44 | W+M TITEL FACHKRÄFTE RAGNITZ KOMMENTIERT Fachkräftemangel ist ein gesamtwirtschaftliches Problem Fast jedes Unternehmen in Ostdeutschland, das neue Arbeitskräfte einstellen will, kennt das Problem: Geeignete Bewerber sind immer schwerer zu finden. Anders als in der Vergangenheit haben heute die Arbeitnehmer das Privileg, Forderungen an ihren Arbeitgeber stellen zu können. Die Unternehmen müssen also liefern: durch höhere Löhne und attraktive Arbeitszeiten, durch bessere Aufstiegschancen, durch Qualifizierungsangebote und ähnliches mehr. Wer dies nicht kann, hat ziemlich schlechte Karten. Was aus einzelbetrieblicher Sicht vernünftig ist, muss jedoch in gesamtwirtschaftlicher Perspektive versagen, wenn einfach nicht mehr genügend Arbeitskräfte vorhanden sind – derjenige, der bei Firma Müller einen Arbeitsvertrag unterschreibt, fehlt dann bei Firma Meyer. Wegen der geringen Größe der jetzt ins Berufsleben eintretenden Geburtsjahrgänge dürfte sich der Arbeitskräftemangel in Zukunft zudem nochmals verschärfen: Schon mengenmäßig können in den kommenden Jahren nicht mehr alle aus Altersgründen ausscheidenden Beschäftigten ersetzt werden. Unternehmenswachstum ist dann in der Breite erst recht nicht mehr möglich. Zu befürchten ist, dass sich das letzten Endes negativ auch auf die Produktionsmöglichkeiten und damit auf das Wohlstandsniveau in den ostdeutschen Bundesländern auswirken wird. In gesamtwirtschaftlicher Sicht kann es deshalb nur darum gehen, die Zahl der erwerbsfähigen Personen in Ostdeutschland insgesamt zu erhöhen. Rückwanderer aus dem Westen sind dabei sicherlich nicht die relevante Zielgruppe, denn auch dort ringen die Unternehmen zunehmend mit dem Problem des Fachkräftemangels. Zudem sind die meisten Personen, die Ostdeutschland in den vergangenen 25 Jahren verlassen haben, inzwischen auch nahe dem Rentenalter. Es braucht also Zuwanderung aus dem Ausland, die man nicht nur zähneknirschend akzeptieren darf, sondern offensiv forcieren muss. Dies ist auch nicht primär Aufgabe der großen Politik – die geltenden Regelungen für die Zuwanderung nach Deutschland sind ausreichend liberal – sondern vielmehr Aufgabe für die regionale und lokale Ebene. Es geht dabei um die Schaffung attraktiver Arbeits- und Lebensbedingungen für Zuzügler aus dem Ausland, um verstärkte Integrationsangebote, um die Etablierung einer gesellschaftlichen Willkommenskultur und dergleichen mehr. Dies macht deutlich, dass hierbei nicht allein die Unternehmen gefordert sind, sondern auch die öffentlichen Verwaltungen, die lokale Politik, die Zivilgesellschaft: kurzum, das ganze Spektrum regionaler Akteure. Wenn es nicht gelingt, Zuwanderung Prof. Dr. Joachim Ragnitz ist Stellvertretender Leiter des ifo-Instituts Dresden. nach Ostdeutschland in ausreichendem Maße zu organisieren, so bleibt den Unternehmen nur noch, mit weniger Personal auszukommen – also menschliche Arbeitskraft durch Investitionen in Maschinen und Ausrüstungen zu ersetzen. Potenziale hierfür gibt es sicherlich, aber es klingt einfacher als es ist, denn der Einsatz moderner Technik ist im Zweifel teurer als die Beschäftigung billiger Arbeitskräfte und kann deswegen bestehende Geschäftsmodelle obsolet werden lassen. Zudem setzt der Umgang mit modernen Maschinen auch entsprechende Erfahrungen und Kenntnisse voraus, erfordert also erst recht den Einsatz hochqualifizierter Arbeitskräfte. Man wird daher auch in verstärkte Qualifizierungsmaßnahmen investieren müssen, die ebenfalls Geld kosten. Wie man es auch dreht und wendet: Letzten Endes steht die ostdeutsche Wirtschaft vor enormen Herausforderungen. Aber damit hat man ja im Osten seine Erfahrungen. Insoweit kann man wohl optimistisch sein, dass sich auch die aus dem Fachkräftemangel resultierenden Probleme werden lösen lassen. Je früher man damit anfängt, desto besser ist es. W+M Illustration: bizvector/fotolia.com, Foto: ifo <strong>WIRTSCHAFT+MARKT</strong> | 3/<strong>2018</strong>
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