Berliner Stimme Nr. 4 2018
Das Titelthema der Ausgabe: 50 Jahre 68er
Das Titelthema der Ausgabe: 50 Jahre 68er
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Zeitung der <strong>Berliner</strong> Sozialdemokratie | <strong>Nr</strong>. 4 · <strong>2018</strong> | 68. Jahrgang<br />
TITELTHEMA<br />
50 JAHRE 68ER<br />
ESSAY<br />
Die SPD und<br />
das Erbe der 68er<br />
INTERVIEW<br />
Willkommen in<br />
Retrotopia<br />
PORTRÄT<br />
Rudi Uda und die<br />
Geschichte der Kreisfahne
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2 BERLINER STIMME
Text Michael Müller<br />
Foto Jens Jeske<br />
Das Erbe der 68er<br />
gemeinsam verteidigen<br />
Die SPD hat den 68ern – trotz der vielen<br />
damaligen politischen Differenzen und<br />
schwieriger Diskurse – viel zu verdanken.<br />
Ohne die APO-Bewegung und das Aufbrechen<br />
der verkrusteten Strukturen<br />
hätte Willy Brandt nicht als Kanzler<br />
mehr Demokratie wagen können, seine<br />
Ostpolitik wäre ohne die Unterstützung<br />
der linken Akademiker nicht möglich<br />
gewesen und auch die Demokratisierung<br />
der Bildung durch Bafög und Gesamtschulen<br />
hätte noch lange auf sich warten<br />
lassen. Die Errungenschaften der Studentenbewegung<br />
prägen uns bis heute.<br />
Unsere pluralistische, gleichberechtigte<br />
und tolerante Gesellschaft ist ohne diese<br />
Bewegung nicht vorstellbar. Wir sollten<br />
uns gerade jetzt als linke Volkspartei<br />
darauf zurückbesinnen.<br />
Denn unsere moderne Gesellschaft steht<br />
unter Beschuss. Es gibt im politischen<br />
Spektrum mittlerweile immer mehr<br />
Vertreter, die nicht nur ein konservatives<br />
und fremdenfeindliches Weltbild propagieren,<br />
sondern auch die Geschlechtergerechtigkeit<br />
zurückdrehen wollen. Diesen<br />
selbsternannten Rettern einer auch dank<br />
der 68er überwundenen „Heimat“ müssen<br />
wir uns entschieden entgegenstellen.<br />
Dafür brauchen wir wieder eine große,<br />
starke und laute Bewegung, die für unsere<br />
moderne Gesellschaft kämpft. Die ein<br />
positives Bild des Zusammenlebens<br />
zeichnet. Die den Skeptikern mit Optimismus<br />
und Mut entgegentritt. Die Mitmenschlichkeit<br />
und Solidarität in den<br />
Mittelpunkt ihres Handelns stellt. Die<br />
SPD sollte diese Bewegung anführen.<br />
Viele Enkel der 68er sind in den letzten<br />
Monaten in die <strong>Berliner</strong> SPD eingetreten.<br />
Sie wollen aktiv etwas verändern.<br />
Sie wollen für unsere Werte der Freiheit,<br />
Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität<br />
einstehen. Wir wollen sie einbinden,<br />
ihre Ideen anhören und gemeinsam<br />
fortschrittliche Politik machen. Ganz im<br />
Sinne der 68er und im Erbe Willy Brandts<br />
werden wir mehr Demokratie wagen,<br />
Gleichberechtigung und gesellschaftliche<br />
Gerechtigkeit durch gute Politik ermöglichen.<br />
Ich wünsche Euch viel Vergnügen<br />
bei der Lektüre des Hefts.<br />
Herzlich<br />
Euer<br />
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BERLINER STIMME<br />
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TITELTHEMA<br />
50 Jahre 68er<br />
02 EDITORIAL<br />
Das Erbe der 68er<br />
gemeinsam verteidigen<br />
Text Michael Müller<br />
Foto Jens Jeske<br />
06 ESSAY<br />
Die SPD und das Erbe der 68er<br />
Text Siegfried Heimann<br />
Fotos AdsD/FES & ullstein bild<br />
Klaus Mehnert & Ulrich Horb<br />
10 FAMILIE BRANDT UND<br />
DIE SPD IN DEN 60ER JAHREN<br />
Sittliche Reifeprüfung<br />
Text Siegfried Heimann<br />
Foto Stefan Moses<br />
12 INTERVIEW MIT ROLAND ROTH<br />
Willkommen in Retrotopia<br />
Fragen und Foto Christina Bauermeister<br />
Illustration Oliver Grajewski<br />
16 AUSSTELLUNG<br />
68 in vier Vitrinen<br />
Text und Foto Christina Bauermeister<br />
AUS DEM LANDESVERBAND<br />
<strong>Berliner</strong> <strong>Stimme</strong>n<br />
17 NACHRUF<br />
Ein Jahrhundertleben:<br />
Heinz Craatz<br />
Text und Foto Ulrich Horb<br />
18 GASTBEITRAG<br />
Wohnen darf kein Geschäftsmodell sein<br />
Text Iris Spranger<br />
Fotos SPD-Fraktion Friedrichshain-Kreuzberg<br />
& SPD-Fraktion Abgeordnetenhaus<br />
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21 PORTRÄT: RUDI UDA<br />
Rudis Reise geht weiter<br />
Text und Foto Felix Bethmann<br />
4 BERLINER STIMME
VERMISCHTES<br />
Kultur & Geschichte<br />
24 HISTORIE: NIEDERSCHLAGUNG<br />
DES PRAGER FRÜHLINGS<br />
150 Tage nie dagewesene Hoffnung<br />
Text Alexander Kulpok<br />
Fotos ullstein bild · CTK & Alexander Kulpok<br />
27 FOTOSTRECKE:<br />
DGB-Demo Berlin <strong>2018</strong><br />
Hinaus zum 1. Mai<br />
Text Birte Huizing<br />
Fotos Hans Kegel & Birte Huizing<br />
30 REZENSION:<br />
MARX – DER UNVOLLENDETE<br />
KARL MARX – DIE BIOGRAPHIE<br />
Versuche, Marx auf die Füße zu stellen<br />
Text Reinhard Wenzel<br />
Illustration Adobe Stock · Brenda Miller<br />
ILLUSTRATION<br />
Adobe Stock · Brenda Miller<br />
IMPRESSUM<br />
<strong>Berliner</strong> <strong>Stimme</strong><br />
Zeitung der <strong>Berliner</strong> Sozialdemokratie<br />
Herausgeber<br />
SPD Landesverband Berlin,<br />
Landesgeschäftsführerin Anett Seltz (V.i.S.d.P.),<br />
Müllerstraße 163, 13353 Berlin,<br />
Telefon: 030.4692-222, E-Mail: spd@spd.berlin<br />
Webadresse: www.spd.berlin<br />
Redaktion<br />
Christina Bauermeister und Birte Huizing<br />
Telefon: 030.4692-150<br />
E-Mail: redaktion.berlinerstimme@spd.de<br />
Mitarbeit an dieser Ausgabe<br />
Felix Bethmann, Siegfried Heimann,<br />
Ulrich Horb, Alexander Kulpok, Hans Kegel,<br />
Iris Spranger, Reinhard Wenzel<br />
Grafik Nico Roicke und Hans Kegel<br />
Foto Titelseite ullstein bild · Klaus Mehner<br />
Abonnement 29 Euro pro Jahr im Postvertrieb<br />
Abo-Service Telefon: 030.4692-144,<br />
Fax: 030.4692-118, berliner.stimme@spd.de<br />
Druck Häuser KG Buch- und Offsetdruckerei Köln<br />
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Text Siegfried Heimann<br />
Fotos AdsD/Friedrich-Ebert-Stiftung & ullstein bild · Klaus Mehner & Ulrich Horb<br />
Die SPD und<br />
das Erbe der 68er<br />
Die SPD täte gut daran, sich an die langanhaltenden<br />
positiven Wirkungen der Studentenrevolte der sechziger Jahre<br />
zu erinnern und sie auch als Teil ihrer Geschichte zu begreifen.<br />
Ein Essay von Siegfried Heimann.<br />
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6 BERLINER STIMME
Die Erinnerung an die 60er Jahre und an die 68er weist zahlreiche Facetten<br />
auf. Viele davon können wir 50 Jahre nach Beginn der 68er-Bewegung<br />
gerade den Medien entnehmen. Leider wiederholen sich erneut Verfälschungen<br />
und Fehlinterpretationen über Ursachen, Ausmaß und Folgen<br />
der Studentenrevolte von 1968. Besonders infam ist die Unterstellung, die<br />
68er-Bewegung sei nur die Vorgeschichte zur Entstehung des RAF-Terrors.<br />
Das fällt im Jahre <strong>2018</strong>, in dem die rechtspopulistische und in weiten<br />
Teilen rechtsextremistische AfD der „grünversifften“ 68er-Generation<br />
