Fremdkörper Magazin 01/2018
Auf Entdeckungsreise in der Innen- und Aussenwelt, auf Spurensuche in neuen und altbekannten Gefilden.
Auf Entdeckungsreise in der Innen- und Aussenwelt, auf Spurensuche in neuen und altbekannten Gefilden.
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Der Suppentopf
© Lunacat (2001)
01 I 2018
Auf Entdeckungsreise in
der Innen- und Aussenwelt,
auf Spurensuche in neuen
und altbekannten Gefilden.
FRE
MD
KÖR
PER
Kuratiert von welcome home und Lissan
1
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2
Fremdkörper
Lesen, was andere geschrieben haben.
Selbst schreiben, damit andere lesen. Darüber
reden. Diskutieren. An Kritik wachsen.
Sich über Lob freuen. Besser werden.
Sich frei schreiben.
Alle Texte in dieser Anthologie sind so
publiziert, wie sie von den Jugendlichen auf
schreibdichfrei.net freigegeben wurden.
Einige der Texte sind an der „Sommerakademie“,
einem nationalen Kongress für
Kinder- und Jugendförderung, entstanden.
3
Editorial
Hallo zusammen!
Fremdkörper, ein sehr breit gefächertes Thema,
welches in vielen verschiedenen Lebenslagen und
Situationen zu finden ist. Eine klare Definition für
Fremdkörper gibt es nicht. Für manche sind der eigene
Körper und die eigene Identität ein Fremdkörper, für
andere erst etwas aus dem All. Zudem kann man sich in
einem Land, in einer Stadt oder in einer Menschengruppe
selbst als Fremdkörper fühlen, sei es durch die Sprachdifferenzen,
die Kultur, das Alter oder die Hautfarbe.
Da Fremdkörper so schwer zu definieren ist, standen
wir bei der Auswahl der Texte vor einer grossen Herausforderung.
Was ist Fremdkörper? Ist ein Text, der durch
seine spezielle Schreibweise heraussticht, in sich selbst
auch ein Fremdkörper? Sehen andere ihn ebenfalls so?
Während dem Auswahlverfahren haben wir immer
wieder Texte und Geschichten gefunden, die uns sofort
auf gefallen sind. Vor allem durch ihre interessanten
Themen, ihre andere Sichtweise auf Dinge,
tolle literarische Leistungen und vieles mehr.
Wir wünschen euch viel Vergnügen beim
Eintauchen in unsere Auswahl.
4
Inhalt
Der Suppentopf I Lunacat 06
Mein Freund aus der Hülle I Gioia 08
Anders I Theresbeautyineverything 12
Wegen dir I m?s??r? 16
Liebe aus zwei Welten I Eywlinn 20
Sie I Starlight 22
Anders sein I Theresbeautyineverything 26
Mein Hase Hamster I Lissan 28
Die Bedeutung des Wortes Alleine I Jana Biancowich 32
Ansichtssache I welcome home 34
Ein Schatten meiner selbst I Leralya 36
Regeln I Sophie 40
Der orange Ball I Niki 42
Violinisten I Morgennebel 46
Fremdkörper und Minderheiten
in der Schweiz – Gedanken I Lissan 52
Frieden – Meine Flucht I Burning Tree 56
-
Impressum 62
5
SUP
PEN
TOPF
veröffentlicht 29. Mai 2017
Der Suppentopf
© Lunacat (2001)*
*taucht gerne in fremde Tintenwelten ein
und erweckt Buchstaben zum Leben.
Der Suppentopf www.schreibdichfrei.net/texte/text/3215
Die Weihnachtsgesellschaft sass um den
grossen Tisch, den Oma Trude mit ihrem
besten Silberbesteck gedeckt hatte.
Alle waren angespannt und bemühten sich, ihre
Teller zu bestaunen, etwas in ihrer Tasche zu
suchen oder leise zu hüsteln. Hätte jemand einen
Bissen der Luft probiert, hätte er den sauren Geschmack
der Anspannung, das kräftige, metallene
Aroma der Abscheu und das bittersüsse der falschen
Höflichkeit schmecken können. Doch kein
Gast hatte genügend Fantasie, um einen Bissen Luft
zu nehmen.
Als Oma Trude mit der grossen Suppenterrine aus
Porzellan ins Zimmer kam, rutschten alle höflich
räuspernd zurück. Oma Trude stellte das Gefäss auf
ein selbstgehäkeltes Untersetzerchen und öffnete
den Deckel. Die Terrine war leer. Unbeirrt dessen
begann Oma Trude mit einem grossen Suppenlöffel
die nicht vorhandene Suppe in ihre besten Porzellanteller
zu giessen. Die Gesellschaft sah sich
an, doch niemand wagte es, etwas einzuwenden.
Jeder hoffte auf den grössten Anteil des Erbes und
wollte die alte Dame nicht verärgern. So begannen
sie zu essen. Sie schmeckten nichts. Wieder fehlte
den Sitzenden der Mut zum Unrealistischen, der sie
die Leere ihrer eigenen Seelen auf der Zunge hätte
schmecken lassen können.
7
MEIN
FREUND
AUS
DER
HÜLLE
veröffentlicht 8. Mai 2013
Mein Freund aus der Hülle
© Gioia (1990)*
*denkt anders und fühlt viel, diese Gefühle
versucht sie in Worte zu fassen.
Mein Freund aus der Hülle www.schreibdichfrei.net/texte/text/925
Der ganze Körper bebt vor Schmerzen.
Ich laufe hin und her. Sitze ab und stehe im
gleichen Moment aber wieder auf. Bleibe
regungslos stehen mit der Hoffnung, dass ich
so meine Schmerzen ausbalan cieren kann.
Einen Moment lang gelingt es mir auch.
Ich schliesse meine Augen und atme tief durch.
Der Glauben,
dass es vorbei ist,
lässt mich etwas zur Ruhe kommen.
Kurzer Augenblick später reisse ich meine Augen
wieder auf.
Eine Schmerzwelle nach der anderen bricht über
meinen Körper her.
Tränen kullern mir über die Wangen.
Ich flüstere leise vor mich hin,
dass dieser Alptraum doch endlich aufhören soll!
In der Wut schlage ich mit meiner Faust
ein zwei Male auf meinen Oberschenkel.
Ein anderer Schmerz,
der mich ein paar Sekunden ablenkt vom eigentlichen
geschehen.
Ich schluchze.
