„Bauernbefreiung“ – eine kurze Einführung
„Bauernbefreiung“ – eine kurze Einführung
„Bauernbefreiung“ – eine kurze Einführung
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Am Vorabend der Bauernbefreiung<br />
Agrarische Verhältnisse und frühe Reformen in Niedersachsen<br />
im 18. Jahrhundert<br />
Entwurf, nur für den Gebrauch in m<strong>eine</strong>m Seminar gedacht<br />
Karl H. Schneider, Hannover 2006
Inhaltsverzeichnis<br />
I. Statt <strong>eine</strong>s Vorworts 4<br />
II. Die <strong>„Bauernbefreiung“</strong> <strong>–</strong> <strong>eine</strong> <strong>kurze</strong> <strong>Einführung</strong> 4<br />
III. Dorf und Landwirtschaft vor der Industrialisierung 5<br />
1. Naturraum und Siedlung.........................................................................................................5<br />
1. Ackerbau 10<br />
2. Das „liebe“ Vieh 14<br />
3. Typisches und Untypisches 18<br />
2. Die Dynamik des Dorfes......................................................................................................19<br />
1. Die Gemeinschaft der Ungleichen 19<br />
a) Die Entstehung der Hofklassen................................................................................21<br />
b) Die Meier.....................................................................................................................23<br />
c) Die Kötner...................................................................................................................24<br />
d) Die Kleinstellen...........................................................................................................26<br />
e) Die Nicht-Landbesitzenden.......................................................................................29<br />
f) Die Dynamik der Entwicklung..................................................................................31<br />
2. Beispiele niedersächsischer Dörfer 34<br />
a) Wehrbleck, Strange, Nordholz..................................................................................34<br />
b) Bokensdorf..................................................................................................................37<br />
3. Krisenjahre 38<br />
4. Ein Forschungsdiskurs 39<br />
5. Eine Frage der Perspektive 42<br />
6. Die Rolle des Marktes 43<br />
3. Herrschaftliche Abhängigkeit...............................................................................................43<br />
1. Formen der Abhängigkeit 43<br />
a) Die Grundherrschaft..................................................................................................45<br />
b) Das Meierrecht............................................................................................................49<br />
c) Zins- und Erbzinsrechte, Hägerrecht.......................................................................53<br />
d) Eigenbehörigkeit.........................................................................................................53<br />
e) Zehntherrschaft...........................................................................................................54<br />
f) Dienstwesen.................................................................................................................56<br />
g) Gerichtsherrschaft.......................................................................................................59<br />
2. Die Agrarverfassung im Spannungsfeld zwischen Grundherren und Landesherren 59<br />
3. Ökonomische Folgen bäuerlicher Abhängigkeit 66<br />
SCHNEIDER_Vorabend_Entwurf.odt Seite 2
IV. Agrarreformen als sozialer Prozess 70<br />
1. Reformkonzepte....................................................................................................................70<br />
1. Reform der Landwirtschaft 71<br />
2. Die Celler Landwirtschaftsgesellschaft und die englische Landwirtschaft 73<br />
3. Dienstabstellungen 76<br />
4. Gemeinheitsteilungen 81<br />
5. Frühe Verkoppelungen 87<br />
2. Nachholende Modernisierung? ...........................................................................................91<br />
3. Die Rolle der Bauern...........................................................................................................101<br />
V. Ein Zwischenergebnis 107<br />
VI. Wie dies Buch entstand 109<br />
VII. Ländliche Gesellschaft und Agrarreformen 110<br />
1. <strong>„Bauernbefreiung“</strong> und „liberale Agrarreformen“........................................................112<br />
VIII. Die Bauernbefreiung als Prozess 116<br />
Literatur 122<br />
SCHNEIDER_Vorabend_Entwurf.odt Seite 3
I. Statt <strong>eine</strong>s Vorworts<br />
Im Jahre 1831 <strong>–</strong> in Deutschland zeigten sich Anzeichen revolutionärer Gesinnung und<br />
Tendenzen <strong>–</strong> brach auch im bis dahin ruhigen Königreich Hannover <strong>eine</strong> neue Zeit an.<br />
Sie kündigte sich u.a. dadurch an, dass über grundlegende Dinge wie die Reform der<br />
Landwirtschaft heftig gestritten wurde. Im Mittelpunkt stand dabei die Aufhebung der<br />
bisherigen bäuerlichen Unfreiheit, weniger umstritten war die Aufhebung der<br />
Gemeinweiden, der Angerflächen, der gem<strong>eine</strong>n Marken. Nur <strong>eine</strong>r verweigerte sich<br />
der Annahme, dass die neuen Zeiten unwiederbringlich angebrochen seien, und <strong>eine</strong><br />
genossenschaftliche Nutzung der Feldmarken <strong>eine</strong>r alten, rückständigen Zeit angehöre.<br />
Salomon Philipp Gans aus Celle stemmte sich in <strong>eine</strong>r 1831 in Braunschweig<br />
publizierten Schrift geradezu gegen den Zug der Zeit. S<strong>eine</strong> Schrift war betitelt mit<br />
„Ueber die Verarmung der Städte und des Landmannes und den Verfall der städtischen<br />
Gewerbe im nördlichen Deutschland, insbesondere im Königreiche Hannover. Versuch<br />
<strong>eine</strong>r Darstellung der allgem<strong>eine</strong>n Hauptursache dieser unglücklichen Erscheinungen<br />
und der Mittel zur Abhülfe derselben“.<br />
Eine s<strong>eine</strong>r Klagen bestand darin, dass die Gemeinheitsteilungen und<br />
Verkoppelungen, wir würden heute sagen, die Flurbereinigung, zu schnell und ohne die<br />
Mitsprache der Bauern durchgeführt werde. Gewiss habe sie Vorteile, aber auch<br />
Nachteile wie die „Isolirung des Landmannes in der Aufhebung des freundlichen<br />
nachbarlichen Verhältnisses und Ertödtung alles Gemeinsinnes. “ 1 Gans sah etwas, was<br />
sein Kritiker nicht sehen wollten oder konnten 2 : durch die Reformen, welche im<br />
19. Jahrhundert in Niedersachsen durchgeführt wurden, erfolgte <strong>eine</strong> Umgestaltung der<br />
Landwirtschaft, die nicht nur zu <strong>eine</strong>r Steigerung der Produktivität führte, sondern die<br />
weit reichende Konsequenzen sowohl für die landwirtschaftlichen Betriebe selbst, die<br />
dörfliche Bevölkerung und die gesamte Gesellschaft hatten. Der Fortschritt brachte<br />
zwar auch Vorteile mit sich, er führte aber auch zur Zerstörung von Strukturen, die bis<br />
dahin über Jahrhunderte das Leben auf dem Lande geprägt hatten. Diese Zerstörung,<br />
die inzwischen fast 200 Jahre zurück liegt, hat bis heute wirkende Folgen, erschwert sie<br />
es uns doch heute so sehr das Verständnis dieser untergegangenen ländlichen Welt. Die<br />
Rekonstruktion dieser Welt vor den Reformen und mehr noch die Bewertung dieser<br />
Welt <strong>–</strong> war sie wirklich so reformbedürftig wie oft von zeitgenössischen Kritikern<br />
formuliert wurde? -- ist ein mühseliges Geschäft, <strong>eine</strong> Herausforderung, die immer<br />
wieder nur zu Zwischenergebnissen führen kann.<br />
II. Die <strong>„Bauernbefreiung“</strong> <strong>–</strong> <strong>eine</strong> <strong>kurze</strong> <strong>Einführung</strong><br />
Gegenstand dieses Buches ist die Befreiung der Bauern von Abhängigkeiten, die sie in<br />
ihrer Wirtschaftsführung und ihrem gesamten Leben stark eingrenzten und zudem<br />
vielfältige Lasten und Belastungen zur Folge hatten. Diese Abhängigkeiten lassen sich<br />
in zwei Gruppen einteilen:<br />
1. Solche von Herren, die den Bauern das Land zur Bebauung überlassen hatten und<br />
nun sowohl darüber bestimmten, wie das Land genutzt wurde, als auch<br />
Dienstleistungen und Abgaben von den Höfen einforderten. Diese Herrschaftsrechte<br />
waren durchaus unterschiedlich. Wir fassen diese Abhängigkeiten knapp als „feudale<br />
1 GANS (1831), 56-58.<br />
2 BARING (1831).<br />
4
Abhängigkeiten“ zusammen. Sie lassen sich wiederum in unterschiedliche Gruppen<br />
unterteilen. Da gab es die Grundherrschaft, sie bedeutete, dass der Bauer sein Land<br />
von <strong>eine</strong>m Grundherrn hatte, der über die Nutzung des Landes entschied und<br />
außerdem Abgaben, so genannte Zinsen von dem Hof erhielt. Die wichtigste<br />
Ausprägung der Grundherrschaft war das so genannte Meierrecht. Dann gab es die<br />
Leibherrschaft, die darin bestand, dass der Bauer und s<strong>eine</strong> Familie <strong>eine</strong>m Leibherrn<br />
unterstanden, der über die persönlichen Entscheidungen des Bauern, insbesondere die<br />
Heirat, mit entschied, und bei dem Tod des Bauern oder <strong>eine</strong>s Familienangehörigen<br />
<strong>eine</strong>n Teil des privaten Vermögens des/der Toten erhielt. Dies konnte <strong>eine</strong> mehr<br />
symbolische Abgabe sein oder bis zur Hälfte des Vermögens umfassen. Der Leibherr<br />
übte meist auch die niedere Gerichtsbarkeit über den Bauern aus und war Empfänger<br />
der so genannten Herrendienste. Zu diesen beiden Herrschaftsrechten gesellte sich<br />
noch das Zehntrecht, welches darin bestand, dass bis zu <strong>eine</strong>m Zehntel der Ernte an<br />
den Zehntherrn entrichtet werden musste.<br />
Herrschaftsrechte übten in erster Linie der Landesherr und der Adel aus, dann die<br />
Kirche und schließlich auch Bürger sowie einzelne Städte. Bedenkt man, dass die<br />
privilegierte Position des Adels ohne diese Herrschaftsrechte und die aus ihnen<br />
abgeleiteten Einnahmen kaum denkbar waren, wird deutlich, dass <strong>eine</strong> Aufhebung<br />
dieser Abhängigkeiten <strong>eine</strong> umfassende gesellschaftliche Reform zur Voraussetzung<br />
oder zur Folge haben musste.<br />
2. Die zweite Gruppe von Abhängigkeiten ergab sich aus den dörflichen<br />
Verhältnissen. Größere Teile der Feldmark wurden gemeinsam, genossenschaftlich<br />
genutzt, meist sogar gemeinsam von mehreren Dörfern, sie hießen je nach Region<br />
Allmende, Meente, Gemeinheit, Anger oder Mark. Auf diesen Flächen konnte<br />
niemand individuell wirtschaften. Das war zwar auf den eigentlichen Ackerflächen<br />
möglich, aber da diese aus vielen, schmalen und langen Parzellen mussten sich die<br />
Feldnachbarn über die Nutzung ihres Ackerlandes auch verständigen. Zudem wurde<br />
das Land nach der Ernte teilweise für die Viehweide genutzt, damit es gedüngt werden<br />
konnte. In der Realität handelte es sich bei den genossenschaftlichen Nutzungsrechten<br />
um komplexe, sich überschneidende Rechte, die schon die Zeitgenossen in Verwirrung<br />
setzte.<br />
Dieses Buch stellt zunächst die unterschiedlichen Abhängigkeiten dar, zugleich gibt<br />
es <strong>eine</strong> <strong>Einführung</strong> in die sozialen und ökonomischen Verhältnisse im Dorf im<br />
18. Jahrhundert. Teilweise werden auch die staatlichen, bzw. landesherrlichen<br />
Verhältnisse behandelt. Es folgt schließlich ein Blick auf die im 18. Jahrhundert<br />
einsetzenden, vorsichtigen Versuche zur Aufhebung der alten feudalen wie<br />
genossenschaftlichen Abhängigkeiten der Bauern.<br />
III.Dorf und Landwirtschaft vor der<br />
Industrialisierung<br />
1. Naturraum und Siedlung<br />
„Der Boden war in der Agrargesellschaft Schlüsselenergieträger. Er lieferte Biomasse<br />
zur Wärmegewinnung und als Nahrung zur Aufrechterhaltung menschlicher und<br />
tierischer Arbeitskraft. Er war zugleich bedeutendstes Produktionsmittel, sicherstes<br />
und gebräuchlichstes Gefäß für die Anlage von Kapital, gewichtigstes Steuersubstrat,<br />
5
ausschlaggebender Maßstab für politische Macht und gesellschaftliche Wertschätzung,<br />
einzige Quelle der sozialen Sicherheit und damit Angelpunkt der sozialen Logik. Wer<br />
nicht genügend Kulturland besaß, um sich und s<strong>eine</strong> Familie ernähren zu können, galt<br />
als arm. Der Grundbesitz spiegelte sich im Speisezettel, er entschied über die<br />
Möglichkeit, <strong>eine</strong> Familie gründen zu können, und er war vielfach ausschlaggebend bei<br />
der Partnerwahl.“ 1<br />
Die Nutzung des Bodens war seit Generationen bis in die kleinsten Details geregelt<br />
worden: von der dörflichen Bevölkerung und von den Grundherren, die ein Interesse<br />
daran hatten, dass bestimmte soziale und wirtschaftliche Verhältnisse auf den Dörfern<br />
bestehen blieben.<br />
Betrachtet man alte Flurkarten, so lässt sich an <strong>eine</strong>m kl<strong>eine</strong>n Detail sofort<br />
erkennen, ob sie vor oder nach den Agrarreformen, in diesem Fall den<br />
Gemeinheitsteilungen und Verkoppelungen, entstanden sind. 2 Vor den Reformen gab<br />
es so gut wie k<strong>eine</strong> gerade Linie im Dorf und in der Feldmark: die Wege und Felder<br />
verliefen meistens in gekrümmter Form und passten sich dem Geländeverlauf an.<br />
Ganz anders dagegen das Bild nach den Reformen: nun dominierten exakt<br />
ausgerichtete gerade Wege, Gräben und Felder; lediglich innerhalb der Dörfer gab es<br />
weiter das geordnete Chaos der Vorreformzeit, da die Flurbereinigung die Siedlungen<br />
(meist) ausschloß. 3<br />
Die dem Gelände angepassten Wege signalisieren die enge Beziehung von<br />
ländlichem Wohnen, Arbeiten und Leben zur umgebenden Natur. Diese Beziehung<br />
stellte um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein ausgeklügeltes, fein aufeinander<br />
abgestimmtes System dar, das allerdings auf Störungen jeder Art empfindlich<br />