den Kampf ansagt und ein CSU-Politiker gegen die 68er sogar eine<br />
„konservative Revolution“ ausruft, auf fruchtbaren Boden.<br />
Dabei ist längst klar: Es gibt nicht die 68er, weder als Objekt nostalgischer<br />
Verklärung noch als Buhmann, auf den man getrost einschlagen kann.<br />
Es gibt auch nicht die 67er, obwohl es gute Gründe gibt, dieses Jahr besonders<br />
zu betonen, zumindest in Berlin. Die Anti-Schah-Demonstration,<br />
die Prügel-Exzesse der <strong>Berliner</strong> Polizei und der Tod des Studenten Benno<br />
Ohnesorg am 2. Juni 1967 vor der <strong>Berliner</strong> Oper waren ein Wendepunkt<br />
in der Protestbewegung der 60er Jahre. Aber oft wird vergessen, dass die<br />
68er auch damals schon nicht an einem Strang und in eine Richtung<br />
zogen.<br />
LINKS<br />
Es gab stets den Konflikt zwischen einer offen streitenden undogmatischen<br />
marxistischen Linken und einer leninistischen-stalinistischen<br />
Linken. Seit dem 21. August 1968 – dem Tag des Einmarsches der Truppen<br />
des Warschauer Paktes in die CSSR – gab und gibt es bis heute eine Legende:<br />
Nicht wenige Kommentatoren der damaligen Außerparlamentarischen<br />
Opposition monieren, dass die APO eine westeuropäische Bewegung<br />
gewesen sei, die mit den antistalinistischen Regungen in Osteuropa wenig<br />
oder gar nichts zu tun hatte. Dabei überwog in den meisten Gruppen<br />
der APO die Empörung über die gewaltsame<br />
Beendigung eines „Traums vom<br />
Sozialismus mit menschlichem Antlitz“.<br />
In Prag war vielen Oppositionellen die<br />
Rede von Rudi Dutschke vom 3. April<br />
1968 – wenige Tage vor dem Attentat<br />
gegen ihn in Berlin – in der Prager<br />
Karls-Universität noch im Ohr.<br />
In Berlin zogen am 21. August 1968<br />
mehr als 4000 Studentinnen und Studenten vor die tschechische Militärmission<br />
und skandierten „Amis raus aus Vietnam, Russen raus aus Prag“.<br />
Und zumindest eine Westberliner Studentin bezahlte die Beihilfe zum<br />
Widerstand mit einer mehrjährigen Zuchthausstrafe.<br />
Eine Anti-Vietnam-Demonstration<br />
am 18.Februar 1968 in Berlin.<br />
In der Bildmitte mit Megafon:<br />
Rudi Dutschke<br />
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BERLINER STIMME<br />
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Eine weitere Konfliktlinie: Auch damals<br />
schon gab es Männer und Frauen in den<br />
vielen Protestgruppen. Im September<br />
1968 forderte Helke Sander im Namen<br />
des „Aktionsrates zur Befreiung der<br />
Frauen“ ihre männlichen Genossen im<br />
SDS auf, ihre Einstellung zur Emanzipation<br />
der Frauen zu überprüfen.<br />
UNTEN<br />
Die damalige Filmstudentin Helke Sander (l.)<br />
wollte auf einer Sitzung des SDS 1968 in Frankfurt<br />
die Ausbeutung der Frauen im privaten<br />
Bereich thematisieren. Da sich die Genossen<br />
einer Diskussion verweigerten, wurden sie mit<br />
Tomaten beworfen. Diese Aktion gilt als Auftakt<br />
der Frauenbewegung in der Bundesrepublik.<br />
Das Foto zeigt Helge Sander zusammen mit<br />
Sarah Schumann 1973 im Schneideraum für ihr<br />
humoristisches Filmprojekt „Männerbünde“.<br />
Der dokumentarische Streifen nimmt die Protagonisten<br />
der späten APO-Bewegung auf die Schippe.<br />
Da sich die Genossen einer Diskussion<br />
verweigerten, wurden sie mit Tomaten<br />
beworfen. Der damit nicht zum ersten<br />
Mal angesprochene Konflikt war auch<br />
in der Presse nur Anlass für süffisante<br />
Anmerkungen am Rande. Die Langzeitwirkung<br />
dieses neuen Selbstbewusstseins<br />
von Frauen aber gehört eindeutig<br />
auf die „Habenseite“ der „68erinnen“<br />
und vieler, freilich nicht aller, „68er“.<br />
Auch der SDS hatte sich im Laufe der<br />
langen 60er Jahre sehr verändert.<br />
Er durfte kein sozialdemokratischer<br />
Studentenverband mehr sein. Viele<br />
Mitglieder des SDS wurden aus der SPD<br />
ausgeschlossen. Die APO war eine große<br />
Koalition von vielen Gewerkschaftern,<br />
die besonders die drohenden Notstandsgesetze<br />
zum Thema machten, von Lehr-<br />
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8 BERLINER STIMME
LINKS<br />
Dr. Siegfried Heimann ist Historiker und<br />
Politikwissenschaftler. Er ist Privatdozent am<br />
Otto-Suhr-Institut der FU Berlin und Mitglied<br />
der Historischen Kommission beim Parteivorstand<br />
der SPD.<br />
lingen, Studenten, wenigen Assistenten<br />
und noch weniger Professoren, die den<br />
Bildungsnotstand nicht mehr hinnehmen<br />
wollten. Alle zusammen wollten<br />
den schmutzigen Krieg in Vietnam nicht<br />
mehr unter dem Teppich halten.<br />
„Die APO der 60er Jahre meint eben<br />
nicht nur die wenigen Gallionsfiguren.“<br />
Die SPD täte gerade deshalb gut daran,<br />
die Erinnerung an die Außerparlamentarische<br />
Opposition (APO) in den 60er Jahren<br />
wieder mehr wahrzunehmen und<br />
auch als Teil ihrer Geschichte zu begreifen.<br />
Die APO der 60er Jahre meint eben nicht<br />
nur die wenigen Gallionsfiguren, die auch<br />
im Jubiläumsjahr wieder die Medienlandschaft<br />
bestimmen. Sie meint vor<br />
allem die Menschen, die seit 1969 mit<br />
Willy Brandt zusammen mehr Demokratie<br />
wagen wollten, die ökologische<br />
Fragen und die Grenzen des Wachstums<br />
thematisierten, die in der Erziehung<br />
neue Wege beschritten und zwischen<br />
Frauen und Männern Gleichberechtigung<br />
einforderten.<br />
Sie haben mitgeholfen, das Gesicht der<br />
Gesellschaft in der Bundesrepublik positiv<br />
und nachhaltig zu verändern. Die ehemalige<br />
Präsidentin der Viadrina-Universität<br />
in Frankfurt (Oder) Gesine Schwan,<br />
die es nach 1968 mit den revoltierenden<br />
Studenten nicht immer leicht hatte, hat<br />
schon 2008 darauf hingewiesen. Schwan<br />
sagte, sie hätte 68/69 die Sprüche von<br />
den „Verwertungsinteressen des Kapitals“<br />
nicht mehr hören können. Heute<br />
würde sie von den Studierenden (und<br />
nicht nur von ihnen) gern wieder öfter<br />
hören, dass es auch Verwertungsinteressen<br />
des Kapitals gibt, die den sozialen<br />
Frieden in der Bundesrepublik gefährden.<br />
Es gilt an die langanhaltenden positiven<br />
Wirkungen der Studentenrevolte der<br />
60er Jahre zu erinnern. Nicht zuletzt<br />
auch in der Hoffnung, dass daraus wieder<br />
ein Aufbegehren entstehen könnte,<br />
dass den immer stärker werdenden<br />
rechtsextremistischen und rechtspopulistischen<br />
Strömungen in Deutschland<br />
und in Europa Einhalt gebietet. Der SZ-<br />
Journalist Heribert Prantl sprach kürzlich<br />
davon, dass „die Ideale und Utopien<br />
[der 68er] neue Kraft gewinnen können,<br />
wenn die Enkel und Urenkel beschließen,<br />
die Trumps und Gaulands, die Spießer<br />
von heute, nicht länger auszuhalten“.<br />
Wir sollten sie dabei unterstützen.<br />
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BERLINER STIMME<br />
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Text Siegfried Heimann<br />
Foto Stefan Moses<br />
