der<br />
Verwirrung im Kampong, rafften Gewehre <strong>und</strong> Munition<br />
117
von zwei toten Soldaten an sich <strong>und</strong> zogen zum Wald hin<br />
ab; sie feuerten im Gehen. Rosetti hatte auch einige<br />
Handgranaten ergattert, <strong>die</strong> er in seine Taschen stopfte.<br />
Ein japanischer Sergeant versuchte seine Männer zu<br />
sammeln <strong>und</strong> hinter einem Haus aufzustellen. Plötzlich<br />
griffen sie schreiend an. Rosetti warf seine Granaten in<br />
rascher Folge zwischen sie; dann drehten er <strong>und</strong><br />
Bubonovitch sich um <strong>und</strong> liefen zum Wald.<br />
Das Feuer war verstummt, ehe <strong>die</strong> zwei Sergeanten <strong>die</strong><br />
kleine Gruppe im Wald erreichten. Rosettis Granaten hatten<br />
<strong>die</strong>sem Teil des Zweiten Weltkriegs ein Ende gesetzt,<br />
wenigstens vorläufig. Die Japaner waren endgültig<br />
demoralisiert oder tot.<br />
Die kleine Gruppe war so in den Kampf vertieft gewesen,<br />
daß sie einander während seines Ablaufs kaum angeschaut<br />
hatten. Nun entspannten sie sich ein wenig <strong>und</strong> sahen sich<br />
um. Als Corrie <strong>und</strong> van der Bos einander ansahen, waren sie<br />
einen Moment lang sprachlos. Dann riefen beide<br />
gleichzeitig: „Corrie!“ <strong>und</strong> „Tak!“<br />
„Liebling!“, rief Corrie <strong>und</strong> warf ihre Arme um den<br />
jungen Holländer. Jerry war nicht begeistert.<br />
Dann folgten Vorstellungen <strong>und</strong> kurze<br />
Zusammenfassungen ihrer verschiedenen Abenteuer.<br />
Während <strong>die</strong> anderen redeten, beobachtete <strong>Tarzan</strong> das<br />
Kampong. Die Japaner wirkten äußerst durcheinander. Sie<br />
hatten ihren Offizier verloren <strong>und</strong> ihre vorgesetzten<br />
einberufenen Ränge. Ohne sie war der gewöhnliche Rekrut<br />
zu dumm, um für sich selbst zu denken oder zu planen.<br />
<strong>Tarzan</strong> wandte sich an Jerry. „Ich glaube, wir können das<br />
Dorf einnehmen <strong>und</strong> den Rest der Japaner auslöschen, wenn<br />
wir sie jetzt angreifen, da sie demoralisiert <strong>und</strong> führerlos<br />
sind. Wir haben fünf Gewehre, <strong>und</strong> dort ist nicht mehr als<br />
ein Dutzend Japaner verblieben, <strong>die</strong> noch in einer<br />
Verfassung sind zu kämpfen.“<br />
118
Jerry wandte sich an <strong>die</strong> anderen. „Wie wär’s?“, fragte er.<br />
„Kommt schon!“, sagte Bubonovitch. „Worauf warten wir<br />
noch?“<br />
119
Kapitel 14<br />
Der Kampf war kurz <strong>und</strong> siegreich, <strong>und</strong> einige Japaner<br />
halfen noch dabei – sie sprengten sich selbst mit ihren<br />
eigenen Granaten in <strong>die</strong> Luft. Corrie war im Wald<br />
zurückgelassen worden. Aber dort war sie nicht geblieben.<br />
Jerry hatte eben erst <strong>die</strong> Mitte des Kampongs erreicht, als er<br />
sie schon an seiner Seite kämpfen sah.<br />
Bubonovitch <strong>und</strong> Rosetti wüteten wie <strong>die</strong> Berserker, <strong>und</strong><br />
ihre Bajonette trieften von japanischem Blut, als der Kampf<br />
vorbei war. Sie hatten gelernt zu hassen.<br />
Die Eingeborenen kauerten in ihren Hütten. Sie hatten mit<br />
den Japanern kollaboriert, <strong>und</strong> sie erwarteten das Schlimmste,<br />
aber sie wurden nicht behelligt. Wenngleich von ihnen<br />
verlangt wurde, für Nahrung <strong>und</strong> deren Zubereitung zu<br />
sorgen.<br />
<strong>Tarzan</strong> <strong>und</strong> Jerry verhörten einige von ihnen. Corrie <strong>und</strong><br />
Tak übersetzten. Sie erfuhren, daß <strong>die</strong>s ein Vorposten einer<br />
viel größeren Streitmacht gewesen war, <strong>die</strong> etwa<br />
fünf<strong>und</strong>zwanzig Meilen weiter unten in Richtung zur<br />
Südwestküste stationiert war. In ein oder zwei Tagen war<br />
<strong>die</strong> Ablösung erwartet worden.<br />
Sie erfuhren auch, daß es weiter gegen Südosten hin eine<br />
Guerillagruppe in den Bergen gab. Aber keiner von den<br />
Eingeborenen wußte genau, wo oder wie weit entfernt. Sie<br />
schienen sich vor den Guerillas schrecklich zu fürchten.<br />
Amat versuchte <strong>die</strong> Gunst der Neuankömmlinge zu<br />
erlangen. Er war ein überzeugter Opportunist, ein geborener<br />
Politiker. Er fragte sich, ob es ihm einen Vorteil verschaffte,<br />
zum Hauptlager der Japaner zu eilen <strong>und</strong> das Erscheinen<br />
<strong>die</strong>ser Männer zu melden <strong>und</strong> <strong>die</strong> Verwüstung, <strong>die</strong> sie<br />
angerichtet hatten. Aber er gab <strong>die</strong> Idee auf, da er durch<br />
120
gefährliches Tigergebiet hätte reisen müssen. Es war gut für<br />
Amat, daß weder Bubonovitch noch Rosetti wußten, welche<br />
Rolle er gespielt hatte, <strong>die</strong> zu ihrer Gefangennahme führte.<br />
Aber vielleicht wären <strong>die</strong> beiden Sergeanten zur Nachsicht<br />
geneigt gewesen, denn sie waren sehr glücklich. Sie waren<br />
durch den kleinen Unterschied, den ein Sek<strong>und</strong>enbruchteil<br />
ausmachte, gerettet worden. Das war schon etwas, worüber<br />
man glücklich sein konnte. Darüber hinaus hatten sie in einer<br />
sehr erfolgreichen Rache-Orgie schwelgen können. Mit dem<br />
Blut ihrer Feinde hatten sie <strong>die</strong> Schläge <strong>und</strong> Beleidigungen<br />
<strong>und</strong> Erniedrigungen abgewaschen, <strong>die</strong> über sie gehäuft<br />
worden waren.<br />
„Hui! Alter, wir sind knapp davongekommen.“<br />
„Ich hab’ nichts sehen können; weil ich auf den Boden<br />
geschaut hab’“, sagte Bubonovitch, „aber Corrie sagt, daß<br />
der Japanerhäuptling grad mit dem Schwert ausholte, als<br />
Jerry ihn abknallte. So knapp war’s. Aber <strong>die</strong> Sache haben<br />
wir bestimmt geregelt, hä, Shrimp?“<br />
„Wie viele hast du erwischt?“<br />
„Weiß ich nicht. Vielleicht drei oder vier. Ich hab’<br />
einfach auf alles losgeknallt, was zu sehen war. Aber den<br />
Vogel abgeschossen hast bestimmt du, mit <strong>die</strong>sen zwei<br />
Granaten. Junge! War das ein Ding!“<br />
„Sag, hast du <strong>die</strong>se Frau mitten im Kampf geseh’n? Die<br />
ist scharf.“<br />
„Meine Güte! Shrimp, läufst du einem Rock nach?“<br />
„Ich lauf keinem Rock nicht nach, aber <strong>die</strong> ist eine ganz<br />
Gute. Hab’ nie zuvor kein Weibsbild wie das nicht geseh’n.<br />
Hab’ nicht gewußt, daß auch solche daherkommen. Ich<br />
würd’ mich jederzeit für sie prügeln.“<br />
„Der Letzte der Frauenfeinde“, sagte Bubonovitch. „Jerry<br />
hat schon lang aufgesteckt, <strong>und</strong> ihn hat’s schwer erwischt!“<br />
„Aber hast du geseh’n, wie sie dem Holländer um den<br />
Hals gefallen ist? Du hättest Jerrys Gesicht sehen sollen.<br />
121
Das ist der Jammer mit den Weibsbildern – sogar mit der<br />
da. Die können’s nicht lassen, dafür zu sorgen, was <strong>die</strong><br />
Hawaiianer daheim auf dem Felsen pilikia nennen. Wir<br />
war’n grad eine glückliche Familie, bis ihr alter Boyfriend<br />
ins Bild stolperte.“<br />
„Vielleicht ist er bloß ein alter Fre<strong>und</strong>“, legte<br />
Bubonovitch nahe. „Mir ist aufgefallen, daß sie, als der<br />
Kampf tobte, grad an Jerrys Seite kämpfte.“<br />
Rosetti schüttelte den Kopf. Er hatte schon zu viele<br />
Zugeständnisse gemacht, aber sein Vorurteil war zu tief<br />
verwurzelt, als daß er sich erlaubte, ganz für <strong>die</strong> La<strong>die</strong>s<br />
einzutreten. Er war für Corrie, aber mit verständlichen<br />
Einschränkungen. „Wirfst du deine Arme einem alten<br />
Fre<strong>und</strong> um den Hals <strong>und</strong> schreist ‚Liebling!’? Frag’ ich.“<br />
„Hängt ganz davon ab. Du bist ein alter Fre<strong>und</strong> von mir,<br />
Shrimp; aber ich kann mir nicht vorstellen, dir meine Arme<br />
um den Hals zu werfen <strong>und</strong> dich Liebling zu rufen.“<br />
„Du tät’st eine in <strong>die</strong> Schnauze kriegen.“<br />
„Aber wenn du Ginger Rogers wärst!“<br />
„Hui! Was für Beine! Ich hab’ noch nie solche Beine<br />
geseh’n, bevor ich Lady in the Dark angeschaut hab’. Junge!“<br />
<strong>Tarzan</strong> <strong>und</strong> Jerry hielten Kriegsrat. Corrie <strong>und</strong> Tak<br />
erzählten einander <strong>die</strong> Abenteuer ihrer letzten zwei Jahre.<br />
„Ich möchte ein wenig ausk<strong>und</strong>schaften, bevor wir<br />
weiterziehen“, sagte <strong>Tarzan</strong>. „Ich möchte das allein tun,<br />
denn so kann ich mich viel schneller fortbewegen als der<br />
Rest von euch. Aber wenn ihr hier bleibt, wird <strong>die</strong>se<br />
japanische Ablösung auftauchen, bevor ich zurückkehre.<br />
Das mögen etwa zwanzig von denen sein, so wie in <strong>die</strong>ser<br />
Abteilung. Das ist eine ziemlich große Übermacht gegen<br />
euch.“<br />
„Das werde ich wagen“, sagte Jerry. „Wenn <strong>die</strong> anderen<br />
wollen. Wir sind fünf Schützen. Wir haben genug japanische<br />
Munition, um einen Krieg auszukämpfen – eine Menge<br />
122
Granaten. Wir kennen den Weg, auf dem sie herbeikommen.<br />
Alles was wir tun müssen ist, einen Wachtposten weit genug<br />
draußen aufzustellen, der uns ausreichend vorwarnt. Dann<br />
können wir sie aus einem Hinterhalt mit Granaten<br />
zupflastern. Wollen sehen, was <strong>die</strong> anderen denken.“ Er rief<br />
sie herüber <strong>und</strong> erklärte <strong>die</strong> Situation.<br />
„Uii“, sagte Shrimp. „Nur vier zu eins? Ist gar nix.<br />
Hamma schon früher gemacht. Machen wir’s wieder?“<br />
„Das ist ein Wort!“, sagte Jerry. „Das Hauptlager ist<br />
fünfzehn Meilen von hier entfernt“, sagte Bubonovitch. „Sie<br />
werden wahrscheinlich den ganzen Tag für den Marsch<br />
brauchen, denn sie werden’s nicht eilig haben. Aber wir<br />
fangen lieber heute Nachmittag damit an, nach ihnen<br />
Ausschau zu halten. Sie könnten heute kommen.“<br />
„Du hast Recht“, sagte Jerry. „Ich schlage vor, du gehst<br />
den Pfad etwa eine Meile weit hinaus. Du wirst sie kommen<br />
hören, bevor sie zu sehen sind; dann kannst du hierher<br />
zurück eilen, <strong>und</strong> wir werden bereit für sie sein.“<br />
„Ich habe eine Idee“, sagte Corrie. „Angenommen, wir<br />
beladen uns mit Handgranaten <strong>und</strong> gehen alle <strong>und</strong> nehmen<br />
auf den Bäumen zu beiden Seiten des Pfades Stellungen ein.<br />
Wenn wir uns weit genug verteilen, können wir <strong>die</strong> ganze<br />
Abteilung in Reichweite haben, bevor wir losschlagen. Auf<br />
<strong>die</strong>se Weise sollten wir sie alle kriegen können.“<br />
„Großartig!“, sagte Jerry.<br />
„Was bist du bloß für eine blutrünstige Person geworden,<br />
Corrie!“, rief Tak grinsend.<br />
„Sie kennen sie noch nicht mal zur Hälfte“, sagte Jerry.<br />
„Es ist eine gute Idee“, sagte <strong>Tarzan</strong>. „Wir wissen, der<br />
Feind kommt. Wir wissen nicht genau, wann; also sollten<br />
wir jederzeit für ihn bereit sein. Ihr könnt zurückkommen,<br />
wenn es finster wird, da ich sicher bin, daß sie nicht nachts<br />
marschieren werden. Ich glaube aber, ihr solltet <strong>die</strong> ganze<br />
Nacht lang eine Wache aufstellen.“<br />
123
„Bestimmt“, stimmte Jerry zu. Die Angelegenheit war<br />
geregelt. Bald verschwand <strong>Tarzan</strong> im Wald.<br />
*<br />
Hooft erwachte abgeschlagen <strong>und</strong> mit schrecklichem<br />
Kopfweh. Der Geschmack in seinem M<strong>und</strong> erinnerte an den<br />
Boden eines Vogelkäfigs. Auch in seinem besten Zustand<br />
war er nie gut aufgelegt. Jetzt war er widerwärtig <strong>und</strong><br />
mörderisch gelaunt. Er schnauzte <strong>die</strong> anderen an, um sie<br />
aufzuwecken, <strong>und</strong> bald war das Lager aufgescheucht. Die<br />
liederlichen, schlampigen Frauen begannen das Frühstück<br />
für <strong>die</strong> Männer zu bereiten.<br />
Hooft stand auf <strong>und</strong> streckte sich. Dann schaute er über<br />
das Lager hin. „Wo ist der Gefangene?“, schrie er.<br />
Alle anderen sahen sich um. Es gab keinen Gefangenen.<br />
„Der andere ist auch weg“, sagte ein Mann.<br />
Hooft brüllte blutrünstige Gotteslästerungen heraus <strong>und</strong><br />
abstoßende Obszönitäten. „Wer ist auf dem Wachtposten?“,<br />
wollte er wissen.<br />
„Hugo sollte mich um Mitternacht aufwecken, damit ich<br />
ihn ablöse“, sagte ein anderer. „Hat er aber nicht gemacht.“<br />
„Geh hinaus <strong>und</strong> schau nach, was aus ihm geworden ist“,<br />
befahl Hooft. „Dafür zieh ich ihm bei lebendigem Leib <strong>die</strong><br />
Haut ab. Ich reiße ihm das Herz raus – einzuschlafen <strong>und</strong><br />
<strong>die</strong>se zwei Männer entfliehen lassen!“<br />
Der Mann war nur wenige Minuten weg. Als er<br />
zurückkehrte, grinste er. „Jemand ist dir schon<br />
zuvorgekommen, Chef,“ sagte er zu Hooft. „Hugo ist<br />
abgeschlachtet. Seine Kehle ist von einem Ohr zum anderen<br />
durchgeschnitten.“<br />
„Das muß <strong>die</strong>ser Wilde gewesen sein“, sagte Sarina.<br />
„Van der Bos muß ihm <strong>die</strong> Fesseln durchgeschnitten<br />
haben“, sagte Hooft. „Wartet, bis ich den erwische.“<br />
124
„Falls du’s jemals tust“, sagte Sarina. „Der wird<br />
schnurstracks zu den nächsten Guerillas laufen, <strong>und</strong><br />
ziemlich bald werden wir sie auf dem Hals haben.“<br />
Einer der Männer war zu dem Platz hinübergegangen, wo<br />
<strong>Tarzan</strong> gelegen hatte. Er kehrte mit den Fesseln zurück <strong>und</strong><br />
reichte sie Hooft. „Die wurden nicht zerschnitten“, sagte er.<br />
„Sie wurden zerrissen.“<br />
„Kein Mensch hätte <strong>die</strong> zerreißen können“, sagte Hooft.<br />
„Der Wilde hat’s getan“, sagte Sarina.<br />
„Dem werd’ ich das Wilde schon zeigen“, knurrte Hooft.<br />
„Essen wir <strong>und</strong> gehen dann. Wir werden sie verfolgen. Ihr<br />
Weiber bleibt hier.“ Niemand erhob Einspruch. Niemand<br />
stritt jemals mit Hooft, wenn er schlechter Laune war, Sarina<br />
ausgenommen. Sie war <strong>die</strong> Einzige in dem mörderischen<br />
Haufen, <strong>die</strong> Hooft fürchtete, aber Sarina widersprach jetzt<br />
nicht. Sie verspürte kein Verlangen, durch den Wald zu<br />
streifen.<br />
Die Gesetzlosen waren gute Fährtenleser, <strong>und</strong> <strong>Tarzan</strong> <strong>und</strong><br />
van der Bos hatten sich nicht bemüht, ihre Spuren zu<br />
verwischen. Hooft <strong>und</strong> seine Bande von Halsabschneidern<br />
hatten leichtes Spiel.<br />
*<br />
Jerry <strong>und</strong> seine kleine Gruppe nahmen alle Granaten, <strong>die</strong> sie<br />
tragen konnten, <strong>und</strong> gingen in der Richtung hinaus in den<br />
Wald, aus der <strong>die</strong> japanische Ablösung kommen mußte.<br />
Durch van der Bos warnte Jerry <strong>die</strong> Eingeborenen davor,<br />
Gewehre oder Munition wegzunehmen, <strong>die</strong> sie zurückließen.<br />
„Sagen Sie ihnen, wir würden ihr Dorf niederbrennen, falls<br />
wir merken, daß etwas verschw<strong>und</strong>en ist, wenn wir<br />
zurückkommen.“<br />
Van der Bos schmückte <strong>die</strong>se Drohung aus, indem er dem<br />
Häuptling versicherte, daß sie außer das Dorf<br />
125
niederzubrennen auch allen Dorfbewohnern <strong>die</strong> Köpfe<br />
abschneiden würden. Der Häuptling war beeindruckt.<br />
Amat war es ebenfalls. Er hatte vorgehabt, den Fremden<br />
in den Wald zu folgen, um sie auszuspionieren. Als er<br />
erfuhr, wir blutrünstig sie waren, überlegte er es sich anders.<br />
Sie mochten ihn beim Spionieren schnappen. Stattdessen<br />
ging er auf einem anderen Pfad weg, um Durian-Früchte zu<br />
pflücken.<br />
So kam es, während er im Geäst eines Durian-Baumes<br />
beschäftigt <strong>und</strong> deshalb unachtsam war, daß Hooft ihn<br />
entdeckte. Hooft befahl ihm herunterzusteigen. Amat<br />
fürchtete sich.<br />
Hooft befragte ihn, ob er <strong>die</strong> beiden Entflohenen gesehen<br />
hätte <strong>und</strong> beschrieb sie ihm. Amat war erleichtert. Er konnte<br />
<strong>die</strong>sen Männern eine Menge Informationen liefern <strong>und</strong> sich<br />
dadurch retten. Sie würden ihn zur Belohnung wenigstens<br />
am Leben lassen.<br />
„Ich habe sie gesehen“, sagte er. „Sie kamen heute<br />
Morgen mit zwei anderen in unser Dorf, davon eine Frau.<br />
Sie retteten zwei Männer, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Japaner gefangen<br />
genommen hatten; dann töteten <strong>die</strong> Sechs all <strong>die</strong> Japaner.“<br />
„Wo sind sie jetzt?“<br />
„Sie gingen auf einem anderen Pfad in den Wald hinaus.<br />
Ich weiß nicht, warum. Aber sie kommen heute Abend<br />
zurück. So sagten sie. Darf ich jetzt gehen?“<br />
„Und <strong>die</strong>se Leute warnen? Ich sage nein.“<br />
„Bring ihn lieber um“, sagte einer der Männer. Er sprach<br />
in Amats Dialekt, <strong>und</strong> Amat zitterte so, daß er beinah<br />
stürzte. Er warf sich auf <strong>die</strong> Knie <strong>und</strong> bettelte um sein<br />
Leben.<br />
„Tu, was wir sagen, dann werden wir dich nicht töten“,<br />
sagte Hooft.<br />
„Amat wird alles tun, was ihr wollt“, sagte der<br />
verängstigte Mann. „Ich kann euch noch mehr erzählen. Die<br />
126
Japaner würden für das Mädchen gut zahlen, das heute in<br />
unserem Dorf war. Die Japaner, <strong>die</strong> dort stationiert waren,<br />
redeten über sie. Zwei Jahre lang haben <strong>die</strong> Japaner sie<br />
gejagt. Vielleicht kann ich euch helfen, sie zu kriegen. Ich<br />
werde alles für euch tun.“<br />
Amat wußte nicht, wie er ihnen helfen könnte, Corrie zu<br />
bekommen, aber er war bereit, alles zu versprechen. Falls er<br />
sie nicht kriegen konnte, würde er vielleicht in den Wald<br />
davonlaufen, bis <strong>die</strong>se schrecklichen Männer fortgegangen<br />
waren.<br />
Die weitere Diskussion wurde durch Explosionslärm<br />
hinter dem Dorf unterbrochen, irgendwo nicht weit im Wald<br />
draußen.<br />
„Handgranaten“, sagte einer der Männer.<br />
„Klingt nach richtigem Gefecht“, sagte Hooft.<br />
Die lauteren Detonationen wurden vom Knall der<br />
Gewehrschüsse untermalt. „Das sind japanische 0.25er“,<br />
sagte Grotius.<br />
Über <strong>die</strong> Detonationen erhoben sich <strong>die</strong> durchdringenden<br />
Schreie von Männern im Todeskampf. Die ganze Sache<br />
dauerte nur wenige Minuten. Am Schluß gab es noch ein<br />
paar verstreute Gewehrschüsse, dann Stille. Man konnte <strong>die</strong><br />
Szene aus den Geräuschen beinah nacherleben. Es hatte ein<br />
hartes Treffen gegeben. Zwischen wem? fragten sich <strong>die</strong><br />
Gesetzlosen. Eine Seite war ausgelöscht worden. Welche?<br />
Die letzten Gewehrschüsse hatten <strong>die</strong> Verw<strong>und</strong>eten<br />
liqui<strong>die</strong>rt.<br />
Die Sieger würden bestimmt ins Dorf kommen. Hooft<br />
<strong>und</strong> seine Gefolgsleute erreichten den Waldrand <strong>und</strong> legten<br />
sich in Deckung. Das kleine Tal <strong>und</strong> das Kampong unter<br />
ihnen waren gut einzusehen.<br />
Sie hatten nicht lange zu warten. Vier weiße Männer <strong>und</strong><br />
ein weißes Mädchen tauchten vom Waldweg her auf. Sie<br />
waren mit all den Waffen <strong>und</strong> der Munition so schwer<br />
127
eladen, wie sie nur tragen konnten. Sie redeten aufgeregt.<br />
Die Männer gingen zu einer der Eingeborenenhütten, das<br />
Mädchen zu einer anderen.<br />
Hooft überlegte schnell. Er mußte einen Weg finden, das<br />
Mädchen zu kriegen, ohne mit dessen Gefährten<br />
zusammenzustoßen. Hooft war feige, wie alle Gewalttäter.<br />
Er konnte einen Mann von hinten erstechen oder erschießen,<br />
einem bewaffneten Gegner konnte er aber nicht<br />
gegenübertreten.<br />
Er wandte sich an Amat. „Bring dem Mädchen folgende<br />
Botschaft. Sag ihr, ein alter Fre<strong>und</strong> von ihr wartet am<br />
Waldrand auf sie. Er will nicht ins Dorf kommen, bevor er<br />
sicher ist, daß ihre Gefährten zu den Holländern halten. Sag<br />
ihr, sie soll allein zum Waldrand kommen <strong>und</strong> mit ihm<br />
reden. Er ist ein alter Fre<strong>und</strong> ihres Vaters. Und, Amat, erzähl<br />
sonst keinem, daß wir hier sind. Kommt jemand außer dem<br />
Mädchen, werden wir nicht hier sein; aber eines Tages<br />
werden wir zurückkommen <strong>und</strong> dich töten. Du kannst auch<br />
dem Mädchen sagen, daß ich nicht hier sein werde, wenn sie<br />
nicht allein kommt. Wiederhol mir <strong>die</strong>se Botschaft.“<br />
Amat wiederholte sie, <strong>und</strong> Hooft schickte ihn auf den<br />
Weg. Amat fühlte sich wie ein Verurteilter, der eben<br />
begnadigt wurde; oder wenigstens einen Strafaufschub<br />
erhalten hatte. Er schlüpfte leise ins Dorf <strong>und</strong> ging ans<br />
untere Ende der Leiter, <strong>die</strong> zur Tür der Hütte führte, in der<br />
Corrie einquartiert war. Er rief sie, <strong>und</strong> ein<br />
Eingeborenenmädchen kam zum Eingang. Als sie Amat sah,<br />
verzog verächtlich sie ihre Lippen. „Geh fort, du Schwein!“,<br />
sagte sie.<br />
„Ich habe eine Botschaft für <strong>die</strong> weiße Frau“, sagte Amat.<br />
Corrie hörte es <strong>und</strong> kam zum Eingang. „Was für eine<br />
Botschaft hast du für mich?“, fragte sie.<br />
„Es ist eine sehr private Botschaft“, sagte Amat. „Ich<br />
kann sie nicht rufen.“<br />
128
„Dann komm herauf.“<br />
Lara, das eingeborene Mädchen, rümpfte <strong>die</strong> Nase, als<br />
Amat ins Haus ging. Sie kannte ihn als Lügner <strong>und</strong><br />
Duckmäuser, aber sie warnte Corrie nicht. War das ihre<br />
Angelegenheit?<br />
Amat lieferte seine Botschaft ab. Corrie überlegte. „Wie<br />
sah der Mann aus?“, fragte sie.<br />
„Er ist ein weißer Mann mit einem Bart“, sagte Amat.<br />
„Das ist alles, was ich weiß.“<br />
„Ist er allein?“<br />
Amat überlegte schnell, wenn sie erfährt, daß da zwanzig<br />
von denen sind, wird sie nicht gehen; dann wird der Mann<br />
eines Tages kommen <strong>und</strong> mich töten. „Er ist allein“, sagte<br />
Amat.<br />
Corrie ergriff ihr Gewehr <strong>und</strong> stieg <strong>die</strong> Leiter zum Boden<br />
hinab. Die Männer ihrer Gruppe waren noch in der Hütte,<br />
<strong>die</strong> sie sich genommen hatten. Sie reinigten <strong>und</strong> ölten <strong>die</strong><br />
erbeuteten Gewehre. Eingeborene waren keine in der Nähe.<br />
Nur Amat <strong>und</strong> Lara sahen, wie das weiße Mädchen das<br />
Kampong verließ <strong>und</strong> den Wald betrat.<br />
129
Kapitel 15<br />
<strong>Tarzan</strong> hatte von den Eingeborenen nicht viele<br />
Informationen über <strong>die</strong> Guerillas bekommen können. Sie<br />
hatten gerüchteweise gehört, daß es etwa 65 Meilen<br />
südöstlich, in der Nähe eines gewissen Vulkans, eine Bande<br />
geben solle. Sie konnten <strong>die</strong> Gestalt <strong>die</strong>ses Vulkans<br />
beschreiben <strong>und</strong> verschiedene Geländemerkmale, <strong>die</strong> <strong>Tarzan</strong><br />
hinführen helfen mochten. Mit <strong>die</strong>sen mageren Auskünften<br />
war er aufgebrochen.<br />
Er wanderte bis zum Einbruch der Nacht <strong>und</strong> lagerte bis<br />
zum Morgen auf einem Baum. Seine einzigen Waffen waren<br />
Messer, Pfeil <strong>und</strong> Bogen. Er wollte sich nicht mit einem<br />
japanischen Gewehr <strong>und</strong> der Munition belasten. Am Morgen<br />
pflückte er einiges Obst <strong>und</strong> erlegte einen Hasen fürs<br />
Frühstück.<br />
Das Land, durch das er kam, war äußerst wild <strong>und</strong><br />
ermangelte jeglicher Hinweise auf Menschen.<br />
Nichts wäre <strong>Tarzan</strong> lieber gewesen. Er mochte <strong>die</strong><br />
Gefährten, <strong>die</strong> er zurückgelassen hatte; aber trotz all seiner<br />
Kontakte zu Menschen war er nie ganz gesellig geworden.<br />
Sein Volk waren <strong>die</strong> wilden Wesen des Waldes, des<br />
Dschungels, der Steppe. Bei ihnen war er immer zu Hause.<br />
Er liebte es, sie zu beobachten <strong>und</strong> zu erforschen. Häufig<br />
kannte er sie besser als sie sich selbst.<br />
Er kam an vielen Affen vorbei. Sie zeterten, bis er sie in<br />
ihrer eigenen Sprache anredete. Sie kannten ihre Welt, <strong>und</strong><br />
durch sie blieb er auf der richtigen Route zum Vulkan. Sie<br />
sagten ihm, in welche Richtung er weitergehen mußte, um<br />
das nächste Geländemerkmal zu erreichen, von dem <strong>die</strong><br />
Eingeborenen gesprochen hatten – ein kleiner See, eine<br />
Bergwiese, der Krater eines erloschenen Vulkans.<br />
130
Als er glaubte, daß er sich seinem Ziel näherte, fragte er<br />
einige Affen, ob es weiße Männer in der Nähe eines Vulkans<br />
gäbe. Er bezeichnete ihn argo ved – Feuerberg. Sie sagten,<br />
es gäbe welche, <strong>und</strong> beschrieben ihm, wie ihr Lager zu<br />
erreichen sei. Ein alter Affe sagte: „Kreeg-ah! Tarmangani<br />
sord. Tarmangani b<strong>und</strong>olo“, <strong>und</strong> er ahmte das Anlegen eines<br />
Gewehrs nach. Er sagte: „Boo! Boo!“ Hüte dich! Weiße<br />
Männer böse. Weiße Männer töten.<br />
Er fand das Lager in einer kleinen Schlucht, doch bevor<br />
er hingelangte, sah er einen Wächter, der den einzigen<br />
Zugang bewachte. <strong>Tarzan</strong> trat aus der Deckung <strong>und</strong> ging auf<br />
den Mann zu, einen bärtigen Holländer. Der Bursche legte<br />
sein Gewehr an <strong>und</strong> wartete ab, bis <strong>Tarzan</strong> auf<br />
fünf<strong>und</strong>zwanzig oder dreißig Schritte herangekommen war;<br />
dann hielt er ihn an.<br />
„Wer sind Sie, <strong>und</strong> was machen Sie hier?“, fragte er.<br />
„Ich bin Engländer. Ich würde gern mit Ihrem Chef reden.“<br />
Der Mann hatte <strong>Tarzan</strong> mit einiger Verw<strong>und</strong>erung taxiert.<br />
„Bleiben Sie, wo Sie sind“, befahl er. „Kommen Sie nicht<br />
näher.“ Dann rief er in <strong>die</strong> Schlucht hinunter: „De<br />
Lettenhove! Da ist ein Wilder heroben, der will mit dir<br />
reden.“<br />
<strong>Tarzan</strong> verbiß sich ein Lächeln. Schon oft zuvor hatte er<br />
<strong>die</strong>se Beschreibung von sich gehört, aber nie mit so ganz<br />
offener Mißachtung seiner Gefühle. Dann fiel ihm wieder<br />
ein, daß er den Mann auf Englisch angesprochen <strong>und</strong> gesagt<br />
hatte, er sei Engländer. Der Bursche indessen hatte de<br />
Lettenhove auf Holländisch zugerufen, zweifellos in der<br />
Annahme, daß der „Wilde“ <strong>die</strong>se Sprache nicht verstand. Er<br />
würde sie noch länger in dem Glauben lassen.<br />
Bald kamen drei Männer aus dem Tal. Alle waren schwer<br />
bewaffnet. Sie waren bärtige, hart aussehende Männer. Sie<br />
trugen geflickte, zerlumpte, unbestimmte Kleidung, teils<br />
Zivil, teils militärisch, teils grob aus Tierhäuten gefertigt.<br />
131
Einer von ihnen trug einen unansehnlichen Waffenrock mit<br />
den zwei Sternen eines Ersten Leutnants auf den<br />
Schulterklappen. Das war de Lettenhove. Er sagte auf<br />
Holländisch zu dem Wächter: „Was hat <strong>die</strong>ser Mann<br />
gemacht?“<br />
„Er ging einfach auf mich zu. Er unternahm keinen<br />
Versuch, mir auszuweichen oder sich vor mir zu verstecken.<br />
Vielleicht ist er ein harmloser Dummkopf, aber was zum<br />
Teufel er hier macht, ist mir schleierhaft. Er sagt, er ist ein<br />
Engländer. Er hat mit mir in <strong>die</strong>ser Sprache gesprochen.“<br />
De Lettenhove wandte sich <strong>Tarzan</strong> zu. „Wer sind Sie?<br />
Was machen Sie hier?“, fragte er auf Englisch.<br />
„Mein Name ist Clayton. Ich bin Offizier der RAF. Ich<br />
erfuhr, daß eine Kompanie holländischer Guerillas hier<br />
lagert. Ich wollte mit ihrem befehlshabenden Offizier<br />
sprechen. Sind das Sie? Ich weiß, daß auch<br />
Verbrecherbanden in den Bergen sind, doch der einzige Weg<br />
herauszufinden, was ihr seid, war herzukommen <strong>und</strong> mit<br />
euch zu sprechen. Das Wagnis hatte ich einzugehen.“<br />
„Ich bin nicht der befehlshabende Offizier“, sagte de<br />
Lettenhove. „Captain van Prins hat das Kommando, aber er<br />
ist heute nicht hier. Wir erwarten ihn morgen zurück.<br />
Weshalb genau wollen Sie ihn treffen? Ich kann Ihnen<br />
versichern“, fügte er lächelnd hinzu, „daß wir in den Augen<br />
der Japaner <strong>und</strong> der eingeborenen Kollaborateure als<br />
Verbrecher dastehen.“<br />
„Ich kam, weil ich Kontakt zu Leuten suche, denen ich<br />
vertrauen kann, <strong>die</strong> mir Informationen über <strong>die</strong> Stellungen<br />
japanischer Vorposten <strong>und</strong> über Eingeborenendörfer geben<br />
können, deren Einwohner den Holländern fre<strong>und</strong>lich gesinnt<br />
sind. Ich versuche, jenen auszuweichen, <strong>und</strong> von <strong>die</strong>sen<br />
vielleicht Unterstützung zu bekommen. Ich versuche, <strong>die</strong><br />
Küste zu erreichen, wo ich versuchen werde, ein Boot<br />
aufzutreiben <strong>und</strong> von der Insel zu entkommen.“<br />
132
De Lettenhove wandte sich an einen der Männer, der ihn<br />
vom Lager im Tal her begleitet hatte. „Ich begann ihm schon<br />
zu glauben“, sagte er auf Holländisch, „bis er das mit dem<br />
Boot anfing, daß er eins auftreiben <strong>und</strong> von der Insel<br />
entkommen will. Er muß uns für verdammte Narren halten,<br />
daß wir auf eine so dumme Erklärung seines Auftauchens<br />
hier hereinfallen. Er ist wahrscheinlich ein verdammter<br />
deutscher Spion. Wir werden ihn einfach festhalten, bis van<br />
Prins zurückkommt.“ Dann, zu <strong>Tarzan</strong>, auf Englisch: „Sie<br />
sagen, Sie sind ein englischer Offizier. Natürlich haben Sie<br />
etwas zur Identifikation bei sich?“<br />
„Nichts“, erwiderte <strong>Tarzan</strong>.<br />
„Darf ich fragen, warum ein englischer Offizier nackt in<br />
den Bergen von Sumatra herumläuft, bewaffnet mit einem<br />
Messer, Pfeil <strong>und</strong> Bogen?“ Sein Ton war ironisch. „Mein<br />
Fre<strong>und</strong>, Sie können bestimmt nicht erwarten, daß wir Ihnen<br />
glauben. Sie werden hier bleiben, bis Captain van Prins<br />
zurückkehrt.“<br />
„Als Gefangener?“, fragte <strong>Tarzan</strong>.<br />
„Als Gefangener. Kommen Sie, wir werden Sie ins Lager<br />
hinunter bringen.“<br />
Das Lager war sauber <strong>und</strong> gut bewacht. Frauen gab es<br />
keine. Es gab eine Reihe strohgedeckter Hütten, <strong>die</strong> mit<br />
militärischer Präzision angelegt waren. Die rot-weiß-blaue<br />
Flagge der Niederlande flatterte an einem Mast vor einer der<br />
Hütten. Zwanzig oder dreißig Männer waren im Lager<br />
umher mit Verschiedenem beschäftigt, <strong>die</strong> meisten von<br />
ihnen mit dem Reinigen der Gewehre oder Pistolen.<br />
Zerlumpt <strong>und</strong> zerrissen <strong>und</strong> schäbig waren ihre<br />
Kleidungsstücke, aber ihre Waffen waren tadellos. Daß <strong>die</strong>s<br />
ein gut diszipliniertes Militärlager war, davon war <strong>Tarzan</strong><br />
nun überzeugt. Das hier waren keine Gesetzlosen.<br />
Er wußte, daß er <strong>die</strong>sen Männern trauen konnte.<br />
Sein Betreten des Camps rief eine kleine Sensation<br />
133
hervor. Die Männer pausierten in ihrer Arbeit, um ihn<br />
anzustarren. Einige kamen <strong>und</strong> befragten jene, <strong>die</strong> ihn<br />
geleiteten.<br />
„Was habt ihr da aufgegabelt?“, fragte einer. „Den<br />
Wilden Mann von Borneo?“<br />
„Er sagt, er ist ein RAF-Captain, aber ich tippe auf<br />
zweierlei. Entweder ist er ein harmloser Narr oder ein<br />
deutscher Spion. Ich neige dazu, das Letztere anzunehmen.<br />
Er spricht nicht wie ein Tölpel.“<br />
„Spricht er Deutsch?“<br />
„Weiß nicht.“<br />
„Ich teste ihn.“ Er sprach <strong>Tarzan</strong> auf Deutsch an; <strong>und</strong><br />
<strong>die</strong>ser, von der Lächerlichkeit der Situation verleitet, rasselte<br />
eine Antwort in tadellosem Deutsch herunter.<br />
„Ich hab’s euch gesagt“, triumphierte der Doppel-Tipper.<br />
Dann wandte sich <strong>Tarzan</strong> an de Lettenhove. „Ich habe<br />
Ihnen gesagt, daß ich keine Identifikations-Mittel habe“,<br />
sagte er. „Ich habe keine bei mir, aber ich habe Fre<strong>und</strong>e, <strong>die</strong><br />
mich identifizieren können – drei Amerikaner <strong>und</strong> zwei<br />
Holländer. Diese Letzteren mögen Sie kennen.“<br />
„Wer sind sie?“<br />
„Corrie van der Meer <strong>und</strong> Tak van der Bos. Kennen Sie<br />
sie?“<br />
„Ich kannte sie sehr gut, aber beide sind als tot gemeldet<br />
worden.“<br />
„Gestern waren sie nicht tot“, sagte <strong>Tarzan</strong>.<br />
„Erzählen Sie mir“, sagte de Lettenhove. „Wie sind Sie<br />
überhaupt nach Sumatra geraten? Wie kann ein englischer<br />
Offizier in Kriegszeiten nach Sumatra kommen? Und was<br />
machen <strong>die</strong> Amerikaner hier?“<br />
„Ein amerikanischer Bomber soll vor einiger Zeit hier<br />
abgestürzt sein“, erinnerte einer der Männer de Lettenhove<br />
auf Holländisch. „Dieser Bursche, falls er mit den Japanern<br />
zusammenarbeitet, würde das gewußt haben. Er würde auch<br />
134
im Stande gewesen sein, <strong>die</strong> Namen von Miß van der Meer<br />
<strong>und</strong> Tak zu erfahren. Laßt den verdammten Narren<br />
weitermachen. Er gräbt sich sein eigenes Grab.“<br />
„Fragt ihn, woher er wußte, daß unser Lager hier ist“,<br />
schlug ein anderer vor.<br />
„Woher wußten Sie, wo Sie uns finden?“, fragte de<br />
Lettenhove.<br />
„Ich werde alle Ihre Fragen beantworten“, sagte <strong>Tarzan</strong>.<br />
„Ich war an Bord des Bombers, der abgeschossen wurde.<br />
Daher kommt es, daß ich hier bin. Die drei Amerikaner, <strong>die</strong><br />
ich erwähnt habe, sind ebenfalls Überlebende aus <strong>die</strong>sem<br />
Flugzeug. In einem Eingeborenendorf erfuhr ich gestern <strong>die</strong><br />
ungefähre Lage Ihres Camps. Diese Dorfbewohner haben<br />
mit den Japanern kollaboriert. Es gab dort einen<br />
einquartierten japanischen Vorposten. Wir hatten gestern ein<br />
Gefecht mit ihnen <strong>und</strong> haben <strong>die</strong> ganze Besatzung<br />
ausgelöscht.“<br />
„Sie sprechen exzellentes Deutsch“, sagte einer der<br />
Männer vorwurfsvoll.<br />
„Ich spreche verschiedene Sprachen“, sagte <strong>Tarzan</strong>,<br />
„einschließlich Deutsch.“<br />
De Lettenhove errötete. „Warum haben Sie mir all das<br />
nicht gleich gesagt?“, fragte er.<br />
„Ich wollte mich erst davon überzeugen, daß ich unter<br />
möglichen Fre<strong>und</strong>en bin. Ihr hättet Kollaborateure sein<br />
können. Ich habe gerade erst meine Erfahrungen mit einer<br />
Bande bewaffneter Holländer gemacht, <strong>die</strong> mit den Japanern<br />
zusammenspielen.“<br />
„Was hat Sie überzeugt, wir wären in Ordnung?“<br />
„Das Aussehen <strong>die</strong>ses Lagers. Es ist nicht das Lager einer<br />
Bande <strong>und</strong>isziplinierter Verbrecher. Und außerdem habe ich<br />
alles verstanden, was ihr auf Holländisch sagtet. Ihr hättet<br />
nicht fürchten müssen, daß ich ein Spion sei, wenn ihr auf<br />
gutem Fuß mit den Japanern gestanden wärt. Ich bin<br />
135
überzeugt, daß ich euch trauen kann. Es tut mir Leid, daß ihr<br />
mir nicht vertraut. Vielleicht hättet ihr mir <strong>und</strong> meinen<br />
Fre<strong>und</strong>en von großer Hilfe sein können.“<br />
„Ich möchte Ihnen gerne glauben“, sagte de Lettenhove.<br />
„Wir werden es dabei belassen, bis Captain van Prins<br />
zurückkehrt.“<br />
„Wenn er Corrie van der Meer <strong>und</strong> Tak van der Bos<br />
beschreiben kann, werde ich ihm glauben“, sagte einer der<br />
Männer. „Falls sie tot sind, wie wir gehört haben, kann er sie<br />
nie gesehen haben, denn Corrie wurde mit ihrem Vater <strong>und</strong><br />
ihrer Mutter vor über zwei Jahren oben in den Bergen<br />
umgebracht; <strong>und</strong> Tak wurde von den Japanern gefangen <strong>und</strong><br />
getötet, nachdem er aus dem Konzentrationslager geflohen<br />
ist.“<br />
<strong>Tarzan</strong> beschrieb <strong>die</strong> Beiden genau <strong>und</strong> erzählte viel von<br />
dem, was ihnen in den vergangenen zwei Jahren passiert<br />
war.<br />
De Lettenhove hielt <strong>Tarzan</strong> seine Hand hin. „Jetzt glaube<br />
ich Ihnen“, sagte er, „aber Sie müssen verstehen, daß wir<br />
jeden verdächtigen müssen.“<br />
„Wie auch ich“, erwiderte der Engländer.<br />
„Verzeihen Sie mir, wenn ich unhöflich erscheine“, sagte<br />
der Holländer, „aber ich wüßte wirklich gern, warum Sie<br />
fast nackt herumlaufen wie ein rechter <strong>Tarzan</strong>.“<br />
„Weil ich <strong>Tarzan</strong> bin.“ Er sah, wie Ungläubigkeit <strong>und</strong><br />
Zweifel in de Lettenhoves Gesicht zurückkehrten.<br />
„Möglicherweise werden sich einige von euch erinnern, daß<br />
<strong>Tarzan</strong> ein Engländer ist <strong>und</strong> sein Name Clayton lautet. Das<br />
ist der Name, den ich euch nannte, ihr werdet euch<br />
erinnern.“<br />
„Das stimmt“, rief einer der Männer. „John Clayton, Lord<br />
Greystoke.“<br />
„Und da ist <strong>die</strong> Narbe an seiner Stirn, <strong>die</strong> er als Knabe<br />
beim Kampf mit einem Gorilla erhielt“, rief ein anderer.<br />
136
„Ich glaube, damit reicht es“, sagte de Lettenhove.<br />
Die Männer scharten sich um ihn <strong>und</strong> stellten <strong>Tarzan</strong><br />
unzählige Fragen. Jetzt waren sie mehr als fre<strong>und</strong>lich <strong>und</strong><br />
versuchten, ihre vorherigen Verdächtigungen gutzumachen.<br />
„Bin ich immer noch ein Gefangener?“, fragte er de<br />
Lettenhove.<br />
„Nein, aber ich hätte gern, daß Sie bleiben würden, bis<br />
der Captain zurückkehrt. Ich weiß, daß er mehr als bestrebt<br />
sein wird, Ihnen von Hilfe zu sein.“<br />
137
Kapitel 16<br />
Als Corrie den Wald betrat, sah sie etwa dreißig Meter vor<br />
ihr einen Mann auf dem Pfad stehen. Es war Hooft. Er zog<br />
seinen Hut <strong>und</strong> verbeugte sich lächelnd. „Danke, daß Sie<br />