reagierte. 4 Im wesentlichen basierte es auf <strong>eine</strong>r sehr differenzierten Anpassung der<br />
Menschen an die natürlichen und naturnahen Bedingungen. Dabei hatten sie schon seit<br />
langem in die natürlichen Verhältnisse eingegriffen, was vorrangig zu Lasten des<br />
Waldes gegangen war. Vor allem in der großen Rodungsphase des Hochmittelalters war<br />
<strong>eine</strong> erhebliche Ausdehnung der von Menschen besiedelten Fläche gelungen, und der<br />
Wald vor allem auf die Höhenlagen zurückgedrängt worden. 5 Allerdings hatte die<br />
große Krise des Hochmittelalters, beginnend mit dem frühen 14. Jahrhundert,<br />
erheblich verschärft durch die seit der Mitte des Jahrhunderts Europa heimsuchende<br />
Pest, ergänzt um Fehden und Auseinandersetzungen, die Menschen zu <strong>eine</strong>m Rückzug<br />
aus den größeren Höhenlagen der Mittelgebirge gezwungen. 6<br />
1<br />
PFISTER (1995), Kap. 4.1.1, Anfang.<br />
2 Statt älterer Darstellungen sei jetzt verwiesen auf SEEDORF, MEYER (1996), S. 93-140;<br />
detaillierte regionale Darstellungen liegen für den Kreis Rotenburg/Wümme vor; <strong>eine</strong><br />
neuere Zusammenfassung bieten die Erläuterungshefte der Historisch-Landeskundlichen<br />
Exkursionskarten von Niedersachsen etwa SEEDORF (1989), dort insbes. S. 34-117.<br />
3 Gegenbeispiel Schwaförden; Dorferneuerung Schwaförden, Christiane Cordes; wo habe<br />
ich das?<br />
4 Auf die mittelalterlichen Grundlagen verweist etwa HAUPTMEYER (1997), insbes. S. 1045-<br />
1054; allgemein KÜSTER (1996), XX, <strong>eine</strong>n Überblick der älteren Forschung bietet HENKEL<br />
(1983). Außerdem gibt es <strong>eine</strong> Fülle regionaler Sonderstudien; <strong>eine</strong>n guten räumlich<br />
begrenzten Überblick bieten die Beiträge in den Erläuterungsheften der Historischlandeskundlichen<br />
Exkursionskarte für Niedersachsen, etwa SEEDORF (1989). In<br />
allgem<strong>eine</strong>rem Zusammenhang lesenswert DIPPER (1994), 9-41 („Die Herrschaft der<br />
Natur“).<br />
5 HAUPTMEYER (1997), S. 1065-1068.<br />
6
Doch das war auf lange Sicht gesehen nicht entscheidend, bedeutsamer war die<br />
erhebliche Vergrößerung des Siedlungsgebietes, zumal nicht nur die bewaldeten<br />
Höhenlagen teilweise bezwungen wurden, sondern auch die Feucht- und<br />
Niederungsgebiete Niedersachsens nicht mehr der menschlichen Siedlung völlig<br />
unverschlossen blieben. An der Nordseeküste, aber auch im Binnenland gelangen erste<br />
Erfolge bei der Trockenlegung größerer Feuchtgebiete. 7 Die systematisch angelegten,<br />
relativ „modern” wirkenden Reihensiedlungen dieser Phase (Marschhufen-,<br />
Waldhufen- und Hagenhufendörfer) prägen bis heute Niedersachsens<br />
Siedlungslandschaft. 8<br />
Jedoch änderten diese Erfolge wenig daran, dass es <strong>eine</strong> ungleiche, von den<br />
Bodenverhältnissen abhängige Siedlungsdichte gab. Relativ hoch war sie im Bereich der<br />
Lößzone zwischen Osnabrück, Hannover, Hildesheim und Braunschweig. Mit der<br />
verbesserten Pferde- und Ochsenanspannung des Hochmittelalters bildeten sie auch<br />
für <strong>eine</strong> intensive Bearbeitung kein Hindernis mehr. Ebenfalls relativ hoch, allerdings in<br />
den Flusstälern konzentriert, war die Siedlungsdichte im niedersächsischen Berg- und<br />
Hügelland, während der Harz, in mittelalterlicher Perspektive ein unzugängliches<br />
Hochgebirge, weitgehend siedlungsfrei blieb. Siedlungsdichte heißt übrigens seit dem<br />
13. Jahrhundert <strong>eine</strong> große Zahl ländlicher wie städtischer Siedlungen und damit <strong>eine</strong><br />
enge Verbindung von Stadt und Land, die beide nicht nur häufig zur gleichen Zeit<br />
entstanden, sondern auch funktional aufeinander bezogen waren. 9<br />
Während das Gebiet bis zur Linie Osnabrück, Hannover, Hildesheim, Braunschweig<br />
schon früh relativ dicht besiedelt war, sah es in den nördlich davon gelegenen<br />
Geestgebieten mit den großen Heide- und Moorflächen gänzlich anders aus. Hier<br />
waren nur räumlich eng begrenzte Einbrüche in die Feuchtgebiete gelungen. Moor-<br />
und Feuchtgebiete erwiesen sich auch weiterhin als siedlungsfeindlich. 10<br />
So hatte sich nach der großen Rodungsperiode des Hochmittelalters ein<br />
Siedlungsmuster zwar in enger Anlehnung an die naturräumlichen Gegebenheiten, aber<br />
zugleich beeinflusst durch menschliche Aktivitäten herausgebildet. Dies blieb bis in die<br />
Gegenwart bestehen. 11 Rodung und Urbarmachung von Wäldern bedeutete kein<br />
entscheidendes Hindernis, auch nicht die Trockenlegung zumindest kl<strong>eine</strong>rer<br />
Feuchtgebiete, dagegen bildete die Ertragfähigkeit des Bodens <strong>eine</strong> wesentlich höhere<br />
Hürde für Aktivitäten. Die vorhandene Bodenqualität ließ sich mit dem wenigen<br />
Naturdünger nur in bescheidenem Maße verbessern.<br />
Das in enger Wechselbeziehung zu den natürlichen Voraussetzungen<br />
herausgebildete Siedlungsbild Niedersachsens korrespondierte mit den Verhältnissen<br />
innerhalb der Siedlungen. Sie wurden vornehmlich dort angelegt, wo fünf<br />
Voraussetzungen gegeben waren:<br />
• „<strong>eine</strong> Nährfläche, d.h. ein lehmiger bis anlehmiger Boden für die<br />
Brotgetreideerzeugung,<br />
• Wasser für Mensch und Tier,<br />
• ein trockener Baugrund für das Haus,<br />
6 HAUPTMEYER (1997), S. 1111-1123. Zu den Wüstungen jetzt als Überblick SEEDORF, MEYER<br />
(1996), 2, S. 106-108. RÖSENER (1992), 31-36; Allgemein: ABEL (1976).<br />
7 WASSERMANN (1985).<br />
8 MITTELHÄUSSER (1977), XX.<br />
9 Knapp aber prägnant: HAUPTMEYER (1997), 1041-1045.<br />
10 HAUPTMEYER (1997), 1041-1044. HINRICHS, KRÄMER, REINDERS (1988), XX.<br />
11 Hierzu CHH, welcher Aufsatz?<br />
7
• Grünland für die Winterfutterversorgung (Heugewinnung) und hofnahe<br />
Nachtweiden (Wischhöfe),<br />
• Sommerweideflächen für Rinder, Schafe, Schw<strong>eine</strong> (anfangs Waldweide, die vielfach<br />
zu Heide- und Bruchfläche wurde)”. 12<br />
Aus diesen Voraussetzungen ergab sich ein typisches, wenngleich variantenreiches<br />
Siedlungsmuster. Die Dörfer und Siedlungen 13 lagen meist in Wassernähe<br />
(„Auorientierung“ nach Seedorf) und in enger Nachbarschaft zum nutzbaren<br />
Ackerland. Innerhalb der Dörfer wiederum waren es vornehmlich die älteren Höfe, die<br />
in weitgehend 14 hochwasserfreier Lage dicht am Ackerland lagen, während die<br />
nachfolgenden, jüngeren Stellen entweder in die feuchteren oder die trockenen Lagen<br />
abgedrängt wurden. Während die Problematik <strong>eine</strong>r zu feuchten Lage sofort ins Auge<br />
fällt <strong>–</strong> wer möchte schon bei jedem Frühjahrhochwasser oder Gewitter das Wasser in<br />
der Küche schwimmen sehen? <strong>–</strong> mag <strong>eine</strong> Lage mitten auf dem Ackerland durchaus<br />
vorteilhaft ersch<strong>eine</strong>n; jedoch gilt es in diesem Fall zu bedenken, dass in solchen Fällen<br />
sowohl die hofnahen Grünflächen fehlten, und damit <strong>eine</strong> Versorgung des Viehs<br />
erschwert war, als auch die Wasserversorgung erhebliche Schwierigkeiten bereiten<br />
konnte, da dann tiefe und kostenträchtige Brunnen gesetzt werden mussten. 15<br />
Eine Wende bildete zweifelsohne die spätmittelalterliche Agrarkrise, denn sie<br />
bedeutete das vorläufige Aus für die Binnenkolonisierung, die erst im 16. Jahrhundert<br />
in wesentlich bescheidenerem Maße wieder aufgenommen wurde. 16 Als im<br />
16. Jahrhundert die Bevölkerung wieder zunahm, wurde die neue Bevölkerung in den<br />
vorhandenen Dörfern „angesetzt“, wodurch sich die beschriebene Randlage der neuen<br />
Stellen ergab. 17 Dabei spielte die inzwischen erstarkte und institutionell<br />
weiterentwickelte Landesherrschaft <strong>eine</strong> wichtige Rolle. Sie griff fortan immer stärker<br />
in die dörflichen Verhältnisse ein, verhinderte <strong>eine</strong>rseits die bis dahin üblichen<br />
Erbteilungen und setzte das Anerbenrecht durch, ermöglichte aber andererseits gegen<br />
den teilweise erbitterten Widerstand der Dorfbewohner die Ansetzung neuer Siedler<br />
auf den genossenschaftlich genutzten Flächen. 18<br />
War in der Phase bis Anfang des 14. Jahrhunderts das Siedlungsbild Niedersachsens<br />
dadurch bestimmt gewesen, dass in der Nachbarschaft der kl<strong>eine</strong>n Altsiedeldörfer neue<br />
Rodungssiedlungen in Form der Wald- und Hagenhufendörfer entstanden, so erfuhr es<br />
danach lediglich Erweiterungen und Verf<strong>eine</strong>rungen. Zwar hatte die große Krise des<br />
14. und frühen 15. Jahrhunderts dazu geführt, dass zahlreiche Siedlungen wüst fielen,<br />
aber gleichzeitig war in der Folgezeit durch den internen Siedlungsausbau und die<br />
Entstehung von Tochtersiedlungen das Siedlungsbild sehr komplex geworden. Neben<br />
den mehr oder weniger geschlossenen Dörfern der Börde 19 prägten Plansiedlungen,<br />
12<br />
SCHNEIDER, SEEDORF (1989), 13. SEEDORF, MEYER (1996), 100-106.<br />
13 Die Unterscheidung Dörfer-Siedlungen wird hier getroffen, da für die Geestgebiete auch<br />
Einzelhöfe und Doppelhöfe kennzeichnend sind, die nicht als Dörfer bezeichnet werden<br />
können.<br />
14 Allerdings konnte es durchaus geschehen, daß bei steigendem Grundwasserstand Höfe<br />
verlegt werden mußte; ein Beispiel in Komitee ''1000 Jahre Mandelsloh'' (1985), 182.<br />
15 Hier ggf. Beispiel aus Duddenhausen, wo beide Aspekte zu finden sind.<br />
16<br />
RÖSENER (1985), 255-267. Klären, ob dieser Band!<br />
17<br />
MARTEN (1965), XX.<br />
18<br />
CORDES (1981).<br />
19 Dörfer mit <strong>eine</strong>r geschlossenen Siedlungslage werden Drubbel genannt.<br />
8
Einzelhöfe, Weiler 20 oder Sonderformen wie die ostniedersächsischen Rundlinge 21 das<br />
Bild. 22<br />
Die Abhängigkeit von naturräumlichen Voraussetzungen ist schon durch <strong>eine</strong>n Blick<br />
auf unterschiedliche Siedlungstypen und die Siedlungsdichte sichtbar. In den weiten<br />
Geest-, Heide- und Moorlandschaften Niedersachsens und Westfalens herrschten nicht<br />
nur Streusiedlungen und Einzelhöfe vor, sondern die Siedlungsdichte war relativ<br />
gering, was sowohl für die Verteilung der einzelnen Siedlungen als auch für die<br />
Siedlungsgröße gilt. Die minderwertigen, ertragsarmen Sandböden der Geest<br />
herrschten in Verbindung mit weiträumigen Heide- und Moorflächen vor, in denen<br />
kl<strong>eine</strong>, inselartige humushaltige Eschböden eingestreut waren. Ohne den intensiven<br />
Einsatz bodenverbessernder Maßnahmen wie Düngung oder Trockenlegung ließen<br />
sich die Erträge dieser Böden nur innerhalb enger Grenzen erhöhen. Eine extensive,<br />
weite Flächen benötigende Landwirtschaft war deshalb das Kennzeichen dieser<br />
Gebiete, in denen durch das Abstechen von Heideplaggen, die als Einstreu verwendet<br />
und anschließend als Dünger auf die Ackerflächen ausgebracht wurden, der<br />
notwendige Dünger gewonnen wurde. Bot also die Landwirtschaft nur <strong>eine</strong> schmale<br />
Basis für menschliche Ernährung, so war doch genügend Land für die Siedlung<br />
vorhanden, so dass die wenigen Siedlungen weiträumig angelegt waren. Aus diesen<br />
Voraussetzungen ergab sich ein Landschaftsmuster, in dem Heide, Moor und<br />
Ackerland mit Einzelhofsiedlungen und Dörfern abwechselten.<br />
Schon der erste vergleichende Blick auf ein Bördedorf offenbart große<br />
Unterschiede: sie reichen von der wesentlich geschlosseneren Siedlungsstruktur mit<br />
<strong>eine</strong>r dichten Bebauung im Dorfkern über <strong>eine</strong> größere Siedlungsdichte bis hin zu<br />
naturräumlichen Unterschieden, denn nicht der Wechsel zwischen Moor, Heide,<br />
Weiden und Ackerinseln, sondern <strong>eine</strong> in erster Linie durch weite Ackerfluren<br />
gekennzeichnete Landschaft bestimmt hier das Bild. 23 Aber auch diese zunächst so<br />
„ausgeräumte“ wirkende Landschaft kannte kleinräumige Unterschiede und hatte<br />
zumindest in den Niederungsgebieten und nahe den Wasserläufen kl<strong>eine</strong><br />
Feuchtbiotope. 24 Der Grund für diese Abweichungen ist offenkundig, denn angesichts<br />
der hohen Bodengüte <strong>–</strong> hier waren und sind Bodenwertzahlen 25 von über 80 Punkten<br />
k<strong>eine</strong> Seltenheit <strong>–</strong> wäre <strong>eine</strong> Grünlandwirtschaft Verschwendung gewesen (wobei auch<br />
hier das Vieh als Düngerlieferant und Zugvieh unentbehrlich war!), ebenso wie <strong>eine</strong><br />
weiträumige Siedlungsanlage, während andererseits die geringe Ertragfähigkeit des<br />
Geestbodens <strong>eine</strong> hohe Bevölkerungsdichte verhinderte, die wiederum in den<br />
Bördedörfern durchaus möglich war.<br />
Börde- und Geestdörfer, die hier kurz skizziert wurden, bilden nur zwei von vielen<br />
Erscheinungsformen ländlicher Siedlungen im Nordwesten; ihnen müssen zumindest<br />
noch die Marschdörfer an der Küste und die Dörfer im Bergland an die Seite gestellt<br />
werden. Hinzu kommen Sonderformen wie die planmäßig angelegten Marsch- und<br />
Hagenhufendörfer des Hochmittelalters oder die ostniedersächsischen<br />
Rundlingsdörfer. Die Hagenhufendörfer wurden während des Hochmittelalters als<br />
20 Kl<strong>eine</strong> und weitläufig Dörfer.<br />
21 Kreisförmig angelegte Dörfer.<br />
22 Einen Überblick bietet SEEDORF, MEYER (1996), 108-127.<br />
23 Siehe HAUPTMEYER (1983) mit den Fotos.<br />
24 Einen eindrucksvollen Vergleich bieten die Bilder auf den Umschlagseiten von<br />
HAUPTMEYER (1983), die jeweils den gleichen Bildausschnitt 1820 und 1980 zeigen.<br />
25 Bodenwertzahlen sind ein Richtwert zur Einschätzung der Bodengüte; der Höchstwert<br />
beträgt 100 Punkte.<br />
9
systematische Straßendörfer angelegt, der Begriff ist aus der Hufe, <strong>eine</strong>m Flächenmaß,<br />
und dem Hagen, die das Land einhegende Hecke, zusammegesetzt.<br />
Die nordwestdeutsche Siedlungslandschaft war damit durch <strong>eine</strong> beachtliche Fülle<br />