Der Schmerz verwandelt sich in ein pochendes stechen.
Laufe so schnell wie ich kann wieder hin und her.
Ein kurzer Blick in den Spiegel zeigt,
9
Mein Freund aus der Hülle
© Gioia (1990)
dass sich erste Erschöpfungsmerkmale auf
meinem Gesicht abzeichnen.
Kraftlos lasse ich mich auf mein Bett fallen.
Den Kopf ins Kissen gedrückt möchte ich am
liebsten sterben.
Doch auch im weichen Bett begleitet mich der
Schmerz.
Ich drehe mich auf die Seite,
auf den Bauch oder Rücken
und doch lässt er mich nicht in Ruhe.
Schlafen wurde in diesem Bett zur Seltenheit.
Ich denke darüber nach,
mir ein warmes Bad einzulassen.
Am Anfang dieser langen Leidenszeit brachte
das warme Wasser
eine Minderung der Schmerzen.
Doch mir wird schnell klar,
dass mein Schmerz resistent gegen das Wasser
geworden ist in den letzten paar Tagen.
Mein Freund aus der Hülle www.schreibdichfrei.net/texte/text/925
Der Wunsch ist gross,
die Schmerzen einfach von meinem Körper
ab schütteln zu können.
Doch die benötigte Kraft dafür hat mich schon
lange verlassen.
Dieser Wunsch kann mir nur mein bester
Freund erfüllen
– das Schmerzmittel.
10
Mein Freund aus der Hülle
© Gioia (1990)
Mein Freund aus der Hülle www.schreibdichfrei.net/texte/text/925
Viele verschiedene habe ich schon zu mir
genommen.
Manchmal vergraulten sie den Schmerz
blitzschnell.
Andere Male musste der Schmerz zuerst bekämpft
werden.
Und auch heute wird es wieder ein langer Kampf
geben,
doch der Sieger wird immer mein Körper sein.
Ich glaube stets daran.
11
AN
DE
RS
veröffentlicht 11. September 2016
Anders
© Theresbeautyineverything (2002)
*glaubt, dass 1000 Zeichen zu wenig sind, um sich
selbst zu beschreiben oder, dass sie sich selbst überhaupt
in einen Text packen kann.
Anders www.schreibdichfrei.net/texte/text/2960
Es ist das Jahr 2400. Es gibt keine Farben mehr.
Alles ist schwarz, weiss oder grau. Das Mädchen
sitzt einem Arzt gegenüber. Er beäugt
ihre bunte Kleidung und ihre blauen Augen.
Du bist anders“, stellt er fest und rümpft die Nase.
„Nein. Ich bin Katy“, erwidert das Mädchen und
schenkt dem Arzt ein Lächeln.“Ich habe nicht nach
deinem Namen gefragt.“ Der Arzt schaut sie streng
über den oberen Rand seiner Brille hinweg an.
„Ich will wissen, was mit dir passiert ist.“
„Ich war draussen und dann kamen Ihre Leute und
haben mich festgenommen. Das ist passiert“, erzählt
Katy und ihr Lächeln erstirbt. „Darum geht es nicht.
Ich will wissen, was passiert ist, dass du anders bist“,
sagt er. „Wieso bin ich anders?“, will sie wissen.
„Weil du bunt bist“, erklärt der Arzt ungeduldig.
Katy schaut an sich herunter, betrachtet ihre Haut
und ihre Kleidung. „Stimmt. Ich bin bunt“, stellt sie
fest. „Und wieso bist du bunt?“, hakt der Arzt nach
und trommelt mit seinem grauen Stift auf das Blatt
Papier, das vor ihm liegt. Sie zuckt mit den Schultern.
„Weil ich eben bunt bin. Ich habe mir das nicht ausgesucht,
genau so wenig wie sie es sich ausgesucht
haben, grau zu sein.“
Das bringt den Arzt einen Moment aus dem Konzept,
aber er fängt sich schnell wieder. „Grau ist gut.
13
Anders
© Theresbeautyineverything (2002)
Grau bedeutet Einigkeit. Und diese Einigkeit
zerstörst du.“
„Wie denn das? Es war nie meine Absicht, ihre
Einigkeit zu zerstören“, widerspricht sie.
„Du zerstörst sie, indem du bunt bist. Bunt ist
falsch.“
„Wieso ist bunt falsch? Vielleicht ist ja grau falsch.“
Der Arzt zögert. „Weil alle Menschen grau sind“,
sagt er dann.
„Vielleicht sind ja alle Menschen falsch“, sagt sie.
Anders https://www.schreibdichfrei.net/texte/text/2960
Er sagt nichts mehr, sondern schaut sich im Zimmer
um. Alles grau, schwarz und weiss. Bis auf den Tisch,
auf den Katy eine Hand gelegt hat. An der Stelle, an
der ihre Hand liegt, ist er nicht mehr grau, sondern
braun. Das Braun breitet sich langsam aus, bis es
den ganzen Tisch einnimmt.
Katy lächelt. „Sehen Sie?“ Sie verlässt das Zimmer.
Der Arzt versucht nicht, sie aufzuhalten.
Er bleibt einfach auf seinem Stuhl
sitzen und betrachtet den
Tisch.
14
Anders
© Theresbeautyineverything (2002)
15
WEGEN
DIR
veröffentlicht 23. Oktober 2017
Wegen dir
© m?s??r? (2003)*
*„Life is hard, but I‘m stronger“ ist ihr Motto
und dank Kunst und Schreiben kommt sie gut
mit diesem Leben klar.
Wegen dir www.schreibdichfrei.net/texte/text/3313
Ich wäre gerne gegangen, aber ich ging nicht.
Ich wäre echt gern normal angeschaut geworden,
aber ich lies es über mich ergehen.
Ich hätte mein normales Leben weiterführen
können, aber ich machte es nicht.
Ich hätte keine Sprüche einstecken müssen,
aber ich tat es.
Ich hätte immer das brave Mädchen bleiben können,
aber ich änderte mich.
Ich hätte alle Erwartungen erfüllen können,
aber dass tat ich nicht.
Ich hätte mich an die Regeln halten sollen,
aber ich brach sie.
Ich hätte all das tun können,
aber ich tat es nicht.
Wegen dir.
Du bist der Grund, warum mich Nachts die
Sehnsucht quält, und am Tag die Schuldgefühle.
Du bist der Grund, warum ich Tränen weine.
Aus Rührung und aus Kummer.