Sittliche Reifeprüfung<br />
Die Familie Brandt und die <strong>Berliner</strong> SPD<br />
in den sechziger Jahren<br />
Die SPD tat sich schwer mit der Studentenbewegung von 1967/68.<br />
Besonders die <strong>Berliner</strong> SPD konnte mit einem Hinweis des ersten sozialdemokratischen<br />
Bundespräsidenten Gustav Heinemann wenig anfangen.<br />
Er hatte gesagt, wer mit dem Finger auf die demonstrierenden Studenten<br />
zeige, müssen wissen, dass dabei drei Finger auf ihn selbst zurück zeigten.<br />
Viele in der <strong>Berliner</strong> Sozialdemokratie hatten kein Verständnis für die<br />
Toleranz, die der Regierende Bürgermeister und spätere Außenminister<br />
Willy Brandt für seinen SPD-kritischen Sohn Peter Brandt aufbrachte.<br />
Anfang 1966 monierte ein Wilmersdorfer Sozialdemokrat, dass Willy Brandt<br />
die Kritik in der <strong>Berliner</strong> Presse am Auftreten der Sängerin Gisela May, der<br />
„Mauer-Befürworterin“, in Westberlin als „Hysterie“ bezeichnet hatte. Noch<br />
mehr sei zu tadeln, dass die Brandt-Söhne an der Veranstaltung teilgenommen<br />
hätten. Brandt solle seine Söhne zur Ordnung rufen. Sehr entschieden<br />
erwiderte Brandt seinem Parteigenossen: „Ich möchte als Familienvater<br />
nicht ohne Not mit Zwang ‚regieren‘, sondern vertraue darauf, dass meine<br />
Söhne wie andere junge Leute schon den richtigen Weg finden werden,<br />
wenn sie ihre eigenen Erfahrungen gemacht haben.“<br />
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Kein Zweifel: Vater Brandt war mit manchen politischen Stellungnahmen<br />
seines Sohnes (als Falken-Funktionär) – etwa gegen den Vietnamkrieg der<br />
USA – nicht einverstanden. Im privaten Gespräch äußerte er sogar, dass er<br />
vielleicht wegen Peters Aktivitäten zurücktreten müsse. Seine Frau Rut<br />
rief ihm zu: „Willy, hast du deine eigene Jugend vergessen?“<br />
610 BERLINER STIMME
OBEN<br />
Ein Bild aus ruhigen Tagen: Willy Brandt und sein Sohn Peter im Bundestagswahlkampf 1965<br />
auf dem Bahnsteig. (Foto: Kontaktdaten des Rechtsinhabers nicht ermittelbar; Hinweise bitte an<br />
redaktion.berlinerstimme@spd.de)<br />
Peter blieb seiner Überzeugung treu.<br />
Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke<br />
am 11. April 1968 nahm er – wie schon oft<br />
zuvor – an der Demonstration gegen den<br />
Springer-Konzern, der mit seiner Hetze<br />
„mitgeschossen“ habe, teil. Er wurde von<br />
der Polizei festgenommen und blieb mehr<br />
als 30 Stunden in Polizeigewahrsam.<br />
Im nachfolgenden Prozess sollte er nach<br />
dem Jugendstrafrecht verurteilt werden,<br />
da ihm die „sittliche“ Reife fehle. Peter war<br />
empört, nicht minder aber der Vater.<br />
Willy Brandt kommentierte: „Wenn eine<br />
Richterin die vermutete Protesthaltung<br />
eines Sohnes gegen seinen Vater als<br />
kindliche Unreife betrachtet, dann frage<br />
ich mich, wie wir bei solcher Weltfremdheit<br />
zu einem besseren Verständnis der<br />
Jugend kommen können“. In der Berufung<br />
wurde der Schuldspruch bestätigt, die<br />
nach Erwachsenenstrafrecht verhängte<br />
Geldstrafe jedoch später Dank einer<br />
allgemeinen Amnestie aufgehoben.<br />
Die Anwaltskosten zahlte der Vater.<br />
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Christina Bauermeister<br />
Oliver Grajewski<br />
Willkommen in<br />
Retrotopia<br />
Ein Gespräch mit dem Protest- und Bewegungsforscher Roland Roth<br />
über den konservativen Backlash vor 50 Jahren und heute,<br />
die Platzhalter-Funktion der AfD und die schwierige Aufgabe der SPD.<br />
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12 BERLINER STIMME
Herr Roth, Sie begannen 1968 in Frankfurt am Main mit dem Sozialwissenschaftsstudium.<br />
Welche persönliche Erinnerung haben Sie an<br />
die 68er-Bewegung?<br />
Mein 68 begann schon zwei Jahre vorher. Da haben wir in Hanau einen<br />
Club Voltaire gegründet, der an das Frankfurter Vorbild angelehnt war.<br />
Unsere Grundidee war, einen Ort für politische Debatten, für Kulturevents,<br />
aber auch für sexuelle Aufklärung zu schaffen. Als ich dann 1968 anfing<br />
zu studieren, begann mein Studium mit einem Streiksemester. Wir wollten<br />
die Gesellschaft nicht nur verstehen und hatten das Gefühl, dass die Zeit<br />
gekommen sei, die Gesellschaft grundlegend zu verändern.<br />
Woran haben Sie gemerkt, dass eine Zeit des Wandels gekommen ist?<br />
Die institutionellen Rahmenbedingungen der Nachkriegsära waren zu<br />
eng geworden. Ich bin in den 50er Jahren aufgewachsen. Das war eine Zeit,<br />
in der Autoritäten nicht infrage gestellt werden durften. Es gab das Grundverständnis:<br />
Kinder haben das zu tun, was Erwachsene sagen.<br />
War das bei Ihnen auch so?<br />
Das war bei fast allen so – nicht nur in der Familie, sondern auch in<br />
den Bildungsinstitutionen. Beispielsweise konnten wir damals<br />
unsere Lehrer noch daran unterscheiden, welche Strafvorlieben<br />
sie hatten: an den Ohren ziehen, an der Backe drehen, die Nase<br />
krümmen usw. Aber die allgemeine Aufbruchsstimmung ging<br />
nicht nur von der jungen Generation aus.<br />
Sondern?<br />
Der Philosoph und Bildungsforscher Georg Picht rüttelte 1964<br />
wie kein zweiter die Nation des Wirtschaftswunders auf. In<br />
mehreren Artikeln mahnte er vor einer drohenden deutschen<br />
Bildungskatastrophe. Als Symbol für das Bildungsversagen<br />
diente damals das katholische Arbeitermädchen vom Lande,<br />
das keinerlei Aufstiegschancen hatte. Die Politik erkannte die<br />
Mobilisierung von Bildungsreserven als Mittel, um die Gesellschaft<br />
voranzubringen. In der Folge wurden Bildungsbarrieren<br />
stetig abgebaut.<br />
Von dieser Bildungsoffensive profitierten doch auch<br />
die 68er ...<br />
Grundsätzlich schon, aber gleichzeitig fürchteten wir Mitte<br />
der 60er Jahre einen konservativen Backlash: die Notstandsgesetze<br />
inklusive Beschneidung des Streikrechts, Nazis in hohen<br />
Staatsämtern oder das Konzept einer „formierten Gesellschaft“<br />
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BERLINER STIMME<br />
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im Sinne Rüdiger Altmanns und<br />
Ludwig Erhards. Als dann 1966 die<br />
Sozialdemokratie in die Große Koalition<br />
eintrat, sahen wir die Demokratie in<br />
Gefahr. Unser Gefühl war: Jetzt müssen<br />
wir die demokratischen Minima gegen<br />
eine autoritäre Restauration verteidigen.<br />
Leider gibt es diese reaktionären Zumutungen<br />
bis heute.<br />
Wen meinen Sie damit?<br />
Nehmen wir zum Beispiel die CSU. Sie<br />
ist in der Art und Weise, wie im engsten<br />
Führungszirkel Posten vergeben werden,<br />
eine zutiefst vordemokratische Partei.<br />
Und mit ihrer rückwärtsgewandten<br />
Programmatik verkörpert sie Retrotopia<br />
pur. Man muss sich nur das ländliche<br />
Idyll auf der Startseite des jüngsten<br />
CSU-Programms anschauen.<br />
... Sie spielen auf das Buch von Zymunt<br />
Baumann „Retrotopia“ an. Baumanns<br />