verschiedener Typen und Varianten gekennzeichnet.<br />
1. Ackerbau<br />
Mit dem Bevölkerungsanstieg zu Beginn des 16. Jahrhunderts, der in wenigen<br />
Jahrzehnten die riesigen Verluste des 14. und frühen 15. Jahrhunderts ausgleichen<br />
konnte, setzte die so genannte „Vergetreidungsphase” Mitteleuropas ein: die Europäer<br />
wurden zu Brot- und Breiessern. 26 Die starke Konzentration auf den Ackerbau ergab<br />
sich schlicht und einfach aus der Tatsache, dass der Kalorienertrag je Flächeneinheit<br />
beim Getreideanbau wesentlich höher ist als bei der Viehzucht. Den Menschen blieb<br />
angesichts der steigenden Bevölkerungszahlen und der nur unzureichenden<br />
Produktionssteigerung in der Landwirtschaft nichts weiter übrig, als vom<br />
schmackhaften Fleisch zu lassen, und sich der eintönigen Ernährung mittels Brot,<br />
Breien und Hülsenfrüchten zuzuwenden, während das Fleisch den Fest- und<br />
Feiertagen bzw. den besser gestellten Gruppen im Dorf vorbehalten blieb. 27 Diese<br />
Konzentration auf den Ackerbau stieß jedoch an die beschriebenen Grenzen und<br />
zugleich zeigen uns die Flurkarten des späten 18. Jahrhunderts den verbissenen Kampf<br />
der Dorfbewohner gegen diese Grenzen.<br />
In den naturräumlich benachteiligten Gebieten der Geest gab es zwei große<br />
„Felder”: die alten Streifenfluren auf dem Esch, d.h. „altes Ackerland”, und die auf<br />
den Heide- und Angerflächen gerodeten Kämpe 28 , meist Blockfluren, die entweder von<br />
<strong>eine</strong>m Hof allein bewirtschaftet wurden oder inzwischen auf mehrere Bearbeiter<br />
aufgeteilt worden waren. Das neu gerodete Land (das „Rottland”) gehört zu den<br />
typischen Elementen dörflicher Wirtschaftsweise und reicht bis weit in das Mittelalter<br />
zurück, wurde aber besonders in der frühen Neuzeit parallel zum Bevölkerungsanstieg<br />
weiter ausgedehnt.<br />
Das Ackerland wurde <strong>–</strong> so mag es zumindest auf den ersten Blick ersch<strong>eine</strong>n <strong>–</strong><br />
individuell bewirtschaftet, doch zeigt schon ein flüchtiger Blick auf Flurkarten, dass die<br />
Realität komplexer war. Auffällig ist die starke Parzellierung der Flur, die zunächst wie<br />
r<strong>eine</strong> Willkür anmutet, tatsächlich aber ein fein abgestimmtes System bildete, das s<strong>eine</strong><br />
eigene Genese hatte, und sich bis in das frühe 19. Jahrhundert hinein weiter<br />
entwickelte. 29 Bei Parzellenbreiten von teilweise weniger als zehn Metern war <strong>eine</strong><br />
Bewirtschaftung ohne nachbarliche Absprache nicht möglich. Deshalb waren die Felder<br />
auch in so genannte Schläge oder Gewanne aufgeteilt, auf denen jeweils die gleichen<br />
Früchte angebaut wurden. Das klassische Bild zeigt jeweils drei Gewanne und zwar für<br />
das Wintergetreide (Roggen), das Sommergetreide und die Brache; letztere war<br />
26 In Anlehnung an BRAUDEL ([ca. 1995]a), 156 f. Überzeugend beschreibt BECK (1993), 196-<br />
207, die Ernährungssituation der frühneuzeitlichen Dorfbewohner. Die Folgen des<br />
Bevölkerungsrückgangs nach der Pest und des Anstiegs im 16. Jahrhundert beschreibt<br />
anschaulich LE ROY LADURIE (1990), hier 63-78. MONTANARI (1995), 126 f.<br />
27 Siehe auch den aufschlußreichen Bericht bei Nepomuk SCHWERZ (circa 1980 = 1836), S.<br />
XX<br />
28 Größere geschlossene Ackerfläche, meist außerhalb der alten Ackerflur auf Land mit<br />
geringerer Bodengüte wie Heide angelegt.<br />
29 Siehe KÖSTER (1977), 83-98, mit vielen Karten.<br />
10
notwendig, um das Land regenerieren zu lassen, da die Verbesserung des Bodens durch<br />
Dünger nur in begrenztem Maße möglich war. 30<br />
Die Dreifelderwirtschaft wurde nach und nach im Hochmittelalter eingeführt und<br />
bedeutete damals gegenüber der Zweifelderwirtschaft <strong>eine</strong>n entscheidenden<br />
Fortschritt, so dass sie ursprünglich <strong>eine</strong> moderne, leistungsfähige Wirtschaftsform<br />
war. 31 Im 18. Jahrhundert war alles anders, denn nun erschien sie vielen als veraltete<br />
Form der Feldbewirtschaftung, gab es doch seit dem 16. Jahrhundert Möglichkeiten<br />
<strong>eine</strong>r intensiveren Nutzung des Landes in Form von Fruchtwechselwirtschaften.<br />
Tatsächlich gibt es seit diesem Jahrhundert <strong>eine</strong> Reihe von konkurrierenden, auch die<br />
jeweiligen naturräumlichen Verhältnisse ausnutzenden Wirtschaftsformen, wie der<br />
„ewige” (also ununterbrochene) Roggenanbau auf Teilen der nordwestdeutschen und<br />
westfälischen Geest oder Mehrfelderwirtschaft auf den besseren Gegenden im<br />
mittleren Niedersachsen. Bei aller Komplexität der Wirtschaftsformen bleibt jedoch<br />
das Phänomen der mehr oder weniger stark parzellierten, offenen Felder mit dem<br />
Zwang zur gemeinsamen Absprache, wenngleich der Flurzwang in s<strong>eine</strong>r strengen<br />
Form nur dort auftrat, wo das Land derart parzelliert war, dass den einzelnen Bauern<br />
ein direkter Wegezugang nicht möglich war.<br />
Auch dort, wo jeder Bauer s<strong>eine</strong> Felder direkt erreichen konnte und nicht über das<br />
Land s<strong>eine</strong>r Nachbarn fahren musste, war er, von den noch zu schildernden<br />
grundherrlichen Einschränkungen abgesehen, immer noch nicht „Herr” s<strong>eine</strong>s Landes.<br />
Vielmehr lag über „s<strong>eine</strong>m” Land ein unsichtbares Netz von Rechten, den so<br />
genannten Servituten, die im Herbst den Viehauftrieb auf das Land ermöglichten. Wer<br />
dann nicht zu rechter Zeit sein Feld abgeerntet hatte, der musste mit ansehen, wie<br />
Kühe oder große Schafherden über den Acker zogen und dort weideten. Besonders<br />
dort, wo neben den Bauern auch adelige Güter oder landesherrliche Domänen<br />
Servitutrechte besaßen, insbesondere die Schäfereigerechtigkeit, wirkten sich diese<br />
zusätzlichen Nutzungsrechte hemmend für Veränderungen aus, wie wir noch am<br />
Beispiel der frühen Reformen des 18. Jahrhunderts sehen werden. 32 Der Weideauftrieb<br />
hatte aber nicht nur Nachteile, denn das Beweiden des Ackers mit Schafherden hatte<br />
<strong>eine</strong>n entsprechenden Düngereintrag zur Folge und förderte damit den Ertrag des<br />
Landes. 33<br />
Angesichts der großen Abhängigkeit vom Naturraum, des fehlenden Düngers und<br />
<strong>eine</strong>s häufig unzureichenden Saatguts erstaunt es wenig, dass die Erträge gering und<br />
regional wie im langjährigen Ablauf stark schwankend waren. Auf der Geest waren sie<br />
am geringsten, in den Bördegebieten am höchsten. 34<br />
Die extreme Abhängigkeit von den topographischen Bedingungen hatte<br />
entscheidende Auswirkungen auf die Ernteerträge. Selbst kleinräumige Unterschiede <strong>–</strong><br />
etwas mehr Moor, Heide oder Ackerland, höherer Grundwassserspiegel, Reliefformen<br />
des Geländes u.a.m. <strong>–</strong> waren relevant, so dass allgem<strong>eine</strong> Aussagen über die<br />
Landwirtschaft der frühen Neuzeit kaum möglich ist. Eine 1801 durch den<br />
Reichsfreiherrn vom Stein initiierte Untersuchung über die Landwirtschaft im<br />
nördlichen Westfalen, den preußischen Provinzen Minden-Ravensberg, Tecklenburg<br />
und Lingen, zeigt allein für die Provinz Minden erhebliche Unterschiede in den<br />
30 Wer bietet <strong>eine</strong> schöne, passende Abbildung? Putzger, Weltatlas<br />
31 Eine Verteidigung der alten Flurmark enthält u.a. aus englischer Sicht NEESON (1996).<br />
32 Siehe unten S. .<br />
33 Zur Viehhaltung JENSSEN (1997).<br />
34 Knappe Angaben bei ACHILLES (1991), 22 f; ABEL (1978a), 225 f.<br />
11
Bodenverhältnissen, den Erträgen und den Hofgrößen. 35 In den an der Weser, zum Teil<br />
aber schon auf der Geest oder im Übergang zum Berg- und Hügelland gelegenen<br />
Ämtern waren die Bodenverhältnisse kleinräumig sehr differenziert. So heißt es vom<br />
Amt Schlüsselburg an der mittleren Weser: „Der Leimboden am Weserstrom ist der<br />
herrschende, obgleich auch viel Kleie und Sandboden, auch einiger nasser, in hiesiger<br />
Gegend vorhanden ist.“ Vom südlich davon liegenden Amt Hausberge wird<br />
ausdrücklich betont: „Vielleicht sind wenige Gemein[d]en im Fürstentum, die <strong>eine</strong><br />
solche Mannigfaltigkeit des Bodens aufzuweisen hätten als die hiesige, welches zum<br />
Teil durch bald höhere, bald niedrigere Lage der Grundstücke zwischen dem Berge<br />
und dem Werre Fluß verursacht wird.“ Aufgezählt werden dann Kleiboden, von dem<br />
es am wenigsten gebe, „Leimen macht nächstdem den Hauptbestandteil des hiesigen<br />
Bodens aus, mit dem Unterschied, dass er bald schwerer bald leichter ist, bald <strong>eine</strong><br />
trockene, bald <strong>eine</strong> nasse Lage hat, bald mehr bald weniger mit anderen fruchtbaren<br />
Erdarten oder auch sonst mit Sande gemischt ist“. 36<br />
Insbesondere die Bodennässe stellte die Landwirtschaft immer wieder vor große<br />
Probleme. Die stark parzellierte Feldmark konnte nicht durch Drainage entwässert<br />
werden, statt dessen griff man zu althergebrachten Entwässerungsmaßnahmen. So<br />
heißt es aus dem Amt Hausberge: „Die Ableitung des Wassers von den Feldern ist ein<br />
wichtiger Gegenstand bey der Ackerwirthschaft. Die gem<strong>eine</strong> Methode ist den Acker<br />
hochrückigt zu machen. Wenn er dann auch am Rücken gut trägt, so verliert man desto<br />
mehr an der Nähe der Wasserfurche …“ 37<br />
So schwankten die Erträge selbst auf den Feldern <strong>eine</strong>r Feldmark teilweise stark. In<br />
vier Ämtern des Fürstentums Minden-Ravensberg lagen die Roggenerträge zwischen<br />
dem 4. und dem 8. bis 9. Korn; ähnliche Ertragsunterschiede gab es bei den anderen<br />
Früchten. Gemessen wurden hier die Erträge übrigens in <strong>eine</strong>m Vielfachen der<br />
Aussaat. Das „4. Korn“ hieß also, dass die Ernte das Vierfache der Aussaat ausmachte.<br />
Die heute übliche Form, die Erntemenge in dt/ha, also in Gewicht anzugeben, gab es<br />
noch nicht, statt dessen wurden Hohlmaße oder Verhältniszahlen angegeben, die aber<br />
<strong>eine</strong> eindeutige Umrechnung auf heutige Maße erschweren. Durchschnittserträge<br />
wurden meist nicht angegeben, was angesichts der stark schwankenden Erträge und<br />
den unzureichenden Ermittlungsmethoden auch nicht verwundern sollte.<br />
Durchschnittswerte fehlen auch bei den Hofgrößen. 38 Fehlende exakte Zahlen<br />
hatten ihren Grund u.a. darin, dass sich die Beamten nicht der Mühe unterziehen<br />
wollten, etwa registerförmige Quellen systematisch auszuwerten. Eindeutige<br />
Größenzuordnungen waren außerdem in vielen Fällen nicht möglich, da die Streuung<br />
bei den Betriebsgrößen teilweise erheblich war und für größere Regionen mit stark<br />
unterschiedlicher Bodengüte Vergleichsmöglichkeiten erschwert waren. In den<br />
Geestgebieten gab es etwa große Gemeinheitsflächen, die nicht in die Hofgröße mit<br />
einfließen, während die genossenschaftlichen Flächen in Bördedörfern vergleichsweise<br />
klein waren.<br />
35 LINNEMEIER (1994), S. 30 ff.<br />
36 Ebd., S. 44.<br />
37 Ebd., S. 50.<br />
38 Hier etwa über die Größe der einzelnen Betriebe, nach der zwar auch gefragt wurde, auf<br />
die aber teilweise sehr ungenaue Angaben („Die gewöhnliche Größe <strong>eine</strong>s Bauerhofes ist<br />
ohngefehr 60 bis 70 Morgen.“ zitiert nach LINNEMEIER (1994), S. 72) oder höchstens nach<br />
Hofklassen aufgeteilte wie zum Amt Petershagen (Ebd., S. 81), wobei hier innerhalb der<br />
Hofklassen nur Spannweiten angegeben wurden.<br />
12
Kehren wir aber noch einmal zu den Ernteerträgen zurück, denn deren Höhe wurde<br />
nicht allein von der Bodengüte beeinflusst, sondern in hohem Maße von äußeren<br />
Einflüssen, insbesondere vom Wetter und Ungezieferbefall. Beide Faktoren<br />
verursachten von Jahr zu Jahr starke Schwankungen bei den Ernteerträgen. 39<br />
Bei mehrjährigen Missernten schaukelten sich die Mindererträge schnell zu<br />
extremen Krisen auf, die dadurch verschärft wurden, dass ab der zweiten Missernte<br />
Saatgetreide fehlte. Die unzureichenden Verkehrsverbindungen erschwerten außerdem<br />
den billigen Ankauf von Getreide aus anderen Regionen, verhinderten aber nicht, dass<br />
das Getreide dem Preis folgte, also von den Produzenten, größeren Bauern,<br />
Gutspächtern und dem Adel, dorthin verkauft wurde, wo die Nachfrage und die<br />
Kaufkraft am höchsten waren. 40<br />
Diese periodisch wiederkehrenden und bis in das 19. Jahrhundert hinein<br />
anhaltenden Krisenphasen, die auf dem starken kurzfristigen Rückgang des<br />
Getreideangebots beruhten, sollten nicht über Fortschritte hinweg täuschen. Für die<br />
zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts können wir davon ausgehen, dass gemessen an den<br />
Aussaatmengen zwischen dem 3. und dem 10., in Ausnahmefällen auch dem 12. Korn<br />
geerntet werden konnte. Im ersten Fall bedeutete dies, dass nach Abzug der Aussaat<br />
und der Abgaben für den Grundherrn kaum noch etwas für die Versorgung des Hofes<br />
und der Familie übrig blieb, im letzteren ermöglichten sie Überschüsse bei den<br />
größeren Höfen, die damit <strong>eine</strong>n Teil ihres Getreides auf den städtischen Märkten oder<br />
an Getreidehändler verkaufen konnten. 41<br />
Die Chancen der einzelnen ländlichen Gruppen, auf Phasen hoher Erträge und<br />
Mindererträge zu reagieren, waren demnach sehr unterschiedlich und die Abstände<br />
vergrößerten sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts offenbar weiter. Diejenigen, welche<br />
auch bei schlechten Erträgen immer noch <strong>eine</strong> Marktquote erwirtschafteten, also die<br />
großen Betriebe, profitierten überdurchschnittlich von den hohen Preisen und<br />
versuchten demgemäß, dort zu verkaufen, wo Nachfrage und Kaufkraft am höchsten<br />
waren. 42 Für diese Betriebe dürfte dementsprechend der Anreiz, neue Produkte<br />