Du bist der Grund, warum ich alles vergesse,
und mich dann Frage ‚Will ich das überhaupt?‘
Du bist der Grund, dass ich es ignoriere wenn
jemand sagt; Das bist nicht du,
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Wegen dir
© m?s??r? (2003)
um mir danach den Kopf zu zerbrechen.
Du bist der Grund, warum ich mich selbst sein kann,
um mich danach nicht wieder zu erkennen.
Du bist der Grund, warum ich mich Verändere,
um mich nach dem Vergangenem zu sehnen.
Du bist der Grund, warum ich glücklich bin.
Du bist der Grund, warum ich traurig bin.
Du bist der Grund, warum ich lebe.
Wegen dir www.schreibdichfrei.net/texte/text/3313
18
Wegen dir
© m?s??r? (2003)
Wegen dir www.schreibdichfrei.net/texte/text/3313
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LIEBE
AUS
ZWEI
WELTEN
veröffentlicht 17. Januar 2017
Liebe aus zwei Welten
© Eywlïnn (1994)*
*schreibt, weil es ein Weg ist, innere Realitäten
freizugeben und Wirklichkeit werden zu lassen.
Liebe aus zwei Welten www.schreibdichfrei.net/texte/text/3080
Es ist als wäre ich von der Sonne
- oder vom Mond, wer weiss -
und du von den Sternen
und so als träfen wir uns auf der Erde
einem Ort für keinen von uns.
Gemeinsam aber haben wir die Kraft die
Grenzen von Welten zu sprengen und endlich
nach Hause zurückzukehren.
Doch wir könnten weder zu dir noch zu mir
denn der eine bliebe auf immer fremd und rastlos
während der andere sich in Geborgenheit verlöre
und unsere Besonderheit nähme ein Ende
und unsere Vertrautheit löste sich auf.
Wo also finden wir Frieden
wohin - sag mir -
kehren wir heim?
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SIE
veröffentlicht 10. Dezember 2016
Sie
© Starlight (2003)*
*hat dieses Gedicht spontan niedergeschrieben –
und freut sich, wenn die Leser von der Auflösung
überrascht werden.
Sie www.schreibdichfrei.net/texte/text/3048
Sie erwacht.
Langsam, ganz langsam,
zeigt sie sich der Welt.
Sie ist anders. Sie ist einsam.
Sie ist besonders.
Menschen zeigten mit dem Finger auf sie.
Pflanzen lachen.
Tiere starren.
Kinder staunen.
Erwachsene forschen.
Sie ist da.
Und auch nicht.
Sie wird bemerkt.
Und kaum beachtet.
Manchmal schafft es jemand näher heran.
Doch alle halten Abstand.
Sie ist zu anders.
Zu einsam.
Zu besonders.
23
Sie
© Starlight (2003)
Sie dreht ihre Runden.
Tag für Tag.
Und sieht so viel.
Liebe.
Verrat.
Frieden.
Kriege.
Gutes und Schlechtes.
Sie selbst wird jedoch kaum gesehen.
Und doch braucht man sie.
Ohne sie gäbe es kein Leben.
Keine Menschen.
Keine Pflanzen.
Tiere.
Kinder.
Erwachsene.
Sie www.schreibdichfrei.net/texte/text/3048
Ohne sie existiere keine Welt.
Universen.
Deshalb bleibt sie.
Vorerst.
Und schickt ihre Sonnenstrahlen zur Erde.
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25
AND
ERS
SEIN
veröffentlicht 28. Dezember 2016
Anders sein
© Theresbeautyineverything (2002)*
*wird von anderen Leuten als nett oder ein wenig
seltsam/verrückt beschreiben - je nachdem, wie
gut sie sie kennen.
Anders sein www.schreibdichfrei.net/texte/text/3055
Anders sein ist gut
Doch bist du nicht wie alle anderen,
ist hier keinen Platz für dich.
Anders sein ist gut
So lange du perfekt bist
So lange du ins Puzzle passt
So lange du das Bild nicht störst,
Das Bild unserer perfekten Welt,
So lange wie du gleich bist,
Darfst du anders sein
Denn wir feiern dich,
Wenn du anders bist
Schreiben Lieder darüber,
Anders zu sein
Schreiben Bücher darüber,
Anders zu sein
Doch wir selbst,
Bleiben unter unseresgleichen
Doch natürlich darfst du anders sein
So lange du bist wie wir
27
MEIN
HASE
HAMS
TER
veröffentlicht 13. Juli 2017
Mein Hase Hamster
© Lissan (1998)*
*freut sich über den Austausch auf schreibdichfrei.net. Denn dank diesem
kann man sich weiterentwickeln, findet sie. Der Beitrag ist an der Sommerakademie,
einem Kongress für Kinder- und Jugendförderung, entstanden.
Das Thema der Tagung war ebenfalls Fremdkörper.
Mein Hase Hamster www.infoklick.ch/sommerakademie/sommerakademie-2017/berichterstattung/hamsterhase
Mein Hase heisst Hamster“, erkläre ich
meinem Grossvater. „So so“, meint er und
denkt wahrscheinlich, dass ich nun endgültig
reif für die Psychiatrie bin.
Einmal, als er ein Wochenende auf mich aufpassen
sollte, ging er mit mir, anstatt wie versprochen
in den Zirkus, in eine Psychische Anstalt. Ich
hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank, tadelte er
mich, da ich eine Sonne mit Sonnenbrille malte. Ich
verstand ihn nicht. Ich musste ja auch eine Sonnenbrille
tragen, wieso also nicht auch die Sonne. Und
sowieso, was meint er mit diesen Tassen? Ich hatte
gar keine Tassen, da ich weder Tee, noch Kaffee und
schon gar keine heisse Milch mochte, antwortete ich
ihm verwirrt. Daraufhin packte er mich erzürnt an
meinem rechten Arm. Ich kreischte auf, denn er tat
mir weh. Doch umso mehr und lauter ich kreischte,
umso entschlossener war er, dass ich einen „Ecken
ab“ hatte.
Ich war heiser, als wir in dieses komische, friedlich
aussehende Haus eintraten. Deshalb war ich leider
nicht in der Lage, mich mündlich zu verteidigen.
Das machte die ganze Situation nur noch schlimmer.
Die freundliche Empfangsdame verstand mich
aber trotzdem. Mein Grossvater und ich wurden
getrennt, während meine Eltern informiert wurden
und mich bald darauf wieder abholten.