These ist, dass die Nationalstaaten gut<br />
500 Jahre nach der Veröffentlichung von<br />
Thomas Morus’ Utopia, die Fähigkeit<br />
eingebüßt haben, ihre Versprechen auf<br />
Wohlstand und Sicherheit einzulösen.<br />
Wer in einer globalisierten Welt nach<br />
Orientierung sucht, der richtet seinen<br />
Blick daher nicht länger auf einen als<br />
Ideal verklärten Ort – einen topos –, sondern<br />
auf eine untote Vergangenheit ...<br />
In der CSU scheint die Zeitmaschine noch<br />
zu funktionieren. Glücklicherweise ist die<br />
Reichweite dessen, was Dobrindt und Co.<br />
mit der konservativen Revolution oder<br />
Ähnlichem propagieren, sehr begrenzt.<br />
Trotzdem werden in der medialen Debatte<br />
einige Errungenschaften der 68er-<br />
Bewegung als gescheitert angesehen.<br />
„In der CSU scheint die<br />
Zeitmaschine noch zu funktionieren.“<br />
Rudi Dutschkes Witwe Gretchen<br />
Dutschke-Klotz sagte dazu kürzlich in<br />
einem Interview: „Wenn manche sagen,<br />
es ist gescheitert, dann weil der Kapitalismus<br />
noch existiert: Es ist schlimmer<br />
geworden. Der Kampf ist nicht fertig,<br />
er geht weiter.“ Gibt es ein Vermächtnis<br />
der 68er, das bis heute anhält?<br />
Zunächst einmal stört mich, dass die<br />
Proteste um die Jahreszahl 1968 heute zu<br />
einer Generationen-Geschichte hochgejubelt<br />
werden. An den damaligen Protesten<br />
haben sich gerade mal drei bis fünf<br />
Prozent der damaligen Generation beteiligt.<br />
Das Entscheidende war die Idee dieser<br />
kleinen Gruppe, dass die Gesellschaft<br />
auch anders sein könnte: demokratischer<br />
und freiheitlicher. Und dass man dafür<br />
etwas tun könnte. Diese Emanzipationsimpulse<br />
wurden nach und nach in vielen<br />
gesellschaftlichen Institutionen sichtbar<br />
und haben bis heute Bestand. Ein Beispiel:<br />
Selbst in der AfD wird das Lebensmodell<br />
von Alice Weidel toleriert. Die gesellschaftliche<br />
und kulturelle Liberalisierung<br />
kann man nicht mehr zurückdrehen.<br />
Da dürfen wir uns von der medialen<br />
Debatte nicht täuschen lassen.<br />
Was stimmt Sie so optimistisch?<br />
Wir haben seither auch in vielen anderen<br />
Ländern eine Entwicklung hin zu postmaterialistischen<br />
Werten beobachtet.<br />
Und im Vergleich kann man erkennen,<br />
dass in den Ländern, in denen die sozialen<br />
Proteste am stärksten ausgefallen<br />
sind, die gesellschaftliche Liberalisierung<br />
am weitesten vorangeschritten ist.<br />
14 BERLINER STIMME
LINKS<br />
Prof. Dr. Roland Roth war bis 2015<br />
Professor für Politikwissenschaft am<br />
Fachbereich Sozial- und Gesundheitswesen<br />
der Hochschule Magdeburg-Stendal (FH).<br />
Er ist Autor zahlreicher Studien zu Demokratie<br />
und Partizipation und Vorstandsmitglied<br />
des Instituts für Protest- und<br />
Bewegungsforschung (IPB)<br />
Also trügt der Eindruck, dass der<br />
Zeitgeist gerade von rechts weht?<br />
Ja. Wir wissen zwar aus Befragungen<br />
und Studien, dass Rechtspopulisten<br />
in Deutschland ein Mobilisierungspotenzial<br />
von 15 bis 25 Prozent haben.<br />
Es gibt aber nach wie vor eine große<br />
Mehrheit in der Bevölkerung, die den<br />
liberalen Konsens teilt – ganz anders im<br />
Übrigen als noch im Jahr 1968. Dieses<br />
liberale Grundelement, zum dem auch<br />
die Akzeptanz von Vielfalt gehört, finden<br />
wir in geringerer Ausprägung auch<br />
in den neuen Bundesländern und in<br />
abhängten Quartieren. Leider hat es im<br />
Osten nie eine kulturelle und politische<br />
Liberalisierung in vergleichbarem Umfang<br />
gegeben.<br />
„Die AfD profitiert von dieser Vertrauenslücke,<br />
hat sie aber nicht verursacht.“<br />
Wie sind die Wahlerfolge der AfD für<br />
Sie dann zu erklären?<br />
In den letzten 25 Jahren hat das Vertrauen<br />
der Bürgerinnen und Bürger in<br />
die politischen Institutionen, Parteien<br />
und Parlamente abgenommen. Die AfD<br />
profitiert von dieser Vertrauenslücke,<br />
hat sie aber nicht verursacht. Der AfD-<br />
Aufstieg war nur möglich, weil der<br />
Eindruck in der Bevölkerung besteht,<br />
dass sie durch Parteien nichts verändern<br />
können. Die AfD wird nicht als normale<br />
Parlamentspartei gewählt. Sie ist vielmehr<br />
der Platzhalter für den Wunsch nach<br />
autoritärer Führung. Gleichzeitig präsentiert<br />
sie sich als Platzhalter für vernachlässigte<br />
Interessen.<br />
Erfreulicherweise interessieren sich<br />
wieder mehr junge Leute für Politik und<br />
treten sogar in Parteien bei. Erleben wir<br />
gerade eine neue Demokratisierungswelle?<br />
Die große Frage ist: Gelingt es der SPD,<br />
die besonders gefordert ist, eine Parteikultur<br />
zu entwickeln, in der sie sich<br />
glaubhaft und auch mit Folgen für das<br />
Regierungshandeln als eine politische<br />
Kraft präsentiert, die mit breiter demokratischer<br />
Beteiligung negative Globalisierungsfolgen<br />
eindämmt und vernachlässigte<br />
Interessen zur Geltung<br />
bringt. Ich bin da skeptisch. Leider versanden<br />
zu oft die Impulse für mehr<br />
Demokratie in der alltäglichen Parteipolitik.<br />
Erst vor kurzem berichtete mir<br />
ein spanischer Kollege, dass Podemos –<br />
als basisdemokratische Bewegungspartei<br />
2014 angetreten – inzwischen<br />
nur noch ein fraktionierter Haufen<br />
zerstrittener Häuptlinge sei.<br />
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Text und Foto Christina Bauermeister<br />
Es ist gegen 19 Uhr an jenem 11. April<br />
1968, als der Sozialistische Demokratische<br />
Studentenbund (SDS) auf dem Ku’damm<br />
das erste Flugblatt zum Attentat verteilt.<br />
„Heute Nachmittag wurde der Genosse<br />
Rudi Dutschke durch den Anschlag eines<br />
aufgehetzten Jugendlichen mit drei<br />
Pistolenschüssen ermordet“. Das Verbrechen<br />
sei die Konsequenz einer systematischen<br />
Hetze des Springerkonzerns und<br />
des Senats gegen die demokratischen<br />
Kräfte in dieser Stadt.<br />
Es ist ein bemerkenswertes Zeitdokument,<br />
das sich in einer von vier unscheinbaren<br />
Vitrinen über Dutschke und die 68er in<br />
einem hinteren Raum der Polizeihistorischen<br />
Sammlung befindet. Das vergilbte<br />
Blatt Papier zeugt von der Frontstellung<br />
zwischen Staat und Gesellschaft und<br />
einer Welt, die aus den Fugen geraten ist.<br />
wurde wegen versuchten Mordes zu<br />
sieben Jahren Gefängnis verurteilt.<br />
In der zweiten Vitrine sieht man Fotos<br />
der Mordwaffe, des Tatorts, des Täters<br />
Bachmann. Ein Foto von Dutschke fehlt.<br />
Die Verantwortung der Polizei, die das<br />
Attentat nicht verhindern konnte, wird<br />
in der Ausstellung nicht thematisiert. Die<br />
Gesellschaft sei „auf dem rechten Auge<br />
blind“ gewesen, sagt Sammlungsleiter<br />
Jens Dobler. „Aber die Polizei hat verstanden,<br />
dass sie mit einer preußischen Haudrauf-Mentalität<br />
nicht weiterkommt“.<br />
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In der vordersten Vitrine sind erstmals<br />