einzuführen und die Produktivität allgemein zu erhöhen, am größten gewesen sein,<br />
wenngleich auch hierbei regionale Unterschiede <strong>eine</strong> Rolle gespielt haben dürften.<br />
Andererseits konnten sich Phasen hoher Erträge und entsprechend niedriger<br />
Getreidepreise für diese Betriebe verheerend auswirken. 43<br />
Die mittelgroßen Betriebe konnten zwar in schlechten Jahren in etwa ihren<br />
Eigenbedarf decken, profitierten aber eher von den mengenmäßig guten Ernten, da sie<br />
nur dann Überschüsse auf dem Markt anbieten konnten. Die Klein- und Kleinststellen<br />
dagegen mussten selbst in Normaljahren Getreide zukaufen und erst recht in Zeiten<br />
geringer Ernten, in denen sie unter den extrem hohen Preisen litten.<br />
39 Zur Wetter- und Klimaforschung siehe den Überblick bei MILITZER (1996). Zu<br />
europäischen Forschungen zu den Erträgen bietet der Sammelband BAVEL, THEON (1999)<br />
<strong>eine</strong>n guten, differenzierten Überblick.<br />
40 Erst im 19. Jahrhundert mit dem Eisenbahnbau änderte sich dies, was daran ablesbar ist,<br />
daß innerhalb Deutschlands das Getreidepreisniveau sich stark anglich. WALTER (1995), 95.<br />
41 Zusammenfassend ACHILLES (1982), 138.<br />
42 Die folgende Darstellung folgt weitgehend den frühen Thesen von ABEL (1978b), S. XX,<br />
FREIBURG (1977), hat sich kritisch mit den Annahmen auseinandergesetzt, ACHILLES (1978),<br />
<strong>eine</strong> regionale Fallstudie dazu geliefert. Eine knappe Zusammenfassung der Abelschen<br />
Thesen bietet ABEL (1974), S. 41-46.<br />
43 ABELSHAUSER, BARTMANN (2004), S. Xx (am Anfang); <strong>eine</strong> Zeit extrem niedriger Preise in<br />
den 1820er Jahren leitete <strong>eine</strong> umfassende Kritik an den agrarischen Verhältnissen ein.<br />
13
Die Chancen, durch den Ackerbau vergleichsweise sichere Einnahmen zu<br />
erwirtschaften, waren also regional und sozial ungleich verteilt, woran sich auch durch<br />
die langfristig steigenden Erträge nur wenig änderte, denn letztere stiegen am meisten<br />
in den ohnehin begünstigten Landschaften und hatten positive Effekte nur für die<br />
größeren Betriebe. 44 Andererseits ergab sich hieraus, dass die Landwirtschaft als<br />
Gewerbe zunehmend lukrativer wurde, und damit wichtige Anreize zur<br />
Modernisierung gegeben waren.<br />
2. Das „liebe“ Vieh<br />
Das Wort von der „Vergetreidung” mag den vorschnellen Schluss nahe legen, dass der<br />
Viehwirtschaft k<strong>eine</strong> große Bedeutung zu kam. Dem war gewiss nicht so. Einerseits<br />
gab es mit den Heide- und Angerflächen und nicht zuletzt den niedersächsischen<br />
Nieder- und Hochmooren bis in das 18. Jahrhundert Flächen, die, wenn überhaupt, nur<br />
<strong>eine</strong>r extensiven Bewirtschaftung zugänglich waren. Sie alle spielten <strong>eine</strong> nicht zu<br />
unterschätzende Rolle für die vorindustrielle Landwirtschaft als Viehweide, als<br />
Plaggenhieb 45 oder zum Holzsammeln und waren damit fester Bestandteil <strong>eine</strong>r<br />
differenzierten und genossenschaftlichen Form der Landnutzung. Diese Flächen<br />
stellten zudem Ausgleichsflächen dar, die im Zuge der Bevölkerungszunahme <strong>eine</strong>r<br />
intensiveren Nutzung zugeführt wurden. Die Heideflächen bildeten ein Reservoir für<br />
die Landesherrschaft, das in Zeiten steigender Bevölkerung für Hausbau und<br />
Landausweisungen gern genommen wurde. Bevölkerungszunahme brachte das<br />
bisherige System genossenschaftlicher und extensiver Landnutzung aus dem<br />
Gleichgewicht. Die Folgen für die genossenschaftlichen Flächen waren teilweise<br />
erschreckend, auch wenn in den zeitgenössischen Berichten gewiss übertrieben wurde<br />
wie etwa in den Reiseberichten des Bremer Stadtarchivars Johann Georg Kohl:<br />
„Die Meente [d.h. Gemeinheit, d. Verf.] war ein Institut, das noch aus den barbarischen<br />
Nomadenzeiten zu stammen scheint …Die hohe Haide und der weit um das Dorf sich<br />
herumziehende Wildboden galt als gemeinschaftlicher Besitz der gesamten Bauernschaft, als ein<br />
Gemeingut … und dieselbe für die armen Haidschnucken des Dorfs als Weide. Es war die einzige<br />
Benutzungsweise, die in der Haide möglich war. Jeder trieb auf diese Meente soviel Schafe, als ihm<br />
beliebte. In den Privatbesitz <strong>eine</strong>s strebsamen Individuums konnte nichts davon kommen. Reformen<br />
konnten nicht gemacht werden. Es mußte alles unter dem gefräßigen Zahn der hungrigen<br />
Haidschnucken bleiben … Es ist überflüssig nachzuweisen, dass diese Meente gleichsam wie ein<br />
Alp, wie ein Fluch auf allen Verhältnissen in den Haideländereien lastete …” 46<br />
Viehzucht diente der Fleisch- und Milchversorgung, der Anspannung und der<br />
Düngerproduktion. Es gab gleichwohl <strong>eine</strong>n latenten Viehmangel, der sich in immer<br />
wiederkehrenden Klagen über den zu geringen Viehstapel artikulierte. Das Vieh,<br />
speziell Rindvieh und Schafe, war der entscheidende, nahezu ausschließliche<br />
Düngerlieferant, weshalb dessen ausreichende Zahl nicht zuletzt für den Ackerbau von<br />
kaum zu unterschätzender Bedeutung war, so dass die noch zu erläuternden<br />
Bestrebungen um <strong>eine</strong> Erhöhung des Viehstapels weniger wegen der<br />
44 AKERLOF, MIYAZAKI (1980).<br />
45 Plaggenhieb heißt, dass im Sommer Heidesoden abgestochen und dann als Streu für den<br />
Stall genommen wurde. Die mit Dung getränkten Soden wurden anschließend wieder auf<br />
dem Land als Dünger ausgebracht. Um <strong>eine</strong> Fläche von <strong>eine</strong>m Morgen mit Plaggen zu<br />
düngen, mussten etwa zehn Morgen Heide abgetragen werden.<br />
46 KOHL (1990), S. 25 f.<br />
14
Fleischversorgung, sondern vornehmlich zur Ertragssteigerung beim Getreide gedacht<br />
waren.<br />
Dass der Dünger selbst nach den Maßstäben des 16. oder 17. Jahrhunderts zu knapp<br />
war, lag daran, dass <strong>eine</strong> Winterfütterung des Viehs kaum möglich war. Der<br />
unzureichende Anbau von Futtermitteln und die geringen Heuerträge verhinderten<br />
<strong>eine</strong> effektive Fütterung des Viehs, zudem fehlte es an Wissen über die Menge des<br />
notwendigen Winterfutters. 47 Demgemäß war der Viehbesatz verglichen mit heutigen<br />
Werten gering, was für das Rindvieh und noch spezieller das Schwein galt, welches<br />
lediglich durch die Eichelmast gefüttert wurde und nur in geringen Zahlen vorhanden<br />
war. 48<br />
Bedacht werden sollte aber, dass die zeitgenössischen Quellen meist Steuerlisten<br />
sind, die für die Steuerschätzung grundlegend waren und deshalb durchweg zu niedrige<br />
Werte wiedergeben. Wie groß die Diskrepanzen zwischen tatsächlichen und offiziell<br />
angegebenen Werten sein können, zeigt <strong>eine</strong> aus Anlass der Gemeinheitsteilungen<br />
vorgenommene Erhebung des Amtes Dannenberg aus dem Jahr 1797. 49 Nach Aussage<br />
der Kataster gab es im Amt lediglich 1846 Pferde, gezählt wurden aber 2758; bei den<br />
Rindern betrug das Verhältnis 3149 zu 5475, bei den Schw<strong>eine</strong>n 823 zu 1771 und bei<br />
den Schafen 2512 zu 5278. Die Amtsuntertanen hatten demnach durchschnittlich<br />
doppelt so viele Tiere wie in den Katastern angegeben waren! Diese Zahlen können<br />
zwar nicht verallgem<strong>eine</strong>rt werden, sollten aber zur Vorsicht bei der Interpretation<br />
frühneuzeitlicher Werte mahnen.<br />
Das Pferd spielte nicht nur als Zugtier <strong>eine</strong> große Rolle, sondern sicherte den Status<br />
speziell der größeren Höfe. In den weiten Heidegebieten der Geest darf schließlich das<br />
Schaf als Wollelieferant nicht vergessen werden, wobei dessen große Zeit erst im 18.<br />
und frühen 19. Jahrhundert kam. 50 Schafherden gehörten meist zu Gütern und<br />
Domänen. 51<br />
Kennzeichnend für die Viehzucht war die Tatsache, dass die Tiere völlig anders als<br />
heute gehalten wurden. 52 Zwar überließ man das Vieh nicht sich selbst, sondern hielt es<br />
auch in den Sommermonaten nachts im Stall, tagsüber weidete es indes entweder<br />
hudelos 53 oder durch <strong>eine</strong>n Dorfhirten beaufsichtigt auf den weiten Gemeindeflächen.<br />
Diese meist mit niedrigem Busch- und Strauchwerk bestandenen Bereiche waren<br />
Heide-, Niedermoor- oder Bruchflächen. Die Gemeinweiden oder Angerreviere<br />
konnten sich in teilweise erheblicher Ausdehnung um die Dörfer erstrecken und mit<br />
mehreren hundert Tieren besetzt sein. Meist wurden die großen Reviere von mehreren<br />
Dörfern benutzt. Exemplarisch für diese komplexen Nutzungsrechte sollen die<br />
Gemeinheiten in der Marschvogtei des Amtes Dannenberg näher vorgestellt werden. 54<br />
47 THAER (1799) 1, 147-150; PRASS (1997a), 55 f; ACHILLES (1991), 25.<br />
48 ACHILLES (1991), 27.<br />
49 NHStAH Hann 74 Dannenberg Nr. 3221.<br />
50 ACHILLES (1991), S. 23-28.<br />
51 ACHILLES (1991), 26 f.<br />
52 Siehe dazu die zwar auf Frankreich gemünzten, dennoch auch für Deutschland<br />
aufschlußreichen Bemerkungen von BRAUDEL ([ca. 1995]b), S.??) Knapp für Deutschland<br />
ACHILLES (1991), S.24 f.<br />
53 Also ohne <strong>eine</strong>n Hütejungen.<br />
54 Beschreibung derjenigen Dorfschaften, aus der Marschvogtei Amts Dannenberg, welche<br />
miteinander in Communion und nicht in Communion stehen vom 22.2.1797 (NHStAH<br />
Hann 74 Dannenberg Nr. 3221).<br />
15
Von 28 Dörfern hatten fünf k<strong>eine</strong> Kommunionweiden mit anderen Dörfern, die<br />
Regelungen bei den übrigen waren kompliziert und entziehen sich <strong>eine</strong>r systematischen<br />
Aufstellung. Relativ häufig waren allgem<strong>eine</strong> Regelungen wie in Breese, welches <strong>eine</strong><br />
Kommunionweide mit Dambeck hatte, „so sie alle Tage mit ihren Pferden, Hornvieh,<br />
Schw<strong>eine</strong>n ecl. Schaafen betreiben und behuden können“.<br />
Wie kompliziert die Nutzungsrechte sein konnten, zeigt sich an den Verhältnissen<br />
im Dorf Nebenstedt im Amt Dannenberg. Dort hatten 1797 je zwei herrschaftliche<br />
Voll- und Halbmeier und acht Junker-Halbmeier sowie je ein Groß- und Kleinkossater<br />
(Groß- und Kleinkötner) folgende genossenschaftlichen Nutzungsrechte:<br />
„Sind Forst-Interessenten mit dem Bau- und Lese-Holtz und können hüten mit ihren Pferden,<br />
Hornvieh, Schw<strong>eine</strong>n, Schaafe und Gänse für beständig über ihre mit der Dorfschaft Splitau<br />
Commune Weide nach der Kl<strong>eine</strong>n Lucii bis an den Zadrauer Kirchsteig; und bey hohen<br />
Wasserszeiten aber bis nach der Zadrauer Heide und Kiemen hinaus nach der Hohen Lucii. Denn<br />
Plaggenhieb haben sie nicht. Diese Weide hat hohe und niedrige Stellen, guten Boden und ist durch<br />
die Abwässerung beinahe Marschweide geworden. Demnechst so hat diese Dorfschaft noch <strong>eine</strong><br />
privative Marsch- oder Pflingstweide, nebst Pferde-Nacht-Koppel beim Dorfe belegen, so sie vom<br />
Meytag an bis das die Wiesen loos sind mit ihren Pferden und Hornvieh in der Woche einige mahl<br />
des Tages über ½ Tag behüten.“ 55<br />
Folgende Rechte bestanden also auf dieser Gemeinweide:<br />
1. die Nutzungsrechte wurden gemeinsam mit Nachbargemeinden ausgeübt, und zwar<br />
für:<br />
2. Nutzrechte für Bau- und Leseholz,<br />
3. Hutungsrechte für Pferde, Hornvieh, Schw<strong>eine</strong>, Schafe, Gänse<br />
4. es bestand kein Recht auf Plaggenhieb,<br />
5. neben der Gemeinweide mit den Nachbargemeinden gab es noch ein „privative“<br />
Gemeinde, die nur von der Dorfschaft genutzt werden konnte.<br />
Die Vielzahl dieser sich ergänzenden, teilweise geradezu übereinander liegenden<br />
Sonderrechte machte <strong>eine</strong> schnelle Veränderung nahezu unmöglich. Die alten Rechte<br />
hatte auch die Mentalität der Menschen erheblich beeinflusst, so dass <strong>eine</strong> vollständige<br />
und radikale Aufhebung des alten Systems kaum vorstellbar war, sondern in<br />
Einzelschritten so lange erfolgte, bis <strong>eine</strong> umfassende Neuordnung unvermeidlich war.<br />
Die Beschreibung von Nebenstedt verdeutlicht die räumlich, zeitlich und sachlich<br />
differenzierten Rechte an den Flächen, die zudem in Kombination mit individuellen<br />
Gemeinderechten lagen. Es gab demnach drei Ebenen von Nutzungsrechten:<br />
a) individuelle des einzelnen Landbesitzers, die allerdings durch Überfahrtrechte für<br />
bestimmte Jahreszeiten eingeschränkt sein konnten,<br />
b) genossenschaftliche innerhalb <strong>eine</strong>r Gemeinde,<br />
c) genossenschaftliche zwischen mehreren Gemeinden.<br />
Diese Gemengelage von Nutzungsrechten provozierte seit dem 17. Jahrhundert<br />
zunehmend Konflikte. Nicht nur die noch zu beschreibenden Aktivitäten der<br />
Landesherrschaft auf den Angerflächen sondern durch die Vergrößerung der<br />
Dorfbevölkerung und die häufig trotz aller Absprachen nicht eindeutigen<br />
Nutzungsrechte förderten Konflikte und Auseinandersetzungen. 56 Im Konfliktfall<br />
bedurfte es aufwendiger gerichtlicher Klärungen unter Befragung alter Männer, die als<br />
Hütejungen mehrere Jahrzehnte zuvor die Reviere am besten kennen gelernt hatten.<br />
Mancher von ihnen mag dabei mit leiser Sehnsucht an Kindertage zurückgedacht<br />
55 NHStAH Hann 74 Dannenberg Nr. 3221.<br />
56 PRASS (1997a), 98-103.<br />
16
haben, oder sich erneut an die Ängste und die Einsamkeit jener Zeit wie Ernst<br />
Auhagen aus Steinhude, der im Oktober 1701 über s<strong>eine</strong> Hütezeit im Steinhuder<br />
Meerbruch befragt wurde:<br />
„Er habe sein lebe k<strong>eine</strong> grentze gedacht, sondern das Vieh gehen lassen wo es gewolt, wenn er das<br />
Vieh morgens vom Lager getrieben, habe Er dasselbe gehn lassen, wohin es gewollt, denn es habe<br />
ihm in kein Korn gehn können; inzwischen habe Er sich können etzliche stunden zu schlafen legen,<br />
gegen Mittag aber, wenn die Leute melken wolten, hätte er sie wieder zusammen getrieben, des<br />
Nachts habe er sich in s<strong>eine</strong> Hütten geleget, so auff dem Mohr gestanden.” 57<br />