gekommen sind“, sagte er. „Ich fürchtete mich, ins Dorf<br />
hinunter zu gehen, bevor ich sicher war, daß <strong>die</strong> Leute dort<br />
fre<strong>und</strong>lich sind.“<br />
Corrie ging näher zu ihm hin. Sie kannte ihn nicht.<br />
Obwohl er lächelte, war sein Aussehen äußerst<br />
unvorteilhaft; daher hielt sie ihr Gewehr bereit. „Wenn Sie<br />
ein loyaler Holländer sind“, sagte sie, „werden Sie in <strong>die</strong>sem<br />
Dorf auf fre<strong>und</strong>lich gesinnte Männer treffen. Was wollen Sie<br />
von ihnen?“<br />
Sie war ihm auf zwanzig Schritt nahe gekommen, als<br />
plötzlich zu beiden Seiten des Pfades Männer aus dem<br />
Gestrüpp sprangen. Der Lauf ihres Gewehres wurde<br />
hochgeschlagen, <strong>die</strong> Waffe gepackt <strong>und</strong> ihrem Griff<br />
entw<strong>und</strong>en.<br />
„Machen Sie keinen Lärm, dann passiert Ihnen nichts“,<br />
sagte einer der Männer.<br />
Pistolen wurden auf sie gerichtet, als Drohung, was ihr<br />
geschehen würde, wenn sie um Hilfe riefe. Sie sah, daß <strong>die</strong><br />
Männer um sie Holländer waren, <strong>und</strong> begriff, daß sie<br />
wahrscheinlich zur selben Bande von Gesetzlosen gehörten,<br />
der Tak <strong>und</strong> <strong>Tarzan</strong> entkommen waren.<br />
„Was wollt ihr von mir?“, fragte sie.<br />
„Wir werden Ihnen nicht wehtun“, sagte Hooft.<br />
„Kommen Sie bloß still mit, <strong>und</strong> wir werden Sie nicht lang<br />
festhalten.“ Schon zogen sie den Pfad weiter, Männer vor ihr<br />
<strong>und</strong> hinter ihr. Sie sah ein, daß es unmöglich war zu fliehen.<br />
„Aber was werdet ihr mit mir tun?“, fragte sie weiter.<br />
138
„Das werden Sie in einigen Tagen herausfinden.“<br />
„Meine Fre<strong>und</strong>e werden nachkommen, <strong>und</strong> wenn sie euch<br />
einholen, werdet ihr euch wünschen, ihr hättet mich nie<br />
gesehen.“<br />
„Die werden uns nie einholen“, sagte Hooft. „Wenn sie’s<br />
auch täten, sie sind nur zu viert. Wir würden sie<br />
unverzüglich auslöschen.“<br />
„Ihr kennt sie nicht“, sagte Corrie. „Heute haben sie<br />
vierzig Japaner getötet, <strong>und</strong> sie werden euch finden, egal,<br />
wo ihr euch versteckt. Es wäre besser, ihr laßt mich<br />
umkehren; denn ihr werdet es sicher büßen, wenn ihr’s nicht<br />
tut.“<br />
„M<strong>und</strong> halten“, sagte Hooft.<br />
Sie eilten weiter. Die Nacht begann, aber sie hielten nicht<br />
an. Corrie dachte an Jerry <strong>und</strong> <strong>die</strong> anderen. Am meisten<br />
dachte sie an Jerry. Sie fragte sich, ob er sie schon vermißte.<br />
Was sie tun würden, wenn sie sie vermißten, fragte sie sich<br />
nicht. Sie wußte es. Sie wußte, daß sie mit der Suche nach<br />
ihr unverzüglich anfangen würden. Vielleicht hatten sie<br />
bereits damit begonnen. Sie verlangsamte, gab vor, müde zu<br />
sein. Sie wollte ihre Häscher aufhalten; aber sie stießen sie<br />
grob weiter <strong>und</strong> fluchten auf sie.<br />
Im Dorf war Jerry der Erste, der sich fragte, warum<br />
Corrie nicht zu ihnen gekommen war, denn <strong>die</strong><br />
Eingeborenen hatten ihr Abendessen zubereitet. Er sah Amat<br />
<strong>und</strong> bat van der Bos, ihn zu Corrie zu schicken. Der<br />
Eingeborene ging zum Haus, das Corrie belegt hatte, <strong>und</strong> tat,<br />
als suchte er sie. Bald kam er zurück <strong>und</strong> sagte, daß sie nicht<br />
dort wäre. „Ich sah sie vorhin in den Wald gehen“, sagte er.<br />
„Ich nahm an, sie sei zurück, aber sie ist nicht in ihrem<br />
Haus.“<br />
„Wo in den Wald?“, fragte van der Bos. Amat zeigte auf<br />
einen anderen Pfad als den, den Corrie genommen hatte.<br />
Als van der Bos übersetzt hatte, was Amat sagte, nahm<br />
139
Jerry sein Gewehr auf <strong>und</strong> ging auf den Wald zu. Die<br />
anderen folgten ihm.<br />
„Was in aller Welt hat sie geritten, allein in den Wald fort<br />
zu strolchen?“, fragte Jerry.<br />
„Vielleicht ist sie nicht dort hin“, sagte Rosetti.<br />
„Vielleicht hat der kleine Stinker gelogen. Mir gefällt seine<br />
Schnauze nicht. Er schaut aus wie eine Ratte.“<br />
„Ich glaub’ dem kleinen Mistkerl auch nicht“, sagte<br />
Bubonovitch. „Es ist gar nicht Corries Art, sowas zu tun.“<br />
„Ich weiß“, sagte Jerry, „aber suchen werden wir sie<br />
jedenfalls müssen. Wir können <strong>die</strong> Möglichkeit nicht<br />
vergeben, sie zu finden, wie gering sie auch sein mag.“<br />
„Wenn der kleine, feige Wicht gelogen hat, wenn er weiß,<br />
was aus Corrie geworden ist, werd’ ich ihm ein Bajonett<br />
mitten durch den Bauch stoßen“, knurrte Rosetti.<br />
Sie betraten den Wald <strong>und</strong> riefen laut Corries Namen.<br />
Bald sahen sie <strong>die</strong> Zwecklosigkeit davon ein. In der<br />
pechschwarzen Waldnacht hätten sie keine Spur sehen<br />
können, auch wenn eine dagewesen wäre.<br />
„Wenn bloß <strong>Tarzan</strong> hier wäre“, sagte Jerry. „Gott! Fühle<br />
ich mich aber hilflos.“<br />
„Irgendwas Faules wurde da gedreht“, sagte Rosetti.<br />
„Ich glaub’, wir sollten lieber zurückgehen <strong>und</strong> das ganze<br />
Dorf im dritten Grad verhören.“<br />
„Du hast Recht, Shrimp“, sagte Jerry. „Kehren wir um.“<br />
Sie jagten <strong>die</strong> Eingeborenen auf <strong>und</strong> trieben sie in der<br />
Mitte des Dorfes zusammen. Dann befragte van der Bos sie.<br />
Die ersten Verhörten leugneten sogar jegliche Kenntnis von<br />
Corries Weggehen. Sie bestritten, irgendeine Idee davon zu<br />
haben, wo sie sein könnte. Als Lara an <strong>die</strong> Reihe kam,<br />
wollte Amat davonschleichen. Shrimp sah ihn, weil er ihn<br />
im Auge behalten hatte, packte ihn im Genick <strong>und</strong> stieß ihn<br />
in <strong>die</strong> Mitte der Szene, wobei er ihm gleich auch schnell<br />
einen Tritt in den Hintern gab. „Diese Laus hat versucht<br />
140
abzuhauen“, verkündete er. „Ich hab’s euch gesagt, daß er<br />
ein falscher Kerl ist.“ Er hielt <strong>die</strong> Spitze seines Bajonetts ans<br />
untere Ende von Amats Rücken.<br />
Van der Bos verhörte Lara gründlich, <strong>und</strong> dann übersetzte<br />
er den anderen ihre Antworten. „Dieses Mädchen sagt, daß<br />
Amat gekommen ist <strong>und</strong> Corrie erzählte, ein Fre<strong>und</strong> ihres<br />
Vaters warte am Waldrand <strong>und</strong> wolle sie sehen, aber sie<br />
sollte allein kommen, weil er nicht wüßte, ob wir übrigen<br />
den Holländern fre<strong>und</strong>lich gesinnt wären oder nicht. Sie ist<br />
auf dem Pfad dort in den Wald gegangen.“ Er zeigte hin. Es<br />
war nicht der Pfad, von dem Amat gesagt hatte, sie hätte ihn<br />
genommen.<br />
„Ich hab’s euch gesagt!“, rief Rosetti. „Sagt <strong>die</strong>sem<br />
Stinktier, er soll seine letzten Gebete sprechen, denn ich<br />
werde ihn umbringen.“<br />
„Nein, Rosetti“, sagte Jerry. „Er ist der Einzige, der <strong>die</strong><br />
Wahrheit kennt. Wir können sie aus ihm nicht<br />
herauskriegen, wenn er tot ist.“<br />
„Ich kann warten“, sagte Rosetti.<br />
Tak van der Bos verhörte Amat gründlich, während<br />
Rosetti <strong>die</strong> Bajonettspitze gegen <strong>die</strong> linke Niere des<br />
eingeschüchterten Eingeborenen gedrückt hielt.<br />
„Nach dem, was <strong>die</strong>ser Mann erzählt“, sagte Tak, „ging<br />
er in den Wald, um Durians zu pflücken. Da wurde er<br />
gleich von einer Bande Weißer gefangen genommen. Er<br />
sagt, es wären etwa zwanzig gewesen. Einer von denen<br />
zwang ihn, Corrie <strong>die</strong>se Botschaft zu überbringen, <strong>und</strong><br />
drohte ihm, zurückzukommen <strong>und</strong> ihn umzubringen, wenn<br />
Corrie nicht allein hinauskäme. Er sagt, er habe sich<br />
schrecklich gefürchtet. Er glaubte auch, der Mann wolle<br />
nur mit Corrie reden. Sagt, er wüßte nicht, daß sie sie<br />
mitnehmen würden.“<br />
„Darf ich ihn jetzt umbringen, Captain?“, fragte Shrimp.<br />
„Nein“, sagte Jerry.<br />
141
„Och, zur Hölle! Warum nicht? Du weißt, der Mistkerl<br />
lügt.“<br />
„Wir sind keine Japaner, Rosetti. Und wir haben grad<br />
jetzt anderes zu tun.“ Er wandte sich an van der Bos. „Ist es<br />
nicht wahrscheinlich, daß <strong>die</strong>se Burschen <strong>die</strong>selben waren,<br />
denen Sie <strong>und</strong> <strong>Tarzan</strong> entkommen sind?“<br />
„Ich glaube, da gibt’s keinen Zweifel.“<br />
„Dann können Sie uns zu ihrem Lager führen?“<br />
„Ja.“<br />
„Bei Nacht?“<br />
„Wir können sofort losziehen“, sagte van der Bos. „Gut!“,<br />
rief Jerry. „Gehen wir!“<br />
Rosetti versetzte Amat schnell einen Stoß mit seinem<br />
Bajonett, der den Eingeborenen ängstlich aufschreien ließ.<br />
Jerry fuhr zu dem Sergeanten herum.<br />
„Ich hab’ ihn nicht umgebracht, Captain. Du hast mir aber<br />
nicht gesagt, daß ich ihm nicht einen glücklichen Piekser<br />
verpassen darf.“<br />
„Ich hätte ihn selbst gern umgebracht, Shrimp“, sagte<br />
Jerry. „Aber wir können <strong>die</strong> Dinge nicht auf <strong>die</strong>se Weise<br />
erledigen.“<br />
Jerry zog los zum Anfang des Pfades. Die anderen folgten<br />
ihm. Shrimp schüttelte den Kopf <strong>und</strong> murrte.<br />
Bubonovitch verzichtete auf Sticheleien über<br />
Frauenfeinde. Er war nicht in der Laune für Sticheleien,<br />
aber er konnte nicht vergessen, wie heftig sich Shrimp<br />
geärgert hatte, daß sie ein „Weibsbild“ in ihre Gruppe<br />
aufnahmen.<br />
*<br />
Corrie sah ein, daß ihre Verzögerungstaktik ihr nichts<br />
einbrachte als Beschimpfungen, <strong>und</strong> paßte sich dem<br />
mäßigen Schritt ihrer Fänger an. Bald vernahm sie drei harte<br />
142
Schläge von vorn, als hätte jemand mit einem schweren<br />
Werkzeug drei Mal gegen einen Baumstamm geschlagen.<br />
Die Männer hielten an, <strong>und</strong> Ffooft schlug mit dem Kolben<br />
seines Gewehres drei Mal gegen einen Baumstamm – zwei<br />
Schläge knapp hintereinander, <strong>und</strong> dann einen dritten in<br />
etwas längerem Abstand.<br />
Eine Frauenstimme fragte: „Wer ist es?“, <strong>und</strong> der<br />
Bandenchef antwortete: „Ffooft.“<br />
„Kommt rein“, sagte <strong>die</strong> Frau. „Diese Schnapsstimme<br />
würde ich noch erkennen, wenn ich sie in der Hölle hörte.“<br />
Die Gruppe ging weiter, <strong>und</strong> bald meldete sich <strong>die</strong> Frau<br />
wieder, von direkt über ihnen. „Ich komme hinunter“, sagte<br />
sie. „Postiere einen deiner Männer hier oben, Hooft. Das ist<br />
kein Job für eine Lady.“<br />
„Wer hat dich auf <strong>die</strong> Idee gebracht, du wärst eine<br />
Lady?“, fragte Hooft, während <strong>die</strong> Frau von der Plattform<br />
herabstieg, von der aus sie den Pfad zum Lager bewacht<br />
hatte. Sie war Hoofts Weib, Sarina.<br />
„Du nicht, Herzchen“, sagte <strong>die</strong> Frau.<br />
„Wir werden hier keine Wache mehr brauchen“, sagte<br />
Hooft „wir hauen schnell ab von hier.“<br />
„Warum? Jagt dich irgend so ein Lahmer mit einer<br />
Steinschleuder?“<br />
„Maul halten!“, schnappte Hooft. „Eines Tages wirst du<br />
dein M<strong>und</strong>werk einmal zu weit aufreißen.“<br />
„Daß ich nicht lache“, sagte Sarina.<br />
„Ich hab’ verdammt <strong>die</strong> Nase voll von dir“, sagte Hooft.<br />
„Ich hab’ <strong>die</strong> Nase schon lang voll von dir, Herzchen.<br />
Eines Tages tausche ich dich gegen einen Orang-Utan ein.“<br />
Bald betraten sie das Lager <strong>und</strong> scheuchten <strong>die</strong> Frauen<br />
auf, worauf beträchtliches Gezeter entstand, als <strong>die</strong> Frauen<br />
erfuhren, daß sie so spätnachts das Lager abbrechen sollten<br />
um weiterzuziehen.<br />
Einige Fackeln wurden entzündet, <strong>und</strong> in ihrem trüben,<br />
143
flackernden Licht las <strong>die</strong> Bande ihre bescheidene Habe auf.<br />
Das Licht ließ <strong>die</strong> Frauen auch Corrie entdecken.<br />
„Wer ist das Kind?“, fragte eine von ihnen. „Das ist kein<br />
Ort für einen netten Jungen.“<br />
„Das ist kein Junge“, sagte ein Mann. „Das ist ein<br />
Mädchen.“<br />
„Was wollt ihr mit ihr?“, fragte eine Frau mißtrauisch.<br />
„Die Japaner wollen sie“, erklärte Gropius, der<br />
Unteranführer.<br />
„Vielleicht werden sie sie nicht kriegen?“, sagte Hooft.<br />
„Warum nicht?“, fragte Gropius.<br />
„Weil ich vielleicht selbst an ihr Gefallen finde. Ich<br />
werde Sarina einem Affen überlassen.“ Alle lachten, Sarina<br />
lauter als <strong>die</strong> anderen.<br />
„Du schaust nicht viel gleich, du hörst dich nicht<br />
besonders an, <strong>und</strong> es lebt sich mit dir auch nicht toll“,<br />
verkündete sie; „aber bis ich mir einen anderen Mann finde,<br />
theaterst du nicht mit irgend einer anderen Frau herum. Und<br />
schau, daß du das nicht vergißt“, fügte sie hinzu.<br />
Sarina war eine gut gebaute Frau von fünf<strong>und</strong>dreißig<br />
Jahren, schlank <strong>und</strong> muskulös. Eine automatische Pistole<br />
hing an ihrer Hüfte, <strong>und</strong> ihr Karabiner war immer in ihrer<br />
Reichweite. Sie betrachtete sich auch nicht als komplett<br />
ausgestattet, wenn nicht ihr Parang in seiner Scheide vom<br />
Gürtel baumelte. Aber das waren nur äußerliche Respekt<br />
einflößende Merkmale Sarinas. Es war ihre angeborene<br />
Grausamkeit, <strong>die</strong>, einmal erweckt, sie bei den<br />
Halsabschneidern <strong>und</strong> Heruntergekommenen von Hoofts<br />
prächtiger Bande gefürchtet machte. Und <strong>die</strong>se Grausamkeit<br />
hatte sie sich ganz selbstverständlich erworben. Ihr<br />
mütterlicher Großvater war ein Kopfjäger aus Borneo<br />
gewesen, <strong>und</strong> ihre mütterliche Großmutter eine Batak-<br />
Kannibalin. Ihr Vater war ein Holländer, der in <strong>und</strong> um <strong>die</strong><br />
Südsee als Abenteurer gelebt <strong>und</strong> dem Betrug <strong>und</strong> der<br />
144
Piraterie gefrönt hatte; schließlich war er wegen Mordes am<br />
Galgen gestorben. Sarina selbst, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Traditionen ihrer<br />
Familie weiterführte, war wegen Mordes lebenslänglich<br />
verurteilt <strong>und</strong> aus dem Gefängnis zur Zeit der japanischen<br />
Invasion freigelassen worden.<br />
Es stimmt, daß der Mann, den sie ermordet hatte, schon<br />
lange vorher hätte ermordet werden sollen; daher sollte man<br />
Sarina nicht allzu streng beurteilen. Es stimmt auch, wie es<br />
bei Charakteren wie Sarina oft der Fall ist, daß sie viele<br />
löbliche Eigenschaften besaß. Sie war großzügig, treu <strong>und</strong><br />
aufrichtig. Auf den geringsten Anlaß würde sie dafür<br />
kämpfen, wovon sie glaubte, daß es richtig sei. Tatsächlich<br />
bedurfte es nicht des geringsten Anlasses. Hooft fürchtete<br />
sie.<br />
Corrie hatte mit wachsender Bestürzung dem Austausch<br />
der Fre<strong>und</strong>lichkeiten zwischen Hooft <strong>und</strong> Sarina zugehört.<br />
Sie wußte nicht, wen sie mehr zu fürchten hatte. Sie konnte<br />
den Japanern übergeben, von Hooft genommen oder von<br />
Sarina umgebracht werden. Die Gesetzlosen hatten das<br />
Lager auf einem anderen Pfad verlassen als dem, worauf<br />
Corrie hergebracht worden war. Hooft hatte für den Marsch<br />
Befehle erteilt, <strong>die</strong> dafür sorgen sollten, daß ihre Fährte<br />
jeden, der ihr zu folgen versuchte, vollkommen irreleiten<br />
sollte. Als Corrie das hörte, schien ihr letzter<br />
Hoffnungsstrahl zu erlöschen.<br />
Auf dem Marsch ging Sarina immer in ihrer Nähe. Corrie<br />
hoffte, daß <strong>die</strong>s Hooft fernhalten würde. Von den Beiden<br />
fürchtete sie ihn mehr als <strong>die</strong> Frau.<br />
145
Kapitel 17<br />
Tak van der Bos führte Jerry, Bubonovitch <strong>und</strong> Rosetti<br />
durch <strong>die</strong> <strong>und</strong>urchdringliche Finsternis des tropischen<br />
Waldes zum Lager der Gesetzlosen. R<strong>und</strong> um sie war der<br />
nächtliche Lärm des Dschungels; aber sie sahen nichts, nicht<br />
einmal einander. Sie wurden allein von den leisen<br />
Geräuschen der Ausrüstung des Mannes unmittelbar vor<br />
ihnen geleitet. Wenn van der Bos langsamer wurde oder<br />
anhielt, weil er nach dem Pfad tastete, stießen sie<br />
gegeneinander. Häufig rannten sie gegen Bäume oder<br />
stolperten leise fluchend über Hindernisse.<br />
Fremdartige Geräusche kamen aus dem Dschungel –<br />
unerklärliches Krachen, gelegentlich ein Angst- oder<br />
Todesschrei. Leben <strong>und</strong> Tod waren rings um sie. Und<br />
manchmal gab es eine seltsame Stille, bedrohlicher als der<br />
Lärm. Dann dachte Bubonovitch: Der Tod ist auf dem Weg.<br />
Der Dschungel wartet herauszufinden, wo er zuschlagen<br />
wird, jedes Geschöpf fürchtet, selbst seine Aufmerksamkeit<br />
zu erregen.<br />
Rosetti fühlte sich wie ein Traumwandler. Er ging <strong>und</strong><br />
ging <strong>und</strong> ging <strong>und</strong> kam nie irgendwo an. Es war, als wäre er<br />
ewig gegangen <strong>und</strong> würde in der Finsternis weiter durch <strong>die</strong><br />
Ewigkeit gehen.<br />
Jerry dachte nur daran, was Corrie passieren mochte, <strong>und</strong><br />
haderte mit ihrem langsamen Vorankommen. Zum tausendsten<br />
Mal fragte er sich, wie lange es noch dauern mochte, bis sie<br />
das Lager erreichen würden, als er gegen van der Bos<br />
prallte. Dann liefen Rosetti <strong>und</strong> Bubonovitch gegen ihn.<br />
Van der Bos hielt sie in einem Haufen zusammen <strong>und</strong><br />
flüsterte: „Haltet <strong>die</strong> Waffen bereit. Wir nähern uns ihrem<br />
Wachtposten. Im Finstern könnten wir ihn beschleichen.<br />
146
Sollte er angreifen, werden Jerry <strong>und</strong> ich es ihm geben; dann<br />
werden wir das Lager stürmen <strong>und</strong> dabei höllisch brüllen.<br />
Aber wir können dort nicht schießen, bevor wir Corrie<br />
aufgespürt haben. Sobald wir sie haben, können wir zu<br />
schießen beginnen; dann haltet grad durch das Lager<br />
weiter.“<br />
„Ich glaube, wir sollten schießend eindringen, aber in <strong>die</strong><br />
Luft zielen“, schlug Jerry vor.<br />
„Das ist besser“, stimmte van der Bos zu. „Kommt,<br />
weiter!“<br />
Da war keine Wache aufgestellt, daher krochen sie leise<br />
ins verlassene Lager, um zu erk<strong>und</strong>en. Hier im Offenen war<br />
es nicht so dunkel, <strong>und</strong> sie entdeckten bald, daß ihre Beute<br />
entflohen war. Ihre Reaktionen auf <strong>die</strong>se Enttäuschung<br />
äußerten sie auf verschiedene Weise, <strong>und</strong> fluchend.<br />
„Wohin gehen wir von hier?“, fragte Rosetti.<br />
„Wir werden das Tageslicht abwarten müssen, bevor wir<br />
ihre Spur aufnehmen“, sagte Jerry. „Der Rest von euch holt<br />
sich etwas Schlaf. Ich werde eine St<strong>und</strong>e lang Wache halten.<br />
Dann kann mich einer von euch eine St<strong>und</strong>e lang ablösen.<br />
Bis dahin sollte es hell sein.“<br />
„Laß mich Wache steh’n, Captain“, sagte Rosetti. „Ich<br />
pack’ das besser als du.“<br />
„Was bringt dich zu der Annahme?“, fragte Jerry.<br />
„Nun – na, schau, du bist ganz schön alt. Du solltest zu<br />
deiner Ruh’ kommen.“<br />
Jerry grinste. „Danke trotzdem, Shrimp; aber ich<br />
übernehme <strong>die</strong> erste Wache.“<br />
Sobald es hell war, suchten sie nach den Spuren der<br />
Gesetzlosen; aber sie fanden keine, <strong>die</strong> aus dem Lager<br />
hinaus führte. Das verwirrte sie, bis Bubonovitch meinte,<br />
daß sie auf demselben Weg weggezogen sein könnten, auf<br />
dem sie selbst herbeigekommen waren, <strong>und</strong> daß <strong>die</strong> Fährte<br />
der Verbrecher von ihrer eigenen verwischt worden war.<br />
147
„Sie müssen sich bei der Gabelung nach rechts gehalten<br />
haben“, sagte van der Bos. „Ich schätze, wir müssen dorthin<br />
zurückgehen <strong>und</strong> ganz neu beginnen.“ Aber als sie <strong>die</strong><br />
Gabelung erreichten, gab es kein Anzeichen von einer neuen<br />
Spur, <strong>die</strong> auf dem Hauptpfad weitergelaufen wäre.<br />
„Was zur Hölle ist aus denen geworden?“, fragte Rosetti.<br />
„Da ist irgendwas faul dran – daß Leute einfach so<br />
verschwinden.“<br />
„<strong>Tarzan</strong> hatte Recht. Die Zivilisation hat uns der meisten<br />
unserer körperlichen Fähigkeiten beraubt“, sagte<br />
Bubonovitch.<br />
„Alles, was wir weiter tun können“, sagte Jerry, „ist ins<br />
Dorf zurückgehen <strong>und</strong> auf ihn warten. Ein Haufen<br />
Blindgänger wie wir könnte sie nie finden, <strong>und</strong> wenn wir’s<br />
versuchen, verpassen wir <strong>Tarzan</strong> ganz, wenn er<br />
zurückkehrt.“<br />
Sie waren eine entmutigte Gruppe, als sie ins Dorf<br />
zurückkehrten. Als Amat Rosetti das Dorf betreten sah,<br />
verschwand er in den Wald <strong>und</strong> kletterte auf einen Baum.<br />
Dort blieb er bis in <strong>die</strong> Nacht, ein verängstigter,<br />
unglücklicher Kollaborateur.<br />
*<br />
<strong>Tarzan</strong> wartete im Guerilla-Camp, bis Captain Kervyn van<br />
Prins zurückkam. Van Prins, de Lettenhove <strong>und</strong> <strong>Tarzan</strong><br />
besprachen sich ausführlich. <strong>Tarzan</strong> erzählte ihnen von der<br />
Vernichtung der japanischen Abteilung im Dorf <strong>und</strong> von den<br />
zusätzlichen Gewehren <strong>und</strong> der Munition, wovon er<br />
annahm, <strong>die</strong> Guerillas könnten sie brauchen.<br />
„Als ich gestern wegging“, sagte er, „machten sich meine<br />
Fre<strong>und</strong>e auf, der japanischen Ablösung aufzulauern, <strong>die</strong><br />
jederzeit zu erwarten war. Falls sie angekommen ist, habe<br />
ich wenig Zweifel am Ausgang <strong>die</strong>ses Treffens; also sollte<br />
148
ganz schön zusätzliche Ausrüstung für euch da sein, wenn<br />
ihr euch <strong>die</strong> Mühe macht <strong>und</strong> sie euch abholt. Ich glaube,<br />
auch das Dorf braucht eine Lektion. Zweifellos arbeiten<br />
<strong>die</strong>se Leute mit den Japanern zusammen.“<br />
„Sie sagen, Sie glauben, <strong>die</strong> japanische Ablösung würde<br />
aus etwa zwanzig Mann bestehen“, sagte van Prins, „<strong>und</strong><br />
Ihre Gruppe hatte nur fünf Leute, darunter ein Mädchen.<br />
Sind Sie nicht gar zu zuversichtlich, wenn Sie glauben, ein<br />
Kampf würde für ihre Leute siegreich ausgehen?“<br />
<strong>Tarzan</strong> lächelte. „Sie kennen meine Leute nicht“, sagte er.<br />
„Sie besaßen fürwahr einen beträchtlichen Vorteil den<br />
Japanern gegenüber. Sie wußten, daß <strong>die</strong> Japaner kamen;<br />
aber <strong>die</strong> Japaner wußten nicht, daß wir dort waren <strong>und</strong> sie<br />
auf Bäumen beiderseits des Pfades erwarteten, bewaffnet<br />
mit Gewehren <strong>und</strong> Handgranaten. Unterschätzen Sie nicht<br />
<strong>die</strong> Kampfkraft des Mädchens. Sie ist eine Scharfschützin<br />
<strong>und</strong> hat bereits mehrere Japaner auf ihrem Konto. Sie ist von<br />
einem Haß auf <strong>die</strong> Japaner besessen, der sich fast zu<br />
religiöser Begeisterung steigert.“<br />
„Die kleine Corrie van der Meer!“, rief van Prins. „Es ist<br />
fast unglaublich.“<br />
„Und zwei von unseren Amerikanern“, fuhr <strong>Tarzan</strong> fort,<br />
„wurden von den Japanern gefangen <strong>und</strong> mißhandelt, waren<br />
knapp davor geköpft zu werden, als der amerikanische<br />
Captain <strong>und</strong> Corrie rechtzeitig zu ihrer Rettung kamen. Ich<br />
glaube, sie sind für wenigstens fünf Japaner auf einmal gut,<br />
wenn nicht mehr. Sie sind zu unerbittlichen Feinden<br />
geworden. Nein, ich glaube nicht, daß wir uns um den<br />
Ausgang <strong>die</strong>ses Kampfes sorgen müssen, falls es einen gab.“<br />
„Sehr schön, wir werden mit Ihnen gehen. Bestimmt<br />
können wir mehr Gewehre <strong>und</strong> Munition brauchen.<br />
Vielleicht sollten wir uns zusammentun. Das können wir<br />
später besprechen, wenn wir alle beisammen sind. Wann<br />
wollen Sie, daß wir gehen?“<br />
149
„Ich gehe jetzt“, erwiderte <strong>Tarzan</strong>. „Wir werden euch im<br />
Dorf erwarten.“<br />
„Wir können zusammen mit Ihnen gehen“, sagte van<br />
Prins.<br />
<strong>Tarzan</strong> schüttelte den Kopf. „Nicht in der Art, wie ich<br />
reise, fürchte ich. Im Eilmarsch können Sie es bis<br />
irgendwann morgen schaffen. Ich werde dort heut Nacht<br />
zurück sein.“<br />
Der Holländer zuckte skeptisch <strong>die</strong> Schultern; aber er<br />
lächelte <strong>und</strong> sagte: „Sehr schön. Wir werden Sie morgen<br />
irgendwann sehen.“<br />
*<br />
Der Tag begann, als <strong>die</strong> Gesetzlosen aus dem Wald in ein<br />
enges Tal gelangten. Sie hatten ihren Schnaps-Vorrat<br />
mitgebracht, <strong>und</strong> <strong>die</strong> meisten von ihnen waren betrunken.<br />
Mehr als alles andere verlangte es sie nach Hinlegen <strong>und</strong><br />
Schlafen. Sie lagerten unter einigen Bäumen neben dem<br />
kleinen Fluß, der sich durch das Tal zum Meer hinunter<br />
wand.<br />
Hooft sagte, daß <strong>die</strong> Frauen Wache stehen könnten, da sie<br />
davor in der Nacht etwas geschlafen hatten. Weil Sarina <strong>die</strong><br />
einzige Frau war, <strong>die</strong> nicht während der Nacht getrunken<br />
hatte, bot sie sich freiwillig für <strong>die</strong> erste Schicht an. Bald<br />
hatten sich <strong>die</strong> anderen ausgestreckt <strong>und</strong> schnarchten. Corrie<br />
aber schlief nicht.<br />
Fluchtpläne schossen ihr durch den Kopf <strong>und</strong> vertrieben<br />
ihr <strong>die</strong> Gedanken an Schlaf. Sie sah, daß für alle außer<br />
Sarina <strong>die</strong> Welt gestorben war. Vielleicht würde auch Sarina<br />
ihrer Müdigkeit nachgeben. Dann konnte sie wegkommen.<br />
Sie wußte genau, wo sie war <strong>und</strong> wo der Pfad zu finden war,<br />
der in das Dorf zurückführte.<br />
Sie beäugte <strong>die</strong> Waffen der schlafenden Männer <strong>und</strong><br />
150
Frauen. Könnte sie doch nur einen Parang stehlen, ohne daß<br />
es Sarina auffiel. Sie würde dann nur nah genug an <strong>die</strong> Frau<br />
heranzukommen brauchen. Irgendwann würde ihre<br />
Aufmerksamkeit abgelenkt werden. Sie würde ihren Kopf<br />
wegdrehen. Dann ein gewaltiger Hieb mit dem schweren<br />
Messer, <strong>und</strong> Corrie würde, bewaffnet mit Gewehr, Pistole<br />
<strong>und</strong> Parang, längst auf dem Weg zum Dorf sein, ehe <strong>die</strong>se<br />
Trunkenbolde erwachten.<br />
Corrie w<strong>und</strong>erte sich nicht, daß sie solche Gedanken<br />
beschäftigten. Ihr einst behütetes Leben war zum nackten<br />
Kampf ums Dasein geworden. Entkam man den Feinden<br />
nicht, mußten sie vernichtet werden. Und <strong>die</strong>se Frau war ein<br />
Feind. Corrie fürchtete sie ebenso sehr, wie sie <strong>die</strong> Männer<br />
fürchtete. Sie hielt sie für ein schreckliches Geschöpf, im<br />
Laster abgebrüht.<br />
Sarina war eine noch vergleichsweise junge Frau. Sie<br />
hatte <strong>die</strong> heißblütige Schönheit, <strong>die</strong> so viele eurasische<br />
Frauen besitzen, <strong>und</strong> <strong>die</strong> aufrechte, graziöse Haltung, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />
Frauen von Java <strong>und</strong> Sumatra kennzeichnet, sowie deren<br />
Schlankheit <strong>und</strong> körperliche Vollkommenheit. Aber Corrie<br />
betrachtete sie aus Augen voller Haß <strong>und</strong> Verachtung.<br />
Sarina starrte auf Corrie hin, mit konzentriert<br />
zusammengezogenen Augenbrauen. Würde <strong>die</strong> Frau nie<br />
wegschauen? „Wie heißt du?“, fragte Sarina.<br />
„Van der Meer“, antwortete das Mädchen.<br />
„Corrie van der Meer?“ Sarina lächelte. „Dachte ich mir.<br />
Du siehst deiner Mutter ähnlich.“<br />
„Sie haben meine Mutter gekannt?“, fragte Corrie.<br />
„Konnten Sie nicht.“ Ihr Ton ließ erkennen, daß <strong>die</strong> Frau das<br />
Andenken ihrer Mutter allein dadurch beleidigt hatte, daß sie<br />
behauptete, sie gekannt zu haben.<br />
„Hab ich aber“, sagte Sarina. „Ich hab’ auch deinen Vater<br />
gekannt. Ich hab’ für sie gearbeitet, während du in Holland<br />
in der Schule warst. Sie waren sehr gut zu mir. Ich hab’ sie<br />
151
eide gern gehabt. Als ich Probleme kriegte, hat dein Vater<br />
einen guten Anwalt für meine Verteidigung bezahlt. Hat<br />
aber nichts genützt. Justiz ist nichts für Eurasier, oder<br />
vielleicht sollte ich sagen, Gnade ist für Eurasier nicht<br />
vorgesehen. Ich war schuldig, aber es gab Umstände, <strong>die</strong> zu<br />
meinen Gunsten gezählt hätten, wäre ich eine Weiße. Das<br />
alles ist vorbei. Weil dein Vater <strong>und</strong> deine Mutter fre<strong>und</strong>lich<br />
zu mir waren <strong>und</strong> mir geholfen haben, werde ich dir helfen.“<br />
„Wie heißen Sie?“, fragte Corrie.<br />
„Sarina.“<br />
„Ich habe sowohl Vater wie auch Mutter von Ihnen<br />
sprechen gehört. Sie haben Sie sehr gemocht. Aber wie<br />
können Sie mir helfen?“<br />
Sarina ging hinüber zu einem der schlafenden Männer<br />
<strong>und</strong> nahm ihm sein Gewehr <strong>und</strong> etwas Munition ab. Das<br />
brachte sie Corrie herüber. „Weißt du, wie du zum Dorf<br />
zurückkommst, wo sie dich gef<strong>und</strong>en haben?“<br />
„Ja.“<br />
„Dann zieh los. Diese betrunkenen Biester werden lange<br />
schlafen.“<br />
„Wie kann ich Ihnen danken, Sarina?“, sagte sie. Sie<br />
dachte: „Und ich wollte sie umbringen!“<br />
„Dank nicht mir. Dank deinem Vater <strong>und</strong> deiner Mutter,<br />
daß sie gut zu einer Eurasierin waren. Leb wohl <strong>und</strong> viel<br />
Glück!“<br />
Impulsiv umarmte Corrie <strong>die</strong> Frau, <strong>die</strong> sie hatte töten<br />
wollen, <strong>und</strong> küßte sie. „Gott segne Sie, Sarina“, sagte sie.<br />
Dann wandte sie sich das Tal hinab. Sarina sah ihr nach, <strong>und</strong><br />
Tränen waren in ihren Augen.<br />
Corrie nützte <strong>die</strong> Deckung der Bäume, <strong>die</strong> am linken<br />
Flußufer entlang wuchsen. Es war viel weiter zum Pfad, der<br />
aus dem Tal herausführte, als sie sich vorgestellt hatte, <strong>und</strong><br />
es war später Nachmittag, ehe sie ihn von der anderen Seite<br />
durchs Tal schlängeln sah. Sie sah noch etwas anderes.<br />
152
Etwas, das ihr das Herz sinken ließ. Einige Eingeborene<br />
schlugen genau auf ihrem Pfad ein Lager für <strong>die</strong> Nacht auf,<br />
<strong>und</strong> zwei japanische Soldaten waren bei ihnen. Nun würde<br />
sie auf <strong>die</strong> Dunkelheit warten müssen <strong>und</strong> dann versuchen,<br />
an ihnen vorbei zu schleichen.<br />
Sie kletterte auf einen Baum <strong>und</strong> versuchte es sich<br />
bequem zu machen. Sie war sehr müde <strong>und</strong> sehr schläfrig.<br />
Aber sie wagte es nicht zu schlafen, aus Angst, daß sie vom<br />
Baum fallen würde. Schließlich fand sie passendes Geäst, in<br />
dem sie ihren Körper festklemmen konnte <strong>und</strong> von wo sie<br />
nicht hinabfallen würde. Es war sehr unbequem für sie;<br />
dennoch schlief sie ein, äußerst erschöpft. Als sie erwachte,<br />
wußte sie, daß sie eine Zeitlang geschlafen hatte, da der<br />
Mond hoch am Himmel stand. Sie konnte das Feuer im<br />
Lager der Eingeborenen brennen sehen. Jetzt konnte sie an<br />
ihnen vorbeischlüpfen <strong>und</strong> den Pfad zum Dorf erreichen. Sie<br />
machte sich daran, hinabzuklettern, als sie das hustende<br />
Grunzen eines Tigers vernahm. Es klang sehr nah. Aus<br />
geringer Entfernung erhob sich das Gebell <strong>und</strong> Geknurr<br />
wilder H<strong>und</strong>e. Corrie entschloß sich zu bleiben, wo sie war.<br />
153
Kapitel 18<br />
Es war spät, als <strong>Tarzan</strong> das Dorf erreichte. Bubonovitch, der<br />
Wache hielt, rief ihn an. „Gruppenkapitän Clayton“,<br />
antwortete <strong>Tarzan</strong>.<br />
„Näherkommen zur Erkennung, aber ich kenne Sie<br />
sowieso. Und dem Herrn sei Dank, daß Sie zurück sind.“<br />
<strong>Tarzan</strong> kam heran. „Stimmt etwas nicht, Sergeant?“,<br />
fragte er.<br />
„Kann man wohl sagen, daß etwas nicht stimmt. Corrie<br />
ist entführt worden.“ Dann erzählte er <strong>Tarzan</strong>, was er über<br />
<strong>die</strong> Sache wußte.<br />
„Und ihr konntet ihre Spur nicht finden?“<br />
„Es gab keine.“<br />
„Es muß eine da sein“, sagte <strong>Tarzan</strong>.<br />
„Ich hoffe, Sie haben Recht, Sir.“<br />
„Wir können bis morgen nichts tun. Wir beginnen, sobald<br />
es hell ist.“<br />
Jerry hielt Wache, als <strong>Tarzan</strong> beim Tageslicht aufwachte.<br />
Der Amerikaner, der begierig war, <strong>die</strong> Suche zu starten,<br />
hatte schon <strong>die</strong> anderen aufgescheucht. Sie riefen Lara aus<br />
ihrer Hütte. Sie war <strong>die</strong> einzige Eingeborene, der sie trauen<br />
wollten. Van der Bos sprach mit ihr. Er sagte ihr, daß ein<br />
Haufen Guerillas irgendwann an <strong>die</strong>sem Tag im Dorf<br />
auftauchen würde, <strong>und</strong> wies sie an, ihnen zu erzählen, was<br />
geschehen war, <strong>und</strong> sie zu bitten, daß sie blieben, bis man<br />
von der Suche zurückkehrte.<br />
*<br />
Als Corrie sicher außer Sicht des Lagers der Gesetzlosen<br />
war, weckte Sarina <strong>die</strong> Frau, von der sie dachte, daß sie am<br />
154
meisten vom Trinken benommen war, <strong>und</strong> sagte zu ihr, sie<br />
solle sie als Wache ablösen. Sie sagte nichts über <strong>die</strong> Flucht<br />
der Gefangenen, in der Annahme, daß der Verstand der Frau<br />
so benebelt war, daß sie nichts merkte. Sarina hatte Recht.<br />
Zwei Mal wurde <strong>die</strong> Wache abgelöst, ehe Hooft erwachte.<br />
Als er entdeckte, daß Corrie vermißt wurde, war er wütend.<br />
Er verhörte alle Frauen, <strong>die</strong> Wache gehalten hatten. Sarina<br />
beharrte darauf, daß Corrie dagewesen wäre, als sie ihren<br />
Posten einer anderen übergeben hatte. Die anderen blieben<br />
dabei, daß <strong>die</strong> Gefangene nicht weggelaufen sei, während<br />
sie ihren Dienst versahen. Hooft kam zu keinem Ergebnis.<br />
Er hatte den ganzen Tag geschlafen. Nun wurde es<br />
finster <strong>und</strong> zu spät, mit einer Suche zu beginnen. Alles, was<br />
er deshalb tun konnte, war, <strong>die</strong> Frauen allgemein zu<br />
verfluchen <strong>und</strong> zu versuchen, sich mit einer Schnapsflasche<br />
zu trösten.<br />
Etwa zur gleichen Zeit an dem Morgen, da <strong>Tarzan</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>die</strong> anderen vom Dorf aus mit der Suche nach ihr begannen,<br />
beobachtete Corrie ungeduldig das Lager der Eingeborenen<br />
<strong>und</strong> der zwei Japaner. Sie wagte nicht hinunterzuklettern,<br />
ehe sie weggingen. Sie sah zu, wie sie ihr Frühstück<br />
bereiteten <strong>und</strong> gemächlich aßen, <strong>und</strong> glaubte, sie würden nie<br />
mehr damit aufhören. Aber zu guter Letzt taten sie’s.<br />
Sie kamen in ihre Richtung, <strong>und</strong> Corrie verbarg sich auf<br />
dem Baum, wo das Laub am dichtesten war. Schließlich<br />
zogen sie vorbei, ganz nahe, <strong>und</strong> Corrie erkannte Iskandar<br />
wieder, den Anführer der Eingeborenen, der sie einst<br />
entführt hatte, <strong>und</strong> einige aus seiner Bande. Als sie in<br />
sicherer Entfernung waren, stieg Corrie zum Boden hinab<br />
<strong>und</strong> folgte dem Pfad hinauf zum Felsen <strong>und</strong> in den Wald.<br />
Schließlich war sie in Sicherheit, denn alle ihr bekannten<br />
Feinde waren hinter ihr, <strong>und</strong> sie war auf einem vertrauten<br />
Pfad, der direkt zurück zu ihren Fre<strong>und</strong>en führte.<br />
Iskandar zog mit seiner Gruppe weiter, bis sie in Sicht der<br />
155
Gesetzlosen kamen; dann versteckten sich <strong>die</strong> beiden<br />
Japaner, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Eingeborenen näherten sich Hooft <strong>und</strong><br />
seinen Leuten. Es gab ein kurzes Palaver zwischen Iskandar<br />
<strong>und</strong> Hooft; dann schickte der Eingeborene einen seiner<br />
Männer zurück, um den Japanern zu sagen, daß <strong>die</strong> Weißen<br />
Fre<strong>und</strong>e seien.<br />
Nachdem <strong>die</strong> beiden Japaner zu ihnen gestoßen waren,<br />
wurden <strong>die</strong> Schnapsflaschen herumgereicht, während <strong>die</strong><br />
Männer Pläne besprachen. Die Japaner waren rekrutierte<br />
Offiziere aus der Abteilung von Hauptmann Tokujo Matsuo,<br />
<strong>und</strong> waren deshalb begierig, Corrie wieder einzufangen. Das<br />
waren auch Iskandar <strong>und</strong> Hooft; jedem schwebte irgendeine<br />
Art von Belohnung vor, falls sie dem japanischen Offizier<br />
das Mädchen wiederbrachten.<br />
Zum Unglück für ihre Pläne tranken sie zu viel Schnaps;<br />
<strong>und</strong> obwohl sie in der richtigen Richtung loszogen, spürten<br />
sie nie mehr Corries Fährte auf. Als sie den Pfad erreichten,<br />
der in den Wald führte, den Pfad, den Corrie genommen<br />
hatte, behauptete Sarina, sie hätte <strong>die</strong> Spur entdeckt, <strong>und</strong><br />
schickte sie das Tal abwärts. So bewirkte abermals <strong>die</strong><br />
Fre<strong>und</strong>lichkeit des toten Vaters <strong>und</strong> der Mutter <strong>die</strong> Rettung<br />
des Mädchens.<br />
*<br />
<strong>Tarzan</strong>, Jerry <strong>und</strong> <strong>die</strong> anderen marschierten schnell zum<br />
verlassenen Lager der Gesetzlosen. <strong>Tarzan</strong> untersuchte <strong>die</strong><br />
Spur, <strong>die</strong> seine Gefährten verwirrt <strong>und</strong> getäuscht hatte; dann<br />
führte er sie hinaus auf dem Pfad, den <strong>die</strong> Verbrecher<br />
genommen hatten. Die anderen zweifelten, folgten aber<br />
nach.<br />
„Die Abdrücke deuten alle zum Lager hin“, sagte Rosetti.<br />
„Wir gehen in <strong>die</strong> falsche Richtung <strong>und</strong> verschwenden nur<br />