die Kugeln zu sehen, die der 23-jährige<br />
Neonazi Josef Bachmann am Nachmittag<br />
des 11. April auf den 28-jährigen Dutschke<br />
abfeuerte. Ein Blei-Projektil traf Rudi<br />
Dutschkes Kopf (es trägt die Notiz:<br />
verformt), ein zweites die Wange und<br />
ein drittes die Schulter. Die vierte ausgestellte<br />
Kugel wurde am Tatort gefunden.<br />
Im Krankenhaus retteten die Ärzte<br />
Dutschkes Leben. 1979 starb er an den<br />
Spätfolgen des Attentats. Bachmann<br />
„Drei Kugeln auf Rudi Dutschke“ ist noch<br />
bis 20. Juli in der Polizeihistorischen Sammlung<br />
Berlin, Platz der Luftbrücke 6, zu sehen.<br />
Geöffnet montags bis mittwochs 9 Uhr bis 15 Uhr,<br />
Eintritt 2 Euro, erm. 1 Euro, Kinder bis 12 Jahre frei.<br />
Die Vorlage eines Ausweises ist erforderlich.<br />
16 BERLINER STIMME
Text und Foto<br />
Ein Jahrhundertleben:<br />
Heinz Craatz<br />
Sein Leben hat fast ein Jahrhundert umspannt. Am 24. März<br />
ist der Weddinger Heinz Craatz im Alter von 99 Jahren verstorben.<br />
Fast 90 Jahre gehörte er der Sozialdemokratie an.<br />
Geboren wird er am 18. September 1918,<br />
es sind unruhige Kinderjahre. Heinz<br />
Craatz wächst in einer sozialdemokratischen<br />
Familie in Kreuzberg auf, Vater<br />
Franz ist aktiv in der SPD und im Reichsbanner,<br />
das die Republik verteidigt. Mit<br />
zehn Jahren wird er Mitglied der Kinderfreunde,<br />
der von Kurt Löwenstein gegründeten<br />
Vorgängerorganisation der<br />
Falken. 1930 fährt er zur „Kinderrepublik“<br />
in die Schweiz, ein bleibendes Erlebnis.<br />
Als er 14 Jahre ist, werden Kinderfreunde<br />
und SPD verboten.<br />
Heinz Craatz absolviert eine Lehre als<br />
Bäcker und Konditor. Dann wird er<br />
dienstverpflichtet, um Zahnräder zu<br />
fräsen. Es folgen Wehrdienst und Gefangenschaft.<br />
Erst mit dem Kriegsende 1945<br />
kann er sich ganz für seine SPD einsetzen,<br />
als Mitglied der Weddinger Jusos, Abteilungskassierer<br />
und später als Abteilungsvorsitzender.<br />
Im Bezirksamt Wedding<br />
arbeitet er als Hilfsfürsorger und in der<br />
Amtsvormundschaft. Hohe Ämter strebt<br />
er nicht an, aber von 1967 bis 1971 vertritt<br />
er den Wedding im Abgeordnetenhaus.<br />
Von 1977 bis 1985 ist er Bezirksverordneter,<br />
kümmert sich u. a. um Jugendpolitik<br />
und Ausbildungsplätze. „Er war bei keinem<br />
Thema zu bremsen“, erinnert sich<br />
die Weddinger Abteilungsvorsitzende<br />
Hannelore Jahn. Bis vor zwei Jahren kam<br />
er regelmäßig zu den Versammlungen.<br />
Seine SPD sah der Träger des Bundesverdienstkreuzes<br />
1. Klasse auf dem richtigen<br />
Weg: „Wir schlagen uns tapfer durch das<br />
Gewirr von Quatschköpfen von rechts,<br />
aber auch von links“, so Heinz Craatz<br />
2016 in einem Interview.<br />
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BERLINER STIMME<br />
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Text Iris Spranger<br />
Fotos SPD-Fraktion Friedrichshain-Kreuzberg & SPD-Fraktion Abgeordnetenhaus<br />
Wohnen darf kein<br />
Geschäftsmodell sein<br />
Berlin wächst jedes Jahr um eine Kleinstadt. Die stark gestiegene<br />
Nachfrage treibt die Mieten nach oben. Berlin hat alle vorhandenen<br />
gesetzlichen Instrumente zur Mietenregulierung ausgeschöpft.<br />
Um Menschen nachhaltig vor der Verdrängung aus ihren Kiezen<br />
zu schützen, muss der Bund jetzt liefern.<br />
Berlin ist ein Aushängeschild unserer erfolgreichen Wirtschaftsnation<br />
und eine weltoffene Metropole, die Menschen aus nah und fern anzieht.<br />
Die Stadt wächst, und wir sind in der Verantwortung, sowohl den hier<br />
Geborenen als auch den später Dazugekommenen ein gutes Leben zu<br />
ermöglichen. Zu einem guten Leben gehören vor allem ausreichend gute<br />
und bezahlbare Wohnungen; außerdem eine zeitgemäße, an die Bevölkerungsentwicklung<br />
angepasste Infrastruktur.<br />
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Die SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus hat in den vergangenen Jahren<br />
bereits viele Anstrengungen unternommen, um gerade für Menschen,<br />
die in besonderer Weise auf günstigen Wohnraum angewiesen sind, wesentliche<br />
Verbesserungen zu erreichen. Besonders wichtig war uns dabei<br />
das Zweckentfremdungsverbot. Erfreulich ist auch unsere Kooperation<br />
mit den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften, mit denen vereinbart<br />
ist, den öffentlichen Wohnungsbestand auf 400.000 Wohnungen<br />
bis zum Jahr 2025 zu erhöhen.<br />
Klar ist aber auch: Allein mit öffentlichem Wohnungsbau werden wir<br />
die Herausforderungen nicht bewältigen. Bereits 2014 hatten wir die<br />
einst abgeschaffte Wohnungsbauförderung wieder eingeführt, und mit<br />
der Einführung des Kooperativen Baulandmodells sichern wir auch bei<br />
freifinanzierten Wohnungsbauvorhaben die Errichtung von bezahlbarem<br />
18 BERLINER STIMME
Wohnraum. Das allein reicht nicht.<br />
Wir begrüßen daher alle vom Senat ergriffenen<br />
Maßnahmen, die insgesamt<br />
für eine stärkere politische Steuerung<br />
des Wohnungsneubaus sorgen und halten<br />
eine Lenkungsgruppe auf höchster Ebene<br />
zur Lösung von möglichen Konflikten<br />
oder unerwünschten Verzögerungen bei<br />
größeren Wohnungsbauprojekten für<br />
sinnvoll. Wichtig ist, dass wir eine personelle<br />
Verstärkung in den Senatsverwaltungen<br />
und Bezirken vorgenommen haben,<br />
um die steigenden Aufgaben bewältigen<br />
zu können. Durch die Änderung<br />
der <strong>Berliner</strong> Bauordnung erhoffen wir<br />
uns eine zusätzliche Beschleunigung des<br />
Wohnungsbaus.<br />
Trotzdem sind weitere Maßnahmen<br />
und Initiativen nötig, um Menschen<br />
nachhaltig vor Verdrängungseffekten<br />
zu schützen. Leider können wir nicht<br />
überall direkt Einfluss nehmen. Mietrecht<br />
ist Bundessache. In der Vergangenheit<br />
wurde uns immer wieder schmerzlich<br />
aufgezeigt, was das bedeutet. Mit<br />
Nachdruck haben wir in einer Bundesratsinitiative<br />
für mehr Mieterschutz<br />
OBEN<br />
Ein Positiv-Beispiel: Das 4,7 Hektar große<br />
Dragoner-Areal am Mehringdamm bekommt<br />
Berlin im Juni vom Bund zurück. Die Bundesanstalt<br />
für Immobilienaufgaben (BImA)<br />
hatte das Gelände ursprünglich an einen<br />
österreichischen Privatinvestor zum Höchstpreis<br />
veräußert. Berlin sah die soziale<br />
Mischung im Kiez gefährdet und machte<br />
Druck. Der Verkauf wurde daraufhin vom<br />
Finanzausschuss des Bundesrates. Berlin<br />
bekam das Areal im Zuge des neuen Hauptstadtvertrages<br />
zurückübertragen.<br />
eine Verschärfung der „Mietpreisbremse“<br />
gefordert. So sollen Ausnahmeregelungen<br />
der Auskunftspflicht konsequent<br />
abgeschafft werden. Mieterinnen und<br />
Mieter müssen über die Vormiete unterrichtet<br />
und Verstöße dagegen sanktioniert<br />
werden. Sie würden dann außerdem<br />
als Ordnungswidrigkeit gelten.<br />
Weitere Punkte unserer<br />
Bundesratsinitiative:<br />
Mieterhöhungen wollen wir auf maximal<br />