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Mein Hase Hamster
© Lissan (1998)
Seither habe ich grossen Respekt vor Ausflügen. Ich
traue mich nicht mehr immer, meine Meinung kund
zu tun. Na ja, es war eine ungewöhnliche Erfahrung,
welche aber trotzdem zu meinem Leben gehört.
„Ja, Grossvater, mein Hase heisst H-A-M-S-T-E-R“,
wiederhole ich. Obwohl er es immer noch nicht zu
begreifen scheint, mag ich ihn. Er ist ja schliesslich
mein Grossvater… und ich bin vielleicht auch nicht
immer ganz so pflegeleicht.
Mein Hase Hamster www.infoklick.ch/sommerakademie/sommerakademie-2017/berichterstattung/hamsterhase
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Mein Hase Hamster
© Lissan (1998)
DIE
BEDEUTUNG
DES
WORTES
ALLEINE...
veröffentlicht 6. Oktober 2014
Die Bedeutung des Wortes ALLEINE...
© jana biancowich (2003)*
*hat hier ihre Definition vom Alleinsein in Worte gefasst
und viele Leser mit ihrem Text berührt.
Die Bedeutung des Wortes ALLEINE... www.schreibdichfrei.net/texte/text/2209
Ich wache auf, ist alles nur ein Traum?
In meinem Kopf herrscht Leere,
wie ein weisser, kahler, fensterloser Raum...
Wie würdest du dich fühlen?
Sag, bin ich denn verrückt?
Die Wahrheit ist erdrückend,
dass ich jetzt nicht tot bin,
ist dass denn nur Glück?
Oder bin ich schon im Himmel...?
Der Boden, er ist grünlich,
doch ist es doch kein Schimmel...
Ich bin verlassen,
niemand ausser mir ist da.
Kein Tier, kein Baum, kein Mensch.
Ein Traum?
Das kann ich mir nicht vorstellen,
ich wünsche es so sehr,
dass ich aufwach und im Bett bin:
Wer würde mit mir tauschen.........?
Niemand, weil ich ja alleine bin......
33
AN
SICHTS
SACHE
veröffentlicht 2. Oktober 2016
Ansichtssache
© welcome home (1998)*
* liest und schreibt leidenschaftlich seit sie klein ist und
zählt Sigmund Freud zu ihren Lieblingsautoren.
Ansichtssache www.schreibdichfrei.net/texte/text/2976
Iiihh, die ist ja voll hässlich!“ sagte sie und
berührte angewidert die Spitze eines Blattes.
Ich sah sie verwundert an. Das Exemplar, welches vor ihr
stand, war nämlich eines der schönsten im ganzen Sortiment.
Missmutig drehte meine Schwester die Orchidee.
Sie hatte wunderschöne, starke Blätter und tolle, ineinander
verschlungene Blütenrispen. Es dauert ewig, bis die
einzelnen Triebe in die gewünschte Richtung wachsen
und es gelingt nur mit viel Liebe und Aufmerksamkeit.
Die meine Schwester nicht zu schätzen weiss. Vielleicht,
weil sie einfach keine Ahnung hat, was für eine Herausforderung
dieses Kunstwerk mit sich bringt.
Schon klar. Die Orchidee ist anders. Sie ist nicht wie die
anderen. Irgendjemand sah in ihr grosses Potenzial und
hat sie zu etwas Besonderem gemacht. Aber ist es denn
etwas schlechtes, besonders, etwas anders zu sein?
Hat nicht jeder und alles dieselbe Wertschätzung von
uns verdient? Es gibt sehr viele Beispiele. Sind Menschen
mit schwarzer Haut minderwertiger als weisse
Menschen? Sind Menschen schlechter, weil sie
durch ihre Gesundheit eingeschränkt werden? Sind
Männer besser als Frauen? Durch die Klischees und
Schönheits ideale werden wir sortiert, gruppiert, in
Schubladen gesteckt. Hübsch. Hässlich.
Ist nicht jeder schön, so wie er ist? Sollte nicht jedes Lebewesen
dieser Welt genau deswegen geliebt werden?
35
EIN
SCHAT
TEN
MEINER
SELBST
veröffentlicht 13. Juli 2017
Ein Schatten meiner selbst
© Leralya (2001) *
*„we all feel a little dark sometimes“, schreibt sie in ihrem schreibdichfrei.
net-Profil. Mit dem Schreiben bringt sie Licht ins Dunkle. Der Beitrag ist an
der Sommerakademie, einem Kongress für Kinder- und Jugendförderung,
entstanden. Das Thema der Tagung war ebenfalls Fremdkörper.
Ein Schatten meiner selbst www.infoklick.ch/sommerakademie/sommerakademie-2017/berichterstattung/schatten
Hätte man mich zuvor kennengelernt, hätte
man gesagt, ich sei ein Vorzeigemädchen.
Ein kluges, wohlerzogenes Kind, das das
Leben genoss und sein Bestes gab.
Doch es hatte sich einiges verändert. Ich war kein
Kind mehr. Meine Kindheit hatte ich auf einem
harten Weg hinter mir gelassen und ich wünschte, ich
könnte die Welt wieder in einer kindlichen Naivität
strahlen sehen. Ich hätte manchmal gerne etwas
Konkretes, was ich für meinen Schmerz verantwortlich
machen könnte. Aber das Problem lag bei mir.
Ich hatte viel zu hohe Erwartungen an andere und
das Leben.
Alles hatte damit begonnen, dass ich immer eine von
vielen war. Ich war kein Einzelkind. Ich war nie die
beste Freundin. Ich war nie diejenige, die man wählen
würde.
An sich war das kein Problem. Ich lernte, mich auf
andere zu konzentrieren. Mehr zu geben als zu nehmen.
Lernte, die Gefühle anderer zu erkennen und zu verstehen.
Zudem begann ich, mich zu verschliessen und
andere nicht mit meinen Problemen zu belästigen.
Doch irgendwann wurde es mir zu viel.
Man kann sich nicht ewig um andere kümmern und
sich vor den eigenen Gefühlen verstecken.
Und so kamen all die aufgestauten Gefühle der
37
Ein Schatten meiner selbst
© Leralya (2001)
Jahre, all der zurückgesteckte Schmerz und die vergessene
Wut, und frassen mich auf, sie wollten verarbeitet
werden, aber ich konnte nicht. Ich fühlte zu
viele verschiedene Gefühle und gleichzeitig fühlte
ich mich schwach und verloren.