<strong>die</strong> Zeit.“<br />
156
„Man sagte mir, daß Sie ein großartiger Kugelturm-<br />
Schütze sind, Shrimp“, sagte <strong>Tarzan</strong>, „aber Sie sind ein recht<br />
armseliger Spurenleser. Die Leute, hinter denen wir her sind,<br />
kamen letzte Nacht <strong>die</strong>sen Pfad entlang in derselben<br />
Richtung, in der wir gehen.“<br />
„Dann müssen sie wieder zurückgekommen sein, Captain.<br />
Alle <strong>die</strong> Fußspuren zeigen in <strong>die</strong> Gegenrichtung.“<br />
„Die meisten von ihnen gingen voraus“, erklärte <strong>Tarzan</strong>.<br />
„Dann sind drei Männer <strong>und</strong> eine Frau hinter ihnen<br />
rückwärts gegangen <strong>und</strong> haben <strong>die</strong> Spuren jener vorne<br />
Gegangenen verwischt. Etwa alle h<strong>und</strong>ert Schritte lösten<br />
drei andere Männer <strong>und</strong> eine Frau <strong>die</strong> Spurenlöscher ab;<br />
weil es ermüdend ist, rückwärts zu gehen.“<br />
„Ich verstehe nicht, wie Sie das alles herauslesen<br />
können“, beharrte Rosetti.<br />
„Wenn man vorwärts geht, treffen <strong>die</strong> Fersen zuerst auf<br />
dem Boden auf; dann stoßen sich <strong>die</strong> Füße auf den Ballen<br />
vorwärts <strong>und</strong> schieben zugleich <strong>die</strong> Erde in <strong>die</strong><br />
Gegenrichtung nach hinten. Wenn man rückwärts geht,<br />
treten <strong>die</strong> Ballen zuerst auf dem Boden auf, <strong>und</strong> man schiebt<br />
sich mit den Fersen voran, drückt aber trotzdem <strong>die</strong> Erde<br />
entgegengesetzt zu der Richtung, in der man geht.<br />
Untersucht den Boden sorgfältig, <strong>und</strong> ihr werdet es selbst<br />
sehen. Wenn ihr dem Pfad weit genug folgt <strong>und</strong> genau<br />
hinschaut, werdet ihr sehen, daß etwa alle h<strong>und</strong>ert Schritt <strong>die</strong><br />
Größe der Fußabdrücke wechselt. Das zeigt, daß andere<br />
Leute <strong>die</strong> Arbeit übernommen haben.“<br />
Nicht nur Rosetti, sondern auch <strong>die</strong> anderen widmeten<br />
sich dem Spurenlesen. „Verflixt, waren wir aber dumm“,<br />
sagte Jerry.<br />
„Hätt’ ich mir denken können, daß ich besser meine blöde<br />
Klappe halte“, sagte Rosetti. „Der Captain irrt sich nie.“<br />
„Glaubt das nicht“, sagte <strong>Tarzan</strong>. „Ich möchte für so<br />
etwas keinen Beweis antreten müssen. Und bedenkt, daß ich<br />
157
<strong>die</strong>ses Fährtenlesen mein ganzes Leben lang gemacht habe,<br />
seit ich ein Kind war, <strong>und</strong> daß unzählige Male mein Leben<br />
davon abhing, daß ich wußte, was ich tue. Jetzt gehe ich<br />
weiter voran. Wir wollen nicht unvorbereitet in <strong>die</strong>sen<br />
Haufen hineinlaufen.“<br />
Eine St<strong>und</strong>e später stieß der Rest der Gruppe aus dem<br />
Wald heraus auf ein offenes Tal, wo sie <strong>Tarzan</strong> fanden, der<br />
auf sie wartete. „Eure Gesetzlosen kamen vor kurzer Zeit<br />
das Tal hinab“, sagte er ihnen. „Ich habe auch Corries Spur<br />
gef<strong>und</strong>en. Sie war ihnen um St<strong>und</strong>en voraus <strong>und</strong> allein.<br />
Offenbar ist es ihr gelungen, ihnen zu entfliehen. Ich bin<br />
ziemlich sicher, daß sie ihre Spur nicht entdeckt haben, denn<br />
ihre eigene ist oft meterweit weiter rechts <strong>und</strong> berührt sie<br />
nie.<br />
Es gab eine Anzahl Männer <strong>und</strong> Frauen in ihrer Gruppe,<br />
einige Eingeborene <strong>und</strong> zwei japanische Soldaten.<br />
Mindestens zwei von den Männern hatten kurze Beine <strong>und</strong><br />
trugen Arbeits-Sandalen; also nehme ich an, sie waren<br />
Japaner. Ich gehe weiter voran <strong>und</strong> folge Corries Fährte.<br />
Wenn sie den Pfad zum Wald hinauf genommen hat, werde<br />
ich eine einfache Markierung an einem Baum nahe am Pfad<br />
einkerben. Wenn sie ins Tal hinab gegangen ist, werde ich<br />
zwei Kerben einschneiden. Findet ihr drei, werdet ihr<br />
wissen, daß <strong>die</strong> Verbrecher denselben Pfad nahmen wie<br />
Corrie; im anderen Fall nahmen sie einen anderen Pfad.“<br />
Dann wandte sich <strong>Tarzan</strong> um <strong>und</strong> verschwand in dem<br />
gleichmäßigen Trab, den er St<strong>und</strong>en lang durchhalten<br />
konnte, wenn er auf dem Boden bleiben wollte, in einer<br />
Gangart, für <strong>die</strong> <strong>die</strong> Apatschen berühmt waren.<br />
„Ich weiß nicht, wozu wir gut sind“, sagte Bubonovitch.<br />
„Dieser Kerl braucht uns nicht.“<br />
„Er ließ uns auf <strong>die</strong>se Tour mitkommen“, sagte Jerry.<br />
„Ich glaube, wir sind ihm einfach im Weg“, meinte van<br />
der Bos, „aber er ist recht geduldig mit uns.“<br />
158
*<br />
Als Corrie dem Pfad folgte, der für sie jetzt heim zu führte,<br />
war sie glücklich <strong>und</strong> leichten Herzens. Sie kehrte zurück zu<br />
Tak <strong>und</strong> Jerry <strong>und</strong> <strong>Tarzan</strong> <strong>und</strong> Bubonovitch <strong>und</strong> dem kleinen<br />
Sergeant, den sie nun auch schon sehr mochte. Eigentlich<br />
mochte sie sie alle sehr gern. Tak natürlich kannte sie schon<br />
ihr ganzes Leben lang; aber es war, als hätte sie auch <strong>die</strong><br />
anderen schon immer gekannt. Sie entschied, daß sie sie alle<br />
gern hatte. Sie konnte es kaum abwarten, sie alle<br />
wiederzusehen <strong>und</strong> ihnen von ihren Abenteuern zu erzählen.<br />
Außerdem hatte sie noch ein Hühnchen zu rupfen – mit<br />
Amat. Aber das verdrängte sie schnell aus ihren Gedanken.<br />
Sie wollte nur an angenehme Dinge denken.<br />
Daher dachte sie nur an angenehme Dinge, eins davon<br />
war Jerry, als sie plötzlich gewahr wurde, daß etwas sich<br />
parallel zum Pfad im Unterholz bewegte. Es war etwas<br />
Großes. Corrie legte ihr Gewehr an, den Finger am Abzug.<br />
Höchst unzureichend war das japanische Gewehr vom<br />
Kaliber 0.25, das sie trug! Wenn sie anhielt, hielt auch der<br />
Tiger an. Jetzt konnte sie seine Augen sehen – schreckliche<br />
Augen – als er mit gesenktem Kopf ihrem Blick begegnete.<br />
Würde er angreifen? Wozu sonst sollte er sich an sie<br />
anschleichen?<br />
Corrie sah sich um. In ihrer Nähe war ein Durian-Baum,<br />
von dem eine starke Liane herabhing. Wenn der Tiger<br />
angriff, würde er sie erreichen, bevor sie aus dem<br />
Gefahrenbereich klettern konnte. Bewegte sie sich zu<br />
schnell, würde er angreifen. Jede plötzliche Bewegung<br />
ihrerseits würde zweifellos ihren sofortigen Tod bedeuten.<br />
Sehr vorsichtig lehnte sie ihr Gewehr gegen einen<br />
Baumstamm; dann griff sie nach der Liane. Sie beobachtete<br />
den Tiger. Er hatte sich nicht bewegt. Er stand immer noch<br />
159
da <strong>und</strong> beobachtete sie. Corrie zog sich sehr langsam hinauf.<br />
Ständig beobachtete sie den Tiger. Das Tier wirkte<br />
fasziniert. Während sie kletterte, sah sie, wie ihr seine<br />
Augen folgten. Plötzlich bewegte er sich vorwärts, zu ihr<br />
her.<br />
Da hangelte sich Corrie so schnell hinauf, wie sie nur<br />
konnte, <strong>und</strong> der Tiger griff an. Aber er war in einer<br />
ungünstigen Position. Er mußte halb um den Baum herum<br />
<strong>und</strong> auf den Pfad laufen, bevor er sich hinkauern konnte, um<br />
zu springen <strong>und</strong> sie zu packen. Er sprang; aber daneben.<br />
Und Corrie kletterte nach oben, in Sicherheit.<br />
Dort saß sie rittlings auf einem Ast <strong>und</strong> zitterte; ihr Herz<br />
pochte. Und der Tiger lag unten am Pfad, am Fuß des<br />
Baumes. Er war alt <strong>und</strong> räudig. Weil er alt war, war er<br />
vielleicht schon so lange nicht im Stande, eine Beute<br />
einzuholen, daß er gezwungen war, bei Tag nach irgend<br />
etwas zu jagen, das er finden konnte. Und da er etwas<br />
gef<strong>und</strong>en hatte, hatte er sichtlich beschlossen, grad da wo er<br />
war zu warten, bis seine Beute entweder herunter kam oder<br />
vom Baum fiel. Hin <strong>und</strong> wieder schaute er hinauf zu Corrie,<br />
entblößte seine gelben Fänge <strong>und</strong> knurrte.<br />
Corrie, zwar nur mit harmloseren Schimpfwörtern<br />
vertraut, verfluchte ihn trotzdem. Das Tier hatte ihre Träume<br />
zerstört, bald wieder zu ihren Kameraden zurückzukommen.<br />
Es lag nur dort <strong>und</strong> knurrte gelegentlich hinauf zu ihr. Eine<br />
St<strong>und</strong>e verstrich. Corrie verlor ihre Geduld. Eine weitere<br />
St<strong>und</strong>e, <strong>und</strong> immer noch verharrte das dumme Biest<br />
hartnäckig auf seinem Posten. Corrie fragte sich, wer von<br />
ihnen zuerst verhungern würde.<br />
Bald leisteten ihr einige Affen Gesellschaft.<br />
Auch sie beschimpften den Tiger <strong>und</strong> fluchten vielleicht<br />
in ihrer Affensprache auf ihn. Da kam Corrie eine Idee. Sie<br />
wußte, daß Affen gern nachahmen. Sie pflückte eine Durian-<br />
Frucht <strong>und</strong> warf sie auf den Tiger. Sie traf ihn, zu ihrer<br />
160
Überraschung, <strong>und</strong> verursachte ein wildes Gebrüll. Sie warf<br />
noch eine, aber daneben. Dann hatten <strong>die</strong> Affen begriffen.<br />
Dies war Vergnügen. Sie <strong>und</strong> Corrie bombar<strong>die</strong>rten <strong>die</strong><br />
große Katze mit Durian-Früchten. Das Tier erhob sich<br />
knurrend <strong>und</strong> versuchte, auf den Baum zu springen, stürzte<br />
jedoch bloß zurück, verlor das Gleichgewicht <strong>und</strong><br />
überschlug sich über den eigenen Rücken. Eine Durian-<br />
Frucht fiel ihm voll auf <strong>die</strong> Nase. Durians regneten auf ihn<br />
herab. Schließlich gab er auf <strong>und</strong> krachte davon in den<br />
Dschungel. Doch lange Zeit wagte Corrie es nicht, ihre<br />
Zuflucht zu verlassen. Und sie war ein wachsames,<br />
mißtrauisches Mädchen, als sie endlich hinunterglitt <strong>und</strong> ihr<br />
Gewehr wieder an sich nahm.<br />
Jedes kleine Geräusch ließ sie jetzt aufschrecken, als sie<br />
dem Pfad zum Dorf hin folgte; sie gewann jedoch<br />
schließlich <strong>die</strong> Überzeugung, daß sie nichts mehr vom<br />
Gestreiften zu sehen bekommen würde.<br />
Ein riesiges Geschöpf lagerte dunkel <strong>und</strong> schwer auf<br />
einem Baum, unter dem Corrie vorbeikam. Sie bemerkte es<br />
nicht. Es bewegte sich leise über <strong>und</strong> hinter ihr <strong>und</strong><br />
beobachtete sie. Es war Oju, der junge Orang-Utan, mit dem<br />
<strong>Tarzan</strong> gekämpft hatte. Corries Gewehr ließ ihn Abstand<br />
halten. Oju fürchtete sich vor den schwarzen Stöcken, <strong>die</strong><br />
lauten Lärm machten. Aber er war geduldig. Er konnte<br />
warten.<br />
Bald tauchten andere monströse Gestalten in den Bäumen<br />
<strong>und</strong> auf dem Pfad vor Corrie auf. Sie hielt an. Nie zuvor<br />
hatte sie so viele Orang-Utans beisammen gesehen. Corrie<br />
glaubte nicht, daß sie ihr etwas antun würden, aber sie war<br />
sich nicht sicher. Sie schnitten ihr Grimassen, <strong>und</strong> einige<br />
von ihnen machten Drohgebärden, stampften auf den Boden<br />
<strong>und</strong> rückten langsam näher. Sie hielt den Finger am Abzug<br />
<strong>und</strong> wich zurück. Genau bis unter Oju, der nur wenige Fuß<br />
über ihrem Kopf auf einem Ast hockte.<br />
161
Für gewöhnlich meiden <strong>die</strong> großen Affen <strong>die</strong> Menschen,<br />
laufen davon, wenn einer auftaucht. Corrie fragte sich,<br />
warum <strong>die</strong>se nicht wegliefen. Sie glaubte, sie würden es bald<br />
tun, daher wartete sie ab. Sie wagte es nicht, dem Pfad<br />
weiter zu folgen, den einige von ihnen besetzten. Sie dachte,<br />
daß ihnen wahrscheinlich ihre Anzahl den Mut gab, in der<br />
Gegenwart eines menschlichen Wesens zu bleiben. Das war<br />
es jedenfalls nicht. Es war Neugier. Sie wollten sehen, was<br />
Oju tun würde. Sie brauchten nicht lange warten.<br />
Aus blutunterlaufenen Augen schaute Oju hinab <strong>und</strong><br />
schätzte <strong>die</strong> Situation ab. Er sah, daß <strong>die</strong> ganze<br />
Aufmerksamkeit <strong>die</strong>ser Sie-Tarmangani von den anderen<br />
Affen beansprucht wurde. Er ließ sich auf Corrie fallen <strong>und</strong><br />
warf sie zu Boden. Zugleich entwand er das Gewehr aus<br />
ihrem Griff. Da dabei der Finger des Mädchens auf dem<br />
Abzug lag, entlud sich <strong>die</strong> Waffe. Das erschreckte Oju, <strong>und</strong><br />
er schwang sich auf einen Baum <strong>und</strong> floh in den Wald. Aber<br />
sein eingleisiges Denken ließ ihn vergessen, Corries Körper<br />
loszulassen; also nahm er sie mit.<br />
Der Schuß erschreckte auch <strong>die</strong> anderen Affen; auch sie<br />
schwangen sich in den Wald davon, aber nicht in <strong>die</strong>selbe<br />
Richtung, <strong>die</strong> Oju genommen hatte. Nun war der Pfad still<br />
<strong>und</strong> verlassen. Corrie war jedoch nicht dort, um <strong>die</strong> Lage zu<br />
nutzen. Mit geballten Fäusten schlug sie vergeblich gegen<br />
den monströsen, haarigen Körper ihres Entführers.<br />
Irgendwann ärgerte das Oju, <strong>und</strong> er schlug sie auf <strong>die</strong> Seite<br />
ihres Kopfes. Es war Corries Glück, daß <strong>die</strong>s nur ein sanfter<br />
Hinweis war auf Ojus Ablehnung, geschlagen zu werden,<br />
auch wenn ihm <strong>die</strong> Schläge nicht im Geringsten weh taten.<br />
Das nahm ihr nur das Bewußtsein. Hätte Oju indes kräftig<br />
zugeschlagen, hätte er sie zweifellos getötet.<br />
Als Corrie das Bewußtsein wieder erlangte, was sehr<br />
schnell geschah, glaubte sie erst, sie erlebe einen<br />
schrecklichen Alptraum; aber das war nur einen Augenblick<br />
162
lang, ehe ihre Sinne vollständig zurückkehrten. Nun<br />
fürchtete sie sich wirklich. Die große, haarige Bestie eilte<br />
durch <strong>die</strong> Bäume, ständig über <strong>die</strong> Schulter nach hinten<br />
schauend, als verfolgte sie etwas.<br />
Corrie war mit einer Pistole <strong>und</strong> einem Parang bewaffnet,<br />
aber der Orang-Utan hielt sie so, daß einer seiner großen<br />
Arme über beide Waffen geschlungen war. So konnte sie<br />
keine von beiden ziehen. Und das Tier trug sie tiefer <strong>und</strong><br />
tiefer in den Wald – welchem schrecklichen Schicksal<br />
entgegen?<br />
163
Kapitel 19<br />
Jerry, Bubonovitch, Rosetti <strong>und</strong> van der Bos folgten dem<br />
Fluß talabwärts, bis sie zu dem Pfad kamen, der links aus<br />
dem Tal hinaus führte <strong>und</strong> weiter in den Wald auf der<br />
felsigen Anhöhe. Hier fanden sie eine einzige Kerbe an<br />
einem Baumstamm <strong>und</strong> wußten, daß Corrie den Pfad zum<br />
Dorf zurück genommen hatte <strong>und</strong> daß ihre vorherigen<br />
Entführer ihr nicht gefolgt waren.<br />
Als sie auf den Felsen oben ankamen, vernahmen sie sehr<br />
schwach <strong>und</strong> weit vor sich einen Schuß. <strong>Tarzan</strong> hatte keine<br />
Feuerwaffen getragen, <strong>und</strong> sie konnten nicht wissen, daß<br />
Corrie bewaffnet war. Die natürliche Annahme war, sie sei<br />
es nicht. Die Verbrecher waren nicht hierher gekommen,<br />
also konnte keiner von ihnen den Schuß abgegeben haben.<br />
Die Eingeborenen waren davor gewarnt worden, <strong>die</strong><br />
japanischen Waffen anzurühren, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Weißen in ihrem<br />
Dorf versteckt hatten, sie hätten es auch gegen das Verbot<br />
der Japaner, vor denen sie Todesangst empfanden, nicht<br />
gewagt sich zu bewaffnen.<br />
Die vier Männer diskutierten <strong>die</strong>se verschiedenen<br />
Schlußfolgerungen, während sie weiter auf dem Pfad<br />
vordrangen.<br />
„Ein Japaner muß <strong>die</strong>sen Schuß abgefeuert haben“, sagte<br />
van der Bos. „Und wo ein Japaner ist, da sind zweifellos<br />
weitere.“<br />
„Holt sie her“, sagte Rosetti. „Ich hab’ schon seit zwei<br />
Tagen keinen Japaner umgebracht.“<br />
„Wir werden vorsichtig sein müssen“, sagte Jerry. „Ich<br />
werde so h<strong>und</strong>ert Schritt weit vorangehen. Ich werde auf den<br />
ersten Japaner schießen, den ich sehe, <strong>und</strong> dann umkehren.<br />
Ihr Burschen macht euch zu beiden Seiten des Pfades ins<br />
164
Unterholz, wenn ihr meinen Schuß hört, <strong>und</strong> gebt es ihnen,<br />
wenn man sie treffen kann. Laßt sie nah genug heran.“<br />
„Schau, Captain, das brauchst nicht du zu tun. Laß mich<br />
das erledigen“, sagte Rosetti.<br />
„Oder mich“, sagte Bubonovitch. „Das ist nicht dein Job,<br />
Captain.“<br />
„Okay“, sagte Jerry. „Du gehst voran, Shrimp, <strong>und</strong> halt<br />
deine Ohren offen.“<br />
„Warum schwingst du dich nicht durch <strong>die</strong> Bäume?“,<br />
fragte Bubonovitch. Shrimp grinste <strong>und</strong> rannte voraus.<br />
<strong>Tarzan</strong> hatte Corries Spur noch nicht weit verfolgt, als er<br />
an <strong>die</strong> Stelle gelangte, wo sie vor dem Tiger auf den Baum<br />
geflohen war. Er las <strong>die</strong> ganze Story so klar, als hätte er sie<br />
von einer gedruckten Seite abgelesen. Sogar <strong>die</strong> zerplatzten<br />
Durians sagten ihm, wie der Tiger schließlich vertrieben<br />
worden war. Er lächelte <strong>und</strong> folgte der nun frischen Fährte,<br />
<strong>die</strong> anzeigte, daß das Mädchen sich erst vor kurzer Zeit<br />
wieder auf den Weg gemacht hatte. Dann vernahm er vor<br />
sich den Schuß.<br />
Nun suchte er <strong>die</strong> Bäume auf <strong>und</strong> bewegte sich flink über<br />
dem Pfad. Wie <strong>die</strong> Männer hinter ihm glaubte er, ein<br />
Japaner hätte den Schuß abgefeuert. Er nahm ebenso mit<br />
Sicherheit an, Corrie wäre einer Abteilung japanischer<br />
Soldaten in <strong>die</strong> Hände gefallen. Und dann sah er das Gewehr<br />
auf dem Pfad liegen.<br />
<strong>Tarzan</strong> war verblüfft. Die Japaner wären nicht abgezogen<br />
<strong>und</strong> hätten ein Gewehr liegen gelassen. Es gab auch keine<br />
Witterung von Japanern; aber <strong>die</strong> Geruchsspur der großen<br />
Affen war deutlich. Er sprang auf den Pfad hinunter. Er sah,<br />
daß Corries Spur endete, wo das Gewehr lag. Er sah<br />
Anzeichen dafür, daß das Mädchen zu Boden gestürzt oder<br />
niedergeworfen worden war. Außerdem sah er<br />
menschenähnliche Fußabdrücke eines großen Orang-Utans,<br />
<strong>die</strong> jene von Corrie hinterlassenen überdeckten, aber <strong>die</strong>se<br />
165
Abdrücke waren nur direkt unter dem Baum, bei dem<br />
<strong>Tarzan</strong> stand.<br />
Die Schlußfolgerung war klar: Ein Orang-Utan war vom<br />
Baum gesprungen, hatte Corrie gepackt <strong>und</strong> sie davon<br />
geschleppt. <strong>Tarzan</strong> schwang sich auf den Baum <strong>und</strong> machte<br />
sich auf Ojus Fährte. Für seine geübten Sinne war <strong>die</strong> Spur<br />
im Geäst klar. Zerdrückte Käfer oder Raupen, von hornigen<br />
Händen oder Füßen abgeschabte Rinde an Ästen, ein<br />
Büschel rotbrauner Haare, an einem Zweig hängen<br />
geblieben, <strong>die</strong> Witterung sowohl nach dem Affen als auch<br />
nach dem Mädchen, <strong>die</strong> immer noch, wenn auch schwach, in<br />
der stillen Waldluft hing.<br />
Auf einer kleinen Waldlichtung holte <strong>Tarzan</strong> seine Beute<br />
ein. Oju hatte bemerkt, daß er verfolgt wurde, <strong>und</strong> nun<br />
beschloß er, an <strong>die</strong>ser offenen Stelle zu bleiben <strong>und</strong> zu<br />
kämpfen, wenn ein Kampf sein mußte. Immer noch<br />
umklammerte er seine Beute, <strong>und</strong> er hielt sie zufällig so, daß<br />
Corrie aus ihrer Position <strong>Tarzan</strong> nicht sehen konnte.<br />
Sie wußte, daß Oju einem Feind entgegensah, denn er<br />
knurrte wild. Und sie hörte <strong>die</strong> geknurrte Antwort seines<br />
Gegners, aber <strong>die</strong> klang eher wie das Knurren eines Löwen.<br />
Natürlich gab es auf Sumatra keine Löwen, aber <strong>die</strong> Stimme<br />
war nicht <strong>die</strong> Stimme eines Tigers. Sie fragte sich, was für<br />
ein Tier das sein mochte.<br />
Die Stimme näherte sich. Plötzlich ließ der Orang-Utan<br />
sie fallen <strong>und</strong> trampelte vorwärts. Corrie stemmte sich auf<br />
den Händen auf <strong>und</strong> schaute nach hinten. Und in <strong>die</strong>sem<br />
Moment ging <strong>Tarzan</strong> auf Oju los. Corrie sprang auf <strong>die</strong><br />
Beine <strong>und</strong> zog ihre Pistole. Aber sie wagte nicht zu<br />
schießen, aus Angst, sie könnte <strong>Tarzan</strong> treffen. Die Beiden<br />
waren in tödlicher Umklammerung gefangen. Oju versuchte,<br />
seine kräftigen Kiefer um den Hals des Mannes zu<br />
schließen, <strong>und</strong> der Mann hielt mit einem starken Arm <strong>die</strong><br />
gelben Fänge ab. Beide knurrten, jetzt aber in tieferem Ton.<br />
166
Corrie wurde sich auf einmal des Gefühls bewußt, daß sie<br />
zwei Raubtiere auf Leben <strong>und</strong> Tod kämpfen sah – <strong>und</strong><br />
ihretwegen.<br />
<strong>Tarzan</strong> hielt Ojus Kiefer mit seinem rechten Arm vom<br />
Hals ab. Seine Linke war von einem Arm des Affen an <strong>die</strong><br />
Seite gepreßt. <strong>Tarzan</strong> bemühte sich, sich aus <strong>die</strong>sem Griff zu<br />
befreien. Zoll um Zoll zog er seinen Arm heraus. Zoll um<br />
Zoll drückte Oju seine Fänge immer näher an den Hals des<br />
Mannes heran.<br />
Corrie fürchtete sich. Sie umkreiste <strong>die</strong> Ringkämpfer in<br />
der Absicht, auf den Orang-Utan schießen zu können; aber<br />
sie bewegten sich zu schnell. Sie hätte <strong>Tarzan</strong> ebenso leicht<br />
treffen können wie seinen Gegner.<br />
Die Beiden standen immer noch auf den Beinen, drückten<br />
<strong>und</strong> zogen. Plötzlich schlang <strong>Tarzan</strong> eins seiner Beine um<br />
jene des Affen <strong>und</strong> ruckte heftig an ihm. Oju stürzte<br />
rückwärts, <strong>Tarzan</strong> auf ihn drauf. Im Versuch, sich zu<br />
befreien, löste der Affe den Griff um den linken Arm des<br />
Mannes. Dann sah Corrie ein Messer aufblitzen, sah, wie es<br />
dem Affen in <strong>die</strong> Brust gestoßen wurde, <strong>und</strong> hörte seine<br />
zornigen Schmerzensschreie. Wieder <strong>und</strong> wieder wurde das<br />
Messer hineingetrieben. Das Geschrei versiegte, der große<br />
Körper erbebte <strong>und</strong> lag still. Oju war tot.<br />
<strong>Tarzan</strong> stand auf <strong>und</strong> setzte einen Fuß auf <strong>die</strong> Leiche<br />
seines Feindes. Er hob sein Gesicht zum Himmel – <strong>und</strong> dann<br />
lächelte er auf einmal. Der Siegesschrei des Affenbullen<br />
erstarb in seiner Kehle. Weshalb er ihn nicht hinausbrüllte,<br />
wußte er selbst nicht.<br />
Corrie fühlte sich sehr schwach. Ihre Beine verweigerten<br />
ihr den Halt, <strong>und</strong> sie setzte sich hin. Sie schaute <strong>Tarzan</strong> nur<br />
an <strong>und</strong> schüttelte den Kopf. „Alles in Ordnung?“, fragte er.<br />
Corrie nickte. „Nun, Ihre Sorgen sind Sie los, für heute<br />
wenigstens, hoffe ich. Jerry, van der Bos <strong>und</strong> <strong>die</strong> Sergeanten<br />
kommen den Pfad entlang. Besser, wir gehen hinüber <strong>und</strong><br />
167
treffen sie dort.“ Er lud sie auf seine Schultern <strong>und</strong> schwang<br />
sich den Weg durchs Laub zurück, auf dem der Affe sie<br />
hergebracht hatte, aber wie waren ihre Gefühle jetzt anders!<br />
Als sie den Pfad erreichten, besah ihn sich <strong>Tarzan</strong> <strong>und</strong><br />
sah, daß <strong>die</strong> anderen noch nicht vorbeigekommen waren.<br />
Also setzten sie sich daneben hin <strong>und</strong> warteten. Sie redeten<br />
nicht. Der Mann sah, daß das Mädchen einen schrecklichen<br />
Schock erlitten hatte, also ließ er sie in Ruhe <strong>und</strong> fragte sie<br />
nichts. Er wollte, daß sie sich ausruhte.<br />
Aber schließlich brach Corrie selbst das Schweigen. „Ich<br />
bin eine schreckliche Närrin“, sagte sie. „Ich mußte all<br />
meine Willenskraft aufbringen, um nicht zu weinen. Ich<br />
glaubte, der Tod sei so nahe, <strong>und</strong> dann sind Sie gekommen.<br />
Es war grad, als wären Sie aus der Luft aufgetaucht. Ich<br />
glaube, daß mich <strong>die</strong>se Reaktion fast zusammenbrechen ließ.<br />
Aber woher in aller Welt wußten Sie, wo ich war? Wie<br />
konnten Sie wissen, was mir zugestoßen war?“<br />
„Geschichten werden nicht nur in Büchern<br />
aufgeschrieben“, sagte er. „Es war nicht schwierig.“ Dann<br />
erzählte er ihr, wie er sie aufgespürt hatte. „Ich hatte vor<br />
einigen Tagen mit demselben Affen einen Zusammenstoß.<br />
Ich habe ihn überwältigt, sah aber davon ab, ihn zu töten.<br />
Jetzt wünschte ich, ich hätte es getan. Sein Name war Oju.“<br />
„Davon haben Sie nie etwas erwähnt“, sagte sie.<br />
„Es war nicht wichtig.“<br />
„Sie sind ein sehr eigenartiger Mann.“<br />
„Ich bin eher ein Tier als ein Mann, Corrie.“<br />
Sie runzelte <strong>die</strong> Brauen <strong>und</strong> schüttelte den Kopf. „Sie sind<br />
weit davon entfernt, ein Tier zu sein.“<br />
„Sie meinen das als Kompliment. Das kommt daher, weil<br />
Sie <strong>die</strong> Tiere nicht sehr gut kennen. Sie besitzen viele gute<br />
Qualitäten, denen nachzueifern den Menschen gut anstünde.<br />
Sie haben keine Laster. Es ist den Menschen überlassen,<br />
<strong>die</strong>se wie viele abstoßende <strong>und</strong> kriminelle Eigenschaften zu<br />
168
haben, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Tiere nicht besitzen. Als ich sagte, ich sei<br />
eher ein Tier als ein Mann, meinte ich damit nicht, ich<br />
besäße alle ihre edlen Qualitäten. Ich meinte einfach, ich<br />
dächte <strong>und</strong> reagierte mehr wie ein Tier denn als Mensch. Ich<br />
besitze <strong>die</strong> Seele eines wilden Tieres.“<br />
„Nun, Sie mögen Recht haben; aber wenn ich zum Essen<br />
ausgehe, gehe ich lieber mit einem Mann aus als mit einem<br />
Tiger.“<br />
<strong>Tarzan</strong> lächelte. „Das ist eine der schönen Seiten, ein Tier<br />
zu sein. Man braucht nicht zu Festessen gehen <strong>und</strong><br />
Ansprachen anhören <strong>und</strong> sich zu Tode langweilen.“<br />
Corrie lachte. „Aber eines Ihrer Mittiere könnte auf Sie<br />
los springen <strong>und</strong> Sie als Festmahl nehmen.“<br />
„Oder ein netter Mann kann vorbeikommen <strong>und</strong> Sie<br />
erschießen, nur zum Spaß.“<br />
„Sie gewinnen“, sagte Corrie.<br />
„Die anderen kommen“, sagte <strong>Tarzan</strong>.<br />
„Woher wissen Sie das?“<br />
„Usha sagt es mir.“<br />
„Usha? Wer ist Usha?“<br />
„Der Wind. Er trägt sowohl meinen Ohren wie meiner<br />
Nase den Nachweis zu, daß Männer den Pfad entlang<br />
kommen. Jede Rasse hat ihren typischen Körpergeruch;<br />
daher weiß ich, <strong>die</strong>s sind Weiße.“<br />
Einen Augenblick später kam Rosetti an einer<br />
Wegbiegung in Sicht. Als er <strong>Tarzan</strong> <strong>und</strong> Corrie sah, stieß er<br />
einen Freudenschrei aus <strong>und</strong> gab denen hinter ihm <strong>die</strong><br />
Botschaft weiter. Bald erreichten ihn <strong>die</strong> anderen. Es war ein<br />
frohes Wiedersehen.<br />
„Es scheint, als wären Sie Wochen lang weggewesen,<br />
Corrie“, sagte Jerry.<br />
„Ich ging einen langen Weg ins Tal der Schatten“, sagte<br />
Corrie. „Ich dachte, ich sähe auf <strong>die</strong>ser Welt keinen mehr<br />
von euch wieder. Dann kam <strong>Tarzan</strong>.“<br />
169
Tak van der Bos kam <strong>und</strong> küßte sie. „Wenn mein Haar<br />
seit deinem Verschwinden nicht weiß geworden ist, dann<br />
läßt Kummer <strong>die</strong> Haare nicht weiß werden. Komm nie<br />
wieder außer Sicht, Liebling.“<br />
Jerry wünschte, er würde van der Bos nicht mögen. Es<br />
wäre ihm ein großer Genuß gewesen, ihn hassen zu können.<br />
Dann dachte er: Du bist ein Idiot, Lucas. Du hast nicht den<br />
Hauch einer Chance, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Beiden sind für einander<br />
gemacht. Sie sind beide Klasse. So blieb denn Jerry hinter<br />
ihnen zurück <strong>und</strong> ließ sie beisammen, während sie den<br />
Marsch zum Dorf wieder aufnahmen.<br />
<strong>Tarzan</strong> war vorausgegangen, um <strong>die</strong> Spitze einzunehmen.<br />
Die anderen hörten zu, als Corrie ihre Abenteuer wiedergab.<br />
Sie erzählte von Amats Verrat, von Sarinas unerwarteter<br />
Hilfe, von ihrem schrecklichen Erlebnis mit Oju <strong>und</strong> von<br />
ihrer Rettung durch <strong>Tarzan</strong>.<br />
„Er ist großartig“, sagte sie. „Im Kampf ist er schrecklich.<br />
Er scheint ein wildes Tier zu werden, mit der Kraft <strong>und</strong><br />
Wendigkeit eines Tigers, aber geleitet von menschlicher<br />
Intelligenz. Er knurrt wie eine Bestie. Fast habe ich mich vor<br />
ihm gefürchtet. Aber als der Kampf vorbei war <strong>und</strong> er<br />
lächelte, war er wieder ganz menschlich.“<br />
„Er hat unsere Schulden um eine weitere vermehrt. Was<br />
wir ihm verdanken, können wir ihm nie vergelten“, sagte<br />
Jerry.<br />
„Der ist wirklich ein toller Kerl“, sagte Rosetti, „auch<br />
wenn er ein Brite ist.“<br />
Nach wenigen Minuten hatte <strong>die</strong> zurückkehrende Gruppe<br />
das Kampong betreten; <strong>und</strong> eben da sie das taten,<br />
verabschiedete sich Amat auf der anderen Seite des Dorfes<br />
in den Wald. Er hatte Rosetti erblickt.<br />
170
Kapitel 20<br />
Captain van Prins <strong>und</strong> Leutnant de Lettenhove, ebenso wie<br />
verschiedene andere der Guerilla-Truppe, kannten sowohl<br />
Corrie als auch Tak, <strong>die</strong> sie für tot gehalten hatten. Sie<br />
scharten sich um sie, lachten, redeten, beglückwünschten sie<br />
<strong>und</strong> tauschten Einzelheiten aus ihren unterschiedlichen<br />
Erlebnissen aus, <strong>die</strong> sie in den vergangenen zwei oder mehr<br />
Jahren, in denen sie einander nicht gesehen hatten, machten.<br />
Corrie <strong>und</strong> Tak fragten nach alten Fre<strong>und</strong>en. Von einigen<br />
wußte man, daß sie tot waren, andere waren Gefangene der<br />
Japaner gewesen, als man zuletzt von ihnen gehört hatte. All<br />
das besprach man in der Muttersprache.<br />
Jerry, der sich so recht als Außenseiter fühlte, suchte<br />
Bubonovitch <strong>und</strong> Rosetti. Sie saßen unter einem Baum<br />
beisammen <strong>und</strong> reinigten ihre Gewehre <strong>und</strong> Pistolen, denn<br />
seit sie ihre Bewaffnung von den Japanern erbeutet hatten,<br />
war es nötig, sie zu reinigen <strong>und</strong> zu ölen, eine endlose<br />
Prozedur in der feuchten tropischen Atmosphäre.<br />
Bald kamen van Prins <strong>und</strong> de Lettenhove zu ihnen, um<br />
Pläne für <strong>die</strong> Zukunft zu besprechen. Corrie <strong>und</strong> Tak saßen<br />
in einiger Entfernung im Schatten eines anderen Baumes<br />
beisammen. Corrie war aufgefallen, daß Jerry sie seit<br />
neuestem mied; daher verlangte sie nicht, an der Besprechung<br />
teilzunehmen. Sie fragte sich, ob sie etwas getan hatte, das<br />
ihn beleidigte, oder ob er bloß ihrer Gesellschaft überdrüssig<br />
war. Sie war gekränkt, <strong>und</strong> so widmete sie Tak van der Bos<br />
doppelt so viel Aufmerksamkeit. Jerry merkte es nur zu<br />
genau <strong>und</strong> fühlte sich miserabel. Er beteiligte sich nicht an<br />
der laufenden Diskussion. Bubonovitch wie auch Rosetti fiel<br />
das auf, <strong>und</strong> sie w<strong>und</strong>erten sich über <strong>die</strong> Veränderung, <strong>die</strong><br />
über ihn gekommen war.<br />
171
Die Besprechung führte zu dem Beschluß, daß sich <strong>die</strong><br />
beiden Gruppen zusammentun wollten, wenigstens<br />
vorläufig, daß es aber unklug wäre zu bleiben, wo sie waren.<br />
Sobald <strong>die</strong> Abteilung, <strong>die</strong> hätte abgelöst werden sollen, nicht<br />
zum Stützpunkt zurückkehrte, würde bestimmt eine<br />
Streitmacht nachforschen. Und <strong>die</strong> Holländer wünschten<br />
nicht, in größere Auseinandersetzungen verwickelt zu<br />
werden. Sie wollten dem Feind auf andere Weise zusetzen.<br />
Demnach wurde beschlossen, daß man sich in eine leicht<br />
zu verteidigende Stellung begab, <strong>die</strong> man kannte. Es würde<br />
zwar für <strong>Tarzan</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> Amerikaner einen Weg zurück<br />
bedeuten, doch van Prins versicherte ihnen, daß es letztlich<br />
ihre Chance, <strong>die</strong> Südwestküste zu erreichen, vergrößerte.<br />
„Von dort, wo ich vorhabe zu lagern“, erklärte er, „gibt es<br />
eine vergleichsweise einfache Route über den Gipfel. Ihr<br />
könnt dann am Osthang der Berge hinunterziehen, wo nach<br />
meinen Informationen relativ wenige Japaner in den höher<br />
gelegenen Bereichen sind, während es auf <strong>die</strong>ser Seite viele<br />
gibt. Ich werde euch eine Karte geben <strong>und</strong> eine Route<br />
einzeichnen, <strong>die</strong> euch an einen Punkt der Westseite<br />
zurückführt, von wo aus ihr meiner Meinung nach viel<br />
leichter <strong>die</strong> Küste erreicht, falls ihr bei dem bleiben wollt,<br />
was ich für ein sehr waghalsiges Abenteuer halte.“<br />
„Wie denken Sie darüber, Jerry?“, fragte <strong>Tarzan</strong>.<br />
Jerry schaute, aus einem Tagtraum geweckt,<br />
verständnislos auf. „Worüber?“, fragte er.<br />
<strong>Tarzan</strong> schaute ihn überrascht an. Dann wiederholte er<br />
den Plan. „Was ihr auch beschließt, mir soll’s recht sein“,<br />
sagte Jerry gleichgültig.<br />
Bubonovitch <strong>und</strong> Rosetti sahen einander an. „Was zur<br />
Hölle ist mit dem Alten los?“, flüsterte <strong>die</strong>ser.<br />
Bubonovitch zuckte <strong>die</strong> Schultern <strong>und</strong> schaute zu Corrie<br />
<strong>und</strong> van der Bos hinüber. „Cherchez la femme“, sagte er.<br />
„Red’ Amerikanisch“, sagte Rosetti.<br />
172
„Ich glaube, der Captain wird sehr bald wieder zum<br />
Frauenfeind werden“, sagte Bubonovitch.<br />
„Verstehe. Schätze, vielleicht werd’ ich selber auch<br />
wieder sowas werden. Ärger ist der Beiname der Weiber –<br />
Ärger, Ärger, nix als Ärger.“<br />
„Wann habt ihr vor abzuziehen?“, fragte <strong>Tarzan</strong> van<br />
Prins.<br />
„Ich glaube, heute <strong>und</strong> morgen können wir hier in<br />
Sicherheit bleiben. Die Japaner werden sich einige Tage<br />
lang nicht über <strong>die</strong> Abteilung zu sorgen beginnen, <strong>und</strong> dann<br />
wird es noch einen Tag dauern, bis sie <strong>die</strong>ses Dorf erreichen.<br />
Wir können übermorgen hier abziehen, früh am Morgen.<br />
Das wird meinen Männern Zeit lassen, ihre Fußbekleidung<br />
herzurichten. Die Dinger, <strong>die</strong> wir tragen, kann ich nicht als<br />
Schuhe bezeichnen. Der Häuptling hier hat genug Material,<br />
<strong>und</strong> einige der Frauen helfen uns, Sandalen anzufertigen.<br />
Wir waren so gut wie barfuß, als wir hier ankamen. Sollten<br />
<strong>die</strong> Japaner doch kommen, werden wir auf sie vorbereitet<br />
sein. Einige meiner Männer hacken zum Hauptpfad, der zum<br />
japanischen Stützpunkt führt, einen Parallelpfad frei. Ich<br />
lasse ihn etwa fünfh<strong>und</strong>ert Schritt weit anlegen. Falls <strong>die</strong><br />
Japaner kommen, werden wir eine Überraschung für sie<br />
haben.“<br />
Die Besprechung endete. Van Prins ging hinaus in den<br />
Wald, um zu sehen, wie seine Männer mit dem Pfad<br />
vorankamen. Die anderen Holländer begannen an ihren<br />
Sandalen zu arbeiten oder reinigten ihre Waffen. Corrie<br />
hatte Jerry verstohlen beobachtet. Sie merkte, wie mürrisch<br />
er aussah, <strong>und</strong> daß er nur redete, wenn er direkt<br />
angesprochen wurde; <strong>und</strong> dann nur kurz. Plötzlich kam sie<br />
auf den Gedanken, er könnte krank sein. Sie war böse auf<br />
ihn gewesen, aber <strong>die</strong>ser Gedanke beseitigte ihren Ärger <strong>und</strong><br />
erfüllte sie mit Mitleid. Sie ging hinüber zu der Stelle, wo er<br />
allein saß.<br />
173
„Was ist los, Jerry?“, fragte sie. „Sie sind doch nicht<br />
krank, oder?“<br />
„Nein“, sagte er. Er hatte sich in solch einen Zustand<br />
äußersten Elends hineingesteigert, daß er nicht einmal<br />
höflich sein konnte.<br />
Corrie sah ihn überrascht <strong>und</strong> verletzt an. Er bemerkte<br />
nicht den Ausdruck ihres Gesichts, denn er gab vor, mit der<br />
Pistole beschäftigt zu sein. Er wußte, daß er kindisch war,<br />
<strong>und</strong> haßte sich dafür. Was zur Hölle ist los mit mir? dachte<br />
er. Corrie stand langsam auf <strong>und</strong> ging weg. Jerry dachte an<br />
Selbstmord. Er war ein Esel, <strong>und</strong> er wußte es. Aber Jerry<br />
war sehr jung <strong>und</strong> sehr verliebt. Er rammte den letzten Teil<br />
seiner Pistole zornig an seinen Platz <strong>und</strong> stand auf.<br />
Corrie ging auf <strong>die</strong> kleine Hütte zu, <strong>die</strong> sie mit dem<br />
Eingeborenenmädchen Lara belegt hatte. Jerry eilte ihr nach.<br />
Er wollte ihr sagen, wie Leid es ihm tat. Als er den Fuß der<br />
Leiter erreichte, <strong>die</strong> in <strong>die</strong> Hütte hinauf führte, rief er ihr zu:<br />
„Corrie!“ Sie hielt weder an noch schaute sie zurück. Sie<br />
erkletterte <strong>die</strong> Leiter <strong>und</strong> verschwand im Eingang.<br />
Er wußte, daß sie ihn gehört hatte. Er wußte auch, daß<br />
<strong>Tarzan</strong> <strong>und</strong> Bubonovitch <strong>und</strong> Rosetti <strong>die</strong> ganze Sache mit<br />
angesehen hatten. Auch van der Bos, das war am<br />
schlimmsten von allem. Jerry fühlte, daß sein Gesicht<br />
brannte. Einen Moment lang stand er da <strong>und</strong> wußte nicht,<br />
was er tun sollte. Zur Hölle mit allen Frauen, dachte er. Dem<br />
Tod hatte er schon oft ins Angesicht geschaut, aber seinen<br />
Fre<strong>und</strong>en jetzt ins Gesicht zu schauen, war schlimmer. Es<br />