15 Prozent innerhalb von fünf Jahren<br />
(anstatt drei Jahren) und die Modernisierungsumlage<br />
auf sechs Prozent pro Jahr<br />
begrenzen. Sie soll enden, sobald die<br />
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RECHTS<br />
Iris Spranger ist seit 1999 Mitglied des<br />
Abgeordnetenhauses und Sprecherin<br />
für Bauen, Wohnen und Mieten der SPD-<br />
Fraktion. Seit 2004 ist sie stellvertretende<br />
Landesvorsitzende der <strong>Berliner</strong> SPD und<br />
seit April <strong>2018</strong> zudem Kreisvorsitzende<br />
von Marzahn-Hellersdorf.<br />
Modernisierungskosten refinanziert<br />
sind, und innerhalb von acht Jahren<br />
darf die Umlage nicht mehr als zwei<br />
Euro pro Quadratmeter betragen. Sie<br />
wird zudem begrenzt auf energetische<br />
sowie Maßnahmen zur Minderung<br />
von Barrieren und zur altengerechten<br />
Herrichtung.<br />
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Auch den Mietspiegel wollen wir reformieren:<br />
Zur Berechnung berücksichtigt<br />
werden sollen künftig die Bestandsmieten<br />
der letzten zehn Jahre (bisher<br />
vier Jahre). Der Härtefall nach Modernisierung<br />
wird mit 40 Prozent Bruttowarmmietbelastung<br />
zum Haushaltsnettoeinkommen<br />
klarer definiert. Rechtzeitig<br />
gezahlte Mietrückstände dürfen<br />
nicht zu fristlosen Kündigungen führen.<br />
Der eigentliche Schlüssel für mehr bezahlbaren<br />
Wohnraum bleibt am Ende<br />
aber der Neubau. Es ist zu begrüßen, dass<br />
viele Akteure der Stadtgesellschaft die<br />
Zeichen der Zeit erkannt haben. Die<br />
Lebensmitteldiscounter Aldi und Lidl<br />
zum Beispiel haben ihre Bereitschaft erklärt,<br />
auf Flachbauten zu verzichten und<br />
diese durch höhere Gebäude mit darüber<br />
liegenden Wohnungen zu ersetzen.<br />
Wir werden weiter daran arbeiten,<br />
brachliegende Flächen in Wohnnutzung<br />
zu überführen. Ein Leerstandsregister<br />
kann helfen, alle relevanten Flächen,<br />
die sich für Wohnungsbau und Nachverdichtung<br />
eignen, zu identifizieren.<br />
Insbesondere Flächen der Deutschen<br />
Bahn und der Immobilien der Bundesanstalt<br />
für Immobilienaufgaben (BImA)<br />
kommen hierbei infrage. Die BImA ist<br />
mit ca. 470.000 Hektar und mehr als<br />
37.000 Wohnungen ohnehin einer der<br />
einflussreichsten Akteure auf dem Wohnungsmarkt.<br />
Dennoch hat sie bis Anfang<br />
des Jahres trotz bestehender Vereinbarungen<br />
binnen 24 Monaten nur elf<br />
Grundstücke zu vergünstigten Preisen<br />
an Länder und Kommunen verkauft –<br />
in Berlin das Dragoner-Areal und das<br />
Haus der Statistik. Erfolge zwar, aber<br />
nicht mehr als Einzelfälle.<br />
Besser wäre eine grundsätzliche, von<br />
uns immer wieder geforderte Änderung<br />
des BImA-Gesetzes. Verkäufe öffentlicher<br />
Grundstücke sollten nicht dazu dienen,<br />
Haushaltslücken im Bundesetat zu<br />
schließen. Veräußerungen im Höchstpreisverfahren<br />
führen in der Regel nur<br />
zu einer Preisspirale auf Kosten ökonomisch<br />
Schwächerer. Eine Praxis, die wir<br />
in Berlin schon vor Jahren mit einem<br />
Kurswechsel in der Liegenschaftspolitik<br />
ad acta gelegt haben.<br />
620 BERLINER STIMME
Text und Foto Felix Bethmann<br />
Rudis Reise<br />
geht weiter<br />
Auf der ersten Mai-Kundgebung nach Kriegsende trägt er die<br />
Kreisfahne der SPD Charlottenburg: Rudi Uda ist seit 72 Jahren Mitglied<br />
der <strong>Berliner</strong> SPD und kein Stück parteiverdrossen. Ein Porträt.<br />
OBEN<br />
Rudi Uda mit der Fahne der SPD Charlottenburg von 1922<br />
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BERLINER STIMME<br />
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Sein Blick geht in die Weite, als wäre der<br />
kleine Raum im Rathaus Charlottenburg<br />
nicht zu drei Seiten durch Wände begrenzt.<br />
Als würde er in der Ferne Schemen<br />
einer längst vergangenen Zeit erkennen.<br />
Vor Rudi Uda steht ein Glas Wasser.<br />
Der Gehstock ist an den Stuhl neben ihm<br />
gelehnt. Die Jacke behält er an, obwohl<br />
es ein warmer Tag ist. Rudi redet, als<br />
habe er einen Zeitstrahl im Kopf. Er ruft<br />
Namen und Daten ab, als wären sie eine<br />
selbstverständliche, logische Abfolge.<br />
Manchmal hebt er den Zeigefinger, um<br />
einen Gedanken zu unterstreichen.<br />
Meist wirkt sein Blick konzentriert, nur<br />
manchmal blitzt ein wissendes Lächeln<br />
auf, als müssten unterhaltsame Anekdoten<br />
den wesentlichen Informationen<br />
in diesem Moment weichen. „Da reden<br />
wir ein andermal drüber“, sagt er dann<br />
und fährt fort.<br />
Das erste Parteiamt, in das er gewählt<br />
wird, existiert heute nicht mehr: Unterkassierer.<br />
Er ist vor der Wahl auf Herz<br />
und Nieren geprüft worden. Immerhin<br />
ist seine Aufgabe, „den Arbeitergroschen“<br />
zu verwalten. Es ist die Zeit, in der Kassierer<br />
noch Straßenzüge unter sich aufteilen<br />
und persönlich den Mitgliedsbeitrag<br />
abkassieren. Es ist aber auch die Zeit, in<br />
der bei Abteilungssitzungen noch getrunken,<br />
geraucht und gesungen wird.<br />
Es geht um die Ausrichtung der Partei.<br />
Leidenschaftlich wird darum gekämpft,<br />
wo sich die SPD verorten muss, um für<br />
die Zukunft gerüstet zu sein. Die einen<br />
sehen sich in der Tradition Rosa Luxemburgs,<br />
die anderen identifizieren sich<br />
mit den Theorien Eduard Bernsteins.<br />
Auch Ende der 40er-Jahre geht es noch<br />
um den Umgang Noskes mit Luxemburg<br />
und Liebknecht, um Ebert und Bebel.<br />
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Die Zeit, von der Rudi erzählt, scheint<br />
weit weg. Mit 17 Jahren kommt er im<br />
Juli 1945 nach Charlottenburg. Zu<br />
diesem Zeitpunkt hat er bereits den<br />
Krieg erlebt, als Flakhelfer in Nordböhmen.<br />
Sein Onkel betreibt eine Bäckerei<br />
in der Danckelmannstraße. Rudi ist<br />
politisch interessiert und Antifaschist.<br />
Er gründet mit anderen den Kreisverband<br />
der Falken. Kurz darauf tritt er in<br />
die SPD ein.<br />
Das ist jetzt 72 Jahre her. Vorsitzender<br />
der SPD Charlottenburg ist damals Max<br />
Ganschow, in der ersten Stadtverordnetenversammlung<br />
wird der Charlottenburger<br />
Kiez durch Johanna Kühn vertreten.<br />
Der erste Mitgliedsbeitrag<br />
beträgt 60 Pfennig im Monat, später<br />
eine Reichsmark. Rudi weiß das genau.<br />
„Bäckerinnung und Gesangsverein<br />
zeigen ihre Fahnen öffentlich.<br />
Wir sollten unsere Fahne auch<br />
mehr herausstellen.“<br />
Der Kampf um das Erbe der Weimarer<br />
Sozialdemokratie ist auch ein Kampf<br />
um Symbole, die nach dem Ende des<br />
Nationalsozialismus endlich wieder<br />
offen gezeigt werden können. Die Kreisfahne<br />
der SPD Charlottenburg etwa<br />
wurde 1922 genäht und schon in der<br />
Weimarer Republik auf diversen Kundgebungen<br />
getragen. Über die Jahre der<br />
Nazi-Diktatur versteckte ein Ehepaar<br />
in der Nehringstraße die Fahne auf<br />
dem Hängeboden. Auf der ersten Mai-<br />