Und so litt mein Schlaf, meine Gedanken liessen
mich nicht entkommen und hielten mich viele
Nächte wach. Durchgehend war ich erschöpft. Doch
noch immer nutzte ich die übrige Energie für andere,
nahm mich selbst zurück und akzeptierte, dass
andere mich nie so sehr lieben würden wie ich sie.
Ich war kaputt und ich wusste selbst nicht mehr,
wie ich je wieder mehr sein sollte als ein Schatten
meiner selbst. Ich liebte andere mehr als mich
selbst, ich fürchtete mich sogar vor mir. Ich konnte
nicht mehr. Es war nichts mehr übrig.
Es hatte sich einiges verändert.
Ich war kein Kind mehr.
„There is no great secret. You endure what is
unbearable, and you bear it. That is all.“
(Cassandra Clare, Clockwork Prince)
Ein Schatten meiner selbst www.infoklick.ch/sommerakademie/sommerakademie-2017/berichterstattung/schatten
38
Ein Schatten meiner selbst
© Leralya (2001)
39
REGELN
veröffentlicht 29. August 2015
Regeln
© Sophie ( 2003) *
*mag Fantasy und Tiere – und sie liest gerne.
Eigentlich ist sie ständig nur am Lesen!
Regeln www.schreibdichfrei.net/texte/text/2611
Ich hoffe, diese Regeln gefallen euch.
#1
Wenn man von Marsmenschen geschrumpft
wurde, ist es verboten durch Ravioli zu
schwimmen, da man mit einer Schlangenfrau kollidieren
könnte, worauf sie einem nicht die kalte Schulter
zeigen würde – nein, sie würde einem in eine
Zuckerdose stecken und diese verschliessen. Woraufhin
man wahrscheinlich sterben würde.
„Es ist auch verboten mit einem Saxophon Smarties
zu jagen“
„Warum?“
„Die Bäume haben nicht vergessen, dass sie, die
Ziegen und die Smarties ein Abkommen haben.
Statt knurrend an einem Diamantschleifer zu feilen,
würden sie uns den Krieg erklären.“
„Das stimmt nicht!“
„Dann geh mal mit einem Saxophon Smarties jagen.
Traust du dich?“
#2
Es ist Buchstaben verboten, in den Fluss zu
springen, wenn die Vögel grinsen. Vielmehr
sollte sich das ganze Alphabet an den Rockzipfel
des Yoghurtbechers hängen, wobei der dann einen
Beinbruch hätte, was auch nicht so toll wäre.
41
DER
ORANGE
BALL
veröffentlicht 11. April 2017
Der orange Ball
© Niki (1997) *
*versucht von jedem Text, den sie liest etwas zu lernen.
Die Idee zu diesem Text kam ihr, nachdem sie ein Video
zur Armut zu Sowjetzeiten gesehen hatte
Der orange Ball www.schreibdichfrei.net/texte/text/3158
Es war einer der härtesten Winter, die meine
Grossmutter je erlebt zu haben erzählte.
Der Schnee fiel, ohne, dass wir wussten, ob
es jemals aufhören würde.
Sämtliche Gewässer waren bis auf den Grund
eingefroren und wir mussten Eis und Schnee
auftauen, um unseren Durst zu stillen. Wenn abends
ein Brot zur Brühe auf dem Tisch lag, grenzte es an
ein Wunder.
An jenem Morgen wurde eines unserer Hühner tot
aufgefunden. Bei nächtlichen Minustemperaturen
erforen. Ein Verlust, den sich eine dürftige Bauernfamilie
nicht leisten durfte.
Es stand schlecht um uns. Besonders um Grossmutter,
die schon seit Wochen Suppe schlürfend im
Bett lag. Die Kälte ging ihr näher als dem Rest von
uns. Ich konnte damit leben. Ich musste. Schon immer
war es meine Aufgabe gewesen, die anderen vor
meine eigenen Bedürfnisse zu stellen, und das war
eine Sache, in der ich gut geworden war. Ich lebte, um
sie am Leben zu halten.
Es war ein Tag vor Neujahr. Seit Wochen hatte ich auf
diesen Tag hingearbeitet, geschuftet, gerackert, von
Sonnenaufgang bis weit nach Sonnenuntergang.
Ich war auf den Beinen, wenn der Rest meiner nicht
gerade kleinen Familie noch in tiefem Schlaf lag.
43
Der orange Ball
© Niki (1997)
Doch gerade diese Leute waren es, die mich am
Laufen hielten. Wenigstens in dieser einen Nacht
sollten sie glücklich sein. Dafür wollte ich sorgen.
Als ich an diesem Morgen das tote Huhn hinter dem
Haus im Schnee vergrub, hätte ich jeden ausgelacht,
der behauptet hätte, dass dieses Neujahr tatsächlich
ein besonderes werden würde.
Dicke Flocken fielen vom Himmel und ich glaubte,
die riesigen Schneeberge wachsen sehen zu
können. Bald würde keiner mehr wissen, wo das
Huhn vergraben lag. Zu meinen Füssen, dessen
war ich mir sicher, lag mein einstiger Garten.
Weh mütig dachte ich an all die Gemüse von satten
Farben, die ich mit jahrelanger Sorgfalt und Fürsorglichkeit
gross gezogen hatte. Jetzt lagen sie
tief unter dem Schnee, begraben und erdrückt
von einer schweren, eiskalten Masse. Ein bisschen
wie meine Hoffnung.
Der orange Ball www.schreibdichfrei.net/texte/text/3158
Ein leises dumpfes Geräusch, wie der Aufprall eines
hohlen Gegenstandes, war es, das mich aus meinen
Gedanken zurück in die Realität holte. Es schien
aus der Richtung gekommen zu sein, in der sich die
Küche befand. Leise, kaum vernehmbar, aber laut
genug, um meine Aufmerksamkeit zu gewinnen.
Ich watete zurück zum Haus, tiefe Stapfen hinterlassend.
Schnee drang von oben in meine Stiefel,
schob sich unter den Saum meiner Hose und ver
44
Der orange Ball
© Niki (1997)
Der orange Ball www.schreibdichfrei.net/texte/text/3158
wandelte sich in kaltes Wasser. Ich fluchte. In meinem
Schuh war es ein schlechter Durstlöscher.