erforderte all seine Willenskraft, sich umzudrehen <strong>und</strong> zu<br />
ihnen zurückzugehen.<br />
Keiner sagte etwas, als er sich bei ihnen hinsetzte. Sie<br />
schienen ganz mit dem beschäftigt, was sie gerade taten.<br />
<strong>Tarzan</strong> durchbrach das Schweigen. „Ich werde ausziehen<br />
<strong>und</strong> sehen, ob ich frisches Fleisch holen kann“, sagte er.<br />
„Will jemand mit mir kommen?“ Es war das erste Mal, daß<br />
174
er jemanden gefragt hatte, ob er mit ihm zur Jagd kommen<br />
wollte. Sie alle wußten, daß er Jerry meinte.<br />
„Ja, würde ich gern, falls sonst keiner möchte“, sagte der.<br />
„Kommen Sie mit“, sagte <strong>Tarzan</strong>.<br />
Sie nahmen ihre Gewehre auf <strong>und</strong> gingen hinaus in den<br />
Wald.<br />
Bubonovitch <strong>und</strong> Rosetti saßen ein wenig abseits von den<br />
Holländern. „Das war nett von <strong>Tarzan</strong>“, sagte jener.<br />
„Jerry tat mir echt Leid. Ich frag’ mich, was in Corrie<br />
gefahren ist.“<br />
„Och, Hölle; sie sind alle gleich“, sagte Rosetti.<br />
Bubonovitch schüttelte den Kopf. „Das war gar nicht<br />
Corries Art – sie ist anders. Jerry muß etwas gesagt haben.<br />
Er ist so grantig wie ein Bär mit w<strong>und</strong>em Kopf.“<br />
„Der Holländer isses“, sagte Rosetti. „Er <strong>und</strong> Corrie sind<br />
ganz so.“ Er kreuzte den Zeigefinger mit dem Mittelfinger.<br />
„Und ich hab’ <strong>die</strong> ganze Zeit geglaubt, sie macht sich was<br />
aus’m Captain. Ich hab’ dir’s gesagt, daß es Ärger gibt, als<br />
wir das Weib aufgegabelt haben.“<br />
„Du bist ja selber von ihr berückt worden, Shrimp.“<br />
„Hab’ sie in Ordnung gef<strong>und</strong>en. Angestellt hat sie wohl<br />
nix.“<br />
<strong>Tarzan</strong> <strong>und</strong> Jerry waren über eine St<strong>und</strong>e lang weg. Sie<br />
kehrten mit einem erlegten Hirsch zum Dorf zurück. <strong>Tarzan</strong><br />
hatte ihn geschossen. Jerry war froh, daß er es nicht mußte.<br />
Natürlich war das Töten, um Nahrung zu bekommen,<br />
richtig, aber einen Hirsch tötete er nicht gern. Japaner zu<br />
töten, machte ihm nichts aus.<br />
An <strong>die</strong>sem Abend aß Corrie drüben bei den Holländern.<br />
Sie hätte es nicht tun sollen <strong>und</strong> sie wußte es auch. Sie hätte<br />
weitermachen sollen, als wäre nichts geschehen. Nachher<br />
wünschte sie, sie hätte es getan, denn sie erkannte, daß sie<br />
nun endgültig den Bruch bestätigte. Es würde schwierig<br />
sein, ihn wieder zu kitten. Er würde sich wahrscheinlich<br />
175
erweitern. Sie war äußerst unglücklich; denn sie mochte<br />
<strong>die</strong>se Männer, mit denen sie so viel durchgemacht hatte –<br />
denen sie so viel schuldete. Es tat ihr jetzt Leid, daß sie nicht<br />
gewartet hatte, als Jerry ihr nachgerufen hatte.<br />
Sie beschloß, ihren Stolz hinunterzuschlucken <strong>und</strong> zu<br />
ihnen hinüberzugehen; aber als sie es tat, stand Jerry auf <strong>und</strong><br />
ging weg. Also ging sie an ihnen vorbei <strong>und</strong> zu ihrer Hütte.<br />
Dort warf sie sich auf ihre Schlafmatten hin <strong>und</strong> weinte.<br />
Zum ersten Mal seit Jahren weinte sie.<br />
Der Tag neigte sich seinem Ende zu, <strong>und</strong> Amat war sehr<br />
müde, als er den japanischen Stützpunkt erreichte. Tief<br />
verbeugte er sich vor dem Wachtposten, der ihn anhielt, <strong>und</strong><br />
in den wenigen japanischen Worten, <strong>die</strong> er erlernt hatte,<br />
versuchte er zu erklären, daß er für den befehlshabenden<br />
Offizier wichtige Nachrichten hatte. Der Posten rief einen<br />
rekrutierten Offizier der Wache, der das Gebrabbel des<br />
Eingeborenendialekts erlernt hatte; <strong>und</strong> ihm wiederholte<br />
Amat, was er dem Posten gesagt hatte. Beinahe vergaß er<br />
sich zu verbeugen.<br />
Der Sergeant brachte ihn zum Adjutanten, vor dem sich<br />
Amat drei Mal verbeugte. Als der Sergeant berichtet hatte,<br />
verhörte der Adjutant Amat, <strong>und</strong> was Amat ihm erzählte,<br />
erregte ihn ziemlich. Er verlor keine Zeit, Amat dem<br />
befehlshabenden Offizier vorzuführen, einem Oberst Kanji<br />
Tajiro, vor dem sich Amat vier Mal verbeugte.<br />
Als der Oberst erfuhr, daß vierzig seiner Männer getötet<br />
worden waren, raste er. Amat erzählte ihm auch genau, wie<br />
viele Weiße der Gruppe in seinem Dorf angehörten. Er<br />
berichtete von den Wachtposten draußen auf den Pfaden. Er<br />
berichtete von dem weißen Mädchen. Er berichtete alles.<br />
Tajiro erteilte Befehle, daß man Amat zu essen <strong>und</strong> einen<br />
Schlafplatz geben sollte. Er befahl auch, daß zwei ganze<br />
Kompanien im Morgendämmern abmarschieren sollten, um<br />
das Dorf anzugreifen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Weißen zu vernichten. Er<br />
176
selbst wollte als Komman<strong>die</strong>render mitgehen, <strong>und</strong> sie<br />
würden Amat mitnehmen. Hätte Amat das gewußt, hätte er<br />
nicht so gut geschlafen.<br />
177
Kapitel 21<br />
Beim Frühstück am nächsten Morgen war <strong>die</strong> Kluft<br />
abermals deutlich erkennbar. Die Holländer bereiteten <strong>und</strong><br />
aßen ihres ein wenig abseits von den Amerikanern <strong>und</strong><br />
<strong>Tarzan</strong>. Der Engländer wußte, daß das alles sehr falsch <strong>und</strong><br />
ziemlich dumm war <strong>und</strong> daß <strong>die</strong> Moral der ganzen Truppe<br />
beeinträchtigt würde, wenn der Zustand anhielt. Zudem war<br />
jedenfalls auch er nicht begeistert, da es so offensichtlich<br />
war, daß <strong>die</strong> beiden Anführer, <strong>die</strong> dafür verantwortlich<br />
waren, so sehr in einander verliebt waren. Daß sie verliebt<br />
waren, wußte er; denn nur Menschen, <strong>die</strong> sehr verliebt sind,<br />
behandeln einander so gräßlich.<br />
Nachdem sie gegessen hatten, gingen <strong>Tarzan</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />
Amerikaner in den Wald, um den Pfad anzusehen, den <strong>die</strong><br />
Holländer ausgehackt hatten. Sie stellten fest, daß er gegen<br />
den Hauptpfad hin hervorragend Deckung bot, aber <strong>Tarzan</strong><br />
meinte, der Wachtposten sei nicht weit genug entfernt vom<br />
anderen Ende des Pfades.<br />
Captain van Prins hatte vier Männer auf <strong>die</strong>sen Posten<br />
gestellt <strong>und</strong> ihnen befohlen, <strong>die</strong> Japaner so lang wie<br />
möglich aufzuhalten, falls sie kämen, <strong>und</strong> langsam<br />
zurückzuweichen, damit <strong>die</strong> Haupttruppe der Guerillas<br />
ausreichend Zeit fände, vom Dorf vorzurücken <strong>und</strong> den<br />
Hinterhalt vorzubereiten.<br />
„Ich glaube, er sollte einen Mann sehr viel weiter voraus<br />
haben“, sagte <strong>Tarzan</strong> zu Jerry, „<strong>und</strong> wenigstens seine halbe<br />
Truppe ständig auf <strong>die</strong>sem Parallelpfad stationieren. Er ist<br />
auf Überraschungen nicht vorbereitet, <strong>und</strong> er rechnet nicht<br />
mit der List, <strong>die</strong> den Japanern zu Eigen ist.“<br />
„Die werden einen Mann als Vorhut haben“, sagte Jerry.<br />
„Er wird gut getarnt sein, <strong>und</strong> er wird wie eine Schlange<br />
178
durch den Dschungel kriechen. Er wird <strong>die</strong> Burschen auf<br />
<strong>die</strong>sem Posten sehen <strong>und</strong> dann zurückgehen <strong>und</strong> sie melden.<br />
Sehr bald werden einige mehr heranschleichen <strong>und</strong> ein paar<br />
Granaten werfen. Das wird das Ende der Wächter bedeuten,<br />
<strong>und</strong> <strong>die</strong> Japaner werden das Dorf stürmen, bevor van Prins<br />
seine Männer hier draußen im Hinterhalt hat.“<br />
„Kehren wir zurück <strong>und</strong> reden wir mit ihm“, schlug<br />
<strong>Tarzan</strong> vor.<br />
Kurz nach dem Frühstück hatte Lara Corrie aufgesucht.<br />
„Ich habe eben entdeckt“, sagte sie, „daß Amat letzte Nacht<br />
nicht ins Dorf zurückgekommen ist. Er ist gestern<br />
weggegangen. Ich kenne ihn. Er ist ein schlechter Mensch.<br />
Ich bin sicher, er ist zu dem großen japanischen Camp<br />
gegangen <strong>und</strong> hat alles gemeldet, was gestern hier<br />
geschehen ist.“<br />
Corrie wiederholte das vor van Prins, als <strong>Tarzan</strong> <strong>und</strong> Jerry<br />
zurückkehrten. Der Holländer rief sie herbei; <strong>und</strong> als sie<br />
kamen, ging Corrie weg. Van Prins berichtete ihnen von<br />
Laras Warnung, <strong>und</strong> <strong>Tarzan</strong> unterbreitete ihm den Plan, den<br />
er <strong>und</strong> Jerry besprochen hatten.<br />
„Ich glaube, ich werde den Großteil der Truppe dort<br />
draußen hinstellen“, sagte van Prins. „Ich werde nur ein<br />
Empfangskomitee hier lassen, falls einige zum Dorf her<br />
durchbrechen.“<br />
„Es wäre vielleicht eine gute Idee, Ihre Wachen ganz<br />
abzuziehen“, schlug Jerry vor. „Dann würden <strong>die</strong> Japaner<br />
völlig unvorbereitet in den Hinterhalt laufen.“<br />
„Ich weiß nicht recht“, sagte van Prins. „Ich selbst hätte<br />
schon gern etwas Vorwarnung, sonst könnten wir <strong>die</strong>jenigen<br />
sein, <strong>die</strong> überrascht würden.“<br />
<strong>Tarzan</strong> war anderer Meinung, aber er sagte: „Ich werde<br />
Ihnen <strong>die</strong> Vorwarnung viel früher überbringen, als Ihre<br />
Wachen es könnten. Ich werde vier oder fünf Meilen weit<br />
voraus sein, <strong>und</strong> wenn <strong>die</strong> Japaner auftauchen, werde ich<br />
179
lange, bevor sie Ihren Hinterhalt erreichen, mit der<br />
Nachricht zurück sein.“<br />
„Aber angenommen, sie sehen Sie?“<br />
„Werden sie nicht.“<br />
„Sie sind Ihrer selbst ziemlich sicher, Sir“, sagte der<br />
Holländer mit einem Lächeln.<br />
„Das bin ich.“<br />
„Ich will Ihnen sagen, was wir machen“, sagte van Prins.<br />
„Nur um uns doppelt abzusichern, werde ich meine Wächter<br />
draußen belassen. Ich werde ihnen sagen, daß Sie sie<br />
herbeordern, wenn Sie zurückkehren. Wie wär’ das?“<br />
„Schön“, sagte <strong>Tarzan</strong>. „Ich werde jetzt hinausgehen, <strong>und</strong><br />
Sie können Ihre Männer getarnt für den Hinterhalt<br />
aufstellen. Okay?“<br />
„Okay“, sagte van Prins.<br />
<strong>Tarzan</strong> schwang sich auf <strong>die</strong> Bäume <strong>und</strong> war<br />
verschw<strong>und</strong>en. Der Holländer schüttelte den Kopf.<br />
„Hätte ich ein Bataillon von seiner Sorte, könnte ich fast<br />
<strong>die</strong> Japaner von <strong>die</strong>ser Insel vertreiben.“<br />
Jerry, Bubonovitch <strong>und</strong> Rosetti gingen, schwer beladen<br />
mit Munition <strong>und</strong> Handgranaten, den Guerillas zum<br />
Hinterhalt voraus. Sie gelangten ans andere Ende des<br />
Parallelpfades <strong>und</strong> begannen es sich bequem zu machen <strong>und</strong><br />
sich auch zu tarnen. Mit Laub <strong>und</strong> Ranken bedeckten sie<br />
Köpfe <strong>und</strong> Schultern, bis sie wie ein Teil des umgebenden<br />
Dschungels wirkten. Auch wenn es da nicht einige Fuß weit<br />
Dickicht zwischen ihnen <strong>und</strong> dem Hauptpfad gegeben hätte,<br />
hätte ein Feind gerade gleich vor ihnen sein müssen, ehe er<br />
sie entdecken konnte.<br />
Die Guerillas waren bald an ihren Stellungen <strong>und</strong> tarnten<br />
sich eifrig. Captain van Prins lief den Hauptpfad hin <strong>und</strong><br />
her, um <strong>die</strong> Wirksamkeit der Tarnung eines jeden Mannes<br />
zu überprüfen. Schließlich erteilte er seine Befehle.<br />
„Schießt nicht, bevor ihr entdeckt werdet; dann fangt<br />
180
damit an. Ein paar Männer an der vordersten Linie können<br />
Granaten einsetzen, wenn sie sie weit genug werfen können,<br />
ohne unsere eigenen Leute zu gefährden. Dasselbe gilt für<br />
ein paar am entgegengesetzten Ende, falls einige Japaner an<br />
uns vorbei kommen. Versucht, <strong>die</strong> Japaner direkt vor euch<br />
zu erwischen. Falls sich alles so entwickelt wie ich hoffe,<br />
wird jeder von euch Japaner vor sich haben, wenn ich das<br />
Zeichen zum Feuern gebe. Noch Fragen?“<br />
„Nein. Wir mögen selbst in einen Hinterhalt geraten.<br />
Alles, was ich will, ist ihnen etwas Vergeltung zu verpassen<br />
<strong>und</strong> eine Höllenangst vor uns Holländern.“ Er kam etwa zur<br />
Mitte der Linie <strong>und</strong> bezog dort Stellung.<br />
Jerry entdeckte bald, daß van der Bos neben ihm<br />
eingereiht war. Tak hatte wenig zuvor ein kurzes Gespräch<br />
mit Corrie gehabt. „Was ist los zwischen dir <strong>und</strong> Jerry?“,<br />
hatte er gefragt.<br />
„Ich wüßte nicht, daß da etwas los wäre.“<br />
„Oh ja, es ist so. Was stimmt nicht mit ihm?“<br />
„Es interessiert mich nicht, was mit ihm nicht stimmt. Ich<br />
bin überhaupt an ihm nicht interessiert. Er ist ein Flegel, <strong>und</strong><br />
Flegel interessieren mich nicht.“<br />
Aber Tak wußte, daß sie sich interessierte, <strong>und</strong> plötzlich<br />
ging ihm ein Licht auf, was da los war. Wie ein Blitz<br />
durchzuckte es ihn <strong>und</strong> verursachte ihn, einen erstaunten<br />
Pfiff auszustoßen.<br />
„Weshalb pfeifst du?“, hatte Corrie gefragt.<br />
„Ich habe vor Staunen gepfiffen, daß es so viele verflixte<br />
Narren auf der Welt gibt.“<br />
„Meinst du mich?“<br />
„Ich meine dich <strong>und</strong> Jerry <strong>und</strong> mich selbst.“<br />
„Pfeif, wenn’s dir Spaß macht, aber kümmere dich um<br />
dein eigenes Zeug.“<br />
Tak stupste sie unters Kinn <strong>und</strong> grinste; dann ging er mit<br />
van Prins hinaus in den Wald.<br />
181
Jerry war nicht eben begeistert, van der Bos neben sich zu<br />
haben. Von allen Leuten, <strong>die</strong> ihm eingefallen wären, war<br />
van der Bos derjenige, mit dem er am wenigsten vertraulich<br />
werden wollte. Er hoffte, der Bursche würde nicht<br />
versuchen, ein Gespräch in Gang zu bringen.<br />
„Na, ich glaube, wir werden uns auf ein langes Warten<br />
einrichten müssen“, sagte van der Bos.<br />
Jerry brummte.<br />
Da Jerry ihn nicht anschaute, erlaubte sich van der Bos<br />
den Luxus eines Grinsens. „Corrie wollte herauskommen<br />
<strong>und</strong> mitkämpfen“, sagte er, „aber van Prins <strong>und</strong> ich haben<br />
ihr <strong>die</strong>se Idee ausgetrieben.“<br />
„Sehr gut“, sagte Jerry.<br />
„Corrie ist ein großartiges kleines Mädchen“, fuhr van der<br />
Bos fort. „Wir kennen uns schon das ganze Leben lang. Sie<br />
<strong>und</strong> meine Frau sind Fre<strong>und</strong>innen, seit wir alle uns erinnern<br />
können. Corrie ist ganz wie eine Schwester für uns.“<br />
Es war still. Van der Bos unterhielt sich großartig. Jerry<br />
auch, <strong>und</strong> doch wieder nicht. Endlich sagte er: „Ich hab’<br />
nicht gewußt, daß Sie verheiratet sind.“<br />
„Das wurde mir auch erst vor ein paar Minuten bewußt“,<br />
sagte van der Bos.<br />
Jerry hielt ihm <strong>die</strong> Hand hin. „Danke“, sagte er. „Ich bin<br />
ein gottverdammter Narr.“<br />
„Schon recht“, sagte van der Bos.<br />
„Ist Ihre Frau davongekommen?“<br />
„Ja. Wir haben versucht, den alten van der Meer dazu zu<br />
bringen, auch Corrie <strong>und</strong> ihre Mutter wegzuschicken; aber<br />
der sture alte Narr wollte nicht. Gott! Was für einen Preis<br />
hat er dafür bezahlt. Der Starrsinn <strong>die</strong>ses Mannes war auf<br />
der ganzen Insel berüchtigt. Er kostete ihn genüßlich aus.<br />
Davon abgesehen war er ein sehr netter Mensch.“<br />
„Meinen Sie, daß Corrie etwas von der Sturheit ihres<br />
Vaters geerbt hat?“, fragte Jerry besorgt.<br />
182
„Würde mich nicht überraschen.“ Van der Bos unterhielt<br />
sich königlich. Er mochte <strong>die</strong>sen Amerikaner, doch war ihm<br />
danach, ihn ein wenig zu bestrafen.<br />
Bubonovitch <strong>und</strong> Rosetti bemerkten mit wachsender<br />
Verw<strong>und</strong>erung <strong>die</strong> Herzlichkeit, <strong>die</strong> sich zwischen Jerry <strong>und</strong><br />
van der Bos entwickelte. Als der Tag voranschritt, merkten<br />
sie auch, daß „der Alte“ mehr <strong>und</strong> mehr wieder er selbst<br />
wurde.<br />
Dazu äußerten sie sich auch. „Er wird fast wieder<br />
menschlich“, flüsterte Rosetti.<br />
Das Gespräch wurde durch <strong>Tarzan</strong>s Rückkehr<br />
unterbrochen. Er suchte van Prins auf. „Eure kleinen<br />
braunen Vettern kommen“, sagte er. „Sie sind etwa zwei<br />
Meilen weit entfernt. Es sind zwei ganze Kompanien, wie<br />
ich schätze. Sie haben leichte Maschinengewehre <strong>und</strong> <strong>die</strong>se<br />
niedlichen kleinen Mörser, wie sie in Gebrauch sind. Ein<br />
Oberst führt sie an. Sie haben eine Vorhut von drei Mann<br />
nur h<strong>und</strong>ert Schritt vor sich. Ihre Wachtposten kommen<br />
zurück zu uns.“<br />
„Da haben Sie wirklich gute Arbeit geleistet, Sir“, sagte<br />
van Prins. „Ich kann Ihnen nicht genug danken.“ Er wandte<br />
sich zu den Männern neben ihm. „Gebt weiter, daß jetzt<br />
nicht mehr geredet werden darf. Der Feind wird in<br />
fünf<strong>und</strong>dreißig oder vierzig Minuten da sein.“ Er wandte<br />
sich wieder an <strong>Tarzan</strong>. „Verzeihen Sie, Sir“, sagte er, „aber<br />
sie sind nicht braun. Die Bastarde sind gelb.“<br />
Groen de Lettenhove war <strong>die</strong> Führung der Guerillas<br />
überlassen, <strong>die</strong> im Dorf zurückgeblieben waren. Er<br />
versuchte Corrie zu überreden, einen sicheren Platz<br />
aufzusuchen, falls einige der Feinde zum Dorf<br />
durchzubrechen vermochten.<br />
„Sie werden jeden Schützen brauchen, den Sie kriegen<br />
können“, konterte sie; „<strong>und</strong> außerdem habe ich meine<br />
Rechnung mit den Japanern noch nicht beglichen.“<br />
183
„Aber Sie könnten getötet oder verw<strong>und</strong>et werden,<br />
Corrie.“<br />
„Wie auch Sie <strong>und</strong> Ihre Männer. Vielleicht sollten wir<br />
alle gehen <strong>und</strong> uns verstecken.“<br />
„Es ist hoffnungslos mit Ihnen“, sagte er. „Ich hätte es<br />
besser wissen müssen, als daß ich mit einer Frau streite.“<br />
„Denken Sie von mir nicht wie von einer Frau. Ich bin ein<br />
weiterer Schütze, <strong>und</strong> ich bin ein Veteran. Außerdem bin ich<br />
verdammt gut im Schießen.“<br />
Das Gespräch wurde von ausbrechendem Gewehrfeuer<br />
aus dem Wald unterbrochen.<br />
184
Kapitel 22<br />
Jerry war der Erste, der <strong>die</strong> auftauchenden Japaner sah, da er<br />
zufällig in einer Position war, <strong>die</strong> ihn den Pfad über h<strong>und</strong>ert<br />
Fuß weit überblicken ließ, bis dorthin, wo er direkt vor ihm<br />
nach rechts zum Dorf hin abbog. Es waren <strong>die</strong> drei Männer<br />
der Vorhut. Sie kamen vorsichtig näher <strong>und</strong> beobachteten<br />
den Pfad vor ihnen. Offensichtlich waren sie sich so sicher,<br />
ihr Angriff käme überraschend, daß sie <strong>die</strong> Möglichkeit<br />
eines Hinterhalts nicht einmal erwogen. Dem Dschungel<br />
beiderseits des Pfades schenkten sie keine Aufmerksamkeit.<br />
An den Männern, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Haupttruppe abwarteten, kamen sie<br />
vorbei <strong>und</strong> erreichten den Waldrand. Das Dorf lag unter<br />
ihnen. Es schien verlassen. Die Guerillas, <strong>die</strong> in <strong>und</strong> hinter<br />
den Hütten verborgen lagen, sahen sie <strong>und</strong> warteten ab.<br />
Bald sah Jerry <strong>die</strong> Haupttruppe auftauchen. Der Oberst<br />
marschierte mit erhobenem Samurai-Schwert an der Spitze<br />
der Kolonne. Hinter ihm latschte Amat, <strong>und</strong> hinter Amat<br />
ging ein Soldat, dessen Bajonettspitze auf eine Niere des<br />
Eingeborenen gerichtet war. Offenbar hatte Amat versucht,<br />
irgendwo entlang der Strecke zu desertieren. Glücklich sah<br />
er nicht aus. Shrimp sah ihn vorbeikommen, <strong>und</strong> im Stillen<br />
ermahnte er seinen Abzugsfinger gehorsam zu bleiben.<br />
Am Schluß der Truppe häuften sich <strong>die</strong> Männer aus der<br />
ersten Kompanie. Sie hatten zu einer kompakten Masse<br />
aufgeschlossen, als <strong>die</strong> Spitze der Kolonne an der Stelle am<br />
Waldrand angehalten hatte. Dann feuerte van Prins, <strong>und</strong><br />
unverzüglich entlud sich eine tödliche Salve in <strong>die</strong> Reihen<br />
des überraschten Feindes. In rascher Folge schleuderte Jerry<br />
drei Granaten auf den hinteren Pfad hinab, mitten in <strong>die</strong><br />
zweite Kompanie.<br />
Die Japaner schossen wild in den Dschungel hinein; dann<br />
185
wandten sich einige Unverletzte zum Rückzug um. Ein paar<br />
sprangen mit vorgesteckten Bajonetten ins Dickicht, im<br />
Versuch, in den Nahkampf mit den Weißen zu gelangen.<br />
Shrimp genoß den Tag auf dem Schlachtfeld. Er knallte <strong>die</strong><br />
Japaner ab, so schnell er schießen konnte, bis sein Gewehr<br />
so heiß wurde, daß es blockierte.<br />
Unter jenen, <strong>die</strong> sich wahnsinnig zur Flucht beeilten,<br />
waren der Oberst <strong>und</strong> Amat. Wie durch ein W<strong>und</strong>er waren<br />
sie bisher unversehrt davongekommen. Der Oberst kreischte<br />
auf Japanisch, was Amat nicht verstehen konnte; aber er<br />
hatte zurückgeschaut <strong>und</strong> erkannt, daß der Oberst<br />
Mordabsichten gegen ihn hegte. Während er floh, schrie<br />
Amat. Es hätte ihn tief verletzt zu wissen, daß ihn der Oberst<br />
beschuldigte, sie in verräterischer Weise in einen Hinterhalt<br />
geführt zu haben, <strong>und</strong> <strong>die</strong>s der Gr<strong>und</strong> dafür war, daß er<br />
Amat umbringen wollte.<br />
Rosetti sah sie eben, als sie ihm in <strong>die</strong> Quere kamen. „Nix<br />
zu machen, Gelbbauch“, schrie er. „Den Kerl verspeis’ ich<br />
selber. Den bringt mir keiner um, wenn ich’s verhindern<br />
kann.“ Dann erschoß er den Oberst mit seiner Pistole. Er gab<br />
einen weiteren Schuß auf Amat ab <strong>und</strong> verfehlte ihn.<br />
„Verhunzt!“, sagte Rosetti, als der panische Eingeborene<br />
weiter vorn am Pfad im Dickicht untertauchte.<br />
Der Überrest der japanischen Streitmacht floh in völligem<br />
Durcheinander in den Wald, ihre Toten <strong>und</strong> Verw<strong>und</strong>eten<br />
ließen sie zurück. Van Prins teilte eine Anzahl von Männern<br />
als Rückendeckung ein, andere zum Einsammeln der<br />
feindlichen Waffen <strong>und</strong> Munition, <strong>und</strong> den Rest dazu, <strong>die</strong><br />
verw<strong>und</strong>eten Japaner <strong>und</strong> ihre eigenen ins Dorf zu tragen.<br />
Im nächsten Moment erschoß ein verw<strong>und</strong>eter Japaner<br />
den Holländer, der ihm zu helfen versuchte. Kurz darauf gab<br />
es keine verw<strong>und</strong>eten Japaner mehr.<br />
Bubonovitch <strong>und</strong> Rosetti, <strong>die</strong> auf den Pfad hinaus<br />
gesprungen waren, um auf <strong>die</strong> fliehenden Feinde zu<br />
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schießen, halfen beim Einsammeln der zurückgelassenen<br />
japanischen Waffen <strong>und</strong> Munition. Plötzlich hielt Rosetti<br />
inne <strong>und</strong> schaute um sich. „Wo ist der Captain?“, fragte er.<br />
Jerry war nirgends zu sehen. Die beiden Männer<br />
kämpften sich zurück durchs Gestrüpp, wo sie ihn zuletzt<br />
gesehen hatten. Dort fanden sie ihn. Er lag auf dem Rücken,<br />
sein Hemd war über der linken Brust von Blut durchtränkt.<br />
Die beiden Männer knieten sich neben ihn.<br />
„Er ist nicht tot“, sagte Rosetti. „Er atmet.“<br />
„Er darf nicht sterben“, sagte Bubonovitch.<br />
„Ein großes Wort, Soldat“, sagte Rosetti.<br />
Sehr vorsichtig hoben sie ihn hoch <strong>und</strong> machten sich auf<br />
den Rückweg ins Dorf. Die Holländer brachten von den<br />
ihren drei Tote <strong>und</strong> fünf Verw<strong>und</strong>ete zurück.<br />
<strong>Tarzan</strong> sah <strong>die</strong> zwei Sergeanten Jerry tragen. Er kam<br />
herbei <strong>und</strong> sah den Bewußtlosen an. „Schlimm?“, fragte er.<br />
„Das fürchte ich, Sir“, sagte Bubonovitch. Sie gingen<br />
weiter <strong>und</strong> ließen <strong>Tarzan</strong> zurück.<br />
Als <strong>die</strong> Männer mit ihrer traurigen Last das Dorf betraten,<br />
kamen ihnen <strong>die</strong> Zurückgebliebenen entgegen. Die Toten<br />
wurden in einer Reihe hingebettet <strong>und</strong> mit Schlafmatten<br />
bedeckt. Die Verw<strong>und</strong>eten legte man in den Schatten der<br />
Bäume. Unter den Guerillas gab es einen Arzt. Er hatte<br />
weder Arzneien noch Betäubungsmittel. Er tat einfach sein<br />
Möglichstes, <strong>und</strong> Corrie half ihm. Am Rand des Dschungels<br />
hoben Männer bereits Gräber für <strong>die</strong> drei Toten aus.<br />
Eingeborene Frauen kochten Wasser, um darin<br />
Verbandszeug zu sterilisieren. Bubonovitch <strong>und</strong> Rosetti<br />
saßen neben Jerry, als schließlich der Arzt <strong>und</strong> Corrie zu<br />
ihm kamen. Als Corrie sah, wer es war, erbleichte sie <strong>und</strong><br />
rang plötzlich nach Atem. Sowohl Bubonovitch als auch<br />
Rosetti beobachteten sie. Ihre Reaktion besagte mehr, als es<br />
Worte vermocht hätten; denn Worte werden manchmal<br />
ausgesprochen, um irrezuführen.<br />
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Mit Hilfe der beiden Sergeanten <strong>und</strong> Corries, <strong>die</strong> alle<br />
etwas für den Mann zu tun versuchten, der ihnen teuer war,<br />
entfernte der Arzt Jerrys Hemd <strong>und</strong> untersuchte <strong>die</strong> W<strong>und</strong>e<br />
sorgfältig.<br />
„Ist es sehr schlimm?“, fragte Corrie.<br />
„Ich glaube nicht“, antwortete der Arzt. „Es ging<br />
bestimmt am Herz vorbei, <strong>und</strong> ich bin sicher, auch an der<br />
Lunge. Er hat nicht mehr weiter geblutet, oder, Sergeant?“<br />
„Nein“, sagte Bubonovitch.<br />
„Er hat hauptsächlich einen Schock erlitten <strong>und</strong> leidet an<br />
Blutverlust. Ich glaube, er wird wieder in Ordnung kommen.<br />
Helft mir beim Umdrehen – sehr vorsichtig jetzt.“<br />
In Jerrys Rücken, gerade unter seinem linken<br />
Schulterblatt, war ein kleines r<strong>und</strong>es Loch. Es hatte nicht<br />
viel geblutet.<br />
„Er muß unter einem Glücksstern geboren sein“, sagte der<br />
Arzt. „Wir brauchen nichts aufschneiden, <strong>und</strong> das ist gut;<br />
denn ich habe keine Instrumente. Die Kugel drang glatt<br />
durch, wie ein scharfer Pfiff.“ Er wusch <strong>die</strong> W<strong>und</strong>en mit<br />
sterilem Wasser aus <strong>und</strong> verband sie locker. „Das ist alles,<br />
was ich tun kann“, sagte er. „Einer von euch soll bei ihm<br />
bleiben. Wenn er zu sich kommt, seht, daß er still hält.“<br />
„Ich werde bleiben“, sagte Corrie.<br />
„Ihr Männer könnt mir dort drüben helfen, wenn ihr<br />
wollt“, sagte der Arzt.<br />
„Wenn Sie uns brauchen, Miß, einfach rufen“, sagte<br />
Rosetti.<br />
Corrie saß neben dem verw<strong>und</strong>eten Mann <strong>und</strong> benetzte<br />
sein Gesicht mit kühlem Wasser. Sie wußte nicht, was sie<br />
sonst tun könnte, aber sie wußte, daß sie etwas für ihn tun<br />
wollte. Was für eine geringfügige Verbitterung auch immer<br />
sie ihm gegenüber empf<strong>und</strong>en hatte, sie war ihr angesichts<br />
seines Blutes <strong>und</strong> seiner Hilflosigkeit ausgelöscht worden.<br />
Bald seufzte er <strong>und</strong> schlug <strong>die</strong> Augen auf. Er zwinkerte ein<br />
188
paar Mal mit ihnen, mit einem Ausdruck der Ungläubigkeit<br />
darin, als er das Gesicht des Mädchens nahe über dem<br />
seinen sah. Dann lächelte er, langte hoch <strong>und</strong> drückte ihre<br />
Hand.<br />
„Du kommst wieder in Ordnung, Jerry“, sagte sie.<br />
„Ich bin jetzt schon in Ordnung“, sagte er.<br />
Er hatte ihre Hand nur eine Sek<strong>und</strong>e lang gehalten. Nun<br />
nahm sie seine <strong>und</strong> streichelte sie. Sie lächelten einander nur<br />
an. Die Welt war ganz in Ordnung.<br />
Captain van Prins ließ für <strong>die</strong> Verw<strong>und</strong>eten Tragen<br />
bauen. Er kam herüber, um nach Jerry zu sehen. „Wie fühlen<br />
Sie sich?“, fragte er.<br />
„Gut.“<br />
„Schön. Ich habe beschlossen, daß wir hier so bald wie<br />
möglich abziehen. Ziemlich sicher werden <strong>die</strong> Japaner heute<br />
Nacht zu uns zurückschleichen, <strong>und</strong> das ist kein Ort, den<br />
man erfolgreich verteidigen kann. Ich kenne einen, auf den<br />
das doch zutrifft. Wir können ihn in zwei Märschen<br />
erreichen. Sobald <strong>die</strong> Tragen fertig <strong>und</strong> unsere Toten<br />
begraben sind, ziehen wir hier ab. Ich werde den<br />
Eingeborenen eine Lektion erteilen <strong>und</strong> das Dorf<br />
niederbrennen. Diese Leute haben mit dem Feind<br />
kollaboriert. Sie müssen bestraft werden.“<br />
„Oh nein!“, rief Corrie. „Das wäre äußerst ungerecht. Sie<br />
würden <strong>die</strong> Unschuldigen mit den Schuldigen bestrafen.<br />
Nehmen Sie Lara, beispielsweise. Sie hat uns zwei Mal<br />
geholfen. Sie hat mir erzählt, daß es hier nur zwei Leute<br />
gibt, <strong>die</strong> zu den Japanern halten – den Häuptling <strong>und</strong> Amat.<br />
Es wäre grausam, <strong>die</strong> Häuser jener niederzubrennen, <strong>die</strong><br />
loyal sind. Bedenken Sie – wäre Lara nicht gewesen, hätten<br />
uns <strong>die</strong> Japaner wohl überrascht.“<br />
„Ich schätze, Sie haben Recht, Corrie“, sagte Prins.<br />
„Jedenfalls haben Sie mich auf eine bessere Idee gebracht.“<br />
Er ging weg, <strong>und</strong> zehn Minuten später wurde der<br />
189
Häuptling aus dem Dorf gebracht <strong>und</strong> von einem<br />
Erschießungskommando erschossen.<br />
Die Guerillas versammelten sich um <strong>die</strong> Gräber ihrer<br />
Toten. Der Doktor sprach ein kurzes Gebet, drei Salven<br />
wurden abgefeuert, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Gräber wurden zugeschaufelt.<br />
Man legte <strong>die</strong> Verw<strong>und</strong>eten auf <strong>die</strong> Tragen, <strong>die</strong> Nachhut<br />
marschierte ins Dorf, <strong>und</strong> <strong>die</strong> kleine Kompanie war fertig<br />
zum Abzug.<br />
Jerry beschwerte sich, weil er getragen wurde, <strong>und</strong><br />
beharrte darauf, gehen zu können. Bubonovitch, Rosetti <strong>und</strong><br />
Corrie versuchten es ihm auszureden, als der Arzt<br />
herbeikam. „Was geht da vor?“, fragte er. Sie sagten es ihm.<br />
„Sie bleiben auf <strong>die</strong>ser Trage, junger Mann“, sagte er zu<br />
Jerry, <strong>und</strong> zu Bubonovitch <strong>und</strong> Rosetti: „Wenn er<br />
abzusteigen versucht, bindet ihn nieder.“<br />
Jerry grinste. „Ich werde brav sein, Doc“, sagte er.<br />
Wegen der Erschießung ihres Häuptlings fürchteten sich<br />
<strong>die</strong> Eingeborenen. Sie wußten nicht, wie viele noch<br />
erschossen werden mochten. Lara kam eben zu Corrie, als<br />
van Prins vorbeiging. Er erkannte das Mädchen.<br />
„Du kannst deinen Leuten mitteilen“, sagte er, „daß wir<br />
hauptsächlich deinetwegen <strong>und</strong> der Unterstützung, <strong>die</strong> du<br />
uns gabst, das Dorf nicht wie beabsichtig niederbrennen.<br />
Wir haben nur den Häuptling bestraft. Er hat unseren<br />
Feinden geholfen. Wenn wir zurückkommen <strong>und</strong> Amat ist<br />
hier, werden wir auch ihn bestrafen. Ihr übrigen braucht uns<br />
weiter nicht zu fürchten, wenn ihr nicht <strong>die</strong> Feinde<br />
unterstützt. Wir wissen, daß ihr sie gut behandeln müßt,<br />
sonst werdet ihr mißhandelt. Wir verstehen das, aber helft<br />
ihnen nicht mehr als absolut nötig ist.“ Er warf einen<br />
schnellen Blick r<strong>und</strong> ums Kampong. „Wo ist <strong>Tarzan</strong>?“,<br />
fragte er.<br />
„Richtig“, sagte Bubonovitch. „Wo ist er?“<br />
„Oje“, sagte Rosetti. „Er ist nach dem Scharmützel<br />
190
nimmer ins Dorf zurückgekommen. Aber verw<strong>und</strong>et war er<br />
nicht. Er war in Ordnung, als wir ihn zuletzt geseh’n haben,<br />
grad, bevor wir den Captain rausgeholt haben.“<br />
„Macht euch keine Sorgen um ihn“, sagte Bubonovitch.<br />
„Er kann schon auf sich aufpassen – <strong>und</strong> auf den ganzen<br />
Rest von uns dazu.“<br />
„Ich kann ein paar Männer hier zurücklassen, damit sie<br />
ihm sagen, wo wir lagern werden“, sagte van Prins.<br />
„Nicht einmal das brauchen Sie“, sagte Bubonovitch.<br />
„Er wird uns finden. Lara kann ihm sagen, in welche<br />
Richtung wir weggegangen sind. Er wird uns besser<br />
aufspüren als ein Bluth<strong>und</strong>.“<br />
„Na schön“, sagte van Prins, „ziehen wir los.“<br />
*<br />
Als <strong>Tarzan</strong> den verw<strong>und</strong>eten Amerikaner gesehen hatte,<br />
schien es <strong>die</strong>sem sehr schlecht zu gehen. <strong>Tarzan</strong> war<br />
überzeugt, <strong>die</strong> Verw<strong>und</strong>ung sei tödlich. Sein Zorn auf <strong>die</strong><br />
Japaner wurde angefacht, denn er mochte <strong>die</strong>sen jungen<br />
Flieger. Unbemerkt von den anderen schwang er sich auf <strong>die</strong><br />
Bäume <strong>und</strong> folgte der Fährte der Feinde.<br />
Er holte sie an einer Stelle ein, an der ein Hauptmann <strong>und</strong><br />
zwei Leutnants sie gesammelt hatten – <strong>die</strong> einzigen<br />
Offiziere der beiden Kompanien. Aus den Bäumen hoch<br />
über ihnen blickte eine grimmige Gestalt auf sie hinunter<br />
<strong>und</strong> legte einen Pfeil auf den Bogen. Das Schnalzen der<br />
Bogensehne wurde vom Affen-Geschnatter der Männer<br />
übertönt, vom Kommandogebrüll ihrer Offiziere. Der<br />
Hauptmann stürzte nach vorn auf sein Gesicht, einen<br />
Bambusschaft durchs Herz gebohrt. Beim Hinfallen wurde<br />
der Pfeil durch den Körper gestoßen, so daß er aus dem<br />
Rücken heraus ragte.<br />
Einen Moment lang waren <strong>die</strong> Japaner still in ihrer<br />
191
Verblüffung; dann begann wieder das Geschrei, während sie<br />
in alle Richtungen aus Gewehren <strong>und</strong> Maschinengewehren<br />
in den Dschungel schossen. Fünf<strong>und</strong>siebzig Fuß über ihren<br />
Kugeln beobachtete <strong>Tarzan</strong> sie, ein weiterer Pfeil war<br />
schußbereit.<br />
Diesmal suchte er sich einen der Leutnants aus. Während<br />
er das Geschoß losließ, bewegte er sich lautlos zu einem<br />
anderen Standort hin, mehrere h<strong>und</strong>ert Fuß weit weg. Als ihr<br />
zweiter Offizier fiel, begannen <strong>die</strong> Japaner Anzeichen von<br />
Panik zu zeigen, da auch er auf rätselhafte Weise zu Fall<br />
kam. Nun feuerten sie wild ins Unterholz <strong>und</strong> in <strong>die</strong> Bäume.<br />
Als der letzte Offizier zu Boden ging, begannen <strong>die</strong><br />
Japaner auf den Pfad in Richtung ihres Hauptlagers hin zu<br />
laufen. Sie hatten genug. <strong>Tarzan</strong> jedoch nicht. Er verfolgte<br />
sie, bis alle seine Pfeile aufgebraucht waren, bis jeder im<br />
Körper eines Japaners steckte. Kreischende Verw<strong>und</strong>ete<br />
zogen Pfeile aus Rücken <strong>und</strong> Bäuchen. Die verstummten<br />
Toten wurden den Tigern <strong>und</strong> wilden H<strong>und</strong>en hinterlassen.<br />
<strong>Tarzan</strong> nahm das Gewehr vom Rücken <strong>und</strong> leerte ein<br />
Magazin in <strong>die</strong> gelichteten Reihen der fliehenden Feinde.<br />
Dann drehte er um <strong>und</strong> schwang sich in Richtung zum Dorf<br />
zurück. Sein amerikanischer Fre<strong>und</strong> war gerächt. <strong>Tarzan</strong><br />
folgte dem Pfad nicht, er bewegte sich nicht einmal lange in<br />
der Richtung zum Dorf. Er drang tief in den Urwald ein, sah<br />
dabei Altes, das vielleicht kein anderes menschliches Auge<br />
je geschaut hatte – Patriarchen des Waldes, von Moos<br />
bedeckt <strong>und</strong> altersgrau, umhüllt von riesenhaften<br />
Schlingpflanzen, Ranken <strong>und</strong> großen Luftpflanzen, verziert<br />
von Orchideen.<br />
Als der Wind drehte <strong>und</strong> ihm eine flüchtige Brise ins<br />
Gesicht blies, fing er menschliche Gerüche auf. Und bald<br />
entdeckte er einen kleinen Pfad, wie Menschen ihn<br />
austreten. Er ließ sich tiefer gleiten <strong>und</strong> sah eine Falle, wie<br />
primitive Jäger sie für Kleinwild auslegen. Er war in den<br />
192
Wald gekommen, um allein zu sein <strong>und</strong> von den Menschen<br />
weg zu gelangen. Er war nicht ungesellig, aber gelegentlich<br />
verlangte es ihn nach Einsamkeit, oder nach entspannender<br />
Gemeinschaft mit Tieren. Sogar <strong>die</strong> schnatternden,<br />
zeternden Affen boten oft willkommene Entspannung, denn<br />
sie waren unterhaltsam. Wenige Menschen waren das.<br />
Hier gab es viele Affen. Erst flohen sie vor ihm, aber als<br />
er sie in ihrer eigenen Sprache anredete, faßten sie Mut <strong>und</strong><br />
kamen näher. Er verlockte sogar einen kleinen Kerl<br />
herzukommen <strong>und</strong> sich auf seine Hand zu hocken. Er<br />
erinnerte ihn an den kleinen Nkima, der <strong>Tarzan</strong> liebte <strong>und</strong><br />
den auch <strong>Tarzan</strong> liebte, ein ebenso prahlerischer,<br />
streitlustiger, putziger, dreister kleiner Feigling. Afrika! Wie<br />
weit, weit entfernt schien es.<br />
Er plauderte mit dem kleinen Affen, so wie er mit Nkima<br />
geredet hätte, <strong>und</strong> bald wuchs der Mut des kleinen Burschen<br />
<strong>und</strong> er sprang <strong>Tarzan</strong> auf <strong>die</strong> Schulter. Wie Nkima fühlte er<br />
sich dort sicher beim Reiten, als <strong>Tarzan</strong> sich durch <strong>die</strong><br />
Bäume schwang.<br />
Die fremde Geruchsspur hatte <strong>die</strong> Neugier <strong>Tarzan</strong>s<br />
geweckt, also folgte er ihr. Sie führte ihn zu einem kleinen<br />
See, in dessen Gewässer am Ufer entlang eine Anzahl von<br />
primitiven Unterständen errichtet war – Äste <strong>und</strong><br />