622 BERLINER STIMME
LINKS<br />
Ausgestellt am 25. Mai 1948:<br />
Rudi Udas Funktionärsausweis<br />
der Falken in Charlottenburg,<br />
die er mitbegründete.<br />
Kundgebung nach Kriegsende darf auch<br />
Rudi sie ein Stück tragen. Es ist ein besonderer<br />
Moment für ihn. Später, schon<br />
in den 60er-Jahren, nimmt er die Fahne<br />
an sich und lässt sie restaurieren. Erst<br />
seit Kurzem steht sie wieder im Kreisbüro<br />
der SPD Charlottenburg-Wilmersdorf.<br />
„Bäckerinnung und Gesangsverein<br />
zeigen ihre Fahnen öffentlich. Wir sollten<br />
unsere Fahne auch mehr herausstellen“,<br />
fordert er.<br />
Als 1958 die Abteilungen neu geordnet<br />
werden, wird Rudi Abteilungsvorsitzender.<br />
15 Jahre lang wird er dieses Amt ausüben<br />
und bis ins hohe Alter Kreis- und<br />
Landesparteitagsdelegierter bleiben.<br />
In den 60er-Jahren ist Rudi dabei, als<br />
Flügelkämpfe zwischen dem rechten<br />
„Pfeifenclub“ um Klaus Schütz und der<br />
linken „Keulenriege“ um Harry Ristock<br />
den Parteialltag bestimmen. Um den<br />
damaligen Schulsenator Carl-Heinz<br />
Evers sammelt sich die selbst ernannte<br />
„Mitte“. Sie wird auf dem Landesparteitag<br />
bloßgestellt, indem ihnen ein Ausspruch<br />
Bebels entgegengehalten wird:<br />
„Die Mitte ist der Sumpf“.<br />
Als Interessierter besucht er die erste<br />
Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung<br />
nach dem Krieg, von 1963-1968<br />
und von 1995-1999 ist er ihr Mitglied.<br />
Elf Jahre ist er Vorsitzender des Heimatvereins<br />
Charlottenburg. 28 Jahre war er<br />
Schulleiter, 44 Jahre im Schuldienst.<br />
Rudi ist Zeitzeuge der Kundgebung<br />
Ernst Reuters vor dem Reichstag am<br />
9. September 1948, als dieser die „Völker<br />
der Welt“ auffordert, auf „diese Stadt“<br />
zu schauen. Er ist mit Louise Schroeder<br />
Taxi gefahren und hat mit Erich Honecker<br />
bei einem Treffen der Vorsitzenden<br />
der Jugendverbände Beefsteak gegessen.<br />
Rudi würde sagen: Da muss man ein<br />
andermal drüber reden.<br />
Der 1. Mai ist ein Kampftag – und Rudi<br />
war immer ein Kämpfer. Gegen den<br />
Faschismus, für die Sozialdemokratie,<br />
gegen den Alkohol. Seit 36 Jahren ist<br />
er trocken.<br />
Rudi Uda ist am 1. Mai 90 Jahre alt<br />
geworden. Es scheint, als habe er oft<br />
gewonnen.<br />
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Text Alexander Kulpok<br />
Fotos ullstein bild · CTK & Alexander Kulpok<br />
150 Tage nie<br />
dagewesene Hoffnung<br />
Der Reinickendorfer Journalist und Sozialdemokrat<br />
Alexander Kulpok war im Sommer 1968 als Hörfunkreporter<br />
in der damaligen Tschechoslowakei (ČSSR), als die Panzer<br />
des Warschauer Pakts die Hoffnungen auf einen<br />
„Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zerstörten.<br />
Es war der heißeste Frühling seit langem. 31 Grad Celsius schon im April.<br />
Im Paris von Charles de Gaulle gärte es. In Warschau forderten Studenten<br />
„Freiheit, Demokratie, Verfassung!“. In Memphis/Tennessee wurde Martin<br />
Luther King erschossen – die anschließenden Rassenunruhen erforderten<br />
in Washington D.C. den Ausnahmezustand. In Berlin verübte der NPD-<br />
Anhänger Josef Bachmann am 11. April ein Attentat auf Rudi Dutschke.<br />
Robert Kennedy war Favorit der Demokraten für die amerikanische<br />
Präsidentschaftswahl und wurde am 5. Juni bei einem Wahlkampfauftritt<br />
in Los Angeles getötet. „Seid ihr mit uns, wir sind mit euch“, sagte<br />
Alexander Dubcek in Prag. „Wir sind Zeugen nie dagewesener Hoffnung.“<br />
Am 5. Januar 1968 hatte der Slowake den Stalinisten Antonin Novotny<br />
als Ersten Sekretär der Kommunistischen Partei der ČSSR abgelöst.<br />
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Mehr als fünfzig KP-Funktionäre mussten ausscheiden. Der Prager<br />
Frühling sollte Dubceks „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ bringen.<br />
Die neu gewonnene Pressefreiheit steigerte die Auflagen der meisten<br />
Tageszeitungen um mehr als Doppelte. Die Bundesrepublik (mit ihrem<br />
Außenminister Willy Brandt) richtete eine Handelsmission in Prag ein.<br />
Missionschef Otto Heipertz gab mir im Gebäude des ČSSR-Rundfunks<br />
ein längeres Interview. Und ein tschechischer Radiokollege, der für den<br />
Sender Freies Berlin seit Dubceks Amtsantritt laufend aus Prag berichtete,<br />
schwelgte in historischen Träumen: „So muss es bei der Französischen<br />
624 BERLINER STIMME
OBEN<br />
Einmarsch sowjetischer Truppen in<br />
Prag. Aufgenommen am 21.08.1968<br />
Revolution 1789 gewesen sein.“ Es war<br />
Frantisek Cerny, dem ich mehr als zwanzig<br />
Jahre später als Botschafter seines Landes<br />
in Berlin wieder begegnete.<br />
Tausende Besucher strömten in jenen<br />
Tagen in die ČSSR. An jeder Straßenecke<br />
war die Ungezwungenheit, die Erleichterung,<br />
der Optimismus zu spüren – die<br />
Leichtigkeit des Seins. Hana Hegerová<br />
sang ihre heimischen Lieder. Im Prager<br />
Gasthaus „U Kalicha“ suchten europäische<br />
Touristen bei Pilsner und Budweiser nach<br />
Spuren des braven Soldaten Schwejk –<br />
und überall ertönte Louis Armstrong mit<br />
dem Hit des Jahres 1968: „What a wonderful<br />
world“. Ja, selbst Smetanas Zyklus<br />
„Mein Vaterland“ hatte plötzlich einen<br />
anderen Klang. Neckermann bot erstmals<br />
böhmischen Kurorte in seinen Reisekatalogen<br />
an, Anreise mit dem eigenen Wagen.<br />
In Marienbad, der „lächelnden Stadt“,<br />
schritten die wenigen Pfauen und die<br />
zahlreichen Kurgäste aus Ost (erkennbar<br />
an ihren Nylonmänteln) und West<br />
(erkennbar an ihrer Unrast) durch die<br />
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Dubcek-Denkmal in Bratislava<br />
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Anlagen um die vierzig Quellen. Im Hotel<br />
Esplanade, dem ersten Haus am Platz,<br />
hatten einige Kellner und Oberkellner<br />
schon Livree und Koffer gepackt, um<br />
einen Gastarbeiter-Job in West-Deutschland<br />
anzutreten. Und der Hotelportier<br />
begrüßte seine Gäste aus der Bundesrepublik<br />
mit Fachwissen aus dem ARD-<br />
Fernsehen, wo ein junger Franz Beckenbauer<br />
für Kraftnahrung warb: „Kraft in<br />
die Suppe! Knorr auf den Tisch!“.<br />
Zu einem merkwürdig kurzen Kuraufenthalt<br />
war auch Moskaus Ministerpräsident<br />
Alexej Kossygin nach Karlsbad<br />
gereist, offenbar als Abgesandter von<br />
Parteichef Breschnew. Als nicht nur Rudi<br />
Dutschke aus West-Berlin, sondern auch<br />
Bundesbankpräsident Blessing aus Frankfurt<br />
am Main nach Prag kam, war die Lage<br />
für Alexander Dubcek und seine Reformer<br />
schon spürbar unangenehmer geworden.<br />
Am 15. Juli 1968 forderten die Warschauer-<br />
Pakt-Staaten die Prager Führung unter<br />
Alexander Dubcek ultimativ zur Rückkehr<br />
in Moskaus Satellitenschoß auf.<br />
Den Schlusspunkt setzte Moskaus Militärinvasion<br />
vom 21. August 1968, an der<br />
sich die DDR nicht beteiligen durfte. Der<br />