Aber nicht nur die Gemeinweiden unterlagen <strong>eine</strong>r genossenschaftlichen Nutzung,<br />
sondern auch das Ackerland. Während das Hofland individuell bewirtschaftet wurde,<br />
galt dies für das Ackerland nur in <strong>eine</strong>m begrenzten Maße, denn die schmalstreifigen<br />
Ackerparzellen legten zumindest <strong>eine</strong> gemeinsame Absprache nahe, um zu verhindern,<br />
dass es zu Nutzungskonflikten kam. Darüber hinaus war es in vielen Gebieten<br />
Niedersachsens üblich, dass Triftgerechtigkeiten und Huderechte auf dem Ackerland<br />
lagen, solange k<strong>eine</strong> Feldfrüchte darauf standen. Damit war die individuelle Nutzung<br />
des Landes auf bestimmte Jahreszeiten beschränkt; nach der Ernte wurde das Land als<br />
Koppelweide genutzt:<br />
„Die dritten Personen zustehenden Berechtigungen zu der Behütung der Felder und Wiesen sind<br />
entweder einseitige oder wechselseitige. Die letzteren, oder die sogenannten Koppelweiden, kommen<br />
gewöhnlich in Fluren vor, in welchen die Grundstücke der Eigenthümer im Gemenge liegen und<br />
dem Einzelnen die Behütung s<strong>eine</strong>s Eigentums nicht wohl möglich ist, ohne die Grundstücke<br />
anderer zu betreten. Die mit der Behütung der angränzenden Gemeinheiten oder Marken in<br />
Verbindung stehenden Koppelweiden können ihren Entstehungsgrund auch darin gehabt haben,<br />
daß die weidepflichtigen Grundstücke in früherer Zeit, unter Vorbehalt <strong>eine</strong>r gemeinschaftlichen<br />
Behütung aus der Gemeinheit entnommen sind.“ 58<br />
Somit ergab sich <strong>eine</strong> enge Beziehung zwischen Dreifelderwirtschaft und den<br />
Weiderechten. 59 Besonders problematisch waren die Weiderechte dort, wo<br />
Schäfereiberechtigungen vorlagen:<br />
„In den Stoppeln des Winter- und Sommerfeldes hatten an manchen Orten die Pferde, Schw<strong>eine</strong><br />
und Gänse <strong>eine</strong> Vorhude, dann folgten Kühe und Schaafe. Im Brachfelde hütete der Schäfer<br />
allenthalben, wohin er mit den Schafen gelangen konnte. Es war ‘offenes Feld’.“ 60<br />
Das galt auch für Samnatz, denn hier waren es die Schafe des benachbarten<br />
landesherrlichen Vorwerks Darzau, die an drei Tagen in der Woche ein Huderecht<br />
hatten und über das Land getrieben werden durften. Es war nicht zuletzt der<br />
Widerstand des dortigen Pächters, der zu der Verzögerung des Verfahrens beitrug.<br />
Die Plaggendüngung als <strong>eine</strong> besondere Form der Heidenutzung darf hier nicht<br />
unterschlagen werden, denn in den sandigen Geestgebieten bildete sie die einzige<br />
Möglichkeit, die Ackerflächen, den Esch, mit ausreichendem Dünger zu versorgen. 61 In<br />
Zeiten geringen Arbeitsanfalls wurden entweder Heide- oder notfalls auch Grasplaggen<br />
mit speziellem Gerät gestochen, die langen Soden aufgerollt und anschließend direkt<br />
auf den Acker gefahren, als Einstreu genutzt oder zusammen mit Dünger kompostiert.<br />
Im Herbst wurde der Kompost oder Dünger dann auf die Äcker gefahren. Die<br />
gesamten, mit der Plaggendüngung verbundenen Tätigkeiten waren extrem<br />
57 STAB Dep. 15 Ha 1. Die Schreibweise des Originals wurde beibehalten.<br />
58 Königliche Landwirtschaftsgesellschaft (1864), 2, S. 347.<br />
59 Ebd., S. 348.<br />
60 Ebd., 349.<br />
61 Ein lokales Beispiel bieten ECKELMANN, KLAUSING (1990), bes. S. 397-400, dort S. 402<br />
weitere allgem<strong>eine</strong> Literatur.<br />
17
arbeitsaufwendig und schwer, außerdem führte der Plaggenhieb zu teilweise<br />
erheblichen Erosionserscheinungen. Er stellte jedoch vor der <strong>Einführung</strong> des<br />
Kunstdüngers die einzige Möglichkeit der Bodenverbesserung dar und ist zugleich ein<br />
Beispiel für gemeinschaftliche Arbeiten in der vorindustriellen Landwirtschaft.<br />
3. Typisches und Untypisches<br />
Betrachtet man diese Strukturen, so ergeben sich vielfältige Muster, die zwar aus<br />
gleichen Elementen zusammengesetzt sind, aber in <strong>eine</strong>r Fülle von immer neuen<br />
Kombinationen auftreten: Sie bestanden aus den Bodenverhältnissen und dem daraus<br />
resultierenden Verhältnis von Ackerfläche und Weideland (Gemeinweiden) bzw.<br />
sonstigen Gemeinheitsflächen, der Dorflage und dem Siedlungsalter und der daraus<br />
resultierenden Dorflage (geschlossenes Haufendorf, Straßendorf etc.) als Konstanten<br />
und dem Wetter als Variable. Dabei ergab sich für das einzelne Dorf ein typische<br />
Muster, das in dieser Kombination einmalig war. So entsteht für den außenstehenden<br />
Beobachter der Eindruck, „Typisches“ vorzufinden, obwohl nicht das Muster selbst<br />
„typisch“ ist, sondern die Elemente dieses Musters bekannt sind oder wiedererkannt<br />
werden. Dies erklärt auch, weshalb ländliche Existenz vor der Industrialisierung<br />
kleinräumig organisiert war und auch so gelebt wurde. Die Menschen passten sich den<br />
vorhandenen Mustern an, sie erlernten seit ihrer Kindheit, innerhalb dieser Muster zu<br />
leben und sich deren Variationen anzupassen. Das Ganze wurde in <strong>eine</strong>m komplexen<br />
Normengefüge geregelt und sorgte dafür, dass das Verhalten der einzelnen Mitglieder<br />
<strong>eine</strong>r Gemeinde aufeinander abgestimmt war. So war diese Welt der vorindustriellen<br />
Dörfer nicht allein durch Abhängigkeit vom Boden, von der Topographie und vom<br />
Wetter geprägt, sondern auch von Menschen, die sich den spezifischen Bedingungen<br />
<strong>eine</strong>r Mangelgesellschaft im jeweiligen lokalen oder regionalen Umfeld angepasst<br />
hatten. Die Entwicklungsmöglichkeiten dieser ländlich-dörflichen Gesellschaft waren<br />
zwar begrenzt, aber durchaus vorhanden, worauf noch einzugehen sein wird.<br />
2. Die Dynamik des Dorfes<br />
1. Die Gemeinschaft der Ungleichen<br />
Es gibt vermutlich nur wenige Bereiche, in denen die „volkstümliche” Vorstellung und<br />
die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung so weit auseinander liegen wie bei der<br />
Struktur der Dorfbevölkerung. „Das ist ja kein Dorf, da leben ja k<strong>eine</strong> Bauern”, so oder<br />
ähnlich bewerten Bewohner des flachen 62 Landes häufig ländliche Siedlungen. Die<br />
hinter dieser Aussage stehende Vermutung, dass Dörfer in erster Linie aus „Bauern”<br />
bestünden, welche <strong>eine</strong> Gemeinschaft gleichgestellter Menschen seien, blendet aus,<br />
dass Dörfer schon vor der Industrialisierung ein komplexes und dynamisches soziales<br />
Gebilde waren. Am Beispiel des nördlich von Hannover gelegenen Dorfes Frielingen<br />
lässt sich ein erster Eindruck <strong>eine</strong>s frühneuzeitlichen Dorfes gewinnen. Dort lebten<br />
1620 laut Aussage des Erbregisters des Amtes Neustadt: 63<br />
62 Oder „platten Landes“, umgangssprachlich für Dörfer!<br />
63 EHLICH (1984), 71-78. S. auch oben S. .<br />
18
2 „dienstpflichtige Ackerleute” mit 21 bis 27 Morgen Ackerland,<br />
4 „dienstpflichtige Halbmeier” mit 12 bis 18 Morgen Ackerland,<br />
16 „dienstpflichtige Kleinkötner”, von denen einige gar kein, <strong>eine</strong>r dagegen 16 Morgen<br />
neu gerodetes Ackerland (Rottland) hatten,<br />
4 „Brinksitzer”, von denen nur <strong>eine</strong>r über etwas Rottland verfügte.<br />
Dieses Bild kehrt mit Variationen bei sehr vielen Dörfern des Amtes Neustadt und<br />
ganz Niedersachsens wieder. Drei Gruppen von Bauern, sog. Hofklassen, lassen sich<br />
grob unterscheiden:<br />
1. Vollbauern, die in Niedersachsen meist Meier heißen, aber auch Ackerleute,<br />
unterschieden dann noch in Voll- und Halbmeier,<br />
2. Mittel- und Kleinbauern, die Köter oder Kötner, und die ebenfalls noch häufig<br />
intern unterschieden werden, etwa in Groß- und in Kleinkötner,<br />
3. Hausbesitzer, die entweder gar kein Land hatten oder nur sehr wenig, welche<br />
Brinksitzer oder, im Westfälischen, Markkötter genannt werden, auch Straßensitzer,<br />
An- oder Abbauer.<br />
Die Hofklassen bildeten gleichsam das Gerüst der vorindustriellen ländlichen<br />
Gesellschaft, ein Gerüst, welches seit dem 18. Jahrhundert immer weniger trug. Am<br />
Anfang stand ein einfaches Schema, das aber im Laufe der Zeit vielfältige Ergänzungen<br />
erfuhr und unübersichtlicher wurde. 64 Zuerst standen sich zwei Gruppen gegenüber:<br />
die Vollhöfe oder einfach nur Höfe und die Koten oder Kotsassen. 65 Der Unterschied<br />
zwischen beiden Gruppen bestand vereinfacht ausgesprochen darin, dass nur die Höfe<br />
über alle Nutzungsrechte verfügten, die für <strong>eine</strong> landwirtschaftliche Vollerwerbsstelle<br />
benötigt wurden wie ausreichendes Ackerland, sogenanntes Hufenland, das die besten<br />
Böden 66 der Gemarkung und die volle Nutzung der genossenschaftlichen Heiden,<br />
Weiden, Moore und Wälder umfaßte.<br />
Tabelle 1: Hofklassen und Landbesitz in den Fürstentümern Calenberg-Göttingen<br />
1689<br />
Hofklasse Zahl v.H. Landbesitz in<br />
Morg. je Hof<br />
Landbesitz<br />
Hofklasse<br />
Meier 3392 23 44,5 150944<br />
Kötner 7621 51 10,3 78496<br />
Brinksitzer 3105 21 4,4 13662<br />
Sonstige 712 5 20,2 14382,4<br />
Summe 14830 100 19,85<br />
Teilsummen<br />
Vollmeier 1675 49 51,4<br />
Halbmeier 1534 45 37,8<br />
Viertelmeier 126 4 30,91<br />
Sonstige M. 57 2<br />
Summe 3392 100<br />
64 Beispiele für frühe Hofklasseneinteilungen im 14. und 15. Jahrhundert bei STÜVE (1851),<br />
10, Anm. 3. HAUPTMEYER (1997), 1127.<br />
65 Kötner sind schon seit dem 12. Jahrhundert nachweisbar: WRASMANN (1944), I, 65-68;<br />
allgemein jetzt: HAUPTMEYER (1997), 1066.<br />
66 Der Begriff „beste Böden“ ist allerdings entsprechend den jeweiligen<br />
Bearbeitungsmöglichkeiten zu interpretieren und ist nicht automatisch mit hohen<br />
Bodenwertzahlen gleichzusetzen.<br />
19
Kötner 3025 40 9,14<br />
Großkötner 1387 18 18,14<br />
Kleinkötner 2949 39 7,16<br />
Halbkötner 148 2 5,56<br />
Mittelkötner 112 1 13,94<br />
Summe 7621 100<br />
Nach Franz, Struktur, S. 236.<br />
Eine Auswertung der Kopfsteuerbeschreibung der Fürstentümer Calenberg-<br />
Grubenhagen von 1689 zeigt die Grundstrukturen der frühneuzeitlichen ländlichen<br />
Gesellschaft, in der große soziale Ungleichheit unverkennbar war. In ihr gab es relativ<br />
wenige größere Höfe, die aber das meiste Land bewirtschafteten, während die kl<strong>eine</strong>n<br />
Stellen in der Überzahl waren, aber nur wenig Land bewirtschafteten. So<br />
bewirtschafteten 1/5 der Betriebe über die Hälfte des Ackerlandes.<br />
Innerhalb der Hofklassen gab es ebenfalls <strong>eine</strong> weitere Differenzierung, wobei<br />
besonders bei den Kötnern die relativ wenigen wohlhabenden Großkötner im<br />
Gegensatz zu den übrigen Kötnern mit weniger als 10 Morgen Land auffallen. Die hier<br />
genannten Zahlen basieren auf Durchschnittswerten, denen durchaus im Einzelfall<br />
etwas Willkürliches anhaften kann, wie Tabelle 1 zeigt, die für die drei Klassen der<br />
Meier, Kötner und Brinksitzer (ohne weitere Unterteilung) die Verteilung in<br />
Größenklassen enthält. Zwar waren die meisten Meierhöfe größer als die Kötner, aber<br />
es gab immerhin <strong>eine</strong> nennenswerte Zahl von Höfen, die nicht größer als die größten<br />
Kötnerstellen waren.<br />
a) Die Entstehung der Hofklassen<br />
Wie kam es aber überhaupt zur Entstehung dieser Hofklassen? Die im 16. Jahrhundert<br />
einsetzende Agrarkonjunktur sorgte im Zusammenspiel mit dem Bemühen des<br />
Landesherrn um erhöhte Einnahmen dafür, dass die ländliche Arbeitsorganisation<br />
systematisch verändert wurde. Die forcierte Einrichtung von agrarischen<br />
Großbetrieben des Adels (Güter) und des Landesherrn (Vorwerke) machte es<br />
notwendig, dass die zu deren Bewirtschaftung herangezogenen Bauern entsprechend<br />
ihrer Leistungsfähigkeit eingestuft wurden. Als Richtlinie diente die alte<br />
Unterscheidung nach Höfen und Kötnern, wobei die Höfe Spanndienste, die Kötner<br />
Handdienste zu erbringen hatten. Grundlage der Zuordnung zu den jeweiligen<br />
Hofklassen war aber nicht allein die Einteilung als Hof oder Kötner, sondern der<br />
individuell genutzte Landbesitz. So konnte durchaus in Einzelfällen ein mittelalterlicher<br />
Kötner nun als halber Hof, ein mittelalterlicher Hof als Kötner eingestuft werden. Das<br />
Bemühen, die Dienstlasten weitgehend den wirtschaftlichen Verhältnissen anzupassen,<br />
führte zudem zu <strong>eine</strong>r weiteren Unterteilung der vorhandenen beiden Gruppen. So<br />
entstanden Voll- und Halbhöfe, später auch Dreiviertel- und Viertelhöfe, Groß- und<br />
Kleinkötner. Die Höfe wurden regional unterschiedlich bezeichnet, so als Höfe, als<br />
Meier oder Spänner (Voll- und Halbspänner), wobei letztere Bezeichnung noch am<br />
sinnfälligsten auf den Zweck dieser Einteilung verweist.<br />
Werner Küchenthal hat die Entstehung der Hofklassen im Herzogtum<br />
Braunschweig detailliert ermittelt. 67 Der enge Zusammenhang zwischen der<br />
<strong>Einführung</strong> von Hofklassen und Dienstleistungen wird hier ebenso sichtbar wie die<br />
Differenzierung der Klassenbezeichnungen. Nach 1551 wurde im Herzogtum zwischen<br />
67 KÜCHENTHAL (1965), 12-19.<br />
20
Ackermännern, Halbspännern (sic!) und Kötern unterschieden, letztere wurden erst<br />
160 Jahre später in Großköter und Kleinköter unterschieden. Ähnlich dürfte es im Amt<br />
Aerzen gewesen sein, wo die Klassifizierung vermutlich nach 1517 erfolgte, als „durch<br />
den großzügigen Ausbau der Domäne umfangreiche Spann- und Handdienste<br />
erforderlich wurden”. 68 Nicht anders sah es in Verden aus, wo 1534 zum ersten Mal die<br />
Unterscheidung in volle und halbe Höfe vollzogen wurde, wobei neben Hofteilungen<br />
auch der unterschiedliche Grad der Leistungsfähigkeit <strong>eine</strong> wichtige Rolle gespielt<br />
haben dürfte. Mit der Ausdehnung der Eigenbetriebe der Landesherren und adligfreier<br />