Laubblätter auf Plattformen, <strong>die</strong> ein paar Fuß über dem<br />
Wasser von rohen Pfählen gestützt wurden, <strong>die</strong> in den<br />
Schlamm des Seebodens getrieben waren.<br />
Die Schutzdächer waren nach allen Seiten hin offen. Ihre<br />
Bewohner waren ein Volk von unterdurchschnittlicher<br />
Körpergröße, von kräftig olivbrauner Haut <strong>und</strong><br />
kohlschwarzem Haar. Sie waren nackte Wilde, <strong>die</strong> mit der<br />
Zivilisation noch nie Kontakt gehabt hatten. Ein glückliches<br />
Volk, dachte <strong>Tarzan</strong>. Einige Männer <strong>und</strong> Frauen fischten mit<br />
Netzen im Wasser. Die Männer trugen Bogen <strong>und</strong> Pfeile.<br />
Der kleine Affe sagte, sie seien böse Gomangani. „So<br />
193
manu“, sagte er – essen Affe. Dann fing er an, sie<br />
anzuschreien <strong>und</strong> zu schelten. Wegen der Vorteile der<br />
Entfernung <strong>und</strong> des Beiseins seines neuen großen Fre<strong>und</strong>es<br />
fühlte er sich sicher. <strong>Tarzan</strong> lächelte; es erinnerte ihn so sehr<br />
an den kleinen Nkima.<br />
Das Äffchen veranstaltete so viel Lärm, daß einige der<br />
Eingeborenen aufschauten. <strong>Tarzan</strong> machte das universelle<br />
Friedenszeichen, aber <strong>die</strong> Eingeborenen bedrohten ihn mit<br />
ihren Pfeilen. Sie schnatterten <strong>und</strong> gestikulierten auf ihn ein,<br />
unzweifelhaft, um ihn fortzuscheuchen. In vollem<br />
Einverständnis mit ihnen bew<strong>und</strong>erte der Herr des<br />
Dschungels ihr gutes Urteilsvermögen. Wären sie immer so<br />
erfolgreich, <strong>die</strong> Weißen auf Distanz zu halten, würden sie<br />
weiterhin Frieden <strong>und</strong> Sicherheit ihres idyllischen Daseins<br />
genießen.<br />
Er beobachtete sie einige Minuten lang, dann kehrte er in<br />
den Wald zurück, um ziellos umherzustreifen <strong>und</strong> <strong>die</strong>ses<br />
kurze Zwischenspiel im unerbittlichen Kriegstreiben zu<br />
genießen.<br />
194
Kapitel 23<br />
Sergeant Tony Rosetti hockte auf der Wachtplattform über<br />
dem Pfad außerhalb des früheren Lagers der Gesetzlosen,<br />
wo <strong>die</strong> Guerillas jetzt einen Tag lang biwakierten, um ihre<br />
Verw<strong>und</strong>eten ausruhen zu lassen.<br />
Seine Dienstschicht war fast vorbei, <strong>und</strong> er wartete auf<br />
seine Ablösung, als er sah, wie sich ihm eine Gestalt auf<br />
dem Pfad näherte. Sie war von schlanker, knabenhafter<br />
Figur; doch selbst im schwachen, Kathedralenhaften Licht<br />
des Waldes am Nachmittag erkannte der Sergeant, daß sie<br />
ungeachtet der Hosen, des Gewehrs, der Pistole, des Parangs<br />
<strong>und</strong> des Patronengürtels kein Knabe war.<br />
Als <strong>die</strong> Frau Rosettis ansichtig wurde, hielt sie an.<br />
„Halt!“, gebot Rosetti <strong>und</strong> brachte sein Gewehr in Anschlag.<br />
„Ich halte ja schon“, sagte <strong>die</strong> Frau in gutem Englisch.<br />
„Wer sind Sie, <strong>und</strong> was glauben Sie, wohin Sie mit all der<br />
Bewaffnung gehen können?“<br />
„Sie müssen der niedliche kleine Sergeant sein, von dem<br />
mir Corrie van der Meer erzählte – der, der <strong>die</strong> Frauen haßt<br />
<strong>und</strong> komisches Englisch spricht.“<br />
„Ich spreche nicht Englisch. Ich spreche Amerikanisch.<br />
Und was ist dran komisch? Und wer sind Sie?“<br />
„Ich bin Sarina. Ich suche Corrie van der Meer.“<br />
„Vortreten“, sagte Rosetti. Dann sprang er von der<br />
Plattform auf den Pfad hinab. Dort stand er mit dem Finger<br />
am Abzug seines Gewehrs <strong>und</strong> der Bajonettspitze in<br />
Bauchhöhe. Die Frau trat vor <strong>und</strong> blieb ein paar Schritte vor<br />
ihm stehen.<br />
„Ich wünschte, Sie würden mit dem Ding woandershin<br />
zielen“, sagte sie.<br />
„Nix zu machen, Schwester. Sie gehör’n zu der<br />
195
Verbrecherbande. Woher weiß ich, daß Sie nicht <strong>die</strong> Vorhut<br />
sind <strong>und</strong> der Rest von denen Ihnen nachfolgt? Wenn <strong>die</strong>’s<br />
tun, werden Sie erschossen, Schwester.“<br />
„Ich bin allein“, sagte Sarina.<br />
„Vielleicht sind Sie’s, vielleicht sind Sie’s nicht, lassen<br />
Sie <strong>die</strong> Waffe fallen, <strong>und</strong> hoch <strong>die</strong> Flossen! Ich werd’ Sie<br />
filzen.“<br />
„Sprechen Sie Englisch, wenn Sie können“, sagte Sarina.<br />
„Amerikanisch verstehe ich nicht. Was sind Flossen, <strong>und</strong><br />
was ist filzen?“<br />
„Heben Sie <strong>die</strong> Hände hoch, dann zeig’ ich Ihnen, was<br />
filzen ist. Und machen Sie flott, Schwester.“ Sarina zögerte.<br />
„Ich werd’ Sie nicht beißen“, sagte Rosetti, „aber ich werd’<br />
auch kein Risiko eingeh’n. Wenn Sie das Arsenal da<br />
abgelegt haben, werd’ ich Sie ins Lager bringen, sobald<br />
meine Ablöse auftaucht.“<br />
Sarina legte ihr Gewehr hin <strong>und</strong> erhob ihre Hände.<br />
Shrimp ließ sie in <strong>die</strong> andere Richtung schauen. Dann nahm<br />
er ihr von hinten <strong>die</strong> Pistole <strong>und</strong> den Parang ab. „Okay“,<br />
sagte er. „Sie können sie jetzt wieder runternehmen.“ Er<br />
häufte ihre Waffen hinter ihm auf. „Jetzt wissen Sie, was<br />
filzen bedeutet“, sagte er.<br />
Sarina setzte sich neben dem Pfad hin. „Sie sind ein guter<br />
Soldat“, sagte sie. „Ich mag gute Soldaten. Und Sie sind<br />
niedlich.“<br />
Rosetti grinste. „Sie sind selber nicht so übel, Schwester.“<br />
Auch ein Frauenfeind kann einen Blick für Schönheit<br />
besitzen. „Wie kommt’s, daß Sie allein in den Wäldern<br />
herumspazieren – wenn Sie allein sind.“<br />
„Ich bin allein. Ich habe <strong>die</strong>se Leute verlassen. Ich<br />
möchte bei Corrie van der Meer sein. Sie sollte eine Frau<br />
dabeihaben. Eine Frau wird es ziemlich müde, <strong>die</strong> ganze<br />
Zeit nur Männer zu sehen. Ich werde mich um sie kümmern.<br />
Sie ist hier, nicht wahr?“<br />
196
„Ja, sie ist im Camp. Aber sie braucht kein Weibsbild, das<br />
sich um sie kümmert. Sie hat vier Männer, <strong>die</strong> das bisher<br />
ziemlich gut besorgt haben.“<br />
„Ich weiß“, sagte Sarina. „Sie hat’s mir erzählt; aber sie<br />
wird froh sein, eine Frau bei sich zu haben.“ Nach einer Pause<br />
sagte sie: „Glauben Sie, daß sie mich dableiben lassen?“<br />
„Wenn’s Corrie sagt, werden sie’s. Wenn Sie wirklich das<br />
Weibsbild sind, das ihr aus <strong>die</strong>sem Lager ausbrechen half,<br />
werden wir alle uns für Sie stark machen.“<br />
„Amerikanisch ist eine fremdartige Sprache, aber ich<br />
glaube, ich weiß, was Sie sagen wollen: Falls ich wirklich<br />
<strong>die</strong> Frau bin, <strong>die</strong> Corrie vor Hooft zu fliehen verhalf, werdet<br />
ihr mich mögen. Stimmt es so?“<br />
„Isses das nicht, was ich sag’?“<br />
Ein Mann, der auf dem Pfad aus der Richtung des Lagers<br />
kam, unterbrach ihr Gespräch. Er war ein Holländer <strong>und</strong><br />
kam Rosetti ablösen. Er sprach kein Englisch. Seine Miene<br />
zeigte seine Überraschung, als er Sarina sah, <strong>und</strong> er fragte<br />
Rosetti auf Holländisch.<br />
„Kein Quatsch, Dutchie“, sagte der Amerikaner.<br />
„Er hat keinen Quatsch erwähnt“, erklärte Sarina. „Er<br />
erwähnte mich.“<br />
„Sie gneißen sein Lingo?“, fragte Shrimp.<br />
Sarina schüttelte den Kopf. „Bitte versuchen Sie Englisch<br />
zu sprechen“, sagte sie. „Ich kann Sie nicht verstehen. Was<br />
bedeutet ‚sein Lingo gneißen’?“<br />
„Sprechen Sie Holländisch?“<br />
„Oh ja.“<br />
„Was hat er dann gesagt?“<br />
„Er hat nach mir gefragt.“<br />
„Na, antworten Sie ihm, <strong>und</strong> sagen Sie ihm, er soll Ihre<br />
Bewaffnung mit hinein bringen, wenn er abgelöst wird. Ich<br />
kann nicht den Haufen packen <strong>und</strong> zugleich eine Gefangene<br />
bewachen.“<br />
197
Sarina lächelte <strong>und</strong> übersetzte. Der Mann antwortete ihr<br />
auf Holländisch <strong>und</strong> nickte Rosetti zu. „Abmarsch“, sagte<br />
der Sergeant zu Sarina. Er folgte ihr auf dem Pfad ins Camp<br />
<strong>und</strong> brachte sie zu Jerry, der auf einer Trage unter einem<br />
Baum lag.<br />
„Sergeant Rosetti meldet sich mit einer Gefangenen, Sir“,<br />
sagte er.<br />
Corrie, <strong>die</strong> neben Jerry saß, sah auf, <strong>und</strong> als sie Sarina<br />
erkannte, sprang sie auf <strong>die</strong> Beine. „Sarina!“, rief sie. „Was<br />
in aller Welt machst du hier?“<br />
„Ich komme, um bei dir zu bleiben. Sag ihnen, sie sollen<br />
mich dableiben lassen.“ Sie sprach auf Holländisch, <strong>und</strong><br />
Corrie übersetzte für Jerry.<br />
„Was mich angeht, mag sie dableiben, wenn du es willst“,<br />
sagte Jerry. „Aber ich glaube, das wird Captain van Prins zu<br />
entscheiden haben. Nimm deine Gefangene <strong>und</strong> melde dich<br />
bei Captain van Prins, Sergeant.“<br />
Rosetti, der keine höhere Autorität als jene Jerrys<br />
anerkannte, zeigte seine Mißbilligung; aber er gehorchte.<br />
„Kommen Sie mit, Schwester“, sagte er zu Sarina.<br />
„In Ordnung, Bruder“, antwortete sie, „aber Sie brauchen<br />
mir <strong>die</strong>ses Bajonett da nicht <strong>die</strong> ganze Zeit über gegen<br />
meinen Rücken halten. Ich weiß, daß Sie ein guter Soldat<br />
sind, aber Sie müssen’s nicht übertreiben.“ Corrie schaute<br />
sie überrascht an. Dies war der erste Hinweis für sie, daß<br />
Sarina Englisch sprach. Und gutes Englisch dazu, dachte sie.<br />
Sie fragte sich, wo Sarina es gelernt hatte.<br />
„Okay, Herzchen“, sagte Rosetti, „schätze, Sie werden<br />
jetzt nix Dummes nicht anstellen.“<br />
„Ich werde mitkommen“, sagte Corrie. „Wenn ich für<br />
dich garantiere, bin ich sicher, daß dich Captain van Prins<br />
bei uns bleiben läßt.“<br />
Sie fanden den Captain, <strong>und</strong> er hörte genau allem zu, was<br />
Sarina <strong>und</strong> Corrie zu sagen hatten. Dann fragte er: „Warum<br />
198
wollten Sie der Verbrecherbande beitreten <strong>und</strong> bei ihr<br />
bleiben?“<br />
„Es waren entweder sie oder <strong>die</strong> Japaner“, sagte Sarina.<br />
„Ich habe immer vorgehabt sie zu verlassen <strong>und</strong> einer<br />
Guerillatruppe beizutreten, wenn ich eine finden konnte.<br />
Dies ist <strong>die</strong> erste Gelegenheit, <strong>die</strong> ich gehabt hatte.“<br />
„Wenn Miß van der Meer für Sie garantiert <strong>und</strong> Captain<br />
Lucas nichts einzuwenden hat, können Sie bleiben.“<br />
„Damit ist’s beschlossen“, sagte Corrie.<br />
Rosetti hatte keine Gefangene mehr, aber er ging mit<br />
Corrie <strong>und</strong> Sarina dorthin zurück, wo Jerry lag. Er gab vor,<br />
er sei gekommen, um sich nach Jerrys W<strong>und</strong>e zu<br />
erk<strong>und</strong>igen, aber er setzte sich nieder <strong>und</strong> blieb, nachdem<br />
Jerry ihm versichert hatte, es ginge ihm gut.<br />
Nicht weit von ihnen entfernt reinigte Bubonovitch sein<br />
Gewehr. Er glaubte, Rosetti würde sich zu ihm gesellen <strong>und</strong><br />
er könnte ihn dann nach der Frau fragen, <strong>die</strong> Shrimp<br />
mitgebracht hatte. Aber Shrimp gesellte sich nicht zu ihm.<br />
Er blieb bei Jerry <strong>und</strong> den beiden Frauen. Das sah Shrimp<br />
gar nicht ähnlich, daß er Damengesellschaft aufsuchte, wenn<br />
es sich vermeiden ließ. Bubonovitch w<strong>und</strong>erte sich; daher<br />
ging er hinüber <strong>und</strong> gesellte sich zu der Gruppe.<br />
Sarina berichtete über ihr Zusammentreffen mit Rosetti.<br />
„Er hieß mich meine Flossen heben, <strong>und</strong> er sagte, er werde<br />
mich filzen. Amerikanisch ist eine sehr komische Sprache.“<br />
Jerry lachte. „Rosetti spricht nicht Amerikanisch – nur<br />
Chicagonesisch.“<br />
„Wo in aller Welt hast du Englisch sprechen gelernt,<br />
Sarina?“, fragte Corrie.<br />
„In einer katholischen Missionsschule auf den Gilberts.<br />
Mein Vater nahm meine Mutter <strong>und</strong> mich auf allen seinen<br />
Fahrten mit. Außer in den zwei Jahren, <strong>die</strong> ich in der Mission<br />
von Tarawa verbrachte, lebte ich mein ganzes Leben an Bord<br />
seines Schoners, bis ich neun<strong>und</strong>zwanzig war. Meine Mutter<br />
199
starb, als ich noch ein kleines Mädchen war, aber mein Vater<br />
behielt mich bei sich. Er war ein sehr schlimmer Mann, aber<br />
zu uns war er immer fre<strong>und</strong>lich. Wir durchkreuzten <strong>die</strong> ganze<br />
Südsee, <strong>und</strong> etwa alle zwei Jahre suchten wir <strong>die</strong> Gilberts auf,<br />
immer auf Handelsfahrten zwischen den verschiedenen Inseln<br />
unterwegs, mit Piraterie <strong>und</strong> Mord nebenbei.<br />
Vater wollte, daß ich eine Ausbildung bekäme; also ließ<br />
er mich, als ich zwölf war, bis zu seiner nächsten Fahrt zwei<br />
Jahre in <strong>die</strong>ser Missionsschule. Ich habe ziemlich viel dort<br />
gelernt. Von meinem Vater lernte ich Holländisch. Ich<br />
glaube, er war ein gebildeter Mensch. Er hatte auf seinem<br />
Schiff eine Bibliothek mit sehr guten Büchern. Er erzählte<br />
mir nie etwas über seine Vergangenheit – nicht einmal<br />
seinen richtigen Namen. Jeder nannte ihn Big Jon. Er lehrte<br />
mich Navigation. Seit ich vierzehn war, war ich sein Erster<br />
Maat. Es war kein schöner Job für ein Mädchen, da Vaters<br />
Mannschaften für gewöhnlich aus übelsten Typen von<br />
Kriminellen bestanden. Keiner wollte mit ihm fahren. Ich<br />
fing einige Brocken Japanisch <strong>und</strong> Chinesisch von<br />
verschiedenen Mannschaftsmitgliedern auf. Wir fuhren mit<br />
allen Nationalitäten. Häufig hat Vater sie geschanghait.<br />
Wenn Vater betrunken war, war ich der Schiffskapitän. Es<br />
war ein harter Job, <strong>und</strong> hart mußte ich sein. Mit Hilfe einiger<br />
Pistolen hielt ich durch. Ich legte sie niemals ab.“<br />
Rosettis Augen ließen nicht ab von Sarina. Er wirkte wie<br />
von ihr hypnotisiert.<br />
Bubonovitch betrachtete ihn mit etwas Ähnlichem wie<br />
Verw<strong>und</strong>erung. Jedenfalls mußte er eingestehen, daß man<br />
Sarina nicht ungern anschaute.<br />
„Wo ist Ihr Vater jetzt?“, fragte Jerry.<br />
„Wahrscheinlich in der Hölle. Einer seiner Morde brachte<br />
ihn schließlich zu Fall, <strong>und</strong> er wurde gehängt. Es war nach<br />
seiner Verhaftung, als Mr. <strong>und</strong> Mrs. van der Meer so<br />
fre<strong>und</strong>lich zu mir waren.“<br />
200
Die Versammlung löste sich einen Moment später auf, als<br />
der Arzt kam, um Jerry zu untersuchen. Corrie <strong>und</strong> Sarina<br />
gingen zu dem Unterstand, den <strong>die</strong> Letztere belegte, <strong>und</strong><br />
Bubonovitch <strong>und</strong> Rosetti gingen, um sich vor dem ihrigen<br />
hinzusetzen.<br />
„Was für ein Weibsbild!“, rief Rosetti aus.<br />
„Wer? Corrie?“<br />
Shrimp warf Bubonovitch einen kurzen Blick zu <strong>und</strong><br />
erfaßte das Ende eines flüchtigen Lächelns. Er erriet, daß er<br />
gefoppt wurde.<br />
„Nein“, sagte er. „Ich bezieh’ mich auf Eleanor.“<br />
„Ist dir zufälligerweise <strong>die</strong>se pistolenbepackte Mama bei<br />
Corrie aufgefallen?“, fragte Bubonovitch. „Na, <strong>die</strong> ist ein<br />
sauberes kleines Stück Weiblichkeit nach meinem eigenen<br />
Geschmack. Auf <strong>die</strong> fahr’ ich sicher ab.“<br />
„Du hast Frau <strong>und</strong> Kind“, erinnerte ihn Shrimp.<br />
„Meine Zuneigung ist rein platonisch. Ich wär’ nicht<br />
drauf scharf, daß es mit einer Piratin gar zu ernst wird. Ich<br />
glaub’, wenn einer ihrer vornehmen Fre<strong>und</strong>e sie verärgert<br />
hat, ließ sie ihn über <strong>die</strong> Planke gehen.“<br />
„Stell dir bloß das kleine Kind allein auf einem Schiff mit<br />
einem Haufen Piraten <strong>und</strong> ihrem besoffenen Alten vor!“<br />
„Irgendwie hab’ ich den Eindruck gewonnen, daß <strong>die</strong><br />
kleine Dame auf sich aufpassen kann. Wirf nur einen Blick<br />
auf ihre Herkunft. Du erinnerst dich, daß Corrie uns<br />
erzählte, einer ihrer Großväter sei ein Kopfjäger gewesen<br />
<strong>und</strong> der andere ein Kannibale; <strong>und</strong> nun stellt sich heraus, daß<br />
ihr Vater ein Pirat <strong>und</strong> Mörder war. Und um das Bild<br />
vollends abzur<strong>und</strong>en, hatte Sarina lebenslänglich im Knast<br />
abzusitzen, für einen eigenen kleinen Mord.“<br />
„Trotzdem ist sie schrecklich hübsch“, sagte Rosetti.<br />
„Meine Güte!“, rief Bubonovitch aus. „Et tu Brüte!“<br />
„Ich weiß nicht, was du da zusammenredest; aber wenn du<br />
Weisheiten über das kleine Weibsbild von dir gibst – laß es.“<br />
201
„Ich hab’ keine Weisheiten von mir gegeben. Ich würd’<br />
um alles in der Welt nicht dran denken, deine Gefühle zu<br />
beleidigen, Shrimp. Ich rief nur eine Aussage in Erinnerung,<br />
<strong>die</strong> du kürzlich gemacht hast. Warte – wie hieß es da? ‚Ich<br />
würde Dorothy Lamour nicht haben wollen, selbst wenn sie<br />
auf <strong>die</strong> Knie fallen <strong>und</strong> mich bitten würde’!“<br />
„Na, würd’ ich auch nicht. Ich würd’ keine von denen<br />
haben wollen. Aber kann ein Kerl nicht sagen, ein Weibsbild<br />
ist hübsch, ohne daß du in <strong>die</strong> Höhe gehst?“<br />
„Shrimpy, ich hab’ geseh’n, wie du sie angeschaut hast –<br />
mit Glubschaugen. Ich kenne <strong>die</strong> Symptome. Du bist ganz<br />
ga-ga geworden.“<br />
„Du spinnst.“<br />
202
Kapitel 24<br />
Am nächsten Morgen brachen sie das Lager ab <strong>und</strong> zogen<br />
langsam weiter; <strong>die</strong> Verw<strong>und</strong>eten wurden weiterhin auf<br />
Tragen transportiert. Wo der Pfad breit genug war, ging<br />
Corrie neben Jerrys Trage her. Sarina war hinter ihr, <strong>und</strong><br />
Rosetti ging neben Sarina. Bubonovitch <strong>und</strong> mehrere<br />
Holländer bildeten <strong>die</strong> Nachhut. Da von <strong>die</strong>sen keiner<br />
Englisch sprach <strong>und</strong> Bubonovitch kein Holländisch, hatte<br />
der Amerikaner Muße zum Nachdenken. Unter anderem<br />
dachte er über <strong>die</strong> bemerkenswerte Wirkung nach, <strong>die</strong><br />
manche Frauen auf manche Männer ausübten. Kälte <strong>und</strong><br />
Schnee können Menschen verrückt machen. Corrie <strong>und</strong><br />
Sarina schienen eine ähnliche Wirkung auf Jerry <strong>und</strong> Rosetti<br />
zu haben. In Jerrys Fall war das nicht so verw<strong>und</strong>erlich.<br />
Aber Shrimp! Shrimp war ein eingefleischter Frauenfeind,<br />
doch ganz unvermittelt hatte er alles über Bord geworfen,<br />
wegen einer braunhäutigen eurasischen Mörderin, <strong>die</strong> alt<br />
genug war, um seine Mutter zu sein.<br />
Bubonovitch mußte einräumen, daß Sarina sehr gut<br />
aussah. Das war das Verflixte daran. Er hielt viel auf<br />
Rosetti, daher hoffte er, daß der kleine Sergeant es nicht zu<br />
weit trieb. Er kannte sich bei Frauen nicht gut aus, <strong>und</strong><br />
Sarina wirkte nicht eben wie der harmlose Typ, von der man<br />
lernen konnte. Bubonovitch fiel ein Satz von Kipling ein:<br />
„Weil ich wünscht’, sie wär’ weiß, traf ihr Messer mich<br />
heiß, in der Nacht, da ich Frauen versteh’n wollt.“<br />
Bubonovitch seufzte. Schließlich, dachte er, mochte<br />
Shrimp nicht ganz daneben getroffen haben, als er sagte:<br />
„Die brauch’n gar nix anstellen. Genügt schon, ein<br />
Weibsbild zu sein, um Ärger zu machen.“ Er verwarf seine<br />
Gedankengänge, weil sie zu nichts führten, <strong>und</strong> begann über<br />
203
<strong>Tarzan</strong> nachzudenken. Auch Jerry w<strong>und</strong>erte sich über sein<br />
Ausbleiben; er äußerte seine Bedenken gegenüber Corrie.<br />
„Ich fang’ an mir Sorgen zu machen wegen <strong>Tarzan</strong>“, sagte<br />
er. „Er ist jetzt zwei Tage fort, <strong>und</strong> kurz nach seinem<br />
Verschwinden glaubten ein paar Männer, weit weg im Wald<br />
eine Schießerei zu hören, aus der Richtung, in <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />
Japaner abzogen.“<br />
„Aber was in aller Welt sollte er dort draußen tun?“,<br />
wandte Corrie ein.<br />
„Er ist nicht wie andere Menschen; daher wäre es<br />
zwecklos, daß einer von uns versuchte sich vorzustellen,<br />
was ihn zu irgendeiner Handlung bewegt. Zuweilen handelt<br />
er, das wißt ihr, wie ein wildes Tier. Also muß es einen<br />
Anlaß geben, der ihn dazu bringt, wie ein wildes Tier zu<br />
denken <strong>und</strong> zu reagieren. Ihr wißt, was er davon hält, ein<br />
Leben zu nehmen, doch habt ihr ihn sagen gehört, daß es<br />
seine Pflicht sei, Japaner zu töten.“<br />
„Und Sie glauben, er könnte sie in der Absicht verfolgt<br />
haben, ein paar mehr von ihnen zu töten?“, legte Corrie<br />
nahe.<br />
„Ja, <strong>und</strong> dabei selbst getötet worden sein.“<br />
„Oh nein! Selbst <strong>die</strong> Vorstellung ist zu schrecklich.“<br />
„Ich weiß, aber es ist möglich. Und wenn er nicht<br />
auftaucht, werden wir ohne ihn weitermachen müssen. Mist!<br />
Nicht einmal halb hab’ ich erkannt, wie abhängig wir von<br />
ihm geworden sind. Bestimmt hätten wir <strong>die</strong> längste Zeit<br />
hindurch nur <strong>die</strong> Hälfte zu essen gehabt, wenn nicht er als<br />
Jäger bei uns gewesen wäre.“<br />
„Ohne ihn hätte ich schon lange aufgehört, überhaupt<br />
Nahrung zu brauchen“, sagte Corrie. „Den Tiger seh’ ich<br />
manchmal immer noch in meinen Träumen. Und Oju – uff!“<br />
Eine Weile lang schwiegen sie. Jerry lag mit geschlossenen<br />
Augen da. Er drehte seinen Kopf leicht von einer Seite auf<br />
<strong>die</strong> andere. „Geht’s Ihnen gut?“, fragte Corrie.<br />
204
„Ja – gut. Ich frag’ mich, wie weit es noch bis zum Camp<br />
ist.“<br />
„Ich glaube, Kervyn hat vor, nachts dort zu lagern, wo<br />
<strong>die</strong> Gesetzlosen bei meiner Flucht ihr Lager hatten“, sagte<br />
Corrie. „Das ist nicht weit.“ Sie bemerkte, daß Jerrys<br />
Gesicht sehr rot war, <strong>und</strong> legte ihre Hand auf seine Stirn.<br />
Sie blieb zurück <strong>und</strong> flüsterte mit Sarina, <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />
Nachricht wurde der Reihe nach weitergegeben bis zum<br />
Arzt. Dann kehrte sie an <strong>die</strong> Seite von Jerrys Trage<br />
zurück.<br />
Der Amerikaner murmelte unzusammenhängend. Sie<br />
sprach ihn an, aber er antwortete nicht. Er wurde unruhig,<br />
<strong>und</strong> sie mußte ihn festhalten, um zu verhindern, daß er von<br />
der Trage herabfiel. Sie bekam schreckliche Angst.<br />
Sie redete nichts, als Dr. Reyd an <strong>die</strong> andere Seite der<br />
Trage herbeikam. Jerrys Verfassung war zu offensichtlich,<br />
um nach einer Erklärung zu verlangen. Praktisch das einzige<br />
Instrument seiner Tätigkeit, das Dr. Reyd gerettet hatte, war<br />
ein Fieberthermometer. Als er es zwei Minuten später ablas,<br />
schüttelte er den Kopf.<br />
„Schlimm?“, fragte Corrie.<br />
„Nicht grad gut. Aber ich versteh’s nicht. Ich erwartete,<br />
daß er in der Nacht nach seiner Verw<strong>und</strong>ung ein wenig<br />
fiebern würde, doch das tat er nicht. Ich glaubte, er sei jetzt<br />
ziemlich gefeit davor.“<br />
„Wird er –? Wird er –?“<br />
Der Arzt schaute über <strong>die</strong> Trage hinüber zu ihr <strong>und</strong><br />
lächelte. „Sorgen wir uns nicht, ehe wir’s müssen“, sagte er.<br />
„Millionen Menschen haben viel schlimmere W<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />
höheres Fieber überlebt.“<br />
„Aber können Sie nichts für ihn tun?“<br />
Reyd zuckte <strong>die</strong> Schultern. „Ich habe nichts, womit ich<br />
etwas tun könnte. Wahrscheinlich geht’s auch so. Er ist<br />
jung, kräftig, in guter Verfassung <strong>und</strong> körperlich fast so<br />
205
vollkommen, wie ein Mann nur sein kann. Die Natur ist ein<br />
verdammt guter Arzt, Corrie.“<br />
„Aber Sie werden doch hier bei ihm bleiben, nicht wahr,<br />
Doktor?“<br />
„Sicher. Und machen Sie sich keine Sorgen.“ Jerry<br />
murmelte: „Drei Zeros auf zwei Uhr“, <strong>und</strong> setzte sich auf.<br />
Corrie <strong>und</strong> der Arzt drückten ihn sanft zurück. Jerry<br />
schlug <strong>die</strong> Augen auf <strong>und</strong> schaute Corrie an. Er lächelte <strong>und</strong><br />
sagte: „Mabel.“ Danach lag er eine Weile lang still. Rosetti<br />
war herbeigekommen <strong>und</strong> lief neben der Trage her. Er hatte<br />
gesehen, daß Corrie <strong>und</strong> der Arzt vielleicht Hilfe brauchten.<br />
In seinen Augen spiegelten sich Sorge <strong>und</strong> Angst.<br />
Jerry sagte: „Lucas an Melrose! Lucas an Melrose!“<br />
Rosetti unterdrückte einen Seufzer. Melrose war der<br />
Heckschütze gewesen, der umgekommen war – <strong>und</strong> zu ihm<br />
sprach Jerry! Die Konsequenz ließ Rosetti erschrecken, aber<br />
er behielt den Kopf. „Melrose an Lucas“, sagte er. „Alles<br />
ruhig an der Westfront, Captain.“<br />
Jerry entspannte sich <strong>und</strong> sagte: „Roger.“<br />
Corrie klopfte Rosetti auf <strong>die</strong> Schulter. „Sie sind lieb“,<br />
sagte sie. Shrimp errötete. „Wer ist Melrose?“, fragte Corrie.<br />
„Unser Heckschütze. Er fand den Tod, bevor <strong>die</strong> Lovely<br />
Lady abstürzte. Und er redet mit ihm! Oje!“<br />
Jerry drehte <strong>und</strong> wand sich. Alles was <strong>die</strong> Drei für ihn tun<br />
konnten war, ihn auf der Trage zu halten. „Ich glaube, wir<br />
werden ihn festbinden müssen“, sagte der Arzt.<br />
Rosetti schüttelte den Kopf. „Holt Bubonovitch her, <strong>und</strong><br />
ich werd’ mich mit ihm um ihn kümmern. Der Captain<br />
würd’ es nicht mögen, daß man ihn bindet.“<br />
Die Nachricht an Bubonovitch wurde in der Kolonne<br />
nach hinten weitergegeben. Jerry versuchte sich auf der<br />
Trage aufzusetzen, als er herbeikam. Es brauchte <strong>die</strong><br />
vereinten Kräfte von Vieren, um ihn niederzuzwingen.<br />
Bubonovitch fluchte leise <strong>und</strong> verhalten. „Die<br />
206
gottverdammten Japsen. Die gelben Bastarde.“ Er wandte<br />
sich an Rosetti. „Warum zur Hölle hast du nicht schon<br />
früher nach mir geschickt?“, fragte er. „Warum hat mir<br />
keiner gesagt, wie es um ihn steht?“<br />
„Laß Dampf ab, Burm“, sagte Rosetti. „Ich schick nach<br />
dir sowie er dich braucht.“<br />
„Er ist noch nicht lang in <strong>die</strong>sem Zustand“, berichtete<br />
Corrie Bubonovitch.<br />
„Tut mir Leid“, sagte <strong>die</strong>ser. „Ich bin erschrocken, als ich<br />
ihn so sah. Schau’n Sie, wir halten was auf <strong>die</strong>sen Kerl.“<br />
Fast kamen Corrie Tränen in <strong>die</strong> Augen. „Ich glaube, das<br />
tun wir alle“, sagte sie.<br />
„Geht’s ihm sehr schlecht, Doktor?“, fragte Bubonovitch.<br />
„Er hat recht heftiges Fieber“, antwortete Reyd, „aber es<br />
ist nicht hoch genug, um ihn zu gefährden – noch nicht.“<br />
Sie waren aus dem Wald heraus in das Tal gekommen,<br />
wo sie lagern mußten. Jetzt, da der schmale Pfad hinter<br />
ihnen lag, war Sarina neben <strong>die</strong> Trage hergekommen. Als<br />
Jerry schrie: „Himmel! Ich kann ihre Nase nicht<br />
hochkriegen. Springt ab, Burschen! Aber flott!“ <strong>und</strong> von der<br />
Trage abzuspringen versuchte, half sie ihn niederhalten.<br />
Corrie streichelte seine Stirn <strong>und</strong> sagte beruhigend: „Alles<br />
ist in Ordnung, Jerry. Bleib nur still liegen <strong>und</strong> versuche zu<br />
ruhen.“<br />
Er langte hin <strong>und</strong> ergriff ihre Hand. „Mabel“, sagte er <strong>und</strong><br />
seufzte. Dann sank er in den Schlaf. Rosetti <strong>und</strong><br />
Bubonovitch versuchten, Corrie nicht anzuschauen.<br />
Reyd seufzte auch. „Das ist <strong>die</strong> beste Medizin, <strong>die</strong> er<br />
bekommen kann“, sagte er.<br />
Eine halbe St<strong>und</strong>e später ließ van Prins anhalten, <strong>und</strong> sie<br />
schlugen unter einigen Bäumen neben dem kleinen Fluß, der<br />
durchs Tal lief, ein Lager auf.<br />
Jerry schlief den restlichen Nachmittag <strong>und</strong> <strong>die</strong> ganze<br />
folgende Nacht hindurch. Corrie <strong>und</strong> Sarina schliefen an der<br />
207
einen Seite der Trage, Bubonovitch <strong>und</strong> Rosetti an der<br />
anderen. Sie ruhten abwechselnd, um über ihren Patienten<br />
zu wachen.<br />
Als Corrie an der Reihe war, wach zu bleiben, dachte sie<br />
ständig an Mabel. Sie hatte den Namen des Mädchens aus<br />
Oklahoma City nie gehört, das den 4-F geheiratet hatte, aber<br />
sie wußte jetzt, daß ihr Name Mabel war. Also liebte er sie<br />
noch! Corrie versuchte, sich nicht darum zu kümmern. War<br />
Mabel nicht für ihn verloren? Sie war verheiratet. Dann<br />
überlegte sie, daß es vielleicht ein anderes Mädchen namens<br />
Mabel war, <strong>und</strong> vielleicht war <strong>die</strong>ses andere Mädchen nicht<br />
verheiratet. Sie wollte Bubonovitch fragen, wie der Name<br />
des Mädchens aus Oklahoma war, aber ihr Stolz ließ es nicht<br />
zu.<br />
Als Jerry erwachte, lag er einige Minuten lang still <strong>und</strong><br />
schaute ins Blätterdach über sich hinauf, um so seine<br />
Erinnerung zu verleiten, ihm ihre Geheimnisse zu enthüllen.<br />
Langsam erinnerte er sich: Das Letzte, dessen er sich<br />
entsann, war, daß man ihn auf einem schmalen Waldpfad<br />
entlang auf einer Trage ziemlich unbequem transportierte.<br />
Nun war <strong>die</strong> Trage zur Ruhe gekommen, <strong>und</strong> er hatte es sehr<br />
bequem. Ganz in der Nähe hörte er das fröhliche Plätschern<br />
des kleinen Flusses, wie er <strong>die</strong> Steine überspülte, während er<br />
vergnügt weiter seiner Bestimmung, dem Meer, entgegen<br />
eilte.<br />
Jerry schaute hinüber <strong>und</strong> sah Bubonovitch <strong>und</strong> Rosetti<br />
im Gras des Ufers; sie wuschen ihre Hände <strong>und</strong> Gesichter.<br />
Er lächelte zufrieden, da er dachte, wie glücklich er mit den<br />
Kameraden gewesen war, <strong>die</strong> ihm der Krieg gegeben hatte.<br />
Er bekämpfte <strong>die</strong> Trauer um jene, <strong>die</strong> er nie wieder sehen<br />
würde. Ein Mann durfte nicht über solche Dinge brüten, jene<br />
unumgänglichen Begleitumstände des Krieges.<br />
Er wandte seinen Kopf vom Fluß weg, um nach Corrie zu<br />
sehen. Sie saß nahe neben seiner Trage, <strong>die</strong> Beine<br />
208
überkreuzt, <strong>die</strong> Ellbogen auf den Knien, das Gesicht in ihren<br />
Handflächen vergraben. Ihr Haar war wieder golden; aber<br />
sie trug es als Pagenkopffrisur, denn sie war eine sehr<br />
praktische kleine Person. Deshalb trug sie auch weiterhin<br />
Hosen.<br />
Jerry sah sie liebevoll an <strong>und</strong> dachte, was für einen<br />
feschen Knaben sie abgäbe. Aber zugleich dachte er, Gott<br />
sei Dank ist sie keiner. Er wußte, daß sie keiner war, denn er<br />
würde keinen Knaben in <strong>die</strong> Arme nehmen <strong>und</strong> küssen<br />
wollen. Und genau das war es, was er in <strong>die</strong>sem Augenblick<br />
mit Corrie tun wollte, aber hatte nicht den Mut dazu.<br />
Feigling! dachte er.<br />
„Corrie“, sagte er sehr sanft.<br />
Sie öffnete ihre Augen <strong>und</strong> hob den Kopf. „Oh Jerry!“<br />
Er langte hinüber <strong>und</strong> nahm eine ihrer Hände. Sie legte<br />
ihre andere Hand auf seine Stirn. „Oh Jerry! Jerry! Ihr<br />
Fieber ist ganz weg. Wie fühlen Sie sich?“<br />
„Als ob ich eine Kuh verspeisen könnte, mit Hufen,<br />
Hörnern <strong>und</strong> Haut.“<br />
Corrie unterdrückte ein Seufzen. Diese plötzliche<br />
Erlösung von Furcht <strong>und</strong> Anspannung riß <strong>die</strong> Barrieren der<br />
unterdrückten Gefühle ein, <strong>die</strong> so lange für sie geistige<br />
Abschirmung <strong>und</strong> Schutz gewesen waren. Corrie sprang auf<br />
<strong>die</strong> Beine <strong>und</strong> rannte davon. Sie nahm Zuflucht hinter einem<br />
Baum, lehnte sich dagegen <strong>und</strong> weinte. Sie konnte sich nicht<br />
erinnern, wann sie je so selig gewesen war.<br />
„Was“, fragte Rosetti Bubonovitch, „war das für’n Name<br />
von dem Weibsbild in Oklahoma City, <strong>die</strong> dem Captain den<br />
Laufpaß gab?“<br />
„Weiß ich nicht“, sagte Bubonovitch.<br />
„Ich frag mich, ob’s eine Mabel war“, überlegte Rosetti.<br />
„Kann sein.“<br />
Jerry sah mit gerunzelten Brauen hinter Corrie her. Na,<br />
was zur Hölle? dachte er. Sarina, <strong>die</strong> sich Corrie <strong>und</strong> den<br />
209
Amerikanern beigesellt hatte, bereitete in der Nähe das<br />
Frühstück. Dr. Reyd, der <strong>die</strong> R<strong>und</strong>e bei seinen Patienten<br />
machte, kam zu Jerry. „Wie geht’s an <strong>die</strong>sem Morgen?“<br />
„Fühl mich großartig“, verkündete ihm Jerry. „Ich<br />
brauch’ nicht länger getragen werden.“<br />
„Das glauben Sie vielleicht“, sagte Reyd <strong>und</strong> grinste.<br />
„Aber da irren Sie sich.“<br />
Captain van Prins <strong>und</strong> Tak van der Bos kamen herüber.<br />
„Glauben Sie, Sie können’s noch einen Tag länger<br />
aushalten?“, fragte jener Jerry.<br />
„Klar kann ich’s.“<br />
„Gut! Ich möchte so früh wie möglich losziehen. Dieser<br />
Ort ist zu exponiert.“<br />
„Gestern haben Sie uns Sorgen gemacht, Jerry“, sagte van<br />
der Bos.<br />
„Ich hatte einen guten Doktor“, sagte Jerry.<br />
„Wenn ich Sie wieder im bürgerlichen Leben zurück<br />
hätte“, sagte Reyd, „hätte ich Ihnen gestern eine Pille<br />
gegeben; <strong>und</strong> heut Morgen hätte ich Ihnen erzählt, wie nahe<br />
Sie gestern an der Pforte des Todes waren.“ Corrie kam<br />
hinter ihrem Baum hervor <strong>und</strong> zu ihnen. Jerry sah, daß ihre<br />
Augen rot waren, <strong>und</strong> wußte, warum sie weggelaufen war.<br />
„Schon aufgestanden, Faulpelz?“, fragte Tak sie.<br />
„Ich habe eine Kuh gesucht“, sagte Corrie.<br />
„Eine Kuh! Warum?“<br />
„Jerry wollte eine zum Frühstück.“<br />
„Dann wird er Reis essen“, sagte van Prins grinsend.<br />
„Wenn ich von <strong>die</strong>ser schönen Insel wegkomme“, sagte<br />
Jerry, „<strong>und</strong> irgendwer spricht mir von Reis, wär’s besser, er<br />
lächelt.“<br />
Die anderen gingen ihren Pflichten nach <strong>und</strong> ließen<br />
Corrie mit Jerry allein. „Ich muß gestern weggetreten sein“,<br />
sagte er. „Kann mich an nichts mehr erinnern nach ein paar<br />
St<strong>und</strong>en auf dem Pfad.“<br />
210
„Sie waren ein sehr kranker Mann – verbrannten fast im<br />
Fieber. Sie wollten ständig von der Trage abspringen. Wir<br />
mußten Sie zu viert niederhalten. Der Arzt wollte Sie auf der<br />
Trage festbinden, aber der niedliche kleine Sergeant wollte<br />
davon nichts hören. Er sagte: ‚Der Captain würd’ es nicht<br />
wollen, daß man ihn bindet.’ Also sind er <strong>und</strong> Bubonovitch<br />
<strong>und</strong> der Doktor <strong>und</strong> Sarina <strong>und</strong> ich neben der Trage her<br />
gelaufen.“<br />
„Shrimp ist ein guter kleiner Kerl“, sagte Jerry.<br />
„Diese Burschen halten viel auf sie, Jerry.“<br />
„Das gilt wechselseitig“, sagte Jerry. „Mitglieder einer<br />
Kampfmannschaft müssen einander mögen. Man vertraut<br />
keinem Kerl, den man nicht mag, <strong>und</strong> wir haben genug<br />
Sorgen, wenn wir auf eine Mission fliegen, auch ohne daß<br />
wir uns wegen eines Kerls sorgen müssen, dem wir nicht<br />
vertrauen können. Tut mir Leid, daß ich gestern so eine<br />
Plage war.“<br />
„Sie waren keine Plage. Wir waren bloß erschrocken,<br />
weil wir glaubten, Sie wären so schrecklich krank. Und Ihr<br />
Delirium ließ es noch viel schlimmer aussehen, als es<br />
wirklich war.“ Sie schwieg einen Moment lang, <strong>und</strong> dann<br />
sagte sie: „Wer ist Mabel?“<br />
„Mabel! Was wissen Sie von Mabel?“<br />
„Nichts. Aber Sie haben ständig nach ihr verlangt.“<br />
Jerry lachte. „Dad nannte Mutter so. Es ist nicht ihr<br />
Name, aber er fing an, sie Mabel zu rufen, ehe sie noch<br />
verheiratet waren. Er hatte den Namen aus einer Serie von<br />
‚Liebe Mabelbriefen’ <strong>die</strong> während des Ersten Weltkriegs<br />
sehr populär war. Und wir Kinder fanden es sehr lustig, sie<br />
auch Mabel zu rufen.“<br />
„Wir alle rätselten, wer Mabel war“, sagte Corrie lahm.<br />
„Ich glaube, Shrimp <strong>und</strong> Bubonovitch <strong>und</strong> Sarina <strong>und</strong> der<br />
Doktor waren schrecklich bekümmert“, sagte Jerry.<br />
„Das ist nicht lustig, <strong>und</strong> Sie sind nicht nett“, sagte Corrie.<br />
211
Kapitel 25<br />
Am Talschluß, wo der Fluß als kleine Quelle entsprang, <strong>die</strong><br />
unter einem Kalkfelsen hervorsprudelte, gab es viele<br />
Höhlen, <strong>die</strong> leicht zu verteidigen waren. Van Prins beschloß,<br />
hier ein mehr oder weniger dauerhaftes Lager einzurichten<br />
<strong>und</strong> <strong>die</strong> Ankunft der alliierten Streitkräfte unter MacArthur<br />
abzuwarten; denn seit <strong>die</strong> Amerikaner gekommen waren,<br />
erfuhr er erstmals, daß MacArthur tatsächlich Woche für<br />
Woche vordrang. Sobald <strong>die</strong> Alliierten einen Brückenkopf<br />
errichteten, würden er <strong>und</strong> andere Guerilla-Anführer aus den<br />
Bergen herunterkommen <strong>und</strong> den Feind im Rücken <strong>und</strong> in<br />
seinen Nachrichtenverbindungen stören. Inzwischen war<br />
alles, was sie zu Stande brächten, ein gelegentlicher Ausfall<br />
gegen einen japanischen Vorposten.<br />
Von <strong>die</strong>sem Camp aus hatten <strong>die</strong> Amerikaner vor, <strong>die</strong><br />
Berge zur anderen Seite hin zu überqueren, sobald Jerry<br />
völlig genesen war, <strong>und</strong> an der Ostseite der Bergkette einem<br />
Pfad bis zu einem Punkt zu folgen, von wo aus sie eine<br />
Überquerung zurück nach Westen machen <strong>und</strong> versuchen<br />
konnten, den Weg zur Küste zu schaffen. Tak van der Bos<br />
ging mit ihnen, weil er glaubte, daß seine Kenntnis Sumatras<br />
<strong>und</strong> der japanischen Stützpunkte den alliierten Streitkräften<br />