Die Küchentür stand offen. Ein kalter Luftzug strich
an mir vorbei und brachte die Tür zum schwanken.
Einzelne Schneeflocken gelangten in den Innenraum
und schmolzen dahin, als sie den Boden
berührten. Ich zog meine Stiefel aus und liess sie
am Eingang stehen.
Ich blickte mich um. Nichts Ausserordentliches war
auszumachen. Alles schien an seinem gewöhnlichen
Platz zu sein.
Fast.
Erst beim zweiten Blick durch die Küche war es mir
aufgefallen. Wie konnte ich so etwas Markantes
übersehen? Die satte orange Farbe stand in starkem
Gegensatz zu dem traurigen Grau der Kücheneinrichtung.
Ich wusste weder, worum es sich bei dem
ballförmigen Ding handelte, welches ganz einsam
in der Mitte des alten Holztisches lag, noch wie es
dorthin gekommen war. Nie zuvor hatte ich etwas
der artiges gesehen.
45
VIO
LINIS
TEN
veröffentlicht 13. Juli 2017
46
Violinisten
© Morgennebel (2002)*
*ist eine kritische Leserin – auch bei ihren eigenen
Texten. Der Beitrag ist an der Sommerakademie, einem
Kongress für Kinder- und Jugendförderung, entstanden.
Das Thema der Tagung war ebenfalls Fremdkörper.
Violinisten www.infoklick.ch/sommerakademie/sommerakademie-2017/berichterstattung/violinisten
Die Wolkendecke, die dem Himmel jegliche
hypothetische Weite nahm, war durchbrochen
von vereinzelten Sonnenstrahlen.
Golden malten sie auf die farblosen Fassaden
der Häuser, auf den grauen Asphalt.
In einem Gleichschritt bewegten sich die Menschen
durch die Strassen, stets einer Richtung, einem
Weg folgend. Gezielt bahnten sie sich ihre Pfade, doch
hatten sie kein Ziel. Leute waren verschieden, hatten
unterschiedliche Gesichter, die Gestalt in uneinheitlicher
Kleidung eingehüllt. Auch wenn Menschen
noch so individuell erschienen, ein einziger ging
unter. Wir waren eine Ansammlung, ein Haufen. Vielleicht
war dies die Ursache, weswegen sich jene Masse
als Menschheit bezeichnete. Die gegenwärtigen Generationen
erweckten den Anschein, abwesend zu sein,
unterlagen diesem einförmigen Ablauf. Es waren Marionetten,
gelenkt durch ein geistloses Bewusstsein.
Der Himmel spuckte verächtlich schwere Regentropfen
aus. Sie klopften in einem unregelmässigen
Rhythmus auf den Asphalt, als würden sie die Geräusche
der lärmenden Mengen zu einer Melodie
verhelfen wollen. Die Gesellschaft war eine Welle,
die sich vorwärtsbewegte, doch nicht das Wasser,
das stillstand und aus dem die Menschheit bestand.
Selbstvergessen schwamm ich durch die graue
Flüssigkeit, mein innerer Stillstand schien mich
auszulachen.
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Violinisten
© Morgennebel (2002)
Melodiefetzen schienen sich in meinem Kopf wie
Zecken festgesogen zu haben, unerbittlich führten
sie ihren Kampf gegen das Dröhnen der Stadt. Es
waren seine Klänge gewesen, die von einer solchen
Leuchtkraft gewesen waren, dass ich nur mit geschlossenen
Augen zuhören gekonnt hatte. Die
Kreutzer-Sonate war nicht länger das Werk Beethovens
gewesen, seine Interpretation war von einer
Unbändigkeit eines Sturms gewesen. Der Spielstil,
die Aura war der Inbegriff von «polychrom» gewesen.
Wir hätten verschiedener nicht sein können.
Nahezu unwillkürlich griff ich in meine Tasche,
hielt die Rangliste des Wettbewerbes in der klammen
Hand. Die drei Erstplatzierten wie gewohnt
– doch durchlief mich die Erleichterung abermals,
die Vorrunden für mich entschieden zu haben. Das
schwarz-weisse Blatt befreite sich von meinem
Griff, schwebte einen Moment lang in der erdrückenden
Luft, bis die Pfeile des Regens es durchbohrte und
am Boden festnagelte.
Lückenlos wurde von Farben erzählt, wobei ironischerweise
ausschliesslich die Monotonie des
schwarz-weissen Farbspektrums und Schatten von
Bedeutung waren. Wie dieses leblose Papier, das auf
dem mittlerweile nassen Asphalt lag. Er war von
einer fahlgrauen Tönung, die Gebäude, an denen ich
nun vorbeizog, wirkten eisern, nur dunkle Kleidung
wurde getragen. Schlichtweg einfältig, und fast ausnahmslos
jeder folgte dieser Eintönigkeit. Im Mantel
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Violinisten
© Morgennebel (2002)
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der Dunkelheit, der sich langsam um die Stadt legte,
zuckten die Lichter der Autos, der Bahnen über mein
Gesichtsfeld, tanzten zu einer nicht vernehmbaren
Melodie. Schriftzüge verschiedenster Geschäfte
kämpften sich mit ihren grellen Strahlen durch
die schwarze Dunkelheit, doch hatte die lächerlich
kleine Lichtflut in keiner Weise die Kraft, die Finsternis
abzuwürgen.
Der Kasten lastete schwer auf meinem schmalen
Rücken, ich spürte die neugierigen Blicke der Passanten,
manche schienen mich zu erkennen. Meine
Finger zogen rasch die ebenso phantomgraue Kapuze
über den gesenkten Kopf, doch pendelten bereits
Gesprächsfetzen über das «menschliche Metronom»
zu mir herüber. Doch der Sturm eines Violinisten
hatte mich vermutlich übersehen, so sehr hatte ich
der Monotonie geglichen. Die Farblosigkeit hatte
sich in meinem ausdruckslosen Gesicht fortgesetzt.
Emotionslos wie eine Glasfront. Ich wäre einer Puppe
keine schwache Konkurrenz gewesen. Mein Spielstil
war ebenso das vermutlich genaue Gegenteil.
Akkurat. Genau. Fehlerfrei. So, wie es in den Noten
steht. Und doch leblos. Unsere Persönlichkeiten
hätten sich hassen müssen.