Traum vom „Sozialismus mit menschlichem<br />
Antlitz“ war ausgeträumt. Schriftsteller<br />
und Intellektuelle hatten seit 1967<br />
dafür den Boden bereitet: Milan Kundera,<br />
der junge Ivan Klima, Pavel Kohout und<br />
Vaclav Havel, nach dem Ende des Kommunismus<br />
1989 erster Staatspräsident.<br />
1968 dauerte die nie dagewesene Hoffnung<br />
nur 150 Tage. Im April 1969 musste<br />
Dubcek als Parteichef zurücktreten. Bis<br />
September 1969 war er noch Parlamentspräsident,<br />
dann Botschafter in der Türkei,<br />
bis er im Juni 1970 aus der Kommunistischen<br />
Partei der ČSSR ausgeschlossen<br />
und in die Forstverwaltung der slowakischen<br />
Metropole Bratislava (Preßburg)<br />
versetzt wurde. Da hatte sein Nachbar<br />
im Villenviertel von Bratislava, Gustav<br />
Husak, bereits alle Macht auf sich vereint.<br />
Das Ende des Kalten Krieges brachte auch<br />
Dubceks Rehabilitierung. Ende Dezember<br />
1989 wählte ihn das slowakische Parlament<br />
zu seinem Präsidenten. Dubcek<br />
hätte gute Aussichten gehabt, nach der<br />
Trennung der Slowakei von Tschechien<br />
1993 erster slowakischer Präsident zu<br />
werden. Ein tödlicher Autounfall am<br />
1. September 1992 begrub jedoch diese<br />
Hoffnung vieler Slowaken. Eine auf Verlangen<br />
der tschechischen Sozialdemokraten<br />
eingeleitete Untersuchung konnte<br />
den Verdacht eines Anschlags nicht bestätigen.<br />
Heute ist der Platz vor dem slowakischen<br />
Parlament neben der Burg<br />
in Bratislava nach Alexander Dubcek benannt.<br />
Hier steht auch ein Denkmal mit<br />
seiner Büste – in Sichtweite von drei Bäumen,<br />
die Dubcek nach seiner Strafzeit in<br />
der Forstverwaltung dort gepflanzt hat.<br />
26 BERLINER STIMME
Text Birte Huizing<br />
Fotos Hans Kegel & Birte Huizing<br />
Hinaus zum 1. Mai<br />
Unter dem Motto „Vielfalt, Gerechtigkeit und Solidarität“ ist die<br />
SPD Berlin am 1. Mai für unbefristete, sozial abgesicherte und tariflich<br />
bezahlte Jobs auf die Straße gegangen. Mit Plakaten wie „den Miethaien<br />
die Zähne ziehen“ demonstrierten viele Genossinnen und Genossen<br />
für ein Berlin, in dem alle gut und sicher leben können.<br />
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Der Landesvorsitzende der SPD Berlin Michael Müller sprach sich<br />
auf der DGB-Kundgebung mit mehr als 33.000 Teilnehmerinnen<br />
und Teilnehmern am Brandenburger Tor für eine sozial gerechte<br />
Gestaltung der Digitalisierung aus. „Erfolg muss auch bedeuten,<br />
dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer davon profitieren.<br />
In Start Ups müssen Arbeitsschutz, Ausbildung und Mitbestimmung<br />
groß geschrieben werden.“<br />
28 BERLINER STIMME
LINKS<br />
Michael Müller,<br />
SPD-Landesvorsitzender<br />
und Regierender Bürgermeister<br />
UNTEN<br />
Dilek Kolat (M.),<br />
Senatorin für Gesundheit,<br />
Pflege und Gleichstellung<br />
Weiterhin forderte Michael Müller<br />
die Wirtschaft auf, sich ein Beispiel<br />
am Land Berlin zu nehmen und<br />
die sachgrundlose Befristung<br />
abzuschaffen.<br />
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BERLINER STIMME<br />
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Text Reinhard Wenzel<br />
Illustration Adobe Stock · Brenda Miller<br />
Versuche, Marx auf die<br />
Füße zu stellen<br />
Zum 200. Geburtstag von Karl Marx erscheint eine unübersehbare<br />
Zahl an Publikationen. Zwei der umfangreichsten Versuche, sich dem<br />
Mensch und dem Theoretiker Marx zu nähern, sind die Bücher<br />
von Jürgen Neffe und Gareth Stedman Jones.<br />
Jürgen Neffe: Marx – Der Unvollendete<br />
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Jürgen Neffes Biografie ist für geduldige Einsteiger geeignet. Es liest sich<br />
flott und erfüllt die Erwartungen an ein Buch aus dem Bertelsmann Verlag.<br />
Man spürt seine Begeisterung für die Bedeutung seines Helden und<br />
bekommt einen einfühlsamen Einblick in seine Familiengeschichte und<br />
das Leben seiner Frau („Being Jenny Marx“). Störend sind dabei Neffes<br />
mitunter flapsige Bemerkungen. Besonders die Bezeichnung „Erzeuger”<br />
für Vater oder Mutter ist überflüssig.<br />
630 BERLINER STIMME
Allzu viel theoretischen Tiefgang sollte man nicht erwarten. Seine<br />
Reflexion der Zeitgeschichte ist für die Dicke des Buches doch sehr kurz<br />
geraten. Für Marx’ Wirken wichtige Personen wie Louis Napoleon bzw.<br />
Napoleon III. werden in Buch nicht genannt. Die Darstellung des Kapitals<br />
endet mit einer Reflexion über die aktuelle Situation der Weltwirtschaft<br />
(„Postkapitalismus“), die sehr oberflächlich gerät. Die Aufführung von am<br />
Kapitalismus zweifelden Überschriften (z.B. von Spiegel- Online) lassen<br />
sich nur mit der Erkenntnis rechtfertigen: „Bessere Antworten als Marx<br />
haben wir bis heute nicht gefunden.“<br />
Neffe, Jürgen:<br />
Marx – Der Unvollendete.<br />
C. Bertelsmann Verlag<br />
München 2017<br />
ISBN: 978-3-570-10273-2<br />
656 Seiten, 28,00 Euro<br />
Gareth Stedman Jones:<br />
Karl Marx. Die Biographie.<br />
Aus dem Englischen<br />
von Thomas Atzert und<br />
Andreas Wirthenson<br />
S. Fischer, Frankfurt<br />
am Main 2017<br />
ISBN: 978-3-10-490558-7<br />
896 Seiten, 32,00 Euro<br />
Gareth Stedman Jones: Karl Marx – Die Biographie<br />
Um biografische Details kümmert sich das Werk von Gareth Stedman<br />
Jones eher weniger. Detailreich wird es eher zufällig, wenn der Autor im<br />
Archiv Dokumente findet, die frühere Darstellungen in Zweifel ziehen,<br />
wie dem Brüsseler Kommunistenaufstand im Jahr 1847. Überwiegend<br />
geht es Stedman Jones um die Einbettung der marxschen Theorien in die<br />
Geistesgeschichte. Leider behandelt er vor allem Frühwerke, das Hauptwerk<br />
„Das Kapital“ wird eher kurz dargestellt.<br />
Wer sich dafür interessiert, welchen Einfluss der Philosoph Hegel auf die<br />
marxschen Frühschriften hatte, was Ludwig Feuerbach und Bruno Bauer<br />
oder auch Proudhon als Inspiratoren oder Objekte der Kritik zur marxistischen<br />
Theorie beigetragen haben, der ist bei diesem Buch richtig. Viele<br />
Stellen lesen sich jedoch zäh. Stedman Jones’ Verdienst liegt darin, einmal<br />
das geistesgeschichtliche Umfeld der Schriften von Marx beleuchtet<br />
zu haben. Dafür ist es unbedingt zu empfehlen.<br />
Die Marx-Rezeption wird immer komplexer durch die fortschreitende<br />
Fertigstellung der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). Die wissenschaftliche<br />
Herausgabe der Schriften von Marx und Engels lässt nach<br />
und nach ein ganz neues Bild des ursprünglichen Marxismus entstehen.<br />
Stedman Jones greift umfangreich auf die MEGA zurück. Somit beschreibt<br />
sein Buch den aktuellen Forschungsstand.<br />
Die Diskussion über Marx wird eine Generation nach dem Mauerfall nicht<br />
mehr unter politisch-ideologischen Vorzeichen geführt. Das tut dem Verständnis<br />
seines Werks gut.<br />
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