von Nutzen sein könnte. „Für den sehr unwahrscheinlichen<br />
Fall, daß ihr sie jemals erreicht“, sagte van Prins.<br />
Er hegte wenig Hoffnung auf den Erfolg dessen, was er<br />
als verrücktes Abenteuer einschätzte, <strong>und</strong> er versuchte<br />
Corrie zu überreden, das Risiko nicht auf sich zu nehmen.<br />
„Wir können Sie für unbegrenzte Zeit hier in den Bergen<br />
verstecken“, sagte er ihr, „<strong>und</strong> Sie würden von Leuten Ihres<br />
eigenen Volkes beschützt.“<br />
Jerry war nicht so überzeugt, daß sie in Sicherheit wäre.<br />
212
Falls <strong>die</strong> Japaner jemals eine ernsthafte Anstrengung<br />
unternähmen, <strong>die</strong> Guerillas auszulöschen, würden sie<br />
sowohl Infanterie wie auch Flugzeuge einsetzen. Corrie<br />
wäre alles andere als sicher. Doch drängte er sie nicht, mit<br />
ihm zu kommen. Er wäre weitaus mehr von den Chancen<br />
auf Erfolg ihres Wagnisses überzeugt gewesen, wäre <strong>Tarzan</strong><br />
ihnen nicht verloren gegangen.<br />
Tak van der Bos stimmte van Prins zu. „Ich glaube<br />
wirklich, du wärest hier sicherer, Corrie“, sagte er zu ihr.<br />
„Und ich glaube, daß wir vier Männer eine bessere Chance<br />
hätten durchzukommen, wenn – wenn –“<br />
„Wenn ihr nicht mit ein paar Frauen belastet wäret.<br />
Warum sprichst du’s nicht aus, Tak?“<br />
„Ich wußte nicht, wie ich es höflich ausdrücken könnte,<br />
Corrie; aber so habe ich’s gemeint.“<br />
„Sarina <strong>und</strong> ich werden keine Belastung sein. Wir werden<br />
zwei weitere Schützen sein. Wir haben auf der Reise<br />
bewiesen, daß wir es mit jedem von euch Männern<br />
aufnehmen. Ich glaube, ihr werdet zugeben, daß Sarina<br />
wütender kämpfen würde als einer von euch, <strong>und</strong> ich habe<br />
schon gezeigt, daß ich nicht heule <strong>und</strong> in Ohnmacht falle,<br />
wenn <strong>die</strong> Schießerei anfängt. Abgesehen von all dem glaubt<br />
Sarina, sie wüßte, wo genau sie ein Boot für uns finden <strong>und</strong><br />
es von fre<strong>und</strong>lich gesinnten Eingeborenen mit Vorräten<br />
ausrüsten lassen kann. Noch etwas ist zu überlegen: Sarina<br />
hat <strong>die</strong>se Gewässer ihr ganzes Leben lang befahren. Sie<br />
kennt sie nicht nur, sondern sie ist ein erfahrener Navigator.<br />
Ich glaube, wir wären euch eine große Hilfe. Was <strong>die</strong><br />
Gefahren betrifft, steht es sechs zu eins, <strong>und</strong> ein halbes<br />
Dutzend gegen <strong>die</strong> anderen. Die Japaner könnten uns<br />
schnappen, wenn wir wegzukommen versuchen, aber auch,<br />
wenn wir bleiben. Sarina <strong>und</strong> ich wollen mit euch Männern<br />
gehen; aber wenn Jerry nein sagt, dann war’s das.“<br />
Bubonovitch <strong>und</strong> Rosetti waren interessierte Zuhörer der<br />
213
Diskussion. Jerry wandte sich ihnen zu. „Was meint ihr,<br />
Burschen?“, fragte er. „Hättet ihr lieber, daß Corrie <strong>und</strong><br />
Sarina mit uns kommen, oder wolltet ihr das eher nicht?“<br />
„Na, es ist so“, sagte Bubonovitch. „Hätten wir zwei<br />
Männer, <strong>die</strong> so gute Soldaten sind wie sie, dann wäre es<br />
keine Frage. Es ist bloß so, daß ein Mann zögert, eine Frau<br />
in Gefahr zu bringen, wenn er es vermeiden kann.“<br />
„Zur Hölle, das ist es ja“, sagte Jerry. Er schaute Rosetti<br />
fragend an, Rosetti, den eingefleischten Frauenfeind.<br />
„Ich sag’, alle gehen oder alle bleiben. Bleiben wir<br />
zusammen.“<br />
„Corrie <strong>und</strong> Sarina wissen, welche Gefahren <strong>und</strong><br />
Entbehrungen zu erwarten wären“, sagte Bubonovitch.<br />
„Laßt sie entscheiden. Ich sehe nicht ein, daß einer von uns<br />
das Recht hätte, ihnen das Denken abzunehmen.“<br />
„Gut für Sie, Sergeant“, sagte Corrie. „Sarina <strong>und</strong> ich<br />
haben uns bereits entschieden.“<br />
Captain van Prins zuckte <strong>die</strong> Schultern. „Ich halte euch<br />
für verrückt“, sagte er, „aber ich bew<strong>und</strong>ere euren Mut, <strong>und</strong><br />
ich wünsche euch Glück.“<br />
„Schaut!“, rief Rosetti <strong>und</strong> streckte den Finger aus.<br />
„Jetzt wird alles paletti.“<br />
Alle schauten in <strong>die</strong> Richtung, in <strong>die</strong> Rosetti zeigte. Ihnen<br />
näherte sich <strong>die</strong> vertraute, gebräunte Gestalt, auf <strong>die</strong> zu<br />
verlassen sich <strong>die</strong> Amerikaner <strong>und</strong> Corrie so gewöhnt hatten,<br />
mit einem auf der Schulter hockenden kleinen Affen; über<br />
der anderen hing ein Hirschkadaver.<br />
<strong>Tarzan</strong> warf den Hirsch am Rand des Camps auf den Boden<br />
<strong>und</strong> ging herüber zu der Gruppe, <strong>die</strong> um Jerrys Trage<br />
versammelt war. Keta umfing <strong>Tarzan</strong>s Hals mit beiden Armen,<br />
schrie den fremden Tarmangani entgegen <strong>und</strong> bewarf sie mit<br />
Dschungel-Beschimpfungen. Der kleine Keta fürchtete sich.<br />
„Sie sind Fre<strong>und</strong>e, Keta“, sagte <strong>Tarzan</strong> in ihrer<br />
gemeinsamen Sprache. „Hab keine Angst.“<br />
214
„Keta keine Angst“, quietschte der Affe. „Keta beißt<br />
Tarmangani.“<br />
<strong>Tarzan</strong> wurde begeistert begrüßt. Er ging sogleich zu<br />
Jerry <strong>und</strong> schaute lächelnd auf ihn hinab. „Also haben sie<br />
Sie nicht erwischt“, sagte er.<br />
„Nur gestreift“, sagte Jerry.<br />
„Als ich Sie das letzte Mal gesehen habe, hielt ich Sie für<br />
tot.“<br />
„Wir haben befürchtet, daß Sie tot wären. Sind Sie<br />
Schwierigkeiten begegnet?“<br />
„Ja“, erwiderte <strong>Tarzan</strong>, „aber es waren nicht meine<br />
Schwierigkeiten, es waren <strong>die</strong> der Japaner. Ich habe sie<br />
verfolgt. Ganz gleich, was sie Ihnen in Zukunft antun<br />
mögen, Sie sind bereits gerächt.“<br />
Jerry grinste. „Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen, um<br />
es zu sehen.“<br />
„Es war nicht schön“, sagte <strong>Tarzan</strong>. „Seelenlose<br />
Geschöpfe in Schreckensangst – lebendige Roboter, hilflos<br />
ohne ihre Herren. Ich war bedacht, <strong>die</strong>se zuerst<br />
abzuschießen.“ Er lächelte bei der Erinnerung daran.<br />
„Sie müssen sie eine lange Strecke weit verfolgt haben“,<br />
vermutete van Prins.<br />
„Nein; aber nachdem ich mit ihnen fertig war, drang ich<br />
tief in den Wald vor. Ein Land, mit dem ich nicht vertraut<br />
bin, interessiert mich immer. Jedenfalls habe ich nicht viel<br />
von Bedeutung erfahren. Gestern entdeckte ich am späten<br />
Nachmittag eine feindliche Batterie mit großen Kanonen,<br />
<strong>und</strong> heute Morgen eine weitere. Wenn Sie eine Karte haben,<br />
kann ich ihre Positionen ziemlich genau einzeichnen.<br />
Am ersten Tag fand ich ein abgelegenes Eingeborenendorf.<br />
Es wurde im seichten Gewässer nahe am Strand eines Sees im<br />
Urwald errichtet, der mir <strong>und</strong>urchdringlich erschien. Die Leute<br />
fischten mit Netzen. Sie drohten mir mit Pfeil <strong>und</strong> Bogen,<br />
nachdem ich ihnen das Friedenszeichen zeigte.“<br />
215
„Ich glaube, ich kenne das Dorf,“ sagte van Prins.<br />
„Flieger haben es gesehen; aber soweit bekannt ist, haben<br />
keine anderen zivilisierten Menschen es gesehen <strong>und</strong> sind<br />
noch am Leben. Einer oder zwei haben versucht, es zu<br />
erreichen. Vielleicht gelang es ihnen, aber sie kehrten nie<br />
zurück. Die Einwohner <strong>die</strong>ses Dorfes hält man für <strong>die</strong><br />
Nachkommen eines Volkes von Ureinwohnern, von denen<br />
<strong>die</strong> Battaks abstammen – echte Wilde <strong>und</strong> Kannibalen. Bis<br />
vor Kurzem waren heutige Battaks Kannibalen – was man<br />
als wohltätige Kannibalen bezeichnen könnte. Sie aßen ihre<br />
Alten, im Glauben, daß sie so <strong>die</strong> Unsterblichkeit erringen<br />
würden, weil sie in den Personen, <strong>die</strong> sie verspeist hatten,<br />
weiterleben würden. Auch würde der Verzehrer <strong>die</strong> Kraft<br />
<strong>und</strong> <strong>die</strong> Fähigkeiten der Verspeisten aufnehmen. Aus dem<br />
letzteren Gr<strong>und</strong> aßen sie auch ihre Feinde – teilweise<br />
gekocht <strong>und</strong> mit einem Schuß Zitrone.“<br />
„Diese Uferbewohner“, sagte van der Bos, „sollen auch<br />
das Geheimnis der ewigen Jugend entdeckt haben.“<br />
„Das ist natürlich alles Blödsinn“, sagte Dr. Reyd.<br />
„Vielleicht nicht“, sagte <strong>Tarzan</strong>.<br />
Reyd schaute ihn überrascht an. „Sie meinen doch nicht,<br />
mir erzählen zu können, Sie glauben irgend so einen<br />
dummen Unsinn, oder?“, fragte er.<br />
<strong>Tarzan</strong> lächelte <strong>und</strong> nickte. „Natürlich glaube ich an<br />
solche Dinge, <strong>die</strong> ich selbst gesehen oder erfahren habe; <strong>und</strong><br />
zwei Mal habe ich den endgültigen Beweis gesehen, daß<br />
ewige Jugend erlangt werden kann. Vor Langem habe ich<br />
auch gelernt, <strong>die</strong> Möglichkeit von irgendetwas dem<br />
Aberglauben oder der Religion primitiver Völker<br />
Entstammendem abzustreiten. Im tiefsten, schwärzesten<br />
Afrika habe ich seltsame Dinge gesehen.“ Er unterbrach<br />
sich, offensichtlich ohne Lust auf weitere Erklärungen.<br />
Seine Augen wanderten über <strong>die</strong> Gesichter seiner Zuhörer<br />
<strong>und</strong> blieben dann auf Sarina gerichtet. „Was macht <strong>die</strong>se<br />
216
Frau hier?“, fragte er. „Sie gehört zu Hooft <strong>und</strong> seiner<br />
Verbrecherbande.“<br />
Corrie <strong>und</strong> Rosetti versuchten es gleichzeitig zu erklären,<br />
<strong>die</strong>ser in ziemlich heftiger Verteidigung Sarinas. Als er <strong>die</strong><br />
Geschichte gehört hatte, war <strong>Tarzan</strong> zufrieden. „Wenn<br />
Sergeant Rosetti es duldet, eine Frau dabei zu haben, muß<br />
sie jenseits aller Kritik stehen.“<br />
Rosetti errötete verlegen, aber er sagte: „Sarina ist okay.“<br />
Dr. Reyd räusperte sich. „Was Sie vom wahren Kern im<br />
Aberglauben <strong>und</strong> in den Religionen primitiver Völker gesagt<br />
haben, <strong>und</strong> daß ewige Jugend erlangt werden könne,<br />
interessiert mich. Würde es Ihnen etwas ausmachen, das<br />
näher zu erklären?“<br />
<strong>Tarzan</strong> setzte sich mit überschlagenen Beinen neben Jerry<br />
hin. „Bei zahlreichen Gelegenheiten habe ich erlebt, wie<br />
Medizinmänner Menschen auf große Entfernung getötet<br />
haben; <strong>und</strong> manchmal im Abstand von Jahren. Ich weiß<br />
nicht, wie sie es machen. Ich weiß nur, daß sie es machen.<br />
Vielleicht säen sie <strong>die</strong> Vorstellung in den Verstand ihres<br />
Opfers, <strong>und</strong> das ruft den Tod durch Autosuggestion hervor.<br />
Meist ist ihr Hokuspokus reine Scharlatanerie. Gelegentlich<br />
wirkt es wie eine exakte Wissenschaft.“<br />
„Wir sind auch leicht zu täuschen“, sagte Jerry. „Nehmen<br />
Sie einen <strong>die</strong>ser Kerle, <strong>die</strong> sich Bühnenzauberei zum Hobby<br />
gemacht haben. Sie geben zu, daß sie Sie beschwindeln; wären<br />
Sie aber ein unwissender Wilder <strong>und</strong> <strong>die</strong> erzählten Ihnen, das<br />
wäre wahre Magie, würden Sie ihnen glauben. Ich hatte einen<br />
Fre<strong>und</strong> in Honolulu, als ich bei Hickham stationiert war, der<br />
war so gut wie irgendein Profi, den ich je gesehen hatte. Malen<br />
Sie Colonel Kendall J. Fielder schwarz an, kleiden Sie ihn in<br />
Lendenschurz <strong>und</strong> Feder-Kopfschmuck, geben Sie ihm ein<br />
paar Anhänger aus Knochen <strong>und</strong> Holzstücken <strong>und</strong> einen<br />
Zebraschwanz, <strong>und</strong> lassen Sie ihn in Afrika aus – <strong>und</strong> er würde<br />
alle anderen Medizinmänner grün werden lassen vor Neid.<br />
217
Und was der mit Karten anstellen konnte! Ich habe mit<br />
ihm Bridge gespielt, <strong>und</strong> er hat immer gewonnen. Natürlich<br />
spielte er ehrlich, aber er war einem schon um zwei Schritte<br />
voraus, bevor man anfing – grad wie <strong>Tarzan</strong>s<br />
Medizinmänner bei ihren Opfern. Man hat sich das<br />
Verlieren selbst eingeredet. Trotzdem war’s beschämend“,<br />
fügte Jerry hinzu, „weil ich ein sehr viel besserer Bridge-<br />
Spieler bin als er.“<br />
„Diese Art von Zauberei kann natürlich jeder lernen“,<br />
sagte Reyd, „doch wie ist das mit der ewigen Jugend? Sie<br />
haben wirklich Beispiele dafür gesehen?“<br />
„Als ich ein junger Mann war“, sagte <strong>Tarzan</strong>, „rettete ich<br />
einen Schwarzen vor einem Löwen, einem Menschenfresser.<br />
Er war sehr dankbar <strong>und</strong> wollte es mir auf irgendeine Weise<br />
lohnen. Er bot mir ewige Jugend an. Ich sagte ihm, ich<br />
glaube nicht, daß so etwas möglich wäre. Er fragte mich, für<br />
wie alt ich ihn hielte, <strong>und</strong> ich sagte, er scheine in seinen<br />
Zwanzigern zu sein. Er sagte mir, daß er ein Medizinmann<br />
sei. Alle Medizinmänner, <strong>die</strong> ich je gesehen hatte, waren<br />
viel ältere Männer als er; daher bezweifelte ich seine<br />
Behauptung wie auch seinen Anspruch, daß er im Stande<br />
sei, mir ewige Jugend zu verschaffen.<br />
Er nahm mich mit in sein Dorf, wo ich seinem Häuptling<br />
begegnete. Er fragte den Häuptling, wie lang er ihn kenne.<br />
‚Mein ganzes Leben’, antwortete der Häuptling, der ein sehr<br />
alter Mann war. Der Häuptling erzählte mir, niemand wüßte,<br />
wie alt der Medizinmann war; daß er aber sehr alt sein<br />
müsse, denn er hatte Tippu Tibs Großvater gekannt. Tippu<br />
Tib wurde vielleicht in den 1840ern geboren oder<br />
womöglich in den 1830ern; daher mochte sein Großvater<br />
aus dem achtzehnten Jahrh<strong>und</strong>ert stammen.<br />
Ich war noch ganz jung <strong>und</strong> wie <strong>die</strong> meisten jungen<br />
Männer ein Abenteurer. Ich hätte alles ausprobiert; also ließ<br />
ich den Medizinmann sein Werk an mir beginnen. Bevor er<br />
218
mit mir fertig war, verstand ich, warum er <strong>die</strong> ewige Jugend<br />
nicht allgemein verbreitete. Es erforderte einen ganzen<br />
Monat, um üble Tränke zu brauen, feierlichen Ritualen<br />
beizuwohnen <strong>und</strong> ein paar Gläser vom Blut des<br />
Medizinmanns in meine Venen zu übertragen. Lang, bevor<br />
es vorbei war, bereute ich, daß ich mich darauf eingelassen<br />
hatte; denn ich schenkte seinen Behauptungen keinen<br />
Glauben.“ <strong>Tarzan</strong> hörte zu sprechen auf, als hätte er sein<br />
Geschichte beendet.<br />
„Und Sie behielten ganz Recht“, sagte Dr. Reyd.<br />
„Dann glauben Sie also, daß ich altern werde?“<br />
„Ganz bestimmt“, sagte der Arzt.<br />
„Wie alt, glauben Sie, bin ich jetzt?“, fragte <strong>Tarzan</strong>.<br />
„In Ihren Zwanzigern.“<br />
<strong>Tarzan</strong> lächelte. „Was ich Ihnen erzählt habe, geschah vor<br />
vielen Jahren.“<br />
Dr. Reyd schüttelte den Kopf. „Das ist sehr seltsam“,<br />
sagte er. Er war offensichtlich, daß er nicht überzeugt war.<br />
„Ich habe mir über Ihr Alter nie Gedanken gemacht“,<br />
sagte Jerry. „Aber ich erinnere mich jetzt, daß mein Vater<br />
sagte, er habe von Ihnen gelesen, als er ein Bub war. Und<br />
ich wuchs auf mit Ihnen. Sie haben mein Leben mehr<br />
beeinflußt als sonst jemand.“<br />
„Ich geb’s auf,“ sagte Dr. Reyd. „Aber Sie sagten, daß Sie<br />
zwei Beispiele kennen, da ewige Jugend erlangt wurde. Was<br />
war das andere? Sie haben mein Interesse ordentlich<br />
geweckt.“<br />
„Ein Stamm weißer Fanatiker setzte in einem entlegenen<br />
Teil Afrikas ein höllisches Ding in Gang, das ewige Jugend<br />
bewirkte. Ich meine, <strong>die</strong> Art, wie sie eine der<br />
Hauptingre<strong>die</strong>nzien beschafften, war höllisch. Sie entführten<br />
junge Mädchen, töteten sie <strong>und</strong> entnahmen ihnen gewisse<br />
Drüsen.<br />
Im Zuge der Suche nach einigen der Mädchen, <strong>die</strong> sie<br />
219
gestohlen hatten, fand ich ihr Dorf. Um <strong>die</strong> lange Geschichte<br />
kurz zu machen, meine Gefährten <strong>und</strong> ich retteten <strong>die</strong><br />
Mädchen <strong>und</strong> nahmen einige der Zutaten an uns. Die, <strong>die</strong> sie<br />
eingenommen haben, auch ein kleiner Affe, haben seither<br />
kein Anzeichen des Alterns gezeigt.“<br />
„Erstaunlich!“, sagte Dr. Reyd. „Erwarten Sie, ewig zu<br />
leben?“<br />
„Ich weiß nicht, was mich erwartet.“<br />
„Womöglich“, meinte Bubonovitch, „werden Sie ganz<br />
plötzlich in Stücke zerfallen, wie One Hoss Shay.“<br />
„Würden Sie ewig leben wollen?“, fragte van der Bos.<br />
„Natürlich – wenn ich nie <strong>die</strong> Altersschwäche erleiden<br />
müßte.“<br />
„Aber alle Ihre Fre<strong>und</strong>e wären fort.“<br />
„Man vermißt <strong>die</strong> alten Fre<strong>und</strong>e, aber man macht sich<br />
ständig neue. Aber meine Chancen auf ewiges Leben sind<br />
wirklich sehr gering. Eines Tages kann mich eine Kugel<br />
treffen, oder ein Tiger erwischt mich, oder ein Python. Falls<br />
ich es erlebe, nach Afrika zurückzukehren, könnte mich ein<br />
Löwe erwarten oder ein Büffel. Der Tod wartet in vielerlei<br />
Gestalt, nicht nur im Alter. Man kann ihn für eine Weile<br />
überlisten, aber am Ende gewinnt er immer.“<br />
220
Kapitel 26<br />
Die kleine Gruppe, <strong>die</strong> versuchen wollte, Australien zu<br />
erreichen, <strong>und</strong> <strong>die</strong> aus Amerikanern, Holländern, einem<br />
Engländer <strong>und</strong> einer Eurasierin bestand, hatte von den<br />
Guerillas <strong>die</strong> Bezeichnung „<strong>Fremdenlegion</strong>“ bekommen.<br />
Jerry ergänzte <strong>die</strong> Begründung für <strong>die</strong>se Namensgebung<br />
dadurch, daß er darauf aufmerksam machte, Bubonovitch sei<br />
Russe, Rosetti Italiener <strong>und</strong> er selbst zum Teil Cherokee-<br />
Indianer.<br />
„Wenn der arme alte Sing Tai bei uns wäre“, sagte Corrie,<br />
„wären <strong>die</strong> vier wichtigsten der Alliierten Nationen<br />
vertreten.“<br />
„Hätte sich Italien nicht ergeben“, sagte Bubonovitch,<br />
„müßten wir Shrimp liqui<strong>die</strong>ren. Er ist der einzige Partner in<br />
unserer Mitte, der den Achsenmächten zuzurechnen ist.“<br />
„Ich bin kein Italiäner nicht“, sagte Rosetti, „aber ich<br />
wär’ lieber ein Italiäner als ein lausiger russischer<br />
Kommunist.“ Bubonovitch grinste <strong>und</strong> zwinkerte Corrie zu.<br />
Captain van Prins, der mit <strong>Tarzan</strong> ein wenig abseits saß,<br />
sagte mit leiser Stimme: „Es ist schon schlimm, daß <strong>die</strong><br />
Beiden einander nicht leiden können. Das könnte eine<br />
Menge Ärger verursachen, bevor ihr am Ziel seid.“<br />
<strong>Tarzan</strong> sah ihn überrascht an. „Ich glaube, Sie kennen <strong>die</strong><br />
Amerikaner nicht so gut, Captain. Jeder der beiden Burschen<br />
würde bereitwillig sein Leben für den anderen riskieren.“<br />
„Warum versuchen sie dann, einander zu beleidigen?“,<br />
fragte van Prins. „Das ist nicht das erste Mal, daß ich das<br />
höre.“<br />
<strong>Tarzan</strong> zuckte mit den Schultern. „Wäre ich ein<br />
Amerikaner, könnte ich es Ihnen vielleicht sagen.“<br />
Wo <strong>die</strong> Guerillas ihr Lager aufgeschlagen hatten,<br />
221
verengte sich das Tal <strong>und</strong> endete als Schlucht in einer<br />
Sackgasse. Deren Kalksteinwände wurden zu beiden Seiten<br />
von großen Höhlen durchlöchert. Gewehr- <strong>und</strong> MG-Feuer<br />
aus <strong>die</strong>sen Höhlenöffnungen mochten ein tödliches<br />
Kreuzfeuer ermöglichen, das <strong>die</strong>se Positionen unangreifbar<br />
machte. Ein weiterer Vorteil lag in der von den Höhlen<br />
gebotenen Möglichkeit, alle Anzeichen menschlicher<br />
Gegenwart zu verbergen. Gelegentlich flog ein japanisches<br />
Flugzeug vorbei. Beim ersten Motorenlärm verschwand <strong>die</strong><br />
Kompanie in den Höhlen.<br />
Ein Wachtposten auf dem Felsen über dem Lager hatte<br />
volle Sicht über das Tal hinab, so weit ein Fernglas reichte.<br />
Sollte er auch nur ein einziges menschliches Wesen<br />
auftauchen sehen, würde auf sein Zeichen sogleich der<br />
Boden der Schlucht geräumt werden.<br />
In <strong>die</strong>sem Camp fühlte sich <strong>die</strong> <strong>Fremdenlegion</strong> zum<br />
ersten Mal in annehmbarer Sicherheit. Das war eine<br />
Erleichterung nach der ständigen Nervenanspannung, der sie<br />
ausgesetzt gewesen waren, <strong>und</strong> sie entspannten sich <strong>und</strong><br />
ruhten sich aus, während sie abwarteten, daß Jerrys W<strong>und</strong>e<br />
heilte <strong>und</strong> er wieder zu Kräften kam.<br />
<strong>Tarzan</strong> war häufig auf Erk<strong>und</strong>ungsmissionen unterwegs<br />
oder auf der Jagd. Er war es, der das Camp mit frischem<br />
Fleisch versorgte, da er lautlos töten konnte, was äußerst<br />
wünschenswert war. Ein Gewehrschuß mochte <strong>die</strong><br />
Aufmerksamkeit einer feindlichen Patrouille erregen.<br />
Manchmal war <strong>Tarzan</strong> mehrere Tage auf einmal fort. Bei<br />
einem solchen Anlaß fand er weit unten im Tal das Lager<br />
der Gesetzlosen. Es befand sich unweit des Kampongs, in<br />
dem Hauptmann Tokujo Matsuo <strong>und</strong> Leutnant Hideo<br />
Sokabe immer noch aushielten, <strong>und</strong> es war offensichtlich,<br />
daß <strong>die</strong> Verbrecher offen mit den Japanern kollaborierten.<br />
Die Gesetzlosen hatten eine Destillieranlage errichtet <strong>und</strong><br />
brannten Schnaps, mit dem sie einen regen Handel mit dem<br />
222
Feind trieben. <strong>Tarzan</strong> sah Trunkenheit in beiden Lagern<br />
verbreitet. Ein bemerkenswertes Ergebnis dessen war <strong>die</strong><br />
Lockerung von Disziplin <strong>und</strong> Bereitschaft im Feindeslager.<br />
Es gab keine Wachen an den Pfaden, <strong>die</strong> zum Dorf<br />
führten. Ein einzelner Soldat hielt neben einer kleinen<br />
Stacheldraht-Abzäunung Wache. Darin konnte <strong>Tarzan</strong> unter<br />
einer armseligen Abdeckung zwei Gestalten sehen; aber er<br />
konnte nicht ausnehmen, wer oder was sie waren. Sichtlich<br />
waren sie Gefangene, doch ob Eingeborene oder Japaner,<br />
konnte er nicht sagen. Sie interessierten ihn nicht.<br />
Als <strong>Tarzan</strong> sich umdrehte, um das Dorf hinter sich zu<br />
lassen <strong>und</strong> zum Camp der Guerillas zurückzukehren, plärrte<br />
ein Radio aus einer der Hütten. Er hielt einen Moment inne<br />
um hinzuhören; aber <strong>die</strong> Stimme sprach auf Japanisch, was<br />
er nicht verstehen konnte, <strong>und</strong> er setzte seinen Weg fort.<br />
Leutnant Hideo Sokabe verstand es jedenfalls, <strong>und</strong> ihm<br />
gefiel nicht, was er hörte. Hauptmann Tokujo Matsuo<br />
verstand es <strong>und</strong> war erfreut. Er war nicht wenig vom<br />
Schnaps betrunken, wie Sokabe auch. Der Schnaps<br />
verstärkte den Jubel, mit dem Matsuo <strong>die</strong> Sendung aus<br />
Tokyo aufnahm. Er wurde recht laut darüber.<br />
„Also ist Ihr ehrenwerter Onkel hinausgeworfen worden“,<br />
begeisterte er sich. „Nun können Sie Ihrem ehrenwerten<br />
Onkel, dem General Hideki Tojo jeden Tag schreiben; aber<br />
ich werde Hauptmann bleiben – bis ich befördert werde.<br />
Jetzt hat sich <strong>die</strong> Lage gewendet. Der ‚Singende Frosch’ ist<br />
jetzt Premier. Er ist nicht mein Onkel, aber er ist mein<br />
Fre<strong>und</strong>. Ich habe unter ihm in der Kwantung-Armee in der<br />
Mandschurei ge<strong>die</strong>nt.“<br />
„Wie eine Million anderer Bauern“, sagte Sokabe.<br />
So kam es, daß das böse Blut zwischen den beiden<br />
Offizieren noch schlimmer wurde, was <strong>die</strong> Moral <strong>und</strong><br />
Disziplin ihres Kommandos nicht förderte.<br />
Corrie hatte oft Besorgnis über das Schicksal Sing Tais<br />
223
geäußert, den sie versteckt im Dorf von Tiang Umar<br />
zurückgelassen hatten; daher beschloß <strong>Tarzan</strong>, <strong>die</strong>ses Dorf<br />
aufzusuchen, bevor er ins Lager der Guerillas zurückkehrte.<br />
Das erforderte einen beträchtlichen Umweg, doch nur selten<br />
verursachten Zeit oder Entfernung dem Herrn des<br />
Dschungels Bedenken. Eines der Merkmale der Zivilisation,<br />
an das er sich niemals gewöhnen konnte, war <strong>die</strong> sklavische<br />
Unterwerfung des zivilisierten Menschen unter <strong>die</strong><br />
Ansprüche der Zeit. Manchmal erwies sich sein Mangel an<br />
Konformität mit eingebürgerten Bräuchen als peinlich für<br />
andere, aber niemals für <strong>Tarzan</strong>. Er aß, wenn er hungrig war,<br />
schlief, wenn er schläfrig wurde. Er ging auf Reisen, wenn<br />
ihm der Sinn danach stand oder <strong>die</strong> Notwendigkeit es<br />
erforderte, ohne sich um <strong>die</strong> Zeit zu kümmern, <strong>die</strong> dafür<br />
aufzuwenden war.<br />
Er bewegte sich jetzt gemächlich voran. Er machte<br />
Fleisch <strong>und</strong> bettete sich nach dem Essen aufs Nachtlager.<br />
Gegen <strong>die</strong> Mitte des Vormittags tauchte er beim Kampong<br />
von Tiang Umar auf. Von der ständigen Vorsicht <strong>und</strong> dem<br />
Mißtrauen eines wilden Tieres bewogen, kam <strong>Tarzan</strong> lautlos<br />
durch <strong>die</strong> Bäume, <strong>die</strong> das Kampong umschlossen, um sich<br />
zu überzeugen, daß kein Feind dort lauerte. Er sah, wie <strong>die</strong><br />
Eingeborenen ihren normalen, friedlichen Tätigkeiten<br />
nachgingen. Bald entdeckte er Alam, <strong>und</strong> einen Augenblick<br />
später sprang er auf den Boden hinab <strong>und</strong> ging ins Dorf.<br />
Sobald <strong>die</strong> Eingeborenen ihn erkannten, begrüßten sie ihn<br />
herzlich <strong>und</strong> sammelten sich um ihn. Sie stellten Fragen in<br />
ihrer Sprache, <strong>die</strong> er nicht verstand. Er fragte, ob jemand im<br />
Dorf Holländisch spräche; <strong>und</strong> ein alter Mann antwortete in<br />
<strong>die</strong>ser Sprache, indem er sagte, er könnte es.<br />
Über den Dolmetscher erk<strong>und</strong>igte sich Alam über Corrie<br />
<strong>und</strong> zeigte seine Freude, als er erfuhr, sie sei in Sicherheit.<br />
Dann fragte <strong>Tarzan</strong>, was aus Sing Tai geworden sei, <strong>und</strong><br />
erfuhr, daß er noch immer im Dorf war, sich bei Tag aber<br />
224
nie hervorwagte. Das war gut, denn zwei Mal waren<br />
japanische Erk<strong>und</strong>ungstrupps überraschend ins Kampong<br />
gekommen.<br />
<strong>Tarzan</strong> wurde zu dem Chinesen gebracht. Er traf ihn von<br />
seiner Verw<strong>und</strong>ung völlig genesen <strong>und</strong> in guter körperlicher<br />
Verfassung vor. Seine erste Frage betraf Corrie, <strong>und</strong> als ihm<br />
versichert wurde, daß es ihr gut ging <strong>und</strong> sie unter Fre<strong>und</strong>en<br />
war, strahlte er vor Freude.<br />
„Willst du hier bleiben, Sing Tai“, fragte <strong>Tarzan</strong>, „oder<br />
willst du mit uns kommen? Wir werden versuchen, von der<br />
Insel wegzukommen.“<br />
„Ich komme mit euch“, antwortete Sing Tai.<br />
„Sehr gut“, sagte <strong>Tarzan</strong>. „Brechen wir gleich auf.“<br />
*<br />
Die <strong>Fremdenlegion</strong> wurde ungeduldig. Jerry war völlig<br />
genesen, er war wieder zu Kräften gekommen <strong>und</strong> begierig<br />
darauf weiterzuziehen. Er wartete nur auf <strong>Tarzan</strong>s Rückkehr,<br />
der mehrere Tage lang fort gewesen war.<br />
„Ich wünschte, er würde auftauchen“, sagte er zu Corrie.<br />
„Ich weiß, er kann auf sich aufpassen, aber irgendwas<br />
könnte ihm zustoßen.“ Mehrere aus der Gruppe waren unter<br />
dem Sichtschutz eines Baumgeästs versammelt. Sie hatten<br />
ihre Waffen zerlegt, geölt <strong>und</strong> wieder zusammengebaut. Das<br />
Zerlegen <strong>und</strong> Zusammenbauen machten sie mit<br />
geschlossenen Augen. Es war ein Spiel, das <strong>die</strong> Eintönigkeit<br />
<strong>die</strong>ser unablässigen Waffenpflege in der feuchten<br />
Atmosphäre <strong>die</strong>ses Tropenberglandes auflockerte.<br />
Gelegentlich stoppten sie füreinander <strong>die</strong> Zeit; <strong>und</strong> sehr zum<br />
Bedauern der Männer kam heraus, daß Corrie <strong>und</strong> Sarina <strong>die</strong><br />
flinksten waren.<br />
Sarina sicherte wieder ihr Gewehr, zielte zum Himmel<br />
<strong>und</strong> zog am Abzug. Sie lehnte <strong>die</strong> Waffe gegen den Baum<br />
225
<strong>und</strong> blickte lange suchend das Tal hinab. „Tony ist schon<br />
lange weg“, sagte sie. „Wenn er nicht bald kommt, werde<br />
ich ihn suchen gehen.“<br />
„Wohin ist er gegangen?“, fragte Jerry.<br />
„Jagen.“<br />
„Es wurde befohlen, nicht zu jagen“, sagte Jerry. „Rosetti<br />
weiß das. Wir können es nicht wagen, <strong>die</strong> Aufmerksamkeit<br />
der Japaner durch Gewehrfeuer auf uns zu ziehen.“<br />
„Tony nahm Pfeile <strong>und</strong> Bogen mit auf <strong>die</strong> Jagd“, erklärte<br />
Sarina. „Er wird sein Gewehr nicht abschießen, außer in<br />
Notwehr.“<br />
„Er könnte nichts Kleineres als einen Elefanten treffen<br />
mit seiner Bogenschützenausrüstung“, sagte Bubonovitch.<br />
„Wie lang ist er schon fort?“, fragte Jerry.<br />
„Zu lang“, sagte Sarina; „drei oder vier St<strong>und</strong>en<br />
mindestens.“<br />
„Ich werde ihn suchen gehen“, sagte Bubonovitch. Er<br />
nahm sein Gewehr <strong>und</strong> stand auf.<br />
Gerade da rief der Posten vom Felsen herab: „Ein Mann<br />
kommt. Schaut aus wie Sergeant Rosetti. Ja, es ist Sergeant<br />
Rosetti.“<br />
„Trägt er einen Elefanten?“, rief Bubonovitch.<br />
Der Wächter lachte. „Er trägt etwas. Aber ich glaube<br />
nicht, daß es ein Elefant ist.“<br />
Sie alle schauten das Tal hinab, <strong>und</strong> bald konnten sie<br />
einen Mann auftauchen sehen. Er war noch weit weg. Nur<br />
der Wachtposten mit seinem Fernglas konnte ihn erkannt<br />
haben. Nach einer Weile kam Rosetti ins Camp. Er trug<br />
einen Hasen.<br />
„Da ist euer Mittagessen“, sagte er <strong>und</strong> warf den Hasen<br />
auf den Boden. „Ich hab’ drei Hirsche verfehlt, <strong>und</strong> dann<br />
hab’ ich das Würstchen da erwischt.“<br />
„Hat er da eben geschlafen, oder hat ihn jemand für dich<br />
festgehalten?“, fragte Bubonovitch.<br />
226
„Der ist gerannt wie der Teufel“, sagte Rosetti grinsend.<br />
„Rannte gegen einen Baum <strong>und</strong> ging k.o.“<br />
„Gute Arbeit, Hiawatha“, sagte Bubonovitch.<br />
„Versucht hab’ ich’s jedenfalls“, sagte Rosetti. „Ich bin<br />
nicht auf meinem großen, fetten Podex gesessen <strong>und</strong> hab’<br />
gewartet, daß mir ein anderer Kerl was zu futtern bringt.“<br />
„So ist’s recht, Sergeant Burm“, sagte Sarina.<br />
„Als stets perfekter Gentleman werde ich einer Dame<br />
nicht widersprechen“, sagte Bubonovitch. „Die Frage ist<br />
jetzt, wer wird das Festmahl zubereiten. Da sind nur fünfzig<br />
von uns, <strong>die</strong> davon essen. Was übrig bleibt, können wir den<br />
hungernden Armeniern schicken.“<br />
„Die hungernden Armenier kriegen nix von dem Hasen<br />
da. Ihr auch nicht. Der ist allein für Sarina <strong>und</strong> Corrie.“<br />
„Zwei Leute kommen das Tal herauf!“, rief der Posten<br />
herab. „Kann sie noch nicht erkennen. Ist was Komisches an<br />
ihnen.“ Aller Augen spähten das Tal hinab, jedes Ohr<br />
wartete auf <strong>die</strong> nächste Meldung des Wächters. Nach<br />
einigen Augenblicken kam sie. „Jeder von ihnen trägt<br />
irgendeine Last. Einer von ihnen ist nackt.“<br />
„Muß <strong>Tarzan</strong> sein“, sagte Jerry.<br />
Es war <strong>Tarzan</strong>. Bei ihm war Sing Tai. Als sie das Camp<br />
erreichten, warf jeder von ihnen einen Hirschkadaver auf<br />
den Boden. Corrie freute sich, Sing Tai zu sehen <strong>und</strong> zu<br />
erfahren, daß er von seiner Verw<strong>und</strong>ung völlig genesen war.<br />
Und Jerry war erleichtert <strong>und</strong> froh, <strong>Tarzan</strong> zu sehen.<br />
„Ich bin wirklich froh, daß Sie zurück sind“, sagte er.<br />
„Wir sind alle bereit zum Aufbruch <strong>und</strong> haben nur noch auf<br />
Sie gewartet.“<br />
„Ich glaube, wir haben noch etwas Weiteres zu erledigen,<br />
bevor wir aufbrechen“, sagte <strong>Tarzan</strong>. „Ich habe unten im Tal<br />
Hoofts Bande aufgespürt, nicht weit von dem Dorf, in dem<br />
wir Corrie den Japanern abgenommen haben. Die Japaner<br />
sind noch dort, <strong>und</strong> während ich den Ort erk<strong>und</strong>ete, sah ich<br />
227
zwei Gefangene hinter Stacheldraht. Ich konnte nicht<br />
erkennen, wer sie waren, aber auf dem Rückweg von Tiang<br />
Umars Kampong hierher erzählte mir Sing Tai, daß vor<br />
einigen Tagen ein paar Japaner mit zwei amerikanischen<br />
Gefangenen durchs Kampong gekommen waren. Die<br />
Japaner haben den Eingeborenen erzählt, daß es Flieger<br />
wären, deren Flugzeug vor einiger Zeit abgeschossen<br />
worden war.“<br />
„Douglas <strong>und</strong> Davis!“ rief Bubonovitch.<br />
„Müssen’s sein“, stimmte Jerry zu. „Sie sind <strong>die</strong> einzigen<br />
beiden Verschollenen.“<br />
Bubonovitch schnallte seinen Patronengurt um <strong>und</strong> nahm<br />
sein Gewehr auf. „Gehen wir, Captain“, sagte er.<br />
<strong>Tarzan</strong> schaute <strong>die</strong> Sonne an. „Wenn wir uns beeilen“,<br />
sagte er, „können wir es noch vor der Dunkelheit schaffen;<br />
aber wir sollten nur Männer mitnehmen, <strong>die</strong> schnell<br />
vorankommen können.“<br />
„Wie viele?“, fragte van Prins.<br />
„Zwanzig sollten genug sein. Wenn alles gut geht, kann<br />
ich es allein erledigen. Wenn nicht alles klappt, sollten<br />
zwanzig Mann <strong>und</strong> das Überraschungsmoment alles<br />
wettmachen.“<br />
„Ich werde mit so vielen meiner Männer mitkommen,<br />
damit wir zwanzig sind“, sagte van Prins.<br />
Alle Angehörigen der <strong>Fremdenlegion</strong> bereiteten sich vor<br />
zu gehen, aber <strong>Tarzan</strong> sagte zu Corrie <strong>und</strong> Sarina nein. Sie<br />
begannen über <strong>die</strong> Angelegenheit zu diskutieren, aber<br />
<strong>Tarzan</strong> blieb unnachgiebig. „Wir würden zusätzlich<br />
Verantwortung für euch tragen“, sagte er. „Wir müßten an<br />
eure Sicherheit denken, wenn unser Sinnen allein unserer<br />
Mission gelten sollte.“<br />
„Er hat Recht“, sagte Jerry.<br />
„Hat er, glaub’ ich“, gab Corrie zu.<br />
„Guter Soldat“, sagte Tak.<br />
228
„Es gibt noch jemanden, der nicht gehen sollte“, sagte Dr.<br />
Reyd. Alle schauten Jerry an. „Captain Lucas ist ein sehr<br />
kranker Mann gewesen. Wenn er jetzt einen langen<br />
Eilmarsch mitmacht, wird er nicht in der Verfassung sein,<br />
weitere Märsche nach Süden zu unternehmen, wie ihr sie<br />
vorhabt.“<br />
Jerry sah <strong>Tarzan</strong> fragend an. „Ich wünschte, Sie würden<br />
nicht darauf bestehen, Jerry“, sagte der Engländer.<br />
Jerry schnallte seinen Patronengurt ab <strong>und</strong> legte ihn unter<br />
dem Baum hin. Er grinste bedauernd. „Wenn Corrie <strong>und</strong><br />
Sarina brave Soldaten sein können, kann ich’s auch, glaube<br />
ich; aber mich ärgert es wirklich, da nicht dabei zu sein.“<br />
Zehn Minuten später brachen zwanzig Männer auf, in<br />
schleunigem Tempo das Tal hinab, fast im Dauerlauf.<br />
<strong>Tarzan</strong>, mit van Prins an der Spitze der Kolonne, erklärte<br />
dem Holländer seinen Plan.<br />
*<br />
Hauptmann Tokujo Matsuo <strong>und</strong> Leutnant Hideo Sokabe<br />
hatten <strong>die</strong> ganze Nacht getrunken – getrunken <strong>und</strong> gestritten.<br />
Auch unter ihren Männern war viel getrunken worden. Die<br />
Eingeborenen des Kampongs hatten ihre Frauen in den Wald<br />
gebracht, um den brutalen Annäherungen der betrunkenen<br />
Soldaten zu entkommen. Aber jetzt, kurz vor der<br />
Dämmerung, war es ruhig geworden im Lager, bis auf das<br />
Streiten der beiden Offiziere; denn <strong>die</strong> anderen lagen<br />
größtenteils in besinnungsloser Trunkenheit.<br />
Der einzelne Wächter vor dem Gefängnisstall war eben<br />
zur Ablöse gekommen. Er hatte seinen Schnapsrausch ein<br />
wenig ausgeschlafen, war aber noch weit davon entfernt,<br />
nüchtern zu sein. Er bedauerte es, geweckt worden zu sein;<br />
daher ließ er einiges von seinem Zorn an den zwei<br />
Gefangenen aus, weckte sie, um sie zu beschimpfen <strong>und</strong> zu<br />
229
edrohen. Da er in Honolulu geboren <strong>und</strong> aufgezogen<br />
worden war, sprach er Englisch. Das Beschimpfen<br />
beherrschte er zweisprachig. Er überschüttete <strong>die</strong> beiden<br />
Männer innerhalb der Stacheldrahtumzäunung mit einer Flut<br />
von Gemeinheiten <strong>und</strong> Obszönitäten.<br />
Staff Sergeant Carter Douglas aus Van Nuys, Kalifornien,<br />
regte sich auf seiner zerfetzten Schlafmatte <strong>und</strong> stützte sich<br />
auf einem Ellbogen hoch. „Aloha, Liebling!“, rief er dem<br />
Wächter zu. Das versetzte den Japaner in sprachlosen Zorn.<br />
„Was juckt den Kerl?“, fragte Staff Sergeant Bill Davis<br />
aus Waco, Texas.<br />
„Ich glaub’, er mag uns nicht“, sagte Douglas. „Bevor du<br />
aufgewacht bist, sagte er, er würde uns jetzt gleich<br />
umbringen, wenn nicht sein ehrenwerter Hauptmann uns am<br />
Morgen selbst <strong>die</strong> Köpfe abschlagen wollte.“<br />
„Vielleicht sagt er uns das nur, um uns Angst zu<br />
machen“, meinte Davis.<br />
„Könnt’ sein“, sagte Douglas. „Der Kerl ist beduselt. Das<br />
Zeug, das sie trinken, muß höllisch stark sein. Es hörte sich<br />
an, als wäre jeder im Camp besoffen.“<br />
„Erinnerst du dich an den Schmetterlings-Brandy, den sie<br />
uns in Noumea um fünf<strong>und</strong>achtzig Kröten pro Flasche<br />
verkaufen wollten? Drei Gläser, <strong>und</strong> ein Rekrut würde<br />
einem Captain ins Gesicht spucken. Vielleicht ist’s sowas,<br />
was <strong>die</strong> trinken.“<br />