Dennoch, ich wollte ihn erneut hören. Schillernde
Kontraste waren beim Spiel um ihn gewabert, hatten
sein Herz voller Kraft erfüllt. Malerisch hatten sich
die Farben stets neu vermengt, hatten jegliche
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Violinisten
© Morgennebel (2002)
Arten von Kombinationen erschaffen. Sie hatten
sich spielerisch um den Körper gewunden, waren als
Feuerzungen aufgeflammt. Erfüllt von einer unendlichen
Energie waren sie zu keiner Zeit erloschen.
Seine Musik hatte den Saal mit Farben ausgemalt.
Meine Schritte verlangsamten sich. Stellten das
Laufen in der Unterführung des riesigen Bahnhofes
schliesslich ganzheitlich ein. Die Nacht war eine
Zeitspanne, in der ich mich isoliert fühlte, ich mich
freier bewegen konnte als tagsüber, auch wenn die
Menschen momentan noch von einer wahnsinnig
hohen Zahl waren. Der Carbon-Kasten glitt zu
Boden, ich liess ihn liegen. Bei Musikwettbewerben
ging es ausschliesslich darum, so perfekt zu
spielen wie möglich. Gefühle aussen vorgelassen,
sobald sie die Spielgenauigkeit beeinflussten. Was
die exakte Definition meines Stiles darstellte. Doch
die Musik konnte Worte transzendieren, durch sie
konnten Musiker sich kennenlernen, sich verstehen.
Als wären ihre Seelen miteinander verbunden,
ihre Herzen überlappend. Es war eine Konversation
durch Instrumente, ein Wunder, welches Harmonie
kreierte.
Ohne Leidenschaft zu spielen war ein weitaus grösserer
Fehler, als ein nach Noten perfektes Spiel, so
wie sie es uns eintrichtert hatten. Und so lange ich
eine Chance hatte zu spielen sowie auch nur ein
einzelner Mensch zuhört, würde ich mit allem, was
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Violinisten
© Morgennebel (2002)
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ich besass, vortragen. So, dass die Leute, die mich
hörten, mich nie vergassen. So, dass ich für immer
in ihren Herzen leben konnte. So wie er den einzigen
Weg eines Violinisten gewählt hatte, mit einer
unfreien Welt umzugehen. Absolut frei zu werden,
Farbkleckser in einer farblosen Welt zu verteilen.
Die einzige Art, wie Musiker in ihrer eigenen
Existenz dagegen rebellieren konnten.
Ich nahm meine Geige aus dem Kasten.
Ich spielte.
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FREMD
KÖRPER
UND
MINDER
HEITEN IN
DER
SCHWEIZ
GEDANKEN
veröffentlicht 13. Juli 2017
Fremdkörper und Minderheiten in der Schweiz – Gedanken
© Lissan (1998) *
* hat an der Sommerakademie, einem Kongress für Kinder- und Jugendförderung,
in der Redaktion mitgewirkt. Das Thema der Tagung war Fremdkörper. Das Eröffnungsreferat
des Politikwissenschaftlers Prof. em. Dr. Iwan Rickenbacher hat sie zum
Nachdenken angeregt. In dem Beitrag hat sie ihre Gedanken zusammengefasst.
Fremdkörper und Minderheiten in der Schweiz – Gedanken www.infoklick.ch/
sommerakademie/sommerakademie-2017/berichterstattung/gedanken-zum-montag
Schweiz, das Land der Minderheiten, in dem
jeder auf seine eigene Art leben darf. Dies ist
eine Bereicherung für die gesamte Bevölkerung.
Doch werden wirklich alle Minderheiten
gefördert oder zumindest akzeptiert?
Und darf beziehungsweise kann jeder so leben wie
es ihm oder ihr von der Art und Weise her entspricht?
Wie sieht es beispielsweise mit behinderten
oder kranken Personen aus? Werden sie akzeptiert
und in ihren Belangen gestärkt und gefördert?
Schon früher war es so, dass es viele Vorurteile gab.
Nicht zuletzt davon betroffen waren Juden, Zigeuner,
Arme, Leprakranke und auch Spielleute. Dabei wurden
sehr oft Einzelfälle verallgemeinert, zugespitzt
und vereinfacht. Man suchte regelrecht nach Sündenböcken
für die Probleme der Bevölkerung. Die Betroffenen
wurden oft gekennzeichnet und ihnen wurde
der Zugang zu gewissen Orten verwehrt. Dies ist heute
leider nicht viel anders. Zwar werden die Personengruppen
nicht mehr konkret gekennzeichnet, jedoch
werden sie trotzdem von vielen als Fremdkörper
wahrgenommen und oftmals in Frage gestellt.
Hat ein behindertes, krankes Kind ein Recht auf
Leben? Eine Frage, welche oft für Aufsehen sorgt.
Diese Kinder verursachen hohe Kosten und werden
oftmals ausgegrenzt. Doch hat man deswegen das
Recht, Leben stark zu beeinträchtigen oder gar
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Fremdkörper und Minderheiten in der Schweiz – Gedanken
© Lissan (1998)
durch Abtreibung zu beenden? Ich denke nicht. Die
Ausgrenzungen sind vermeidbar. Zudem verschwinden
sie mit der Zeit, wie dies zum Beispiel bei der
religiösen Zugehörigkeit von Katholiken und Reformierten
der Fall ist. Man kann auch etwas gegen
Ausgrenzung unternehmen und diese minimieren.
Es ist nicht genetisch veranlagt, was wir als Fremdkörper
wahrnehmen.
Wir lernen es von der Umgebung, in der wir aufwachsen
und durch unsere eigenen Erfahrungen, welche
wir im Verlaufe des Lebens machen. Dadurch hat
jeder eine individuelle Vorstellung eines Fremdkörpers.
Deshalb ist es meiner Meinung nach wichtig,
dass wir der heutigen Jugend den korrekten Umgang
mit Fremdkörpern und Anders artigkeit beibringen.
Dies ist beispielsweise möglich durch die Sensibilisierung
im Klassenzimmer oder auch ausserhalb
der Schule in Jugendtreffs oder Vereinen.
Das Problem des Fremdkörpers ist kein neues
Phänomen. Neu ist nur die Globalisierung, beispielsweise
durch die sozialen Medien, und dass die
Probleme dadurch nicht bloss in der Schweiz gelöst
werden können. Dies überfordert schnell, doch es
gibt immer einen Weg zu einer allfälligen Lösung.