Gütern im weiteren Verlauf des Jahrhunderts fand ebenfalls <strong>eine</strong> Differenzierung<br />
der Hofklassen in Voll-, Halb- und Viertelspänner statt. 69 Skepsis gegen <strong>eine</strong> zu<br />
voreilige Zuordnung der Klassen zu Siedlungsschichten äußerte auch Maßberg für die<br />
Vogtei Groß-Denkte, der darauf verweist, dass viele Halbmeierhöfe ihre Bezeichnung<br />
erst dem Landtagsabschied von 1597 zu verdanken hatten. 70<br />
Die Klassenbezeichnungen des 18. Jahrhunderts spiegeln also nicht so sehr die<br />
Siedlungsgeschichte, sondern die Größenverhältnisse des 16. Jahrhunderts wider. Sie<br />
sollten aber selbst unter diesem Aspekt nicht überbewertet werden, da die mit der<br />
Einteilung beauftragten Amtmänner häufig willkürlich arbeiteten. 71 So konnte ein als<br />
Halbmeier eingestufter Hof entweder ein „kl<strong>eine</strong>r“ Meierhof, ein großer Kötner oder<br />
ein geteilter Vollmeierhof sein. Diese im 16. Jahrhundert schon unübersichtlichen<br />
Verhältnisse wurden durch die weitere Entwicklung nicht einfacher. Zu den<br />
Kleinkötnern gesellten sich seit Beginn des 16. Jahrhunderts die Brinksitzer, im 18.<br />
Jahrhundert die Straßensitzer, im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert die An- und<br />
Abbauer.<br />
Die im 16. Jahrhundert gefundene Klasseneinteilung wurde k<strong>eine</strong>r weiteren<br />
Überprüfung unterzogen, so dass im 18. Jahrhundert Halbmeier zuweilen weniger<br />
Land als Großkötner bewirtschafteten, obwohl diese nur Handdienste, jene aber die<br />
aufwendigen Spanndienste zu verrichten hatten. 72 „Die wahrscheinlichste Deutung ist,<br />
dass die Klassifikation der Höfe … nur einmal, und zwar zu Beginn der<br />
frühneuzeitlichen Rodungsperiode erfolgt ist”. 73<br />
Es gab also k<strong>eine</strong> einheitliche Abgrenzung der Hofklassen, sondern fließende<br />
Übergänge. Einige Beispiele sollen dies verdeutlichen.<br />
In den Fürstentümern Calenberg-Grubenhagen hatten zwar die Meier grundsätzlich<br />
mehr Landbesitz als die Kötner, dennoch war die größeren Kötnerhöfe kaum kl<strong>eine</strong>r<br />
als die kl<strong>eine</strong>ren Meierhöfe. Geringe Unterschiede bestanden auch zwischen den<br />
Brinksitzern und vielen Kleinkötnern.<br />
Im schaumburgischen Dorf Lindhorst ist bereits 1544 <strong>eine</strong> ganze Abfolge von<br />
Hofgrößen zu erkennen, die vom Hof mit 70 Morgen Land zum Einmorgen-Betrieb<br />
reicht. 74 Dort bewirtschafteten die 13 größten Betriebe insgesamt 480 Morgen, die 12<br />
kleinsten aber nur 90 Morgen.<br />
Eine Auswertung registerförmiger Quellen in den Dörfern östlich von Hannover<br />
zeigt sehr unterschiedliche Muster in der Verteilung der Hofklassen: neben Dörfern<br />
68 MARTEN (1965), 84.<br />
69 VOIGT (1962), 149.<br />
70 MASSBERG (1930), 41.<br />
71 KÜCHENTHAL (1965), 155 f; MARTEN (1965), 88 f.<br />
72 Schneider (1983), 30-39, 106.<br />
73 [=1400 - Marten 1965 Die Entwicklung der ...=], 84. Siehe auch Pröve, Dorf, 13-17.<br />
74 ROTHE (1998), 66 f. Beleg bezieht sich auf die alte Version!<br />
21
mit <strong>eine</strong>r klaren Stufung entsprechend der Hofklassen gab es solche, bei denen es<br />
fließende Übergänge gab (siehe Tabelle 2).<br />
Tabelle 2: Hofklassen und Ackerland zweier Dörfer östlich von Hannover<br />
Ort Ackerland Ort Ackerland<br />
Engensen 1669* Himten Einsaat Oesselse 1593** Morg.<br />
Vollhöfner 69 Dienstpfl. Vollmeier 88<br />
3/4 Höfner 68 88<br />
63,5 88<br />
72 Dienstpfl. Halbmeier 44<br />
69 33<br />
Halbhöfner 47 22<br />
54 11<br />
54 Dienstgelder Halbmeier 79,8<br />
55 66<br />
43,5 Juncker ganze Meier 110<br />
42 Junckern halbe Meier 66<br />
54 66<br />
54 Dienstpfl. Köter 1<br />
39 8<br />
64 6<br />
1 1/2 Viertelhöfner 48 6<br />
47 0<br />
Viertelhöfner 33 Dienstg. Köter 0<br />
26 0<br />
30 Junker Köter 1<br />
31,5 0<br />
Kothsasse 28,5 0<br />
23 0<br />
25 0<br />
18 0<br />
13 0<br />
4,5 Brinksitzer 0<br />
11,25 0<br />
6,5 0<br />
* Nach Bardehle, Peter, Bearb.: Das Erbregister<br />
der Vogtei Burgwedel von 1669. Hildesheim<br />
1986.<br />
b) Die Meier<br />
** Goedeke, Hans, Hrg.: Erbregister der Ämter<br />
Ruthe und Koldingen von 1593. (Quellen zur<br />
Wirtschafts- und Sozialgeschichte<br />
Niedersachsens in der Neuzeit Bd. 1)<br />
Hildesheim 1973.<br />
An der Spitze der bäuerlichen Hofklassen standen also die Vollhöfe, die in den<br />
einzelnen niedersächsischen Regionen zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich<br />
bezeichnet wurden. Im Amt Aerzen wechselten in der frühen Neuzeit die<br />
Bezeichnungen von Ackerleuten zu Vollmeiern, von Halbspännern zu Halbmeiern.<br />
22
Beide hatten <strong>eine</strong>n Spanntag pro Woche zu leisten, erstere mit vier, letztere mit zwei<br />
Pferden. 75 Ähnlich sah es in Braunschweig aus, wo der „Ackermann“ die Bezeichnung<br />
„Baumann“ verdrängte. Unter „Bauhof“ wurden alle spannpflichtigen Höfe<br />
verstanden, also auch die Halbspänner. Ebenso wie im Weserbergland hatten die<br />
Vollhöfe den vollen, die Halbhöfe (Halbspänner, Halbmeier) den halben Dienst zu<br />
leisten. 76<br />
Tabelle 3 Hofklassen im Kurfürstentum Hannover 1796 (Anteile in v.H.)<br />
Territorium Meier Köter Kleinstellen<br />
Calenberg 25,3 47,25 27,5<br />
Göttingen 9,3 71 19,7<br />
Grubenhagen 11,9 65,5 22,5<br />
Lüneburg 53,5 29,1 17,3<br />
Dannenberg 80,8 10,25 8,9<br />
Hoya/Diepholz 34,6 24,1 41,2<br />
Bremen-Verden 40,8 26,6 32,6<br />
Lauenburg 55,8 16,6 27,6<br />
Insgesamt 38,5 34,8 26,8<br />
Berechnet nach den absoluten Zahlen bei ACHILLES, Lage, 19, Tab. 1<br />
Meist werden die Höfe der Meier und Halbmeier als die ältesten Höfe angesehen.<br />
Doch darf dies nicht zu schematisch gesehen werden. 77 Horst-Rüdiger Marten konnte<br />
nachweisen, dass im Weserbergland „30 % aller Meierstellen in den nicht wüst<br />
gewordenen Dörfern aus dem 16. Jahrhundert [sind] oder … zu solchen aufgestockt“<br />
wurden. 78 Die Zuordnung <strong>eine</strong>r Hofklasse zu <strong>eine</strong>r Siedlungsschicht könne nur<br />
geschehen unter Berücksichtigung ihres „Besitzumfanges innerhalb der verschiedenen<br />
alten Flurkomplexe, nach Lage der Hofstelle im Dorf und zum Wasser, nach s<strong>eine</strong>n<br />
Berechtigungen und Grundherrschaften über Hof und Land”. 79 Immerhin lassen sich<br />
unter Berücksichtigung dieser Aspekte „77 % aller Meierstellen des 17. Jahrhunderts<br />
oder deren Mutterhöfe in den wüstungsresistenten Ortschaften ins Mittelalter”<br />
zurückverfolgen. 80 Halbhöfe seien nur zu 51 % aus Teilungen entstanden, davon 14 %<br />
im Mittelalter und der Rest in der frühen Neuzeit.<br />
Käthe Mittelhäußer kam 1950 zu dem Ergebnis, dass in Südniedersachsen die<br />
Halbhöfe <strong>eine</strong> erste Nachsiedlerschicht darstellten, 81 Erika Köster kann dagegen<br />
belegen, dass Halbmeier aus Teilungen von Vollhöfen entstanden sind. 82 In Luthe bei<br />
Wunstorf/Hannover wiederum waren zumindest zwei Halbhöfe nicht aus Vollhöfen<br />
hervorgegangen, aber an den ältesten Fluren beteiligt. 83 All das weist auf den<br />
75<br />
MARTEN (1965), 81.<br />
76<br />
KÜCHENTHAL (1965), 145.<br />
77<br />
MARTEN (1965), 81-85.<br />
78<br />
MARTEN (1965), 82. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt für das Wendland MEIBEYER (1964),<br />
37, 39 f., 51, 59.<br />
79<br />
MARTEN (1965), 85.<br />
80<br />
MARTEN (1965), 86 f.<br />
81<br />
MITTELHÄUSSER (1950)<br />
82 So konnte Erika Köster für ein Dorf bei Rotenburg/Wümme vorrangig die Entstehung<br />
der Halbhöfe aus Teilungen nachweisen; KÖSTER (1977), 66 f (für Unterstedt).<br />
83<br />
MUSSMANN ([1969]), 32 f.<br />
23
komplexen Entstehungsprozess der im 18. und 19. Jahrhundert vorzufindenden<br />
Siedlungs- und Klassenstrukturen hin. Neben den Wüstungsvorgängen des<br />
Spätmittelalters kommt dem Landesausbau des 16. Jahrhunderts <strong>eine</strong> besondere Rolle<br />
zu.<br />
c) Die Kötner<br />
Von allen Hofklassen gab es in der frühen Neuzeit bei den Kleinstellen die größte<br />
Dynamik. 84 Die Kötner sind in der Regel das Ergebnis von Rodungsprozessen im<br />
Mittelalter und in der frühen Neuzeit. 85 Sie weisen unter allen Hofstellen <strong>eine</strong><br />
besonders große Bandbreite auf. Küchenthal ermittelte für Braunschweig, dass<br />
Kothöfe u.a. das Ergebnis <strong>eine</strong>s umfangreichen Grundbesitzverkehrs bis in das 16.<br />
Jahrhundert waren, der teilweise aus der Wüstungsphase des 14. Jahrhunderts<br />
resultierte. 86 In der Grafschaft Hoya war die Gruppe der Köter im 16. Jahrhundert<br />
noch schwach entwickelt, sie bewirtschafteten innerhalb der Feldmark jüngeres<br />
Rodungsland, wurden zu Spanndiensten selten, dafür aber zu Eggediensten<br />
herangezogen. 87 Die starke Differenzierung der Köter, die seit dem 17. Jahrhundert<br />
zunehmend in Groß- und Kleinkötner unterschieden wurden, ließe sich an vielen<br />
Beispielen zeigen. 88 In der Vogtei Groß-Denkte gab es 1551 107 Kothöfe, von denen<br />
17 überhaupt kein Land, zwei nur „fremdes“, also gepachtetes Land hatten und<br />
immerhin 73 Hufenland sowie 15 größere Flächen bewirtschafteten, woraus sich<br />
entnehmen läßt, dass die Masse der Kötner des 16. Jahrhunderts aus alten Höfen<br />
hervorgegangen ist. 89<br />
Vereinfacht kann man unterscheiden zwischen „großen“ Großkötnern, die etwa so<br />
viel Land wie die Meier bewirtschafteten, 90 Kötner, die nebenbei noch <strong>eine</strong><br />
handwerkliche Tätigkeit ausübten 91 und auf Tagelöhnerarbeit angewiesene<br />
Kleinkötnern ohne Grundbesitz. 92 Dabei konnte einzelnen Kothöfen der symbolische<br />
Aufstieg zu den Vollhöfen gelingen, wofür etwa die im Museumsdorf Cloppenburg<br />
ausgestellte Wehlburg <strong>eine</strong>n Beleg bietet. 93 Die Beziehungen zwischen Meiern und<br />
Kötnern dürften dort, wo die Besitzunterschiede ausgeprägt waren, nicht immer<br />
unproblematisch gewesen sein. 94 Andernorts konnten beide Gruppen ohne starke<br />
symbolische Abgrenzung nebeneinander leben. 95<br />
84<br />
WEHLER (1987), 1, 170-174.<br />
85<br />
HAUPTMEYER (1997), 1066.<br />
86<br />
KÜCHENTHAL (1965), 135-137.<br />
87<br />
RÖPKE (1924), 39-42.<br />
88<br />
SCHNEIDER (1983), XX; siehe auch die Register und Lagerbücher des 16. und 17.<br />
Jahrhunderts.<br />
89<br />
MASSBERG (1930), 35.<br />
90<br />
SCHNEIDER (1983), XX.<br />
91 Auf diese Gruppe verweist MARTEN (1965), 106, der noch einmal betont, daß sich Kötner<br />
wirtschaftlich nicht schlechter als Meier stehen mußten.<br />
92<br />
ACHILLES (1982), 89-92, der zeigt, daß ohne Zuverdienst, der in den von Achilles<br />
untersuchten Fällen eher gering war, die Stellen nicht hätten existieren können.<br />
93<br />
OTTENJANN (1975).<br />
94 Dazu SCHLUMBOHM (1994), Kap. 6, der allerdings speziell die Beziehungen zwischen Bauern<br />
und Heuerleuten untersucht.<br />
95<br />
MARTEN (1965), 106.<br />
24
Kennzeichen der frühneuzeitlichen Entwicklung war demnach die unterschiedliche<br />
Entwicklung der einzelnen Hofklassen. Spätestens im ausgehenden 17. Jahrhundert,<br />
teilweise schon im 16. Jahrhundert war der Anteil der Bauern im eigentlichen Sinn, also<br />
derjenigen, die allein von den Erträgen ihres Hofes leben konnten, verhältnismäßig<br />
klein. Sie aber waren es, die das verfügbare Ackerland bewirtschafteten, wie das Beispiel<br />
der Lindhorster Bauern von 1544 zeigt. Im osnabrückischen Kirchspiel Belm nahm<br />
zwar zwischen 1512 und 1858 die Zahl der Haushalte drastisch zu, jedoch schlug sich<br />
dies nahezu ausschließlich in <strong>eine</strong>r Zunahme der landlosen Haushalte nieder. 96 Für das<br />
Kurfürstentum Hannover liegen für 1796 Daten vor, die <strong>eine</strong> starke räumliche<br />
Differenzierung hinsichtlich der Verteilung der Hofklassen zeigen. Insbesondere in den<br />
südlichen Territorien dominierten die Kleinstellen, während in den nördlichen Ämtern<br />
der Geest der Anteil der Meierstellen signifikant höher war. Ähnliche Befunde des<br />
deutlichen Zuwachses der Kleinstellen und der Stagnation bei den großen Höfen ergibt<br />
sich in fast allen niedersächsischen Gebieten. 97<br />
d) Die Kleinstellen<br />
Während die bäuerliche Bevölkerung vorrangig von der Nutzung des Landes existieren<br />
konnte, stellte sich die Situation bei den Brinksitzern und Heuerlingen anders dar.<br />
Diese Dorfbewohner hatten nicht die Rechte der Gemeindemitglieder. Brinksitzer<br />
verfügten immerhin noch über eigenen Hausbesitz, Heuerlingen fehlte dagegen selbst<br />
dieser, so mussten sie bei Bauern in Backhäusern, auf der Leibzucht oder in speziellen<br />
Heuerlingshäusernwohnen und für die Bauern bestimmte Arbeitsleistungen zu<br />
erbringen. 98 Brinksitzer und Heuerlinge waren auf die genossenschaftlichen<br />
Einrichtungen des Dorfes angewiesen, vor allem auf die Gemeinheitsnutzungen bei<br />
Weide, Mast und Holz, um <strong>eine</strong> Kuh zu halten und Brennholz zu haben. Zunächst<br />
wurden sie, da ihre Zahl noch nicht sehr groß war, auch auf den Gemeinweiden oder<br />
in den Wäldern geduldet. Schließlich standen sie in verwandtschaftlichen Beziehungen<br />
zu den Reiheleuten. Es waren die nicht erbberechtigten Söhne und Töchter von<br />
Bauernstellen, die als Kleinstelleninhaber auf wenigen manchmal zu Erbzinsrecht vom<br />
Hof abgetretenen Stücken Land oder auf etwas Rottland versuchten, <strong>eine</strong> eigene<br />
Existenz zu schaffen, die durch Tagelöhnerarbeit, Saisonarbeit (Hollandgang) und<br />
handwerkliche Tätigkeiten ergänzt werden mußte. Besonders für den Westen<br />
Niedersachsens ist diese Abhängigkeit von außerlandwirtschaftlichen<br />
Erwerbsmöglichkeiten eindringlich nachgewiesen worden. 99 Hollandgängerei und die<br />
L<strong>eine</strong>nweberei waren hier wichtige Erwerbsmöglichkeiten. 100 Es war in diesen Gebieten<br />
somit nicht mehr allein die „Tragfähigkeit“ der Landwirtschaft, die das<br />