„Wenn <strong>die</strong>ser Kerl einen kleinen Rausch hätte“, sagte<br />
Douglas, „könnten wir heut Nacht einen Ausbruch<br />
versuchen.“<br />
„Wenn wir hier hinauskämen, könnten wir ihn<br />
überwältigen.“<br />
„Aber wir können hier nicht hinaus.“<br />
„Zur Hölle, ich will mir den Kopf nicht abschlagen<br />
lassen. Was für ein abscheuliches Geburtstagsgeschenk.“<br />
„Was meinst du mit Geburtstagsgeschenk?“<br />
230
„Ich hab’ nicht vergessen mitzuzählen, morgen sollte<br />
mein Geburtstag sein“, sagte Davis. „Ich werde morgen<br />
fünf<strong>und</strong>zwanzig.“<br />
„Du hast doch nicht geglaubt, du lebst ewig, oder? Ich<br />
weiß nicht, was ihr alten Kerle erwartet.“<br />
„Wie alt bist du, Doug?“<br />
„Zwanzig.“<br />
„Gott! Die haben dich grad aus der Wiege gezerrt. Ach,<br />
zur Hölle!“, sagte er nach kurzer Pause. „Wir wollen uns<br />
doch nur vormachen, daß wir keine Angst haben. Ich habe<br />
eine echte, ordentliche Angst.“<br />
„Ich habe höllische Angst“, gab Davis zu.<br />
„Was redet ihr da drin?“, fragte der Wächter. „M<strong>und</strong><br />
halten!“<br />
„Halt ihn selber, Tojo“, sagte Douglas; „du bist<br />
besoffen.“<br />
„Na, dafür bring’ ich euch um“, schrie der Japaner. „Ich<br />
sag’ dem Hauptmann, ihr versucht zu fliehen.“ Er erhob sein<br />
Gewehr <strong>und</strong> zielte ins Dunkel der Abdeckung, <strong>die</strong> <strong>die</strong> zwei<br />
Gefangenen überdachte.<br />
Lautlos glitt eine Gestalt aus den Schatten der<br />
Eingeborenenhütten auf ihn zu. Hinter ihm tauchte sie auf.<br />
Matsuo <strong>und</strong> Sokabe schrieen einander in ihrer Unterkunft<br />
auf der anderen Seite des Kampongs Beschimpfungen zu.<br />
Plötzlich zog jener seine Pistole <strong>und</strong> feuerte auf Sokabe. Er<br />
verfehlte ihn, <strong>und</strong> der Leutnant erwiderte das Feuer. Sie<br />
waren zu betrunken um einander zu treffen, außer durch<br />
Zufall, aber sie schossen weiter.<br />
Beinahe gleichzeitig mit Matsuos erstem Schuß feuerte<br />
der Wächter unter <strong>die</strong> Abdeckung, <strong>die</strong> <strong>die</strong> zwei Amerikaner<br />
überdachte. Bevor er einen zweiten Schuß abgeben konnte,<br />
umfaßte ein Arm seinen Kopf <strong>und</strong> zog ihn zurück, <strong>Tarzan</strong>s<br />
Messer trennte ihn fast von seinem Körper ab.<br />
„Bist du getroffen worden, Bill?“, fragte Douglas.<br />
231
„Nein. Er hat meilenweit an uns vorbei geschossen. Was<br />
geht dort draußen vor? Hat ihn jemand angesprungen?“<br />
Von der Schießerei in der Offiziersunterkunft<br />
aufgeschreckt, stolperten benommene, betrunkene Soldaten<br />
auf das andere Dorfende zu, im Glauben, das Lager werde<br />
angegriffen. Einige von ihnen rannten so nahe an <strong>Tarzan</strong><br />
vorbei, daß er sie fast berühren konnte, wenn er hingriff. Er<br />
kauerte sich neben dem toten Wächter hin <strong>und</strong> wartete. Der<br />
Gr<strong>und</strong> für <strong>die</strong> Schießerei war ihm ebenso unbekannt wie den<br />
Japanern. Van Prins <strong>und</strong> seine Truppe waren am gegenüber<br />
liegenden Rand des Kampongs; daher wußte er, daß nicht<br />
sie es sein konnten, <strong>die</strong> schossen.<br />
Als er glaubte, der letzte Japaner sei an ihm<br />
vorbeigelaufen, rief er den beiden Gefangenen mit leiser<br />
Stimme zu: „Seid ihr Douglas <strong>und</strong> Davis?“<br />
„Sicher sind wir’s.“<br />
„Wo ist der Eingang?“<br />
„Rechts vor dir, aber er ist versperrt.“<br />
Van Prins, der <strong>die</strong> Schüsse hörte, glaubte, sie seien gegen<br />
<strong>Tarzan</strong> gerichtet; daher führte er seine Männer im<br />
Laufschritt ins Dorf. Sie verteilten sich, ein Haus nach dem<br />
anderen als Deckung benutzend.<br />
<strong>Tarzan</strong> trat an den Eingang. Seine Pfosten waren <strong>die</strong><br />
Stämme kleiner Bäumchen. Douglas <strong>und</strong> Davis waren unter<br />
der Abdeckung hervorgekommen <strong>und</strong> standen nahe hinter<br />
dem Eingangsgatter.<br />
<strong>Tarzan</strong> erfaßte <strong>die</strong> Pfosten, jeden mit einer Hand. „Jeder<br />
von euch Burschen drückt gegen einen Pfosten“, sagte er,<br />
„<strong>und</strong> ich werde ziehen.“ Während er sprach, warf er sich mit<br />
seinem ganzen Gewicht kräftig zurück, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Pfosten<br />
brachen ab, bevor <strong>die</strong> Gefangenen mithelfen konnten. Der<br />
Stacheldraht wurde mit den Pfosten zu Boden gezogen, <strong>und</strong><br />
Douglas <strong>und</strong> Davis spazierten darüber in <strong>die</strong> Freiheit hinaus.<br />
<strong>Tarzan</strong> hatte <strong>die</strong> Männer von van Prins’ Stellung<br />
232
herbeikommen gehört <strong>und</strong> angenommen, daß sie es seien. Er<br />
rief van Prins, <strong>und</strong> <strong>die</strong>ser antwortete. „Die Gefangenen sind<br />
bei mir“, sagte <strong>Tarzan</strong>. „Am besten sammeln Sie Ihre<br />
Männer, so daß wir hier wegkommen.“ Dann nahm er dem<br />
toten Japaner Gewehr <strong>und</strong> Munition ab <strong>und</strong> reichte sie<br />
Davis.<br />
Während <strong>die</strong> Gruppe das Dorf verließ, konnten sie das<br />
Gebrabbel <strong>und</strong> Geschrei der Japaner vom drüberen Ende<br />
hören. Sie kannten den Gr<strong>und</strong> für <strong>die</strong> Ablenkung nicht, <strong>die</strong><br />
ihnen bei der Rettung der beiden Männer so sehr geholfen<br />
hatte, ohne daß sie dabei irgendwelche Verw<strong>und</strong>ungen<br />
davongetragen hätten.<br />
Bubonovitch <strong>und</strong> Rosetti fielen ordentlich über ihre<br />
beiden Kumpel her <strong>und</strong> stellten <strong>und</strong> beantworteten unzählige<br />
Fragen. Eine der ersten Fragen von Davis betraf <strong>Tarzan</strong>.<br />
„Wer war der nackte Kerl, der uns rausholte?“, fragte er.<br />
„Erinnerst du dich nicht mehr an den englischen Herzog,<br />
der an Bord gekommen ist, grad bevor wir losflogen?“,<br />
fragte Rosetti. „Na, das isser; <strong>und</strong> der ist ein toller Kerl.<br />
Und, was glaubst du, wer er ist?“<br />
„Hast du uns grad gesagt – der RAF-Offizier.“<br />
„Er ist <strong>Tarzan</strong> von den Affen.“<br />
„Wen glaubst du damit zu foppen?“<br />
„Im Ernst“, sagte Bubonovitch. „Er ist wirklich <strong>Tarzan</strong>.“<br />
„Der Alte ist nicht hier“, sagte Douglas. „Wurde er nicht –“<br />
„Nein. Ihm geht’s gut. Er ist verw<strong>und</strong>et worden, <strong>und</strong> sie<br />
wollten ihn nicht mitkommen lassen; aber es geht ihm gut.“<br />
Die Vier redeten fast ununterbrochen auf dem Weg<br />
zurück zum Guerilla-Camp. Sie hatten zusammen in vielen<br />
Einsätzen gekämpft. Das band sie enger aneinander als Blut.<br />
Zwischen ihnen gab es etwas, das in Worten nicht<br />
auszudrücken ist. Sie hätten auch nicht daran gedacht es zu<br />
versuchen. Vielleicht traf es Rosetti am besten, als er Davis<br />
auf den Rücken schlug <strong>und</strong> sagte: „Du alter H<strong>und</strong>esohn!“<br />
233
Kapitel 27<br />
Zwei Tage später verabschiedete sich <strong>die</strong> <strong>Fremdenlegion</strong>,<br />
jetzt zu zehnt, von den Guerillas <strong>und</strong> begann ihren langen<br />
Marsch zu einem nebelhaften Ziel. Douglas <strong>und</strong> Davis<br />
nahmen ihren Platz in der kleinen Kompanie mit der<br />
lockeren Anpassungsfähigkeit amerikanischer Soldaten ein.<br />
Douglas bezeichnete sie als <strong>die</strong> Liga der Nationen.<br />
Erst waren <strong>die</strong> beiden Neuankömmlinge skeptisch<br />
gewesen, was <strong>die</strong> Fähigkeit der zwei Frauen betraf, <strong>die</strong><br />
Anstrengungen <strong>und</strong> Gefahren der fast weglosen Bergwildnis<br />
auszuhalten, <strong>die</strong> zu durchqueren war, wollte man<br />
Feindkontakt vermeiden. Aber bald entdeckten sie, daß sie<br />
sich selbst ganz schön anstrengen mußten, um mit Corrie<br />
<strong>und</strong> Sarina mitzuhalten. Es gab auch noch andere<br />
Überraschungen.<br />
„Was ist mit Shrimp los?“, fragte Davis Bubonovitch.<br />
„Ich glaubte, er hätte keine Zeit für eine Frau, aber ständig<br />
hängt er bei dem braunen Mädchen rum. Nicht daß ich ihm<br />
einen Vorwurf mache. Die könnte ihre Schuhe jederzeit in<br />
meinem Schrank einstellen.“<br />
„Ich fürchte“, sagte Bubonovitch, „daß Staff Sergeant<br />
Rosetti ihr mit Stumpf <strong>und</strong> Stiel verfallen ist. Zuerst hat er’s<br />
ein bißchen kaschiert, aber jetzt geniert er sich überhaupt<br />
nicht mehr. Er geifert.“<br />
„Und der Alte“, sagte Davis. „Er war immer, was man<br />
einen Misnogomisten nennt.“<br />
„Das ist nicht genau das, wie ich es nannte“, sagte<br />
Bubonovitch, „aber du hast es im Wesentlichen erfaßt. Er<br />
mag es gewesen sein, aber er ist es nicht mehr.“<br />
„Irgendwie dumm“, bemerkte Carter Douglas. „Was<br />
wissen alte Männer über <strong>die</strong> Liebe?“<br />
234
„Du würdest überrascht sein, Kleiner“, sagte Bubonovitch.<br />
Das Vorankommen war grausam. Mit Parangs hackten sie<br />
sich ihren Weg durch unberührten Dschungel. Tiefe<br />
Schluchten <strong>und</strong> Gebirgsbäche hinderten ihr Vordringen mit<br />
entmutigender Regelmäßigkeit. Oft fielen <strong>die</strong> Felswände<br />
H<strong>und</strong>erte Fuß steil ab <strong>und</strong> boten weder Hand noch Zehen<br />
Halt. Weite Umwege wurden nötig. Kaum ein Tag verging<br />
ohne Regen, dessen schüttende Ströme sie blendeten. Sie<br />
marschierten <strong>und</strong> schliefen in nasser, durchtränkter<br />
Kleidung. Ihre Schuhe <strong>und</strong> Sandalen verrotteten.<br />
<strong>Tarzan</strong> jagte für sie, <strong>und</strong> jene, <strong>die</strong> es noch nicht getan<br />
hatten, lernten rohes Fleisch zu essen. Er erk<strong>und</strong>ete voraus,<br />
suchte <strong>die</strong> besten Routen aus, wachsam ob es feindliche<br />
Vorposten oder Patrouillen gäbe. Nachts schliefen sie eng<br />
beisammen, ständig war eine Wache wegen Angriffen<br />
plötzlich anschleichender Tiger aufgestellt. Manchmal<br />
erlahmten <strong>die</strong> Muskeln, nie aber <strong>die</strong> Moral.<br />
Der kleine Keta besorgte alles Schimpfen <strong>und</strong> Schelten.<br />
Als <strong>Tarzan</strong> zur Befreiung von Davis <strong>und</strong> Douglas fort war,<br />
hatte er Keta an einen Baum geb<strong>und</strong>en zurückgelassen. Der<br />
war darüber sehr beleidigt gewesen <strong>und</strong> hatte drei Holländer<br />
gebissen, <strong>die</strong> sich mit ihm anzufre<strong>und</strong>en versuchten. Von da<br />
an hatte man ihn ganz allein gelassen, er gesellte sich nur zu<br />
<strong>Tarzan</strong>. Die einzige Ausnahme war Rosetti. Mit dem kleinen<br />
Sergeant hatte er sich aus eigenem Antrieb angefre<strong>und</strong>et, oft<br />
rollte er sich in seinen Armen zusammen, wenn <strong>die</strong><br />
Kompanie nicht marschierte.<br />
„Er erkennt wahrscheinlich in Shrimp einen verwandten<br />
Geist“, sagte Bubonovitch, „wenn nicht einen nahen<br />
Verwandten.“<br />
„Und dich hält er für einen von den großen Affen, <strong>die</strong> wir<br />
geseh’n haben <strong>und</strong> vor denen er sich fürchtet.“<br />
„Du beziehst dich, wie ich annehme, auf den Pongo<br />
pygmaeus“, sagte Bubonovitch.<br />
235
Shrimp zeigte sich empört. „Wollt’ ich wär’ ein Poet, da<br />
würd’ ich ein Poem schreiben.“<br />
„Über mich, mein Lieber?“<br />
„Du hast schon zu viel gesagt. Ich kenn’ ein Wort, das<br />
sich auf dich reimt.“<br />
Sie hatten früher als üblich für <strong>die</strong> Nacht angehalten, weil<br />
<strong>Tarzan</strong> eine große, trockene Höhle gef<strong>und</strong>en hatte, <strong>die</strong> ihnen<br />
allen Platz bieten würde. Sie war wahrscheinlich schon oft<br />
zuvor bewohnt gewesen, denn es gab nahe am Eingang<br />
verkohlte Holzstücke <strong>und</strong> einen drinnen gelagerten Vorrat<br />
an trockenem Holz. Sie machten Feuer <strong>und</strong> setzten sich nah<br />
daran, um <strong>die</strong> willkommene Wärme aufzunehmen <strong>und</strong> so<br />
viel von ihrer Kleidung zu trocknen, wie <strong>die</strong> Gegenwart<br />
gemischter Gesellschaft abzulegen erlaubte. Das war<br />
vernünftig, denn <strong>die</strong> dummen Beschränkungen falscher<br />
Sittsamkeit waren schon seit Langem abgeworfen worden.<br />
Sie waren eine Kompanie von „kämpfenden Männern“.<br />
Jerry, Bubonovitch <strong>und</strong> Rosetti betrachteten <strong>die</strong> grobe<br />
Karte, <strong>die</strong> van Prins für sie gezeichnet hatte. „Hier ist’s, wo<br />
wir zur Ostseite der Bergkette herüberkamen“, sagte Jerry<br />
<strong>und</strong> zeigte hin, „gerade unter Alahanpandjang.“<br />
„Pfuh, was für ein Namensding für eine Stadt! Isses<br />
überhaupt eine Stadt?“<br />
„Für mich ist es nur ein Punkt auf einer Karte“, gestand<br />
Jerry ein.<br />
„Schau her“, fuhr Rosetti fort, „da heißt’s, daß es dorthin,<br />
wo wir zur andern Seite queren müssen, 170 Kilometer sind.<br />
Was ist das in den Vereinigten Staaten?“<br />
„Och, so um <strong>die</strong> h<strong>und</strong>ertfünf oder -sechs Meilen.<br />
Luftlinie.“<br />
„Was glaubst du, was wir im Durchschnitt machen,<br />
Jerry?“, fragte Bubonovitch.<br />
„Ich glaube kaum, daß wir fünf Meilen Luftlinie pro Tag<br />
machen.“<br />
236
„Heute“, sagte Bubonovitch, „haben wir kaum fünf<br />
Meilen von irgendeiner Art Linie gemacht – außer sie war<br />
hinauf <strong>und</strong> hinunter.“<br />
„Oje!“, sagte Rosetti. „Die Lovely Lady hätt’ uns dahin<br />
vielleicht in zwanzig, fünf<strong>und</strong>zwanzig Minuten gebracht.<br />
Das Herumgehatsche wie bei den H<strong>und</strong>egesichtern wird uns<br />
wahrscheinlich einen Monat kosten.“<br />
„Vielleicht mehr“, sagte Jerry.<br />
„Zu was rechnen!“, sagte Rosetti. „Wir hab’n Glück, daß<br />
wir leben.“<br />
„Und <strong>die</strong> Landschaft ist großartig“, sagte Bubonovitch.<br />
„Wenn wir sie durch <strong>die</strong>se Suppe sehen können, schaut sie<br />
recht schön <strong>und</strong> friedlich aus.“<br />
„Tut sie bestimmt“, stimmte Rosetti zu. „Schaut gar nicht<br />
aus, als ob in so einem schönen Land Krieg sein könnte. Ich<br />
glaub’ nicht, daß <strong>die</strong> hier schon vorher einmal Kriege gehabt<br />
haben.“<br />
„Das ist alles, was sie bis ins vorige Jahrh<strong>und</strong>ert jemals<br />
gehabt haben“, sagte Tak van der Bos. „Während der<br />
gesamten geschichtlichen Zeit <strong>und</strong> wahrscheinlich während<br />
sämtlicher prähistorischen Zeiten bis zurück zu den Tagen<br />
des Pithecanthropus erectus <strong>und</strong> des Homo Modjokertensis<br />
sind alle Inseln von Ostin<strong>die</strong>n fast ständig von Kriegern<br />
überrannt worden – den Stammeshäuptlingen, den<br />
unbedeutenden Prinzen, den kleinen Königen, den Sultanen.<br />
Die Hindus kamen aus In<strong>die</strong>n, <strong>die</strong> Chinesen kamen, <strong>die</strong><br />
Portugiesen, <strong>die</strong> Spanier von den Philippinen, <strong>die</strong> Engländer,<br />
<strong>die</strong> Holländer, <strong>und</strong> jetzt <strong>die</strong> Japaner. Sie alle brachten<br />
Flotten <strong>und</strong> Soldaten <strong>und</strong> Krieg. Im dreizehnten Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
schickte Kublai Khan eine Flotte von tausend Schiffen mit<br />
200.000 Soldaten, um einen König von Java zu bestrafen,<br />
der <strong>die</strong> Botschafter des Großen Khans eingesperrt <strong>und</strong> mit<br />
verstümmelten Gesichtern nach China zurückgeschickt<br />
hatte.<br />
237
Wir Holländer machten uns häufiger Grausamkeiten <strong>und</strong><br />
Gewalttaten schuldig, <strong>die</strong> an Indonesiern begangen wurden;<br />
aber weder wir noch <strong>die</strong> anderen, <strong>die</strong> vor uns gekommen<br />
waren, haben so wie ihre eigenen Sultane das Land<br />
verwüstet <strong>und</strong> seine Bevölkerung versklavt <strong>und</strong> massakriert.<br />
Diese trunksüchtigen, habgierigen, zügellosen Geschöpfe<br />
schlachteten ihre eigenen Untertanen ab, wenn es eine ihrer<br />
unberechenbaren Launen befriedigte. Sie nahmen sich <strong>die</strong><br />
lieblichsten Frauen, <strong>die</strong> schönsten Jungfrauen. Einer von<br />
ihnen hatte vierzehntausend Frauen in seinem Harem.“<br />
„Uii“, rief Rosetti.<br />
Tak grinste <strong>und</strong> fuhr fort: „Und wären sie immer noch an<br />
der Macht, würden sie weiter <strong>die</strong> gleichen Dinge anstellen.<br />
Unter uns Holländern haben <strong>die</strong> Indonesier das erste Mal<br />
Freiheit von Sklaverei, den ersten Frieden, den ersten<br />
Wohlstand seit jeher kennen gelernt. Gebt ihnen <strong>die</strong><br />
Unabhängigkeit, nachdem <strong>die</strong> Japaner hinausgeworfen sind,<br />
<strong>und</strong> eine Generation später werden sie wieder da sein, wo<br />
wir sie gef<strong>und</strong>en haben.“<br />
„Haben nicht alle Völker ein Recht auf Unabhängigkeit?“,<br />
fragte Bubonovitch.<br />
„Hol dir eine Seifenkiste, du Kommunist“, stichelte Rosetti.<br />
„Nur jenes Volk, das sich das Recht auf Unabhängigkeit<br />
errungen hat, ver<strong>die</strong>nt sie“, sagte van der Bos. „Der erste<br />
belegte Kontakt mit Sumatra war während der Herrschaft<br />
von Wang Mang, einem chinesischen Kaiser der Han-<br />
Dynastie, gerade vor dem Jahr 23 n. Chr. Die indonesische<br />
Zivilisation war damals schon alt. Wenn <strong>die</strong> Einwohner, vor<br />
all dem Hintergr<strong>und</strong> alter Kultur <strong>und</strong> der fast zweitausend<br />
Jahre, bevor <strong>die</strong> Holländer <strong>die</strong> Erschließung der Inseln<br />
vollendeten, noch immer von tyrannischen Herrschern in<br />
Sklaverei gehalten wurden, dann ver<strong>die</strong>nen sie nicht, was ihr<br />
Unabhängigkeit nennt. Unter den Holländern haben sie alle<br />
Freiheiten. Was können sie mehr verlangen?“<br />
238
„Nur um es richtigzustellen“, sagte Bubonovitch mit<br />
einem Grinsen. „Ich möchte festhalten, daß ich kein<br />
Kommunist bin. Ich bin ein rechtschaffener New-Deal-<br />
Republikaner. Aber hier komme ich auf den Punkt: Ich<br />
dachte, daß Freiheit eins der Dinge wäre, für <strong>die</strong> wir<br />
kämpfen.“<br />
„Zur Hölle“, sagte Jerry. „Ich glaube nicht, daß einer von<br />
uns weiß, wofür wir kämpfen, außer um Japaner zu töten,<br />
den Krieg zu beenden <strong>und</strong> heimzukommen. Nachdem wir<br />
das erledigt haben, werden <strong>die</strong> verfluchten Politiker wieder<br />
alles zunichte machen.“<br />
„Und <strong>die</strong> Säbelrassler werden anfangen, sich auf den<br />
dritten Weltkrieg vorzubereiten“, sagte van der Bos.<br />
„Ich glaube daß sie eine Zeitlang nicht sehr laut mit ihren<br />
Säbeln rasseln werden“, sagte Corrie.<br />
„Gerade lang genug, daß sie unsere Kinder für den<br />
nächsten Krieg holen“, sagte Jerry.<br />
Verlegenes Schweigen folgte. Jerry erkannte plötzlich <strong>die</strong><br />
Auslegung, <strong>die</strong> seiner unschuldigen Bemerkung unterstellt<br />
werden konnte; er errötete. Corrie ebenso. Alle schauten sie<br />
an, was es noch schlimmer machte.<br />
Schließlich vermochte van der Bos sein Gelächter nicht<br />
länger zurückhalten; alle fielen darin ein – sogar Corrie <strong>und</strong><br />
Jerry. Sing Tai, der mit dem Bratenfeuer beschäftigt war,<br />
löste <strong>die</strong> Spannung noch weiter, indem er einen bewährten<br />
Satz wiederholte, den er von Rosetti gelernt hatte: „Kommt,<br />
<strong>und</strong> greift zu!“<br />
Wildschwein, Moorhuhn <strong>und</strong> Nüsse stellten das Menü für<br />
das Mahl vor.<br />
„Wir leben bestimmt gut“, sagte Davis.<br />
„Das Drake-Hotel ist uns um nix voraus“, stimmte Rosetti<br />
zu.<br />
„Wir haben auf einem reichhaltigen Markt <strong>die</strong> Auswahl,<br />
<strong>und</strong> das ohne Essensmarken“, sagte <strong>Tarzan</strong>.<br />
239
„Und müssen kein Kleingeld springen lassen“, sagte<br />
Rosetti. „Ui! Das ist ein Leben.“<br />
„Drehst du durch?“, fragte Bubonovitch.<br />
„Kommen Sie nach dem Krieg hierher zurück, Sergeant“,<br />
sagte van der Bos, „dann zeige ich Ihnen ein ganz anderes<br />
Sumatra.“<br />
Bubonovitch schüttelte den Kopf. „Wenn ich jemals nach<br />
Brooklyn heimkomme“, sagte er, „werde ich für immer dort<br />
bleiben.“<br />
„Und ich in Texas“, sagte Davis.<br />
„Ist Texas ein schöner Staat?“, fragte Corrie.<br />
„Der schönste Staat der Union“, versicherte ihr Davis.<br />
„Aber Jerry erzählte mir, Oklahoma sei der schönste<br />
Staat.“<br />
„Das kleine Indianerreservat?“, fragte Davis. „Sag mir<br />
einer! Texas ist fast vier Mal so groß. Erster Platz in<br />
Rindern, Schafen, Maultieren. Hat <strong>die</strong> größte Ranch der<br />
Welt.“<br />
„Und <strong>die</strong> größten Aufschneider“, sagte Douglas. „Na,<br />
wenn ihr wirklich wissen wollt, welches der schönste Staat<br />
in der Union ist, will ich’s euch sagen. Es ist Kalifornien.<br />
Kommt nur ins gute alte San Fernando Valley nach dem<br />
Krieg, <strong>und</strong> ihr werdet nirgendwo anders mehr leben wollen.“<br />
„Wir haben nichts vom Staat New York gehört“, sagte<br />
Jerry grinsend.<br />
„New Yorker brauchen nicht zu prahlen“, sagte<br />
Bubonovitch. „Sie werden nicht von Minderwertigkeitsgefühlen<br />
geplagt.“<br />
„Das wird schwer zu übertreffen sein“, sagte van der Bos.<br />
„Wie ist’s mit deinem Staat, Tony?“, fragte Sarina.<br />
Rosetti dachte einen Moment lang nach. „Na“, sagte er,<br />
„Illinois hat den Staatsfeind Nummer Eins.“<br />
„Jeder Amerikaner“, sagte <strong>Tarzan</strong>, „lebt in der schönsten<br />
Stadt im schönsten Bezirk im schönsten Staat im schönsten<br />
240
Land der Welt – <strong>und</strong> jeder von ihnen glaubt daran. Und das<br />
ist es, was Amerika zu einem großartigen Land macht <strong>und</strong> es<br />
so bleiben läßt.“<br />
„Das können Sie wiederholen“, sagte Davis.<br />
„Ich habe etwas Gleiches in eurer Armee bemerkt“, fuhr<br />
der Engländer fort. „Jeder Soldat <strong>die</strong>nt in der ‚verdammt<br />
besten Einheit der Army’ <strong>und</strong> er ist bereit, dafür zu<br />
kämpfen. Dieses Gefühl schafft eine großartige Armee.“<br />
„Na“, sagte Jerry, „so übel haben wir uns bisher nicht<br />
gehalten für eine Nation von Jitter-Bug tanzenden Playboys.<br />
Ich glaube, wir haben <strong>die</strong> Welt überrascht.“<br />
„Hitler <strong>und</strong> Tojo habt ihr bestimmt überrascht. Wenn ihr<br />
nicht eingestiegen wärt, erst mit Material <strong>und</strong> dann mit den<br />
Männern, wäre der Krieg jetzt vorbei, <strong>und</strong> Hitler <strong>und</strong> Tojo<br />
hätten ihn gewonnen. Die Welt schuldet euch einen<br />
gewaltigen Dank.“<br />
„Ich frage mich, ob sie ihn bezahlen wird“, sagte Jerry.<br />
„Wahrscheinlich nicht“, sagte <strong>Tarzan</strong>.<br />
241
Kapitel 28<br />
Corrie saß mit ihrem Rücken gegen <strong>die</strong> Wand der Höhle.<br />
Jerry kam herbei <strong>und</strong> setzte sich neben sie hin. Sarina <strong>und</strong><br />
Rosetti waren zusammen, Arm in Arm, aus der Höhle<br />
hinausspaziert.<br />
„Shrimp ist vollkommen hemmungslos geworden“, sagte<br />
Jerry. „Wissen Sie, er haßte wirklich <strong>die</strong> Frauen. Ich glaube,<br />
Sie sind <strong>die</strong> Erste, <strong>die</strong> er je tolerierte. Jetzt mag er Sie sehr.“<br />
„Sie waren selbst nicht gerade scharf auf uns“, erinnerte<br />
ihn Corrie.<br />
„Na, sehen Sie, ich habe noch kein holländisches<br />
Mädchen gekannt.“<br />
„Das war lieb. Sie bessern sich. Aber erzählen Sie mir<br />
nicht, daß der schönste Staat in der Union nicht <strong>die</strong><br />
schönsten Mädchen der Welt hätte.“<br />
„Es gibt nur ein ‚schönstes Mädchen der Welt’, <strong>und</strong> es ist<br />
nicht aus Oklahoma.“<br />
Corrie lachte. „Ich weiß, was Sie tun.“<br />
„Was?“<br />
„Sie legen mir ein Wort in den M<strong>und</strong>. Sagt man nicht so<br />
in Amerika?“<br />
„Ich lege Ihnen kein Wort in den M<strong>und</strong>, Corrie. Sie<br />
wissen, was ich für Sie empfinde.“<br />
„Ich bin keine Gedankenleserin.“<br />
„Sie sind das w<strong>und</strong>erschönste Ding, das mir je im Leben<br />
begegnet ist.“<br />
„Jetzt erzählen Sie mir nicht, daß wir von Liebe<br />
sprechen!“<br />
„Das ist es im Wesentlichen, was ich im Sinn habe“, sagte<br />
Jerry, „aber ich glaube, ich bin nicht besonders gut darin.“<br />
Er schaute ihr in <strong>die</strong> Augen. In ihrer geheimnisvollen Tiefe<br />
242
spiegelte sich der Feuerschein, aber tief unter der Oberfläche<br />
brannte ein anderes Leuchten, ein solches Leuchten hatte er<br />
noch nie zuvor in den Augen einer Frau gesehen. „Gott! Wie<br />
w<strong>und</strong>erschön Sie sind“, sagte er.<br />
Corrie lächelte. „Das war’s, was Sie zuvor sagten, aber da<br />
haben Sie mich ein Ding genannt. Es heißt, Sie seien ein<br />
großartiger Pilot, Captain.“<br />
Er wußte, daß sie ihn neckte; aber es kümmerte ihn nicht<br />
– er konnte das Leuchten in ihren Augen immer noch sehen.<br />
„Ich bin kein großartiger Pilot. Ich bin ein großer Feigling.<br />
Ich fürchte mich so vor Ihnen, daß ich keine drei kleinen<br />
Wörter herausbringe.“<br />
Corrie lachte, <strong>und</strong> sie versuchte nicht ihm zu helfen.<br />
„Hören Sie!“, platzte er heraus. „Was glauben Sie, wie<br />
Ihnen das Leben in Oklahoma gefallen wird?“<br />
„Sehr gut wird’s mir gefallen“, sagte sie.<br />
„Liebling“, sagte Jerry. „Ich muß dich küssen. Gleich<br />
jetzt muß ich dich küssen – wenn nur nicht all <strong>die</strong> Leute hier<br />
drin wären.“<br />
„Wir könnten hinausgehen“, sagte Corrie.<br />
Sergeant Rosetti hielt Sarina in den Armen. Sein M<strong>und</strong><br />
lag auf ihrem. Ihre Arme um seinen Hals preßten ihn wild an<br />
sich. Corrie <strong>und</strong> Jerry, <strong>die</strong> aus dem Feuerschein in <strong>die</strong> Nacht<br />
traten, stießen beinah an sie. Dann gingen sie ein wenig weg.<br />
„Ich glaube, Sergeanten sind nicht dafür vorgesehen,<br />
ihren Captains etwas beizubringen“, sagte Corrie; „aber<br />
Sergeant Rosetti ist auch ein äußerst ungewöhnlicher<br />
Sergeant.“ Später war sie ein wenig atemlos, als sie ihn sanft<br />
wegschob. „Ihr Frauenfeinde!“, keuchte sie.<br />
Sergeant Bubonovitch saß gerade im Höhleneingang am<br />
Feuer. Er hatte Shrimp <strong>und</strong> Sarina Arm in Arm hinausgehen<br />
gesehen; dann waren Corrie <strong>und</strong> Jerry ins Dunkle<br />
hinausgegangen. „Ich brauche Liebe“, sagte Bubonovitch<br />
<strong>und</strong> versuchte sich mit dem kleinen Keta anzufre<strong>und</strong>en.<br />
243
Klein Keta biß ihn. „Keiner liebt mich“, sagte der Sergeant<br />
bedauernd.<br />
Tag für Tag kämpfte <strong>die</strong> <strong>Fremdenlegion</strong> mit der Natur um<br />
jede hart errungene Meile. Oft waren einige von ihnen zum<br />
Zeitpunkt des Lagermachens am Ende des Tages so<br />
erschöpft, daß sie ohne zu essen in Schlaf fielen. Sie waren<br />
sogar zu müde, um viel zu reden. Aber es gab keine Klagen.<br />
Corrie <strong>und</strong> Sarina hielten mit den Männern mit, <strong>die</strong> sehr<br />
stolz auf sie waren.<br />
„Sie haben Glück, daß sie nicht viel Gewicht haben“,<br />
meinte Bubonovitch. „Nehmt sie zusammen, <strong>und</strong> sie würden<br />
nicht mehr wiegen als ich. Vielleicht könnte man Shrimp<br />
auch noch hinzurechnen. Nach dem Krieg werde ich <strong>die</strong><br />
Drei anwerben, glaube ich, <strong>und</strong> einen Flohzirkus eröffnen.“<br />
„Jaa? Was du sollen tatst“, sagte Shrimp, „ist zur Navy<br />
gehen. Da hätt’st dann einen Streitwagen mit<br />
herumzuschleppen, du Riesenochse.“<br />
„Was du hättest tun sollen, nicht ‚Was du sollen tatst’“,<br />
besserte Sarina aus, <strong>die</strong> zum heimlichen Vergnügen der<br />
restlichen Gruppe daran arbeitete, Shrimps Englisch auf <strong>die</strong><br />
Linie zu bringen, <strong>die</strong> ihr <strong>die</strong> katholischen Schwestern<br />
beigebracht hatten.<br />
Bubonovitch hatte einmal zu Jerry gesagt: „Die Enkelin<br />
eines Kopfjägers aus Borneo lehrt einen Amerikaner<br />
Englisch! Mehr kann ich jetzt nicht mehr erleben.“<br />
Sarina bemühte sich nicht, Shrimps Gefühle zu<br />
verschonen. Sie besserte ihn vor jedermann aus, oft mitten<br />
im Satz. Und Shrimp beschwerte sich niemals. Er grinste nur<br />
<strong>und</strong> fing wieder an. Und er lernte dazu. Er hatte fast<br />
aufgehört, th durch d zu ersetzen, aber <strong>die</strong> Zeitformen<br />
verwirrten ihn immer noch. Douglas sagte: „Is’ Liebe nicht<br />
w<strong>und</strong>erbar!“<br />
Sie näherten sich dem Mt. Masoerai. Kurz davor mußten<br />
sie <strong>die</strong> Bergkette wieder überqueren <strong>und</strong> zum Meer hinab<br />
244
vorstoßen. Fast einen Monat war es nun schon her, seit sie<br />
das Camp der Guerillas verlassen hatten, <strong>und</strong> ihnen waren<br />
nur Anstrengungen auferlegt gewesen, mit denen sie fertig<br />
werden konnten. Nie hatte sich einer von ihnen in großer<br />
Gefahr bef<strong>und</strong>en, <strong>und</strong> außer ihnen war nie ein menschliches<br />
Wesen zu sehen gewesen. Und dann, wie aus dem blauen<br />
Himmel, brach <strong>die</strong> Katastrophe herein. <strong>Tarzan</strong> wurde von<br />
den Japanern gefangen.<br />
Sie folgten einem gut erkennbaren Wildpfad. <strong>Tarzan</strong><br />
schwang sich wie üblich wenig vor ihnen durch <strong>die</strong> Bäume.<br />
Plötzlich stieß er auf eine Patrouille der Japaner. Sie hatten<br />
auf dem Pfad zur Rast angehalten. <strong>Tarzan</strong> näherte sich, um<br />
<strong>die</strong> Stärke der Abteilung zu erk<strong>und</strong>en. Er hatte noch genug<br />
Zeit umzukehren <strong>und</strong> seine Kameraden zu warnen sowie mit<br />
ihnen zu disponieren, was eintreten mochte.<br />
Klein Keta ritt auf seiner Schulter. <strong>Tarzan</strong> warnte ihn, still<br />
zu bleiben.<br />
Die Aufmerksamkeit des Mannes war auf <strong>die</strong> Japaner<br />
fixiert. Die Bedrohung <strong>die</strong> genau über ihm hing, bemerkte er<br />
nicht. Aber Keta sah sie <strong>und</strong> begann zu schreien. Die<br />
Japaner sahen hoch. Die Windungen eines riesigen Pythons<br />
umfingen den Körper des Mannes <strong>und</strong> zwangen ihn zu<br />
handeln. Sein Messer blitzte. Die verw<strong>und</strong>ete Schlange<br />
wand sich verzweifelt in Schmerz <strong>und</strong> Zorn, verlor ihren<br />
Halt an dem Ast, der sie getragen hatte, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Beiden<br />
stürzten vor den Füßen der Japaner auf den Pfad. Keta floh.<br />
Die Japaner stürzten sich mit Bajonetten <strong>und</strong> Schwertern<br />
auf <strong>die</strong> Schlange <strong>und</strong> töteten sie schnell. Und <strong>Tarzan</strong> war<br />
ihnen ausgeliefert. Es waren zu viele. Ein Dutzend Bajonette<br />
warteten nur Zentimeter über seinem Leib, während er<br />
hilflos mit dem Rücken auf dem Pfad lag.<br />
Sie nahmen ihm Bogen <strong>und</strong> Pfeile <strong>und</strong> Messer. Ein<br />
Offizier trat näher <strong>und</strong> trat ihn in <strong>die</strong> Seite. „Aufstehen!“,<br />
sagte er auf Englisch. Er war ein Marktgärtner in Culver<br />
245
City gewesen. Er war klein <strong>und</strong> o-beinig. Er hatte<br />
Hasenzähne <strong>und</strong> er trug eine Hornbrille. Er hätte einem<br />
Lichty-Cartoon entspringen können. Seine Männer gaben<br />
ihm seiner Größe wegen den Spitznamen „Wal“. Er erhob<br />
sich ganze fünf Fuß aus seinen Sandalen.<br />
„Wer sind Sie?“, fragte der Offizier.<br />
„Gruppenkapitän John Clayton, Royal Air Force“.<br />
„Sie sind ein Amerikaner“, sagte der Japaner. <strong>Tarzan</strong><br />
antwortete nicht. „Was machen Sie hier?“, lautete <strong>die</strong><br />
nächste Frage.<br />
„Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich Ihnen sagen muß,<br />
<strong>und</strong> das ist alles, was ich Ihnen sagen will.“<br />
„Das werden wir sehen.“ Er wandte sich an einen<br />
Wachtmeister <strong>und</strong> gab ihm Anweisungen auf Japanisch. Der<br />
Wachtmeister ließ <strong>die</strong> Abteilung antreten, zur Hälfte vor, zur<br />
Hälfte hinter dem Gefangenen, dann zogen sie den Pfad in<br />
derselben Richtung weiter entlang, in der auch <strong>die</strong><br />
<strong>Fremdenlegion</strong> reiste. <strong>Tarzan</strong> ersah aus Anzeichen am<br />
Verlauf des Pfades, daß sie von dem Punkt an, wo sie<br />
gerastet hatten, in ihren eigenen Fußstapfen zurückkehrten.<br />
Er schloß daraus, daß sie, was auch immer ihr Auftrag<br />
gewesen war, <strong>die</strong>sen erledigt hatten <strong>und</strong> ins Lager<br />
zurückkehrten.<br />
Klein Keta war durch <strong>die</strong> Bäume geflohen, bis er <strong>die</strong><br />
<strong>Fremdenlegion</strong> sichtete; dann sprang er hinab <strong>und</strong> hüpfte auf<br />
Shrimps Schultern. Er warf beide Arme um den Hals des<br />
Mannes <strong>und</strong> schrie <strong>und</strong> schnatterte in sein Ohr.<br />
„Etwas muß <strong>Tarzan</strong> zugestoßen sein“, sagte Jerry. „Keta<br />
versucht es uns zu erzählen. Er würde <strong>Tarzan</strong> nicht<br />
verlassen, wenn alles bei ihm in Ordnung wäre.“<br />
„Darf ich den Pfad vorauslaufen <strong>und</strong> nachschau’n,<br />
Captain?“, bat Rosetti. „Ich kann schneller laufen als ihr<br />
anderen.“<br />
„Ja. Zieh los. Wir folgen nach.“<br />
246
Shrimp lief in einem langsamen Trott. Keta schien nun<br />
zufrieden zu sein; daher war sich der Mann sicher, daß Jerry<br />
Recht gehabt hatte. <strong>Tarzan</strong> war in Schwierigkeiten. Bald<br />
vernahm Shrimp Stimmen vor sich <strong>und</strong> das Geräusch von<br />
Ausrüstung. Die Japaner, <strong>die</strong> keine Gefahr erwarteten,<br />
marschierten sorglos. Shrimp kam näher; <strong>und</strong> bald erkannte<br />
er über den kleinen Männlein Kopf <strong>und</strong> Schultern <strong>Tarzan</strong>s<br />
aufragen. <strong>Tarzan</strong>, ein Gefangener der Japaner? Es war<br />
unglaublich. Shrimps Herz versackte – das Herz, das noch<br />
nicht lange zuvor vom Haß auf Engländer erfüllt gewesen<br />
war.<br />
Die Neuigkeit, <strong>die</strong> Rosetti den anderen zurückbrachte,<br />
erschreckte alle. Der Verlust des Herrn des Dschungels<br />
würde einen schweren Schlag für <strong>die</strong> kleine Kompanie<br />
bedeuten, doch dachten sie erst eher an <strong>Tarzan</strong>s Sicherheit<br />
als an ihre eigene. Er hatte in der Brust eines jeden nicht nur<br />
Respekt <strong>und</strong> Bew<strong>und</strong>erung erweckt, sondern auch echte<br />
Zuneigung. Das rührte daher, daß, wie Shrimp es<br />
Bubonovitch anvertraut hatte, „der Kerl Klasse“ war.<br />
„Wie viele Japaner waren dort, Rosetti?“, fragte Jerry.<br />
„So zwanzig. Wir sind neun, Captain, das ist mehr als<br />
genug.“<br />
„Das kannst du wiederholen“, sagte Bubonovitch. „Geh’n<br />
wir ihn holen.“<br />
„Wir können sie auf <strong>die</strong>sem engen Pfad nicht von hinten<br />
angreifen, ohne <strong>Tarzan</strong> zu gefährden. Wir müssen uns an sie<br />
anhängen, bis wir einen besseren Platz zum Angreifen<br />
finden“, sagte Jerry.<br />
Der Pfad verließ am Rand einer engen Schlucht den<br />
Wald. Unter ihm sah <strong>Tarzan</strong> etwas, das offenbar ein<br />
vorläufiges Lager war. Ein halbes Dutzend japanischer<br />
Soldaten bewachten einige Ausrüstung <strong>und</strong> ein paar<br />
Packtiere. Die Ausrüstung lag unordentlich verstreut umher.<br />
Einiges davon, wahrscheinlich verderbliche Vorräte, war<br />
247
von einer Plane bedeckt. Es gab keine Unterstände. Aus der<br />
Erscheinung des Lagers schloß <strong>Tarzan</strong>, daß der Offizier<br />
unfähig war. Je weniger fähig, desto leichter würde es sein<br />
zu entfliehen.<br />
Der Vizeleutnant Kenzo Kaneko bellte einem<br />
Wachtmeister Anweisungen zu, <strong>und</strong> der Wachtmeister<br />
fesselte <strong>die</strong> Handgelenke des Gefangenen hinter seinem<br />
Rücken. Wenn auch der Leutnant unfähig sein mochte, der<br />
Wachtmeister war es nicht. Er fesselte <strong>Tarzan</strong>s Gelenke so<br />
fest <strong>und</strong> mit so vielen Schnüren, daß nicht einmal <strong>die</strong><br />
Muskeln des Dschungelherrn ihn befreien konnten.<br />
Der Wachtmeister band <strong>die</strong> Fußgelenke des Gefangenen<br />
genauso. Nachdem er das getan hatte, stieß er ihn <strong>und</strong> stellte<br />
ihm ein Bein, so daß <strong>Tarzan</strong> schwer zu Boden stürzen<br />
mußte. Ein Pferd wurde geholt <strong>und</strong> der Packsattel aufgelegt.<br />
Ein Strick wurde am Sattel befestigt, dann das andere Ende<br />
an <strong>Tarzan</strong>s Beine geb<strong>und</strong>en. Leutnant Kaneko trat heran <strong>und</strong><br />
stand über ihm. Er lächelte fre<strong>und</strong>lich.<br />
„Ich würde es hassen, wenn ich das Pferd zum Laufen<br />
peitschen müßte“, sagte er. „Es würde mir weh tun, aber<br />
Ihnen würde es noch mehr weh tun.“<br />
Das Pferd war aufgezäumt worden, <strong>und</strong> ein Soldat, der<br />
eine Peitsche trug, war aufgesessen. Die anderen Soldaten<br />
standen herum <strong>und</strong> grinsten. Sie erwarteten eine Vorstellung<br />
mit anzusehen, <strong>die</strong> ihren sadistischen Neigungen gefiele.<br />
„Wenn Sie auf meine Fragen antworten“, fuhr Kaneko<br />
fort, „wird das Pferd nicht gepeitscht werden, <strong>und</strong> der Strick<br />
wird abgenommen. Wie viele sind in Ihrer Truppe, <strong>und</strong> wo<br />
sind sie?“<br />
<strong>Tarzan</strong> blieb still. Kaneko lächelte nicht länger. Seine<br />
Züge wurden von Zorn verzerrt, oder vielleicht spielte er<br />
den Zorn nur, um seinem Opfer Angst einzujagen. Er kam<br />
näher <strong>und</strong> trat <strong>Tarzan</strong> in <strong>die</strong> Seite.<br />