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Fremdkörper und Minderheiten in der Schweiz – Gedanken
© Lissan (1998)
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FRIEDEN –
MEINE
FLUCHT
veröffentlicht 13. April 2016
Frieden – Meine Flucht
© BurnigTree (2001)*
*wollte eigentlich nur kurze Texte auf schreibdichfrei.net veröffentlichen –
„Frieden“ ist dann doch etwas länger geworden. Zum Glück!
Frieden – Meine Flucht www.schreibdichfrei.net/texte/text/2847
Es wird dunkel. Kein Licht dringt durch die
kalte Luft bis hier herüber. Alles ist still. Ich
bin alleine. Es ist der perfekte Ort zum nachdenken.
Nachdenken über die Vergangenheit,
darüber was damals geschah.
Ich sehe es wieder vor mir, mein altes Leben. Stelle
mir vor wie es früher war, wie es aussah, bevor alles
begann. Bevor der Krieg begann. Als noch Frieden
herrschte. Frieden. Lange fragte ich mich was das
eigentlich ist. Doch mehr als das es allgemein oft
einfach mit der Abwesenheit von Krieg und Gewalt
in Verbindung gebracht wird und für unterschiedlichste
Menschen unterschiedlichste Bedeutungen
hat, habe ich nicht herausfinden können. Ich denke,
für manche Menschen ist Frieden einfach wenn ausnahmsweise
mal keine Bombe neben ihrem Haus einschlägt,
für andere wiederum, dass es keinen Streit
gibt, die nächsten haben wieder eine andere Meinung.
Manchmal glaube ich, man könnte schon fast einen
Krieg beginnen, weil man sich über die Definition von
Frieden streitet. Doch ich bin froh über den Frieden,
mehr als nur froh. Oder besser gesagt ich wäre es,
wenn denn Frieden herrschen würde. Doch das tut es
nicht. Nicht überall auf der Welt, nicht Zuhause, dort
nicht. Meine Geschichte, die Geschichte wie ich hierher
kam, beginnt, sie beginnt zu einer anderen Zeit,
an einem Ort der so anders war wie der hier.
Sie beginnt...
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Frieden – Meine Flucht
© BurnigTree (2001)
Ich war glücklich, hatte noch Wünsche, Wünsche
die so viel anders waren als jetzt, ich war jung,
unerfahren, wahrscheinlich nahm es mich deshalb
so mit. Ich hätte nie gedacht, dass ich so schnell aufgeben
würde, aber es wurde mir einfach zu viel, ich
konnte einfach nicht mehr. Konnte das nicht mehr.
Konnte nicht mehr hierbleiben. Hier im Krieg, in der
Zerstörung, in der Ungewissheit wie es weitergehen
sollte, der Ungewissheit wann und wie ich sterben
würde, denn davon war ich überzeugt, ich hatte die
Hoffnung aufgegeben, hoffte nicht mehr, dass das
hier irgendwann enden würde, hoffte nicht mehr auf
eine erfolgreiche Zukunft, hoffte nicht mehr jemals
wieder glücklich zu sein, ich hoffte gar nichts mehr.
Ich hatte die Hoffnung verloren als ich dem Tod das
erste mal in die Augen blickte. Seit dem habe ich
oft das Leid gesehen, dass der Tod mit sich bringt.
Es selbst gespürt. So etwas vergisst man nicht, nie
wieder werde ich das vergessen können. So etwas zu
begreifen ist schwer, doch zu verstehen ist beinahe
unmöglich. Immer wieder fragte ich mich warum
das alles hier geschieht, fragte mich was das bringen
sollte, suchte nach einem Grund, doch mit der
Zeit ist mir klar geworden, das ich vergeblich suchte,
ich würde nichts finden. Doch nach noch etwas
suchte ich, nach der Sicherheit. Doch in einem Land
voller Gefahren und Gewalt ist es schwer, nahezu
unmöglich, sie zu finden. Doch ich wollte es schaffen.
Nicht die Gewalt zu besiegen und den Krieg
zu beenden, nein das wollte ich nicht, oder besser
Frieden – Meine Flucht www.schreibdichfrei.net/texte/text/2847
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Frieden – Meine Flucht
© BurnigTree (2001)
Frieden – Meine Flucht www.schreibdichfrei.net/texte/text/2847
gesagt, ich konnte es nicht. Ich wollte es schon, doch
mir war klar, dass ich das nicht schaffen konnte. Ich
wollte überleben, dass war es, was ich wollte, mehr
nicht. Also tat ich das einzig Sinnvolle. Ich ging,
floh, verließ meine Heimat, rannte davon, vor den
Problemen, aber auch vor dem Tod, meinem Tod.
Und langsam schöpfte ich neue Hoffnung. Sie brachte
mich dazu weiter zu machen, weiter zu gehen.
Ich war mir wieder sicher, ich wollte einfach nur
ankommen, egal wo. Der Weg war schwer. Verlangte
mir viel ab. Doch ich gab nicht auf. Ich hatte wieder
neue Hoffnung, ich war stark.
Und ich kam an. Kam an, an einem Ziel. Und doch
war es nicht mein Ziel. Es war so anders als ich es
mir vorgestellt hatte. Neuartig, fremd, ungewohnt,
seltsam und einfach komplett anders als ich es
erwartet hatte. Ob besser oder schlechter kann ich
nicht sagen, ich weiß nur, dass es so ist, anders. Am
Anfang war es schwer, schwer sich an alles zu gewöhnen,
schwer mit der Situation klar zu kommen,
schwer alles zu verstehen. Doch ich hatte mir vorgenommen,
stark zu sein. Ich wollte es schaffen. Also
lernte ich, gab mir Mühe, alles zu begreifen, mit der
neuen Situation klar zu kommen. Und ich schaffte
es, passte mich an, wurde akzeptiert.
So verging die Zeit. Es war eine lange Zeit. Doch
irgendwann, nach etlichen Jahren die ich hier verbracht
hatte, hielt ich es nicht mehr aus. Es hieß
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Frieden – Meine Flucht
© BurnigTree (2001)
schon lange, dass zuhause wieder Frieden war.
Ich konnte es mir nicht vorstellen. Nach dem was
ich dort gesehen hatte hielt ich Frieden, richtigen
Frieden, für unmöglich. Doch meine Neugierde und
vor allem die Möglichkeit und der große Wunsch
wieder zurückkehren zu können brachten mich
dazu, es zu versuchen.
Ich wollte wieder nach Hause.
Illa al bayd.
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Frieden – Meine Flucht
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