Bevölkerungswachstum steuerte, sondern die Einbindung in überregionale Wirtschafts-<br />
und Austauschbeziehungen. 101<br />
96 SCHLUMBOHM (1994), 54 f.<br />
97 GREES (1983), passim, insbes. Karte: „Beispiele ländlicher Sozialstruktur in Mitteleuropa<br />
(16.-19. Jh.)” nach S. 200.<br />
98 WRASMANN (1921), I, 81. Ausführlicher dazu für das östliche Westfalen MOOSER (1984), etwa<br />
203.<br />
99 BÖLSKER-SCHLICHT (1987); als neueste Mikrostudie SCHLUMBOHM (1994).<br />
100 FUDENBERG, TIROLE (1991), 125-131.<br />
101 NOLTE (1982); Markus Cerman; Sheilagh C. Ogilvie (1994), darin insbes. die Einleitung, 9-<br />
21.<br />
25
Die Beziehungen zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen des Dorfes waren<br />
komplex. Zwar stammte ein Teil der Angehörigen der Unterschichten als weichende<br />
Erben von den Bauernhöfen ab, aber die sozialen Beziehungen fanden stärker unter<br />
den Angehörigen gleicher Status- und Besitzgruppen statt. Wer den Bauernhof<br />
verlassen mußte, verlor damit zugleich <strong>eine</strong>n Teil s<strong>eine</strong>r sozialen Stellung im Dorf, die<br />
in erster Linie durch den Besitz festgelegt wurde. Während auf diese Weise der soziale<br />
Abstieg jederzeit eintreten konnte, gab es nur wenige Möglichkeiten des sozialen<br />
Aufstiegs. 102 Die Abhängigkeit zwischen Bauern und Heuerlingen dokumentiert sich<br />
auch im Fall der Artländer Wehlburg, wo als Gläubiger Heuerlinge in größerer Zahl<br />
auftraten. 103<br />
Die Problematik der Stellenvermehrung trat besonders in den Geestgebieten<br />
Westniedersachsens bzw. Westfalens mit ihren großen Gemeinheitsflächen offen<br />
zutage. Hier überschnitten sich zwei Entwicklungen, die beide zu <strong>eine</strong>r weit reichenden<br />
Veränderung der Siedlungslandschaft beitrugen und als Ausdruck komplexer regionaler<br />
und internationaler Veränderungen zu sehen sind. In den Geestgebieten mit<br />
vorherrschender Einzelhofsiedlung bestand nicht die Möglichkeit, die saisonal<br />
benötigten Arbeitskräfte aus der dörflichen Unterschicht zu rekrutieren. Deshalb<br />
begannen die Bauern seit dem 16. Jahrhundert damit, auf ihren eigenen großen Höfen<br />
spezielle Häuser für Arbeiter zu schaffen, die sogenannten Heuerlingshäuser.<br />
Heuerlinge wurden aber auch in allen anderen möglichen Gebäuden untergebracht wie<br />
Altenteilerhäusern, Backhäusern oder andern Nebengebäuden. 104<br />
Heuerlinge standen in <strong>eine</strong>r eigenartigen Zwitterstellung, denn <strong>eine</strong>rseits waren sie<br />
billige Tagelöhner für die Bauern, andererseits betrieben sie als Pächter kl<strong>eine</strong><br />
landwirtschaftliche Betriebe. 105 Für die Bauern wäre es zu teuer und zu ineffektiv<br />
gewesen, hätten sie die Heuerlinge als festangestellte Landarbeiter beschäftigt; es war<br />
billiger, ihnen die Grundlage für <strong>eine</strong> kl<strong>eine</strong> landwirtschaftliche Existenz zu geben, und<br />
dafür als Gegenleistung neben Geld auch Arbeitsdienste zu verlangen. 106 Mit den<br />
verbesserten Erwerbsmöglichkeiten im Hollandgang und der L<strong>eine</strong>nweberei wurden<br />
die Heuerlingsstellen immer begehrter, so dass deren Zahl schnell anstieg. Parallel<br />
nahmen die Stellenausweisungen von Seiten der Landesherrschaft zur Ansiedlung von<br />
Kleinstellen als Markkötter, Brinksitzer oder Anbauer zu.<br />
Viele der sogenannten kl<strong>eine</strong>n Leute konnten nur noch teilweise in der alten<br />
dörflichen Ordnung überleben. Zwar wohnten sie hier, fütterten ihr weniges Vieh,<br />
ernteten etwas Getreide und Gemüse, arbeiteten bei den Bauern als Tagelöhner und<br />
übten ein kl<strong>eine</strong>s Handwerk aus. Aber das alles reichte selten für <strong>eine</strong>n bescheidenen<br />
Lebensunterhalt. Man war auf zusätzliche Verdienstmöglichkeiten angewiesen und<br />
versuchte der Unterbeschäftigung und gänzlichen Verarmung durch Garnspinnen und<br />
L<strong>eine</strong>nweberei, durch Hausierhandel und andere Tätigkeiten zu begegnen. Die<br />
zeitweise günstigen außerlandwirtschaftlichen Erwerbsmöglichkeiten förderten diese<br />
Entwicklung noch, so dass Arbeit als L<strong>eine</strong>weber oder Hollandgänger nicht<br />
automatisch ein Hinweis auf Armut, sondern als notwendige Existenzsicherung<br />
gewertet werden muss. 107 Im Einzelfall bildete sich ein komplexes Existenzmuster<br />
heraus, das sich aus der Nutzung vieler kl<strong>eine</strong>r Erwerbsnischen zusammensetzte, die<br />
102 Hierzu SCHLUMBOHM (1994).<br />
103 Siehe hierzu OTTENJANN (1975).<br />
104 Ebd., S. 59.<br />
105 Hierzu SSERAPHIM (1948), sowie MOOSER (1984).<br />
106 Eine statistische Übersicht zu den Verhältnissen der osnabrücker Heuerleute aus dem<br />
Jahre 1849 bei SCHLUMBOHM (1994), S. 568f.<br />
26
heute nur noch teilweise erschlossen werden können. Diese Nischen folgten dabei auch<br />
<strong>eine</strong>m regionalen Muster, denn dort, wo die Voraussetzungen für die L<strong>eine</strong>nweberei<br />
günstig waren, gab es nur wenige Hollandgänger, während in benachbarten Regionen<br />
ohne Möglichkeit zum Flachsanbau der Hollandgang dominierte. Dieses von Franz<br />
Bölsker-Schlicht im westlichen Niedersachsen und nördlichen Westfalen beobachtete<br />
Phänomen 108 lässt sich auch in anderen niedersächsischen Gebieten finden. Im<br />
Eichsfeld hatten sich die Wanderarbeiter auf das Maurerhandwerk spezialisiert. Für das<br />
Herzogtum Oldenburg ist <strong>eine</strong> kleinräumige gewerbliche Differenzierung<br />
nachgewiesen worden. 109 Ähnliches galt für Schaumburg-Lippe, wo etwa die Arbeit in<br />
den landesherrlichen Forsten oder für die dienstpflichtigen Bauernhöfe <strong>eine</strong> wichtige<br />
Erwerbsgrundlage bildete. 110 Letzteres trifft sicherlich auch auf andere Regionen zu, in<br />
denen bäuerliche Dienstleistungen in arbeitsintensiven Jahreszeiten zu verrichten<br />
waren. 111<br />
Die kl<strong>eine</strong>n Stellen wurden meist auf Gemeindeland angesetzt, wodurch sich dessen<br />
Umfang kontinuierlich verringerte. Dieses Verfahren wurde besonders von der<br />
Landesherrschaft benutzt, um auf den großen, nur wenig genutzten Geestflächen die<br />
Einwohnerzahlen zu erhöhen. 112 Die bisherigen Gemeindemitglieder, teilweise auch die<br />
Gutsherren sahen diese Entwicklung mit großen Bedenken und versuchten sich mit<br />
allen Mitteln dagegen zu wehren. 113 So meldete der Wehrblecker Ortsvorsteher, als<br />
1821 ein Anbauer namens Hake auf der Heide ein Haus bauen wollte: „dass die<br />
Eingesessenen mit der Ausweisung nicht friedlich wären u. selbige nicht glaubten, dass<br />
Hake Vermögen genug zum Anbau habe, u. er zuvor beweisen sollte, worin selbiges<br />
bestünde“. 114 Die Heideflächen waren seit dem 18. Jahrhundert von der<br />
Landesherrschaft schon zu <strong>eine</strong>r systematischen Anlage von Anbauerstellen etwa für<br />
ehemalige Soldaten genutzt worden. 115 Oft blieb es nicht bei verbalem Widerstand.<br />
In diesen Auseinandersetzungen symbolisierte sich der Konflikt zwischen<br />
Besitzenden und Nichtbesitzenden. Doch wer war Besitzender? Anbauer, die sich<br />
selbst gegen den Widerstand der Gemeindemitglieder niedergelassen hatten, wehrten<br />
sich wenige Jahre später ebenfalls gegen die ausweisung neuer Anbauerstellen. Die<br />
Ursache lag letztlich in den begrenzten Landressourcen: Neubauern waren auf die<br />
Mitnutzung der Gemeinweide angewiesen, was aber aus der Sicht der alten<br />
Dorfbewohner gleich zu <strong>eine</strong>m doppelten Verlust führte, denn neben den auf den<br />
Gemeinweiden ausgewiesenen Hausstellen wurden die Gemeinweiden zusätzlich durch<br />
das Vieh der Neubauer belastet.<br />
Eine Aufstellung des Dorfes Nebenstedt (Amt Dannenberg) von 1797 zeigt die<br />
komplexen genossenschaftlichen Nutzungsrechte:<br />
„Sind Forst-Interessenten mit dem Bau- und Lese-Holtz und können hüten mit ihren Pferden, Hornvieh,<br />
Schw<strong>eine</strong>n, Schaafe und Gänse für beständig über ihre mit der Dorfschaft Splitau Commune Weide nach<br />
der Kl<strong>eine</strong>n Lucii bis an den Zadrauer Kirchsteig; und bey hohen Wasserszeiten aber bis nach der<br />
107 Siehe dazu die Diskussion um die Protoindustrialisierung etwa in Markus Cerman;<br />
Sheilagh C. Ogilvie (1994), ??? (1998).<br />
108 BÖLSKER-SCHLICHT (1987), S. 123-133.<br />
109 HINRICHS, KRÄMER, REINDERS (1988).<br />
110 SCHNEIDER (1994), S..<br />
111 Bericht Amt Dannenberg v. 11.11.1786 in NHStaH Hann. 74 Dannenberg Nr. 877.<br />
112 Dazu CORDES (1981).<br />
113 Beispiele bei SCHLUMBOHM (1994), S. 59-66.<br />
114 Amtsbericht vom 18.10.1821 in NHStAH Hann 74 Sulingen Nr. 1495.<br />
115 CORDES (1981).<br />
27
Zadrauer Heide und Kiemen hinaus nach der Hohen Lucii. Denn Plaggenhieb haben sie nicht. Diese<br />
Weide hat hohe und niedrige Stellen, guten Boden und ist durch die Abwässerung beinahe Marschweide<br />
geworden. Demnechst so hat diese Dorfschaft noch <strong>eine</strong> privative Marsch- oder Pflingstweide, nebst Pferde-<br />
Nacht-Koppel beim Dorfe belegen, so sie vom Meytag an bis das die Wiesen loos sind mit ihren Pferden<br />
und Hornvieh in der Woche einige mahl des Tages über 1/2 Tag behüten.“ 116<br />
Die Gemeinden verfügten also nicht immer ausschließlich allein („privative“) über die<br />
genutzten Gemeinheitsflächen, sondern häufig in Gemeinschaft („in communion“) mit<br />
anderen benachbarten Dörfern. Besonders um die kl<strong>eine</strong>n Landstädte konnte ein<br />
Kranz von Dörfern liegen, die mit der Stadt gemeinsame Huderechte hatten, wie im<br />
Falle der Stadt Dannenberg, die 1797 ihre Gemeinweiden mit insgesamt 18<br />
umliegenden Dörfern teilte. 117 Bei der Ausweitung der Nutzung dieser Flächen durch<br />
Anbauer und <strong>eine</strong> Vergrößerung des Viehstapels waren Konflikte zwischen den<br />
Kommunen kaum zu vermeiden. Angesichts der differenzierten und teilweise nur<br />
durch die Überlieferung, das „Herkommen“, abgesicherten Rechte, die sich zudem<br />
nach den Nutzungsformen unterschieden, waren Konfliktlösungen häufig mit<br />
langwierigen Prozessen verbunden. 118<br />
e) Die Nicht-Landbesitzenden<br />
Die Voll- und Halbmeier, Kötner und zuweilen die Brinksitzer bildeten als<br />
„Reihestellen” die bäuerliche Gemeinde. 119 Mit der Zugehörigkeit zur Gemeinde waren<br />
wichtige Rechte verbunden, wie das auf die Nutzung der Gemeinheiten.<br />
Gemeindemitglieder war auch verpflichtet, sich an den Ausgaben der Gemeinde zu<br />
beteiligen und öffentliche Arbeiten zusammen mit den anderen Gemeindegenossen zu<br />
übernehmen. Neben der Gemeinde standen mit steigender Bevölkerungszahl immer<br />
mehr Nicht-Gemeindemitglieder. Die Gruppe dieser Dorfbewohner war in sich sehr<br />
uneinheitlich. Zu ihr gehörten die An- und Abbauer des 18. und frühen 19.<br />
Jahrhunderts, die nur über ein kl<strong>eine</strong>s Haus verfügten, ebenso wie die Einlieger,<br />
Häuslinge oder die Heuerleute in Osnabrück, die alle bei anderen Hausbesitzern zur<br />
Miete wohnten, und natürlich das Gesinde. „Die unterbäuerliche Klasse war<br />
heterogener als die bäuerliche Klasse, da die differenzierenden Merkmale<br />
Parzellenbesitz, lokale Verwandtschaft und Einkommensunterschiede ökonomisch und<br />
sozial weit folgenreicher waren als die Besitzunterschiede innerhalb der<br />
Bauernklasse.“ 120<br />
Ein Blick allein auf die Hausstellen, also die hausbesitzende Bevölkerung, ist jedoch<br />
unvollständig, da innerhalb der Dörfer <strong>eine</strong> große Zahl von Menschen lebte, die über<br />
k<strong>eine</strong>n Hausbesitz, und sei er mit noch so wenig Land ausgestattet, verfügten. Franz<br />
zählte insgesamt 73.086 zu den Höfen gehörende Menschen, einschließlich 4767<br />
Leibzüchtern und 36868 Kindern. 121 Dem standen 5440 Einlieger gegenüber, die auf<br />
116 NHStAH Hann 74 Dannenberg Nr. 3221.<br />
117 Ebd.<br />
118<br />
PRASS (1997a), 98-103; SCHNEIDER (1995a).<br />
119 Allgemein dazu als neuere Darstellung WUNDER (1986); HAUPTMEYER (1988), neuester<br />
Forschungsüberblick: BLICKLE (1998).<br />
120<br />
MOOSER (1984), 206.<br />
121<br />
FRANZ (1974), S. 232. Die Angaben wirken nicht ganz eindeutig, so ist von 1606<br />
Haushalten die Rede, die ausgewertet wurden, was nicht stimmen kann, unklar ist auch, ob<br />
die gezählten 36.868 Kinder nur der hausbesitzenden Bevölkerung zugerechnet werden<br />
können, da bei den Einliegern k<strong>eine</strong> Kinder genannt wurden.<br />
28
den Höfen wohnten, aber nicht zur bäuerlichen Familie gehörten und 8845 zum<br />
Gesinde zählende Personen. 122 Dies bedeutet, dass über 10 % der dörflichen<br />
Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr hausbesitzend war.<br />
Ein noch genaueres Bild ermöglicht der Blick auf ein einzelnes Dorf, in diesem Fall<br />
das zum Kloster Loccum gehörende, am Steinhuder Meer gelegene Dorf Winzlar. 123 In<br />
Winzlar gab es 1689 insgesamt 59 Hausstellen, sieben Halbmeier, 25 Kötner und 27<br />
Brinksitzer. Die durchschnittliche Hofgröße betrug bei den Halbmeiern 32,5 Morgen,<br />
bei den Kötnern knapp 11 Morgen und bei den Brinksitzern 2,4 Morgen. Allerdings<br />
sind diese Werte nur begrenzt aussagekräftig, denn hinter ihnen verbergen sich<br />
teilweise erhebliche Unterschiede. Am geringsten waren sie noch bei den Halbmeiern,<br />
die zwischen 27 und 37 Morgen Land besaßen. Erheblicher waren sie bei den Kötnern,<br />
von denen 14 mehr als 10 Morgen Land bewirtschafteten, mit <strong>eine</strong>m Höchstwert von<br />
22 Morgen, also fast so viel wie beim kleinsten Halbmeier, zehn hatten zwischen 4 und<br />
9 Morgen Land und <strong>eine</strong>r war sogar landlos. Ein ähnlich differenziertes Bild bietet sich<br />
bei den Brinksitzern, von denen drei über 5 Morgen Land bewirtschafteten, 17<br />
zwischen 0,25 und 3,75 Morgen, während sieben überhaupt kein Land hatten. Die<br />