„Sie weigern sich zu antworten?“, fragte er.<br />
248
<strong>Tarzan</strong> erwiderte den Blick des Japaners. Sein Gesicht<br />
zeigte keine Regung, nicht einmal <strong>die</strong> Verachtung, <strong>die</strong> er für<br />
<strong>die</strong>se groteske Karikatur eines Menschen empfand. Kaneko<br />
senkte seine Augen vor denen seines Gefangenen. Etwas in<br />
jenen Augen ängstigte ihn, <strong>und</strong> das erfüllte ihn wirklich mit<br />
echter Wut.<br />
Er bellte dem Mann auf dem Pferd einen Befehl zu. Der<br />
Kerl beugte sich vor <strong>und</strong> hob seine Peitsche. Ein Schuß<br />
krachte. Das Pferd bäumte sich auf <strong>und</strong> taumelte zurück.<br />
Noch ein Schuß. Vizeleutnant Kenzo Kaneko schrie <strong>und</strong><br />
stürzte auf sein Gesicht. Dann folgte eine Salve von<br />
Schüssen. Soldaten fielen in rascher Folge. Die es konnten,<br />
flohen in höchster Entmutigung das Tal hinab, als neun<br />
Schützen den steilen Pfad ins Lager herab sprangen.<br />
Ein verw<strong>und</strong>eter Japaner stützte sich auf einem Ellbogen<br />
hoch <strong>und</strong> feuerte auf sie. Corrie erschoß ihn. Dann waren<br />
Rosetti <strong>und</strong> Sarina mit Bajonett <strong>und</strong> Sarang über ihnen, <strong>und</strong><br />
es gab keine verw<strong>und</strong>eten Japaner mehr.<br />
Jerry durchschnitt <strong>Tarzan</strong>s Fesseln. „Ihr seid gerade noch<br />
rechtzeitig gekommen“, sagte <strong>Tarzan</strong>.<br />
„Wir müssen versuchen, den Rest von ihnen zu erledigen.<br />
Das ist offenbar nur eine Abteilung einer größeren Truppe.<br />
Wenn ein paar von <strong>die</strong>sen Burschen zu ihrer Truppe<br />
zurückkommen, werden wir gejagt werden.“<br />
„Haben Sie eine Ahnung, wie viele Männer da waren?“<br />
„So fünf<strong>und</strong>zwanzig, sechs<strong>und</strong>zwanzig. Wie viele haben<br />
wir getötet?“<br />
„Sechzehn“, sagte Rosetti. „Ich hab’ sie grad gezählt.“<br />
<strong>Tarzan</strong> hob ein Gewehr auf <strong>und</strong> nahm einem der toten<br />
Japaner den Patronengurt ab. „Wir werden zum Rand des<br />
Tales zurückgehen. Ich werde durch <strong>die</strong> Bäume vorauseilen<br />
<strong>und</strong> versuchen ihnen zuvorzukommen. Ihr Übrigen arbeitet<br />
euch am Rand entlang hinab, bis ihr auf sie hinunter feuern<br />
könnt.“<br />
249
Eine halbe Meile unter dem Lager überholte <strong>Tarzan</strong> <strong>die</strong><br />
Überlebenden. Es waren zehn von ihnen. Ein Wachtmeister<br />
hatte sie gesammelt <strong>und</strong> ermahnte sie offenbar, zum Kampf<br />
zurückzukehren. Als sie sich wenig begeistert umdrehten,<br />
feuerte <strong>Tarzan</strong> <strong>und</strong> legte den Wachtmeister um. Ein Rekrut<br />
begann das Tal hinunter zu laufen. <strong>Tarzan</strong> feuerte wieder,<br />
<strong>und</strong> der Mann stürzte. Nun erkannten <strong>die</strong> anderen, daß <strong>die</strong><br />
Schüsse von weiter unten im Tal gekommen waren. Sie<br />
suchten Deckung vor <strong>die</strong>ser Richtung. <strong>Tarzan</strong> stellte das<br />
Feuern ein, um nicht seine Position zu verraten.<br />
Die <strong>Fremdenlegion</strong> vernahm <strong>die</strong> zwei Schüsse <strong>und</strong> wußte,<br />
daß <strong>Tarzan</strong> Feindberührung hatte. Sie drangen durch <strong>die</strong><br />
Bäume am Rand des Tales vorwärts. Jerry führte. Bald sah<br />
er einen Japaner, der hinter einem gestürzten Baum in<br />
Deckung gegangen war. Dann sah er einen weiteren <strong>und</strong><br />
noch einen. Er nahm sie aufs Korn, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Schießerei<br />
begann. Auch <strong>Tarzan</strong> feuerte wieder.<br />
Die Japaner waren in dem engen Tal in beiden<br />
Richtungen abgeschnitten, führerlos, ohne den nötigen<br />
Verstand oder eine Initiative anders zu handeln, <strong>und</strong><br />
sprengten sich mit ihren eigenen Granaten in <strong>die</strong> Luft.<br />
„Die sind verdammt gefällig“, sagte Douglas.<br />
„Nette Kerlchen“, sagte Davis; „versuchen uns Munition<br />
zu sparen.“<br />
„Ich werd’ runtergeh’n <strong>und</strong> denen aushelfen“, sagte<br />
Rosetti, „falls einer von ihnen noch lebt.“ Er rutschte <strong>und</strong><br />
rollte den steilen Felsabhang hinab, <strong>und</strong> Sarina war gleich<br />
hinter ihm.<br />
„Das“, sagte Bubonovitch, „ist <strong>die</strong> ideale Hilfestellung.“<br />
250
Kapitel 29<br />
Sechs Wochen später gelangte <strong>die</strong> <strong>Fremdenlegion</strong> unterhalb<br />
von Moekemoeko zur Küste hinunter. Es waren<br />
anstrengende sechs Wochen gewesen, gespickt mit vielen<br />
Gefahren. Japanische Stellungen in vermehrter Anzahl<br />
hatten lange Umwege erfordert. Nur <strong>die</strong> scharfen<br />
Sinneswahrnehmungen des Dschungelherrn, der der kleinen<br />
Kompanie ein gutes Stück voraus war, hatte sie in<br />
zahlreichen Fällen vor Unheil bewahrt.<br />
Etwa eine Meile weiter <strong>die</strong> Küste hinauf von da, wo sie<br />
sich verbargen, gab es eine japanische Luftabwehr-Batterie.<br />
Zwischen ihnen <strong>und</strong> der Batterie war ein Eingeborenendorf.<br />
Dieses Dorf war es, in dem Sarina Fre<strong>und</strong>e zu finden hoffte,<br />
<strong>die</strong> ihnen ein Boot <strong>und</strong> Vorräte besorgen konnten.<br />
„Wenn ich einen Sarong hätte“, sagte sie, „könnte ich<br />
einfach bei Tag ins Dorf spazieren, auch wenn Japaner dort<br />
wären; <strong>die</strong>se Kleidung aber würde Verdacht erregen. Ich<br />
muß das Wagnis eingehen, bei Dunkelheit<br />
hineinzuschleichen.“<br />
„Vielleicht kann ich Ihnen einen Sarong verschaffen“,<br />
sagte <strong>Tarzan</strong>.<br />
„Sie wollen ins Dorf gehen?“, fragte Sarina.<br />
„Heut’ Nacht“, antwortete <strong>Tarzan</strong>. „Wahrscheinlich<br />
werden Sie Sarongs finden, <strong>die</strong> am Tag gewaschen <strong>und</strong> zum<br />
Trocknen aufgehängt wurden.“<br />
Nach dem Dunkelwerden verließ <strong>Tarzan</strong> sie. Lautlos<br />
bewegte er sich durch <strong>die</strong> stehende Luft der feuchten<br />
Tropennacht. In dem Lager, das er verlassen hatte – kein<br />
Camp, sondern nur ein Versteck – unterhielten sich <strong>die</strong><br />
anderen flüsternd. Sie fühlten sich bedrückt von der Hitze<br />
<strong>und</strong> der Feuchtigkeit <strong>und</strong> dem ständigen Gefühl lauernder<br />
251
Gefahren. Als sie im Gebirge gewesen waren, hatten sie sich<br />
nicht so miserabel gefühlt. Jetzt dachten sie mit Bedauern an<br />
<strong>die</strong> verhältnismäßige Kühle der höheren Lagen zurück.<br />
„Ich bin so lange in den Bergen gewesen“, sagte Corrie,<br />
„daß ich beinah vergessen habe, wie schrecklich das<br />
Küstenklima sein kann.“<br />
„Es ist ziemlich mies“, gab ihr van der Bos Recht.<br />
„Holländer müssen Masochisten sein“, sagte<br />
Bubonovitch, „daß sie Kolonien in Türkischen Bädern<br />
einrichten.“<br />
„Nein“, sagte van der Bos; „wir sind profitgierig. Dies ist<br />
eine sehr reiche Weltgegend.“<br />
„Die könnt ihr haben“, sagte Rosetti. „Ich will kein<br />
Bißchen davon haben.“<br />
„Wir wünschten, daß der Rest der Welt auch so denkt“,<br />
sagte van der Bos.<br />
<strong>Tarzan</strong> schwang sich auf einen Baum, der das Dorf<br />
überragte. Ein voller Mond erhellte <strong>die</strong> freien Plätze. Die<br />
verzierten Eingeborenenhäuser warfen tiefe Schatten.<br />
Eingeborene hockten im Mondschein, rauchten <strong>und</strong><br />
tratschten. In der unbewegten Luft hingen drei Sarongs<br />
schlaff von einer Stange, über <strong>die</strong> sie zum Trocknen<br />
geworfen worden waren. <strong>Tarzan</strong> richtete sich darauf ein zu<br />
warten, bis <strong>die</strong> Leute zum Schlafen in ihre Häuser gegangen<br />
waren.<br />
Nach einer Weile betrat ein Mann von Westen her das<br />
Kampong. <strong>Tarzan</strong> konnte ihn gut sehen. Er war ein<br />
japanischer Offizier, der befehlshabende Offizier der nahen<br />
Luftabwehr-Batterie. Sobald <strong>die</strong> Eingeborenen ihn sahen,<br />
erhoben sie sich <strong>und</strong> verbeugten sich. Er trat in stolzierender<br />
Arroganz an sie heran <strong>und</strong> sprach ein paar Worte mit einer<br />
jungen Frau. Sie erhob sich unterwürfig <strong>und</strong> folgte ihm in<br />
das Haus, das er zu seiner eigenen Verwendung requiriert<br />
hatte.<br />
252
Sobald er den Eingeborenen seinen Rücken zuwandte,<br />
schnitten sie ihm Gesichter <strong>und</strong> machten obszöne Gesten.<br />
<strong>Tarzan</strong> war zufrieden. Was er gesehen hatte, überzeugte ihn,<br />
daß <strong>die</strong> Eingeborenen einem jeden Feind der Japaner<br />
fre<strong>und</strong>lich gesinnt wären. Nach einer Weile gingen <strong>die</strong><br />
Eingeborenen in ihre Häuser, <strong>und</strong> Stille breitete sich über<br />
das Kampong aus.<br />
<strong>Tarzan</strong> sprang zum Boden hinab <strong>und</strong> glitt in den Schatten<br />
eines Gebäudes. Lautlos stahl er sich zu einer Stelle, <strong>die</strong><br />
möglichst nahe außerhalb des Mondlichts an den Sarongs<br />
lag. Dort stand er, einen Augenblick lauschend; dann<br />
überquerte er schnell den vom Mond erhellten Platz <strong>und</strong><br />
ergriff einen Sarong.<br />
Auf dem Rückzug hatte er fast den Schatten erreicht, als<br />
von hinten eine Frau um eine Gebäudeecke trat. Sie<br />
begegneten einander im Mondlicht von Angesicht zu<br />
Angesicht. Die erschrockene Frau öffnete ihren M<strong>und</strong> zu<br />
einem Schrei. <strong>Tarzan</strong> packte sie <strong>und</strong> schloß ihr mit einer Hand<br />
<strong>die</strong> aufgerissenen Lippen. Dann zog er sie in den Schatten.<br />
„Still!“, befahl er auf Holländisch. „Dann tu ich dir<br />
nichts.“ Er hoffte, daß sie Holländisch verstand. Das traf zu.<br />
„Wer bist du?“, fragte sie.<br />
„Ein Fre<strong>und</strong>“, antwortete er.<br />
„Fre<strong>und</strong>e bestehlen uns nicht“, sagte sie.<br />
„Ich leihe <strong>die</strong>sen Sarong nur aus. Er wird zurückgegeben<br />
werden. Du wirst dem Japaner nichts davon erzählen? Er ist<br />
auch mein Feind.“<br />
„Ich werde ihm nichts sagen. Wir sagen ihnen nichts.“<br />
„Gut“, sagte <strong>Tarzan</strong>. „Der Sarong wird morgen<br />
zurückgebracht.“<br />
Er drehte sich um <strong>und</strong> war im Schatten verschw<strong>und</strong>en.<br />
Die Frau schüttelte den Kopf <strong>und</strong> erkletterte <strong>die</strong> Leiter, <strong>die</strong><br />
zu ihrem Hauseingang führte. Sie berichtete ihrer Familie<br />
von dem Abenteuer, das sie erlebt hatte.<br />
253
„Du wirst den Sarong nie mehr wieder sehen“, sagte einer.<br />
„Um den Sarong kümmere ich mich nicht“, erwiderte sie.<br />
„Er hat mir nicht gehört. Aber ich würde den Wilden gern<br />
wiedersehen. Er war ein stattlicher Mann.“<br />
Am nächsten Morgen betrat Sarina das Dorf. Die erste<br />
Frau, <strong>die</strong> sie traf, erkannte sie, <strong>und</strong> bald war sie von alten<br />
Bekannten umgeben. Sie warnte sie, lieber wegzubleiben,<br />
aus Sorge, daß Japaner im Dorf sein könnten, <strong>die</strong> an der<br />
Begrüßung erkennen mochten, daß sie neu angekommen<br />
war <strong>und</strong> daher jemand, den man sich ansehen sollte. Sarina<br />
wollte nicht, daß sie von Japanern angesehen wurde. Das<br />
verstanden <strong>die</strong> Dorfbewohner <strong>und</strong> kehrten zu ihrer üblichen<br />
Tätigkeiten zurück. Dann suchte Sarina Alauddin Shah auf,<br />
den Dorfhäuptling. Er schien erfreut, sie zu sehen, <strong>und</strong><br />
stellte ihr viele Fragen. Sie vermied es, <strong>die</strong> meisten davon zu<br />
beantworten, bis sie herausfand, welcherart seine<br />
Beziehungen zu den Japanern waren.<br />
Bald erfuhr sie, daß er sie haßte. Alauddin Shah war ein<br />
stolzer alter Mann, ein Erbhäuptling. Die Japaner hatten ihn<br />
geschlagen <strong>und</strong> getreten <strong>und</strong> ihn gezwungen, sich sogar vor<br />
ihren Rekruten tief zu verbeugen. Beruhigt erzählte ihm<br />
Sarina ihre Geschichte, erklärte, was sie <strong>und</strong> ihre Gefährten<br />
brauchten, <strong>und</strong> erbat seine Unterstützung.<br />
„Das wird eine gefährliche Reise werden“, sagte er. „Es<br />
gibt viele feindliche Schiffe in den Gewässern, <strong>und</strong> es ist ein<br />
weiter Weg nach Australien. Aber wenn du <strong>und</strong> deine<br />
Fre<strong>und</strong>e ihn wagen wollt, werde ich euch helfen. Es liegt<br />
eine große Prau am Fluß versteckt, ein paar Meilen vom<br />
Dorf <strong>die</strong> Küste hinab. Wir werden sie für euch ausrüsten,<br />
aber es wird Zeit benötigen. Wir werden nicht richtig<br />
bewacht, weil wir den Japanern keine Schwierigkeiten<br />
machen, aber sie gehen fast täglich im Kampong aus <strong>und</strong><br />
ein. Ein Offizier schläft jede Nacht hier. Alles was wir tun,<br />
muß mit äußerster Vorsicht getan werden.“<br />
254
„Wenn ihr jeden Tag in einem Haus am Rand des<br />
Kampongs Vorräte hinterlaßt, werden wir nachts kommen<br />
<strong>und</strong> sie zur Prau bringen“, sagte ihm Sarina. „So könnt ihr<br />
Beschuldigungen entgehen, wenn wir entdeckt werden. Ihr<br />
könnt sehr überrascht tun, wenn ihr bemerkt, daß jemand<br />
nachts ins Dorf gekommen ist <strong>und</strong> Nahrung gestohlen hat.“<br />
Alauddin Shah lächelte. „Du bist wahrlich eine Tochter<br />
von Big Jon“, sagte er.<br />
*<br />
Ein Monat verging, ein Monat knapp verhinderter<br />
Entdeckungen, ein Monat voll Nervenanspannung; aber<br />
schließlich war <strong>die</strong> Prau ausgerüstet. Und nun warteten sie<br />
auf eine mondlose Nacht <strong>und</strong> günstigen Wind. Stacheldraht<br />
<strong>und</strong> Verbauungen an der Flußmündung waren unberührt<br />
geblieben, bis <strong>die</strong> Prau bereit war. Jetzt mußten sie entfernt<br />
werden – ein gefährliches Vorhaben in Gewässern, <strong>die</strong> von<br />
Krokodilen bewohnt waren. Aber schließlich war auch das<br />
vollbracht.<br />
Endlich war sie da – <strong>die</strong> N-Nacht, wie sie sie nannten.<br />
Die Gezeiten stimmten. Dazu gab es gab einen lebhaften<br />
ablandigen Wind. Langsam stakten sie <strong>die</strong> Prau zum Meer<br />
hinunter. Das große Lateinersegel war gehißt. Nahe dem Lee<br />
am Strand nahm es wenig Wind auf, doch weiter draußen<br />
blähte es sich unter einer kräftigen Brise, <strong>und</strong> <strong>die</strong> Prau nahm<br />
Fahrt auf.<br />
Die Nacht war mondlos, doch klar. Sie setzten den Kurs<br />
nach Süden, mit dem Kreuz des Südens als Leitstern. Sie<br />
hatten ein einfaches Log <strong>und</strong> eine Logleine angefertigt, <strong>und</strong><br />
während <strong>die</strong> Knoten liefen, versuchten sie, ihre<br />
Geschwindigkeit zu schätzen. Sarina schätzte zwölf Knoten.<br />
Sie traf nicht weit daneben.<br />
„Wenn <strong>die</strong>ser Wind aushält“, sagte sie, „werden wir vor<br />
255
zwei Uhr morgen früh ein gutes Stück von der Südspitze der<br />
Insel Nassau entfernt sein. Dann werden wir einen<br />
südwestlichen Kurs nehmen. Ich möchte aus den<br />
Küstengewässern von Sumatra <strong>und</strong> Java herauskommen,<br />
bevor wir nach Südosten abschwenken, nach Australien. So<br />
werden wir Engano ausweichen. Dann werden uns nur noch<br />
<strong>die</strong> Kokos-Inseln Sorgen bereiten, was das Land betrifft. Ich<br />
weiß nicht, ob <strong>die</strong> Japaner irgendetwas dort haben.“<br />
„Sind das <strong>die</strong>selben wie <strong>die</strong> Keeling-Inseln?“, fragte Jerry.<br />
„Ja, aber mein Vater nannte sie immer <strong>die</strong> Kokos-Inseln,<br />
weil er sagte, Keeling war ein ‚verdammter Engländer’.“ Sie<br />
lachte, <strong>und</strong> <strong>Tarzan</strong> stimmte mit ein.<br />
„Keiner mag einen Engländer“, sagte er. „Aber ich bin<br />
nicht so sicher, daß Keeling ein Engländer war.“<br />
„Da ist ein Licht auf zwei Uhr“, sagte Davis.<br />
„Wahrscheinlich auf Nassau“, sagte Sarina. „Hoffen wir<br />
es, denn wenn’s nicht so ist, ist es eine Schiffsbeleuchtung;<br />
<strong>und</strong> mit Schiffen wollen wir nichts zu tun haben.“<br />
„Ich glaube nicht, daß ihre Schiffe Beleuchtung zeigen<br />
würden“, sagte Jerry. „Es gibt zu viele U-Boote der<br />
Alliierten in <strong>die</strong>sen Gewässern.“<br />
Der Morgen traf sie auf einem leeren Ozean an – nur ein<br />
riesiger r<strong>und</strong>er Kessel voll wogendem, grauem Wasser. Der<br />
Wind hatte aufgefrischt, <strong>und</strong> schwere Seen liefen. Sergeant<br />
Rosetti war krank. Zwischen Krämpfen bemerkte er: „Ich<br />
hab’ einen blöden Cousin. Er ging zur Navy.“ Nach einer<br />
Weile sagte er: „Jetzt wird’s nimmer lang dauern. Die Kiste<br />
wird nicht viel mehr aushalten, <strong>und</strong> mir kann’s nicht schnell<br />
genug geh’n. Ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich<br />
sterben wollt’.“ Dann lehnte er sich wieder über <strong>die</strong> Reling<br />
<strong>und</strong> übergab sich.<br />
„Kopf hoch, Shrimp“, sagte Bubonovitch. „Jetzt wird’s<br />
nicht mehr lang dauern, bis wir in Australien an Land gehen<br />
– vielleicht einen Monat oder so.“<br />
256
„Uije“, greinte Rosetti.<br />
„Du wirst <strong>die</strong> Übelkeit recht bald überstanden haben,<br />
Tony“, sagte Sarina.<br />
„Manche Admiräle werden jedes Mal krank, wenn sie<br />
nach Land<strong>die</strong>nst das erste Mal auf See gehen“, sagte <strong>Tarzan</strong>.<br />
„Ich will kein Admiral sein. Ich bin zu den Fliegern<br />
gegangen, <strong>und</strong> was krieg’ ich ab? Zwei, drei Monate lang<br />
bin ich ein Teigkloß; jetzt auch noch ein blauer Junge. Oje!“<br />
Er lehnte sich wieder über <strong>die</strong> Reling.<br />
„Armer Tony“, sagte Sarina.<br />
Die langen Tage verstrichen. Der Wind drehte gen<br />
Südosten. Der Südostpassat, der zehn Monate lang wehen<br />
würde, hatte begonnen. Sarina nahm lange Kurswechsel vor,<br />
erst nach Steuerbord <strong>und</strong> dann nach Backbord. Es war<br />
langsames Vorankommen, aber ihr Glück blieb ihnen treu.<br />
Sie waren nun schon weit über <strong>die</strong> Keeling-Inseln hinaus,<br />
<strong>und</strong> kein feindliches Schiff zeigte sich.<br />
Douglas, der den Ausguckposten übernommen hatte, kam<br />
nach achtern. „Es ist eine schreckliche Menge Wasser“,<br />
sagte er. „Beim Drüberfliegen schaut’s fürchterlich groß aus<br />
– ich meine den Pazifik. Aber hier unten auf der Oberfläche<br />
scheint’s, als gäbe es nichts als Wasser auf der Welt. Dabei<br />
ist das nur der Indische Ozean, der nicht einmal ein Tropfen<br />
im Kübel ist neben dem Pazifik. Es läßt einen ziemlich klein<br />
<strong>und</strong> unbedeutend wirken.“<br />
„Bestimmt gibt’s eine Menge Wasser auf der Welt“,<br />
stimmte van der Bos zu.<br />
„Drei Viertel der ganzen Erdoberfläche sind Wasser“,<br />
sagte Corrie.<br />
„Und der Pazifik besitzt eine größere Fläche als alle<br />
Landoberflächen der Erde zusammen“, sagte Jerry.<br />
„Wenn’s mir gehören würde“, sagte Rosetti, „tät’ ich das<br />
ganze verdammte Zeug für irgendeine alte Straßenecke von<br />
Chicago eintauschen.“<br />
257
„Was ich dran nicht mag“, sagte Douglas, „ist der totale<br />
Mangel an Landschaft. Na, in Kalifornien –“<br />
„Er fängt schon wieder an“, sagte Bubonovitch.<br />
„Aber irgendwie hat er schon Recht“, sagte Davis. „Gott!<br />
Wie gern würd’ ich eine Kuh sehen – nur eine schäbige<br />
kleine Kuh tief im Herzen von Texas.“<br />
„Ich wär’ mit Land zufrieden, mit irgendeinem echten<br />
Land, jetzt gleich“, sagte Rosetti. „Sogar Brooklyn würd’<br />
mir gefallen. Könnt’ sogar dort bleiben. Mir reicht’s mit<br />
dem Reisen.“<br />
„Reisen bildet, Shrimp“, sagte Bubonovitch. „Schau nur,<br />
was es dir gebracht hat. Du magst einen Engländer, du liebst<br />
ein Weibsbild, <strong>und</strong> dank Sarina hast du halbwegs<br />
verständliches Englisch sprechen gelernt.“<br />
„Sehr gebildet bin ich in letzter Zeit nicht worden“, klagte<br />
Rosetti. „Wochenlang haben wir nix geseh’n als wie<br />
Wasser. Ich will was anderes seh’n.“<br />
„Rauch aus elf Uhr!“, rief Jerry, der als Ausguck nach<br />
vorn gegangen war. Sarina lächelte. Die Fliegermethode der<br />
Richtungsangabe amüsierte sie immer, aber sie mußte<br />
zugeben, daß sie praktisch war.<br />
Jeder schaute in <strong>die</strong> angegebene Richtung, wo sich knapp<br />
über dem Horizont ein schwarzer Fleck zeigte.<br />
„Vielleicht wirst du außer Wasser jetzt etwas anderes<br />
sehen, Shrimp“, sagte Davis. „Dein Wunsch wurde schnell<br />
erfüllt.“<br />
„Das muß ein Schiff sein“, rief Jerry, „<strong>und</strong> ich glaube, wir<br />
gehen ihm lieber aus dem Weg.“<br />
„Nach fünf Uhr hin?“, sagte Sarina.<br />
„Genau“, sagte Jerry, „<strong>und</strong> pronto.“<br />
Sie brachten es fertig <strong>und</strong> segelten vor dem Wind in<br />
nordwestlicher Richtung, ständig den schwarzen Fleck im<br />
Auge behaltend. „Es könnte britisch sein“, sagte Corrie<br />
hoffnungsvoll.<br />
258
„Mag sein“, stimmte Tak ihr zu, „aber wir können kein<br />
Risiko eingehen. Es kann genauso gut ein Japaner sein.“<br />
Für längere Zeit schien es, als gäbe es keine<br />
bemerkenswerte Veränderung in der Erscheinung des Dings,<br />
das sie so besorgt beobachteten; dann erfaßten <strong>Tarzan</strong>s scharfe<br />
Augen den Aufbau eines Schiffes, der sich über den Horizont<br />
erhob. Einige Minuten lang hielt er sorgfältig Ausschau. „Es<br />
ist dabei, grad unseren Kurs zu kreuzen“, sagte er. „Es wird<br />
achtern vorbeikommen, aber sie werden uns sichten müssen.“<br />
„Wenn’s ein Japaner ist“, sagte Sarina, „hält er auf<br />
Sumatra oder Java zu. Unsere einzige Chance ist es, <strong>die</strong>sen<br />
Kurs zu halten <strong>und</strong> zu beten – beten um Wind <strong>und</strong> noch<br />
mehr Wind. Wenn es eins von <strong>die</strong>sen kleinen japanischen<br />
Handelsschiffen ist, können wir davon segeln, falls der<br />
Wind auffrischt. Sonst, wenn wir unseren Vorsprung bis zur<br />
Dunkelheit halten können, entkommen wir ihm so.“<br />
Die Prau schien sich nie zuvor so langsam bewegt zu<br />
haben. Aus angestrengten Augen beobachteten sie wie <strong>die</strong><br />
Bedrohung anwuchs, während der Schiffsrumpf über den<br />
Rand der Welt kletterte. „Es ist wie in einem Alptraum“,<br />
sagte Corrie, „wenn einen etwas Schreckliches jagt, <strong>und</strong><br />
man kann sich nicht bewegen. Und der Wind legt sich.“<br />
„Ihr Leute betet nicht eifrig genug“, sagte Rosetti.<br />
„Alles, was mir einfällt“, sagte Davis, „ist jetzt: Bevor ich<br />
mich zur Ruh’ begeb’, <strong>und</strong> an den Rest kann ich mich nicht<br />
erinnern.“<br />
Eine plötzliche Windbö blähte das große Segel, <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />
Geschwindigkeit der Prau erhöhte sich merklich. „Jemand<br />
hat’s geschafft“, sagte Douglas.<br />
Aber das fremde Schiff näherte sich ihnen weiter. „Es hat<br />
den Kurs gewechselt“, sagte <strong>Tarzan</strong>. „Es hält auf uns zu.“<br />
Einen Moment später sagte er: „Ich kann jetzt seine Flagge<br />
erkennen. Es ist wirklich ein Japaner.“<br />
„Ich hätte zur Kirche gehen sollen, wie es Mama immer<br />
259
von mir wollte“, sagte Davis. „Ich hätte ein paar gute Gebete<br />
gelernt. Aber ich kann nicht besonders gut beten“, sagte er<br />
einen Augenblick später. „Dafür kann ich bestimmt gut<br />
schießen.“ Er ergriff sein Gewehr <strong>und</strong> lud mit einem<br />
Magazin durch.<br />
„Wir alle können gut schießen“, sagte Jerry, „aber wir<br />
können mit dem, was wir zum Schießen haben, kein Schiff<br />
versenken.“<br />
„Das ist ein schwach bewaffneter Kauffahrer“, sagte<br />
<strong>Tarzan</strong>. „Er hat wahrscheinlich 20mm-Flak-Kanonen an<br />
Bord <strong>und</strong> Maschinengewehre vom Kaliber 30.“<br />
„Ich glaub’, der ist uns über“, sagte Bubonovitch mit<br />
trockenem Grinsen.<br />
„Die Reichweite der 20er liegt nur bei 1.100 Meter“,<br />
sagte Jerry. „Diese Bolzengewehre werden weiter reichen.<br />
Wir müßten ein paar Nips erwischen können, bevor sie uns<br />
erledigen – das heißt, wenn ihr Leute kämpfen wollt.“ Er<br />
schaute sie der Reihe nach an. „Wir können uns ergeben,<br />
oder wir können kämpfen. Was sagt ihr?“<br />
„Ich sag’ kämpfen“, sagte Rosetti.<br />
„Überlegt euch das gut“, ermahnte sie Jerry. „Wenn wir<br />
den Kampf aufnehmen, werden wir alle getötet.“<br />
„Ich hab’ nicht vor, mich von <strong>die</strong>sen gelben H<strong>und</strong>esöhnen<br />
noch einmal herumtreten zu lassen“, sagte Bubonovitch.<br />
„Wenn ihr anderen nicht kämpfen wollt, werde ich’s auch<br />
nicht, aber lebend kriegen sie mich nicht.“<br />
„Mich auch nicht“, sagte Corrie. „Wie steht’s mit dir,<br />
Jerry?“<br />
„Kämpfen, natürlich.“ Er schaute <strong>Tarzan</strong> an. „Und Sie?“<br />
<strong>Tarzan</strong> lächelte ihn an. „Was glaubt ihr?“<br />
„Will sich jemand statt zu kämpfen lieber ergeben?“<br />
Niemand wollte es. „Dann überprüfen wir lieber unsere<br />
Gewehre <strong>und</strong> laden sie. Und ich darf abschließend sagen, es<br />
war schön mit euch.“<br />
260
„Das klingt schrecklich endgültig“, sagte Corrie, „selbst<br />
wenn du es scherzhaft gemeint hast.“<br />
„Ich fürchte, es ist – endgültig, <strong>und</strong> kein Scherz.“<br />
Der Kauffahrer schloß jetzt rasch zu ihnen auf, denn nach<br />
der einen günstigen Bö hatte sich der Wind zu einer Brise<br />
abgeschwächt, <strong>die</strong> nicht einmal das Dreieckssegel der Prau<br />
füllte.<br />
„Ziemlich lange hatten wir sehr viel Glück“, sagte Tak.<br />
„Nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit wäre es so weit,<br />
daß <strong>die</strong> Zeit unseres Glücks ablaufen sollte.“<br />
Einem roten Aufblitzen an Bord des Japaners folgte eine<br />
Rauchwolke. Einen Moment darauf explo<strong>die</strong>rte eine Granate<br />
viel zu kurz vor ihnen.<br />
„Lady Luck macht sich auf <strong>die</strong> Socken“, sagte Rosetti.<br />
261
Kapitel 30<br />
„Schöne Artillerie!“, sagte Bubonovitch. „Der arme Tölpel<br />
kennt nicht einmal <strong>die</strong> Reichweite seines Geschützes.“<br />
„Wahrscheinlich haben ihm <strong>die</strong> Finger gejuckt“, sagte<br />
Douglas.<br />
„Ich bezweifle, daß <strong>die</strong> kleinen Admiräle ihre besten<br />
Artillerie-Offiziere an Bord kleiner Kauffahrer einsetzen“,<br />
sagte Jerry. „Also hält unser Glück vielleicht noch an.“<br />
Die Prau kam nun kaum noch voran, während sie sich auf<br />
langer Dünung hob <strong>und</strong> senkte. Der Bug des sich nähernden<br />
Schiffes durchpflügte das tiefe Blau des Ozeans <strong>und</strong> warf<br />
weißes Wasser auf, wie der Pflug aus fruchtbarem<br />
Ackerboden Erdschollen aufwirft.<br />
Abermals feuerte der Japaner. Dieses Geschoß ging zu<br />
weit, aber nicht so viel. Jerry <strong>und</strong> Corrie saßen nahe<br />
beisammen, eine seiner Hände lag auf einer von ihr. „Ich<br />
glaube, van Prins hatte Recht“, sagte Jerry. „Er sagte, wir<br />
wären verrückt. Ich hätte dich nicht mitnehmen sollen,<br />
Liebling.“<br />
„Ich hätte es nicht anders haben wollen“, sagte Corrie.<br />
„Wir haben so viel Zeit zusammen gehabt, <strong>die</strong> wir nicht<br />
gehabt hätten, wenn ich nicht mit dir mitgekommen wäre.<br />
Ich hatte nie <strong>die</strong> Gelegenheit zu sagen, ‚in guten <strong>und</strong> in<br />
schlechten Tagen’, aber in meinem Herzen war es immer.“<br />
Er lehnte sich näher zu ihr. „Willst du, Corrie, <strong>die</strong>sen<br />
Mann als deinen Ehegatten nehmen?“<br />
„Ich will“, sagte Corrie sehr leise. „Willst du, Jerry, <strong>die</strong>se<br />
Frau als deine Ehegattin nehmen, sie ehren <strong>und</strong> beschützen,<br />
bis daß der Tod euch scheidet?“<br />
„Ich will“, sagte Jerry ein wenig heiser. Er streifte den<br />
College-Ring von seinem Finger <strong>und</strong> steckte ihn an Corries<br />
262
Ringfinger. „Mit <strong>die</strong>sem Ring nehme ich dich zur Frau, <strong>und</strong><br />
damit vertraue ich dir all meinen weltlichen Besitz an.“<br />
Dann küßte er sie.<br />
„Ich glaube“, sagte Corrie, „was <strong>die</strong> Zeremonie betrifft,<br />
war unser Gedächtnis ein wenig schwach; aber im<br />
Wesentlichen haben wir’s getroffen. Und ich fühle mich<br />
sehr fest verheiratet, Liebster.“<br />
Ein naher Fehltreffer überschüttete sie mit Wasser. Sie<br />
schienen es nicht zu bemerken.<br />
„Meine Frau“, sagte Jerry, „so jung <strong>und</strong> so schön.“<br />
„Frau!“, wiederholte Corrie.<br />
„Der Kerl schießt sich ein“, sagte Rosetti.<br />
Eine Haiflosse durchschnitt das Wasser zwischen der<br />
Prau <strong>und</strong> dem Japaner. Der kleine Keta betrachtete sie, zum<br />
Glück nicht ahnend, was sie bedeutete. <strong>Tarzan</strong> richtete<br />
Kimme <strong>und</strong> Korn seines Gewehres aus <strong>und</strong> feuerte auf <strong>die</strong><br />
Gestalten entlang der Reling des Japaners. Die anderen<br />
folgten seinem Beispiel, <strong>und</strong> bald blitzten zehn Gewehre<br />
auf. Wenn sie schon sonst nichts erreichten, so leerte sich<br />
<strong>die</strong> Reling von Zaungästen <strong>und</strong> verursachte viel<br />
Durcheinander an Bord des Kauffahrers. Doch sie erreichten<br />
noch etwas anderes: Sie trieben <strong>die</strong> Flak-Schützen zu<br />
hektischer Aktivität. Granattreffer löcherten den Ozean.<br />
„Wenn ihre Munition ausreicht“, sagte Rosetti, „müssen<br />
sie uns einmal zufällig treffen. Pfui! So ein lausiges<br />
Geballer!“<br />
Schließlich kam es, wie es kommen mußte, sie wußten es<br />
– ein direkter Treffer. Jerry sah, wie <strong>die</strong> Hälfte von Sing<br />
Tais Körper fünfzig Fuß hoch in <strong>die</strong> Luft geschleudert<br />
wurde. Tak van der Bos’ rechtes Bein wurde abgerissen.<br />
Die ganze Gruppe wurde ins Meer geworfen; dann drehte<br />
der Japaner bei <strong>und</strong> begann mit Maschinengewehren auf sie<br />
zu feuern, während sie schwammen oder sich an<br />
Wracktrümmer klammerten. Das Ziel der Schützen war<br />
263
abscheulich, aber wieder sahen sie ein, daß <strong>die</strong>s das Ende für<br />
<strong>die</strong> <strong>Fremdenlegion</strong> war – daß irgendwann einige <strong>die</strong>ser<br />
H<strong>und</strong>erte pfeifender Kugeln sie alle treffen würden.<br />
Bubonovitch <strong>und</strong> Douglas hielten van der Bos, der<br />
bewußtlos war, über Wasser. Jerry versuchte sich zwischen<br />
Corrie <strong>und</strong> den Maschinengewehren zu halten. Plötzlich<br />
begann etwas van der Bos hinabzuziehen. Einer von<br />
Bubonovitchs Füßen traf auf einen festen Körper, der unten<br />
schwamm. „Mein Gott!“, schrie er. „Ein Hai hat Tak<br />
erwischt.“ R<strong>und</strong> um sie schwirrte das Wasser vor<br />
Querschlägern.<br />
<strong>Tarzan</strong>, den <strong>die</strong> Explosion etwas weiter weg geschleudert<br />
hatte, schwamm auf Bubonovitch <strong>und</strong> Douglas zu, nachdem<br />
er den Warnruf des Ersteren gehört hatte. Schnell tauchte er<br />
<strong>und</strong> zog sein Messer. Ein paar flinke, kräftige Tempi<br />
brachten ihn nahe an den Hai heran. Ein mächtiger Streich<br />
mit seinem Messerarm riß den Bauch des riesigen Fisches<br />
auf <strong>und</strong> <strong>die</strong> Gedärme heraus.<br />
Er ließ van der Bos los <strong>und</strong> wandte sich <strong>Tarzan</strong> zu, aber<br />
der Mann entging seinem Maul <strong>und</strong> stach wieder <strong>und</strong> wieder<br />
mit dem Messer zu.<br />
Das Wasser war rot vom Blut, da schoß ein anderer Hai<br />
herbei <strong>und</strong> attackierte seinen Genossen. Der erste Hai<br />
schwamm schwerfällig davon, während der andere ihn biß<br />
<strong>und</strong> an ihm zerrte. Für den Augenblick waren <strong>die</strong><br />
Überlebenden <strong>die</strong> eine Bedrohung los, aber <strong>die</strong> Kugeln<br />
schlugen immer noch in der Nähe ein.<br />
Mit <strong>Tarzan</strong>s Hilfe brachten Bubonovitch <strong>und</strong> Douglas van<br />
der Bos an ein großes Wrackstück heran – an den Teil eines<br />
Auslegers. <strong>Tarzan</strong> riß einen Streifen von dem, was von van<br />
der Bos’ Hosen übriggeblieben war, <strong>und</strong> während er <strong>und</strong><br />
Douglas den Mann auf dem Bruchstück festhielten, legte<br />
Bubonovitch einen Verband an. Tak atmete noch, doch war<br />
er zum Glück bewußtlos.<br />
264
Bubonovitch schüttelte den Kopf. „Er hat keine Chance“,<br />
sagte er. „Aber wir auch nicht.“<br />
„Die Haie werden heute eine Menge gutes Futter<br />
bekommen“, sagte Douglas.<br />
Sie schauten alle auf das japanische Schiff. Wieder war<br />
<strong>die</strong> Reling mit o-beinigen kleinen Männern besetzt. Einige<br />
von ihnen schossen mit Pistolen auf <strong>die</strong> Leute im Wasser.<br />
Keta, der auf einem Wrackstück hockte, schimpfte <strong>und</strong><br />
drohte.<br />
Da gab es eine schreckliche Explosion. Ein großes,<br />
fächerförmiges Flammenbündel schoß von mittschiffs des<br />
Kauffahrers H<strong>und</strong>erte Fuß hoch in <strong>die</strong> Luft, <strong>und</strong> eine<br />
Rauchsäule erhob sich noch H<strong>und</strong>erte Fuß höher. Eine<br />
zweite Explosion folgte, <strong>und</strong> das Schiff brach entzwei, den<br />
Bug fast über das Wasser schleudernd. Die beiden Hälften<br />
versanken fast unmittelbar <strong>und</strong> hinterließen ein paar<br />
versengte <strong>und</strong> schreiende Geschöpfe, <strong>die</strong> in brennendem Öl<br />
zappelten.<br />
Ein paar Augenblicke lang schauten <strong>die</strong> Überlebenden der<br />
Prau in gelähmtem Schweigen, das dann von Rosetti<br />
durchbrochen wurde. „Ich wußte, sie würde mich erhören“,<br />
sagte er. „Sie hat mich noch nie im Stich gelassen.“<br />
„Sie wird noch ein paar echte W<strong>und</strong>er wirken müssen, um<br />
uns aus der Mitte des Indischen Ozeans herauszuholen,<br />
bevor wir ertrinken oder <strong>die</strong> Haie uns kriegen“, sagte Jerry.<br />
„Bete höllisch, Shrimp“, sagte Bubonovitch.<br />
„Glaub’ nicht, ich tät’s nicht, Bruder“, sagte Rosetti.<br />
„Schaut! Schaut!“, rief Corrie <strong>und</strong> zeigte auf etwas.<br />
Zwei- oder dreih<strong>und</strong>ert Meter jenseits des brennenden Öls<br />
tauchte ein U-Boot auf. Der Union Jack leuchtete von der<br />
Seite seines Kommandoturms.<br />
„Da hast du dein W<strong>und</strong>er, Captain“, sagte Rosetti. „Sie<br />
hat mich noch nie im Stich gelassen. Ich meine, in einer<br />
wirklichen Klemme.“<br />
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„Was halten Sie jetzt von den Briten, Sergeant?“, fragte<br />
<strong>Tarzan</strong> grinsend.<br />
„Ich liebe sie“, sagte Rosetti.<br />
Das U-Boot umfuhr gegen den Wind das brennende Öl<br />
<strong>und</strong> zog längsseits des Wracks der Prau. Die Luke spuckte<br />
Männer aus, um <strong>die</strong> Schiffbrüchigen an Bord zu holen.<br />
<strong>Tarzan</strong> <strong>und</strong> Bubonovitch übergaben van der Bos zuerst. Er<br />
starb, während sie ihn vorsichtig aufs Deck legten.<br />
Corrie <strong>und</strong> Sarina folgten, <strong>und</strong> dann <strong>die</strong> Männer.<br />
Lieutenant Commodore Bolton, der Skipper des U-Boots,<br />
war voller Staunen <strong>und</strong> Fragen. Corrie kniete neben van der<br />
Bos’ Leichnam hin <strong>und</strong> versuchte, <strong>die</strong> Tränen<br />
zurückzuhalten. Jerry kam zu ihr.<br />
„Armer Tak“, sagte sie.<br />
Sie nahmen ihn nicht mit hinunter. Er wurde auf See<br />
begraben, Bolton verlas <strong>die</strong> letzten Worte. Dann gingen sie<br />
alle hinunter, erhielten trockene Kleidung <strong>und</strong> heißen<br />
Kaffee, <strong>und</strong> bald schienen Trauer <strong>und</strong> Niedergeschlagenheit<br />
gemindert, denn sie waren alle jung <strong>und</strong> hatten genug vom<br />
Tod gesehen.<br />
Als Bolton ihre Geschichte hörte, sagte er: „Nun, ihr<br />
hattet von Anfang an Glück in <strong>die</strong>sem Spiel; aber daß ich<br />
zufällig gerade da war, wo ihr mich brauchtet, ist nicht viel<br />
weniger als ein W<strong>und</strong>er.“<br />
„Glück war’s nicht, Sir“, sagte Rosetti. „Es war <strong>die</strong><br />
heilige Maria, Mutter Jesu, vom Anfang bis zum Ende, das<br />
W<strong>und</strong>er eingeschlossen.“<br />
„Ich will es gern glauben“, sagte Bolton, „denn keiner<br />
von euch sollte noch am Leben sein, nach allen Gesetzen der<br />
Wahrscheinlichkeit. Nichts außer göttlichem Eingreifen<br />
könnte euch gerettet haben. Es war sogar arrangiert, daß ich<br />
mir meine letzten zwei ‚Fische’ für <strong>die</strong>sen Japaner<br />
aufgespart habe. Ihr müßtet wirklich alle tot sein.“<br />
„Bestimmt half uns Maria aus der Klemme“, sagte Jerry,<br />
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„aber wenn <strong>Tarzan</strong> nicht ständig bei der ganzen<br />
Angelegenheit dabei gewesen wäre <strong>und</strong> sich für sie um <strong>die</strong><br />
Klemmen gekümmert hätte, wären wir schon vor Monaten<br />
gescheitert.“<br />
„Nun“, sagte Bolton, „ich glaube, ihr braucht von jetzt an<br />
weder Maria noch <strong>Tarzan</strong> anrufen. Ich bin nach Sydney<br />
beordert, <strong>und</strong> es wird jetzt nicht mehr lang dauern, bevor ihr<br />
euch in Usher’s Hotel hinsetzen könnt, mit einem Steak <strong>und</strong><br />
Kidney Pie vor euch.“<br />
„Und warmes Bier trinken,“ sagte Bubonovitch.<br />
Später an <strong>die</strong>sem Abend erschienen Jerry <strong>und</strong> Rosetti bei<br />
Bolton. „Captain“, sagte jener, „sind Sie berechtigt,<br />
Heiratszeremonien auf See vorzunehmen?“<br />
„Sicherlich bin ich das.“<br />
„Dann hab’n Sie jetzt gleich zwei zu erledigen, Skipper“,<br />
sagte Rosetti.<br />
Ende<br />
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