LITERATUR Fotos: Christine Thürmer 14 <strong>DER</strong> <strong>BERG</strong> 1|2<strong>01</strong>8
EXPEDITION & ABENTEUER | CHRISTINE THÜRMER CHRISTINE THÜRMER WAN<strong>DER</strong>T, RADELT UND PADDELT – SEIT ELF JAHREN 2007 gab Christine Thürmer ihren gutbezahlten Job als Turnaround-Managerin auf. Seither wandert, radelt und paddelt sie auf allen Kontinenten dieser Erde. Über 75.000 Kilometer bislang. Eine Wohnung hat sie nur noch gelegentlich, meistens lebt sie im Zelt. Sie ist keine Aussteigerin, sondern eine Umsteigerin. Sie mochte ihren Beruf, aber ihn ein ganzes Leben lang machen? Nun ist das Unterwegssein ihr Job. Das „Höher, schneller, weiter“ der Abenteuerbranche interessiert sie nicht. Sie unternimmt Touren, die jeder machen kann, sagt sie. Und inspiriert damit sehr viele Menschen. CHRISTINE, WO BIST DU GERADE? Derzeit wohne ich noch für anderthalb Monate in Berlin – ganz minimalistisch in einer Plattenbauwohnung. Hier bereite ich meine nächsten Touren vor und reise zu meinen Vorträgen, die ich gerade in ganz Deutschland halte. WAS HAST DU ALS NÄCHSTES VOR – WOHIN WAN<strong>DER</strong>ST DU? Ich werde mein „Großprojekt“ beenden – Europa von Nord nach Süd und von Ost nach West zu durchwandern. Die Ost-West-Querung von Santiago de Compostela bis zum Schwarzen Meer liegt schon hinter mir. Und für die Nord-Süd- Passage fehlt mir nur noch das Stück von Göteborg bis zum Nordkap – das werde ich ab Mai unter die Füße nehmen. Im Herbst komme ich für zwei Monate Vortragsreise nach Deutschland zurück, bevor ich nach Patagonien aufbreche und dort wandere. 2<strong>01</strong>9 steht eine große Paddel-Tour auf dem Programm, ebenfalls in Europa. WAS BRINGT DIR DAS DRAUSSENLEBEN BEI? WAS IST DEIN GROSSES WARUM? Wenn ich auf Tour bin, brauche im Wesentlichen nur viererlei: Wasser, Proviant, Wärme und Wetterschutz. Alles, was darüber hinausgeht, ist Luxus – ob es nun der extra Schokoriegel ist, eine warme Dusche oder frisch gewaschene Kleidung. Dadurch, dass ich mich auf meine Grundbedürfnisse reduziere, sinkt meine Glücksschwelle. Ich kann Kleinigkeiten ungemein schätzen. Das Glücksgefühl, das dann in mir aufsteigt, ist direkt und körperlich. Draußen zu leben, ist außerdem sehr einfach. Ich muss nicht viel überlegen. Aufstehen, einpacken, losgehen. Das lässt mir Zeit und Raum, über das nachzudenken, was mich interessiert. Ich bin wieder Herrin über meine intellektuellen Kapazitäten. Unterwegs höre ich viele Hörbücher und denke über das Gehörte nach – oder ich konzipiere meine Buchkapitel schon in Gedanken. Natürlich lebe ich auch in nahezu grenzenloser Freiheit. Niemand sagt mir, wann ich wo zu sein habe und wie ich aussehen soll. Unterwegs bin ich komplett selbstbestimmt. Das ist ein grandioses Gefühl. Und ich lebe sehr stark im Hier und Jetzt. Natürlich muss ich mit Problemen umgehen: Das Wetter ist schlecht, der Proviant wird knapp, die Schuhe lösen sich im unpassendsten Moment auf. Aber alle diese Probleme lassen sich erstens lösen und zweitens zwingen sie mich, immer sehr intensiv und körperlich im Hier und Jetzt zu sein. Ich habe keine Zeit und Energie übrig, um beispielsweise über die Vergangenheit nachzugrübeln oder diffuse Zukunftsängste zu entwickeln. Mich beschäftigt unterwegs, dass ich meine Kilometer schaffe und Essen habe. Das erdet mich und dieses Geerdetsein macht mich glücklich. WOHER NIMMST DU DEIN GEFÜHL VON SICHERHEIT UND GEBORGENHEIT? Als ich 2007 meine Wohnung aufgegeben habe, um den Appalachian Trail zu laufen, war das ein echtes Problem für mich – kein Zuhause mehr zu haben, keine Rückzugsmöglichkeit. Unterwegs habe ich dann aber gelernt, mich in mich selbst zurückzuziehen. Ich habe auch keine Angst mehr, 1|2<strong>01</strong>8 <strong>DER</strong> <strong>BERG</strong> 15