Hofklassen geben damit erste Hinweise auf die Betriebsgrößen, mehr aber nicht,<br />
besonders die Klasse der Kötner zeichnete sich durch extrem große Unterschiede aus.<br />
Die Einbeziehung der nicht-hausbesitzenden Bevölkerung zeigt die noch größere<br />
Komplexität der ländlichen Gesellschaft. So lebten 1689 in dem am Steinhuder Meer<br />
gelegenen Dorf Winzlar 393 Menschen, was für ein frühneuzeitliches Dorf in<br />
Niedersachsen <strong>eine</strong> ansehnliche Zahl war. Für jedes Haus erfasste die<br />
Kopfsteuerbeschreibung alle anwesenden Personen, auch solche, die nicht<br />
steuerpflichtig waren. In sechs Kategorien lassen sich die Einwohner einteilen: die<br />
Hausbesitzer (meistens Ehepaare), deren Kinder, Leibzüchter, Gesinde, zur Miete<br />
wohnende Häuslinge und schließlich noch weitere Personen, teilweise Verwandte der<br />
Hausbesitzer, teilweise nicht zuzuordnen. Rechnet man zur eigentlichen Familie die<br />
Hausbesitzer, deren Kinder und die Leibzüchter, so ergibt sich für die bäuerlichen<br />
Betriebe über zehn Morgen Land <strong>eine</strong> Gesamtzahl von 110 Personen (oder 28 %), für<br />
die kleinbäuerliche Bevölkerung mit fünf bis zehn Morgen Land <strong>eine</strong> Zahl von 73<br />
Personen (18,6 %) und für die landarme bzw. landlose Bevölkerung <strong>eine</strong> Zahl von 119<br />
Personen (30,3 %). Damit ist aber noch nicht die gesamte Bevölkerung erfasst, denn sie<br />
ist noch durch 57 Häuslinge (14,5 %), 28 Knechte und Mägde und sechs weitere<br />
Personen zu ergänzen.<br />
Hinter diesen schlichten Daten standen vor allem Armut und latente oder gar akute<br />
Not. Selbst die bäuerliche Bevölkerung dürfte kaum Reichtümer angesammelt haben,<br />
dazu waren die Besitzgrößen zu gering, zumal die wirklich großen Höfe, die Vollmeier,<br />
gänzlich fehlten. Immerhin versorgten diese Höfe erkennbar mehr Menschen als die<br />
kl<strong>eine</strong>ren, was schon aus der durchschnittlichen Personenzahl von 7,6 bei den<br />
Halbmeierhaushalten, im Gegensatz von 7,2 bei den Kötnern und lediglich 5,9 bei den<br />
Brinksitzern hervorgeht.<br />
Die durchschnittliche Kinderzahl je Haushalt zeigt auf, woher diese Unterschiede<br />
kamen: so lebten in den Haushalten der Halbmeier deutlich mehr Kinder als in denen<br />
der Kötner oder der Brinksitzer, erheblich höher war auch der Gesindebesatz auf den<br />
bäuerlichen Stellen, während die Differenzen bei den Leibzüchtern eher zufälliger<br />
122 Hierzu zählt Franz auch die Hirten, während die Zahl der Knechte und Mägde lediglich<br />
5596 betrug (ebd.).<br />
123<br />
BURCHARD, MUNDHENKE (1960), S. 149 ff, eigene Auswertung.<br />
29
Natur und bei den Häuslingen insgesamt gering war. 124 Der geringe Gesindebesatz bei<br />
den Kleinstellen ist kaum überraschend, gab es hier doch nur wenig Land zu<br />
bewirtschaften und das gelang auch mit den Familienarbeitskräften. Überraschender ist<br />
da schon die Tatsache, dass auch einzelne Brinksitzer <strong>eine</strong> Magd beschäftigten, wobei<br />
es sich meist um junge Mädchen handelte, die für Unterkunft und Verpflegung Kinder<br />
beaufsichtigten und kl<strong>eine</strong> Arbeiten im Haushalt verrichteten. Hier wird die Armut<br />
wieder greifbar, auch dann, wenn es beim Haushalt des Halbmeiers Johann Kiel heißt:<br />
„Ein arm Kind Hinrich, so bettelt.“ 125 Ganz schlimm sah es auf der Stelle des Kötners<br />
Heinrich Brehmeyer aus, zu dem es heißt: „das Land haben andere Leute und ist ganz<br />
arm. Leibzüchterin, dessen Mutter Catrina Blote (80 J.). Deren Tochter Elisabeth ist<br />
lahm. Häusling Catrina Mehrings (30 J.) arm.“ 126<br />
f) Die Dynamik der Entwicklung<br />
Es waren die „kl<strong>eine</strong>n Leute“, die Brinksitzer und Häuslinge, die das Bild in Dörfern<br />
wie Winzlar prägten, nicht die großen Bauern, die wie hier zuweilen völlig fehlten.<br />
Leider fehlt für Calenberg <strong>eine</strong> Fortschreibung der Zahlen von 1689, aber es liegen<br />
vergleichbare braunschweigische Zahlen vor, die <strong>eine</strong>n Eindruck von dem Geschehen<br />
erlauben, welches im 18. Jahrhundert einsetzte. Hier verdoppelte sich zwischen 1656<br />
und 1800 die Gesamtzahl der Stellen von 7212 auf 14424; vergleichsweise stark nahm<br />
dabei die Zahl der Ackerhöfe von 830 auf 1400 zu 127 , die der Halbspännerhöfe blieb<br />
fast konstant (1200 zu 1457), die der Kothöfe stieg von 5182 auf 7399 an, während als<br />
völlig neue Schicht der Brinksitzer 1800 mit <strong>eine</strong>r Gesamtzahl von 4168 schon fast die<br />
Zahl der Kötner erreichte. 128<br />
Eine starke Vermehrung dieser Bevölkerungsgruppen musste das innerdörfliche<br />
Gleichgewicht empfindlich stören. Genau das geschah im 18. Jahrhundert, nachdem<br />
die z.T. hohen Bevölkerungsverluste des Dreißigjährigen Krieges ausgeglichen waren.<br />
Ab 1750 begannen sich die Verhältnisse in den Dörfern zu verschlechtern. Erkennbar<br />
wird dies schon bei <strong>eine</strong>m Blick auf die Entwicklung der einzelnen Hofklassen.<br />
Tabelle 4: Hofklassen im Herzogtum Braunschweig<br />
1656 1750 um 1800 Zuwachs 1656-1750 in v.H.<br />
Ackerhöfe 830 1370 1400 168,67<br />
Halbspännerhöfe 1200 1470 1457 121,42<br />
Kothöfe 5182 7900 7399 142,78<br />
Brinksitzer 0 2400 4168<br />
Anbauer 0 500 0<br />
Summe 7212 13640 14424 200,00<br />
Quelle: ACHILLES, Belastung,<br />
124 Die Durchschnittswerte wurden unter Einbeziehung der Haushalte ohne entsprechende<br />
Personen berechnet.<br />
125<br />
BURCHARD, MUNDHENKE (1960), S. 150.<br />
126<br />
BURCHARD, MUNDHENKE (1960), S. 154. Kranke, meist lahme Dorfbewohner, werden noch<br />
häufiger erwähnt.<br />
127 Wobei die höchste Zunahme von 830 auf 1370 Stellen zwischen 1656 und 1750 erfolgte,<br />
was vermuten läßt, daß 1656 vor allem Ackerhöfe wüst lagen und erst in den folgenden<br />
Jahren wiederbesetzt wurden.<br />
128<br />
ACHILLES (1972a), S. 26, Tab. 4.<br />
30
Zwischen 1650 und 1800 verdoppelte sich mithin die Zahl der Hofstellen im<br />
Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel. An dieser Verdoppelung waren aber die<br />
einzelnen Hofklassen unterschiedlich beteiligt. Am geringsten war die Zunahme bei<br />
den Halbmeiern, größer fiel sie bei den Ackerhöfen und den Kothöfen aus;<br />
entscheidend für die Zunahme war jedoch die Entstehung der neuen unterbäuerlichen<br />
Schicht der Brinksitzer (und Anbauer), die 1800 deutlich mehr Stellen umfasste als die<br />
übrigen Höfe zusammen. Ähnliche Entwicklungen lassen sich in den anderen<br />
niedersächsischen Territorien in z.T. noch größerem Maße beobachten. Vom Ende des<br />
Dreißigjährigen Krieges bis 1800 hatte sich die Einwohnerzahl auf dem flachen Lande<br />
etwa verdoppelt. Diese Verdoppelung ist insofern bemerkenswert, als es sich dabei um<br />
Anerbengebiete handelte, in denen es gewisse Grenzen für die Anlage neuer Hofstellen<br />
gab. Im Realteilungsgebiet des Eichsfeldes wuchs die Einwohnerzahl sogar um das<br />
Dreifache. 129 Überall hatte die Zahl der kl<strong>eine</strong>n Stellen rapide zugenommen, während<br />
die Zahl der bäuerlichen Betriebe aufgrund des Anerbenrechts begrenzt blieb. 130<br />
Eine ähnliche Entwicklung fand auch in Westniedersachsen statt. Im Kirchspiel<br />
Belm blieb seit der Mitte des 16. Jahrhunderts die Zahl der großen Höfe konstant, die<br />
der kl<strong>eine</strong>ren stieg erst Anfang des 19. Jahrhunderts etwas an, während die Haushalte<br />
von 250 Anfang des 17. Jahrhunderts bis auf knapp 600 Anfang des 19. Jahrhunderts<br />
zunahmen, worunter sich über 400 Heuerlingsstellen befanden. 131 Das Anerbenrecht<br />
verhinderte damit zwar erfolgreich <strong>eine</strong> Auflösung der bäuerlichen, jedoch nicht die<br />
Entstehung <strong>eine</strong>r breiten landlosen Bevölkerungsschicht. „Nicht innerhalb des Kreises<br />
der bäuerlichen Besitzer fanden also die wesentlichen Verschiebungen statt, sondern<br />
das außerordentliche Wachstum der eigentumslosen Schicht veränderte das Gesicht<br />
dieser ländlichen Gesellschaft.“ 132<br />
Die innerdörflichen Verhältnisse standen in <strong>eine</strong>m größeren sachlichen wie<br />
räumlichen Kontext. Sie waren abhängig von der allgem<strong>eine</strong>n Politik des Landesherrn<br />
und s<strong>eine</strong>r Beamten, zugleich eingebunden in die überregionale Nachfrage nach<br />
Arbeitskräften oder gewerblichen Erzeugnissen. Damit war die dörfliche Gesellschaft<br />
vor den Agrarreformen weder harmonisch noch stabil. Dass sie nicht idyllisch war,<br />
dürfte inzwischen k<strong>eine</strong> besondere Aufmerksamkeit mehr erregen, wichtiger ist aber<br />
ihre Instabilität. Das war die notwendige Folge der beschriebenen Verhältnisse. Analog<br />
zur Konjunkturforschung kann man zwei Arten der Instabilität beschreiben. Zuerst<br />
war diese Gesellschaft in hohem Maße von den natürlichen Ressourcen abhängig,<br />
wobei die entscheidende Variable nicht der Boden, sondern das Klima war. Die in<br />
unterschiedlichen Abständen ausbrechenden Erntekrisen und die von Jahr zu Jahr stark<br />
schwankenden Erntemengen sind darauf zurückzuführen. 133<br />
Diese Dynamik wurde überlagert und ergänzt durch die interregionalen und<br />
internationalen Verflechtungen nordwestdeutscher Regionen, welche zwar den<br />
ländlichen Regionen <strong>eine</strong> relativ lange und vermeintlich stabile Wohlfahrtsphase<br />
verschafften, sie aber in neue, elementare Abhängigkeiten führten. Diese<br />
Verflechtungen führten allerdings zu <strong>eine</strong>m regionalen Anpassungsmuster, das durch<br />
<strong>eine</strong> hohe Variationsbreite gekennzeichnet ist, und in zeitgenössischen Reiseberichten<br />
129 SCHNEIDER, SEEDORF (1989), S. XX.<br />
130 GREES (1983).<br />
131 SCHLUMBOHM (1994), S.54 f.<br />
132 Ebd., S. 58.<br />
133 Dazu allgemein und immer noch grundlegend: ABEL (1978b).<br />
31
immer wieder hervorgehoben wird, aber auch von der neueren Forschung bestätigt<br />
wurde. 134<br />
Kompliziert waren ebenfalls die Beziehungen zwischen den einzelnen sozialen<br />
Gruppen im Dorf, wobei es in diesem Bereich wiederum regionale Abweichungen bzw.<br />
regionale Muster gab. In den Gebieten mit Hollandgang spielten offenbar die<br />
Hollandgänger auch für die bäuerliche Bevölkerung <strong>eine</strong> wichtige Rolle. Mit dem<br />
verdienten Geld wurden bei der Rückkehr nicht selten die obrigkeitlichen Steuern und<br />
die Schulden bei den Bauern bezahlt, die im Winter oder Frühjahr entstanden waren,<br />
weil kein Brot- und kein Saatkorn mehr vorhanden waren. 135 Dieses Geld wurde von<br />
den Bauern zumindest teilweise für Investitionen genutzt, wie das Beispiel der<br />
Wehlburg nahe legt. 136<br />
Zusätzliche Verdienstmöglichkeiten verbunden mit den Abfindungen, die den<br />
weichenden Erben zustanden, bildeten oft den Anlass für frühe Familiengründungen.<br />
Nicht erbberechtigte Söhne kauften von ihrer Abfindung <strong>eine</strong>n Webstuhl und<br />
heirateten bald; denn Kinder waren wertvolle Arbeitskräfte, die schon im Alter von 6-8<br />
Jahren mithelfen mussten.<br />
Die meist armen Brinksitzer oder Einlieger sahen indes nicht ohne Verbitterung ihre<br />
Abhängigkeit von den großen Bauern. Die Bauern wiederum warfen den kl<strong>eine</strong>n<br />
Leuten vor, verschwenderisch mit dem Geld umzugehen und sich nicht an alte<br />
dörfliche Sitten zu halten, früh Kinder zu bekommen und <strong>eine</strong>n unschicklichen<br />
Lebenswandel zu führen. Für den Einlieger, Brinksitzer oder Heuerlinge aber waren<br />
Kinder wertvolle Arbeitskräfte, ohne deren frühe Mitarbeit beim Spinnen, Weben,<br />
Viehhüten, Torfmachen u.a. ein Überleben nur schwer war. 137<br />
Auf diese Weise etablierten sich neue Abhängigkeiten, die neben den vorhandenen<br />
feudalen lagen. Die Dynamik dieser ländlichen Gesellschaft zwischen Landwirtschaft,<br />
Verlagsarbeit und Wanderarbeit, ist mit dem zwar umstrittenen aber auf die Forschung<br />
äußerst anregenden Konzept der „Proto-Industrialisierung“ zu fassen versucht<br />
worden. Die ursprünglichen Ergebnisse über die Wechselbeziehungen zwischen<br />
Verlagsarbeit, demographischer und industrieller Entwicklung wurden inzwischen<br />
verf<strong>eine</strong>rt, ergänzt und korrigiert. 138 In dieser Perspektive treten die<br />
Wechselbeziehungen und die regionale Variationsbreite stärker hervor, wird aber auch<br />
der Übergangscharakter dieser Periode betont.<br />
Armut, Abhängigkeit und soziale Ungleichheit gehörten zu den elementaren<br />
Erfahrungen dieser ländlichen Welt des 17. bis frühen 19. Jahrhunderts: die<br />
Unterschichten waren streng getrennt von der bäuerlichen Oberschicht; lediglich für<br />
die Kleinbauern bot sich zuweilen die Chance sozialen Aufstiegs. Damit war die<br />
ländliche Gesellschaft „in hohem Maße bäuerlich geprägt, und sie blieb es, obwohl sie<br />
von der Proto-Industrialisierung erfaßt wurde und die Bauern bald nur noch <strong>eine</strong><br />
Minderheit in ihr waren“. 139<br />
134 Als bekanntestes Beispiel zeitgenössisches Beispiel: SCHWERZ (circa 1980 = 1836); sonst:<br />
REINDERS (1990); BÖLSKER-SCHLICHT (1987), 88-165.<br />
135<br />
TACK (1902); SCHAER (1978), BÖLSKER-SCHLICHT (1987), 295 f mit zwei Beispielrechnungen.<br />
136<br />
OTTENJANN (1975).<br />
137 Eindrucksvolle Belege bei , etwa 81-95. Allerdings konnten von der neueren Forschung<br />
die Annahmen der Protoindustrialisierungsforscher nicht bestätigt werden, dass es <strong>eine</strong>n<br />
eindeutigen Zusammenhang zwischen heimgewerblicher Arbeit und frühem Heiratsalter<br />
gab.<br />
138 Neuester Überblick bei Markus Cerman; Sheilagh C. Ogilvie (1994).<br />
139<br />
SCHLUMBOHM (1994), S. 612.<br />
32
Diese hier beschriebenen Verhältnisse schlugen sich auch in <strong>eine</strong>m<br />
Bevölkerungswachtum nieder, welches aber angesichts der unzureichenden<br />
statistischen Daten nur ansatzweise erfasst werden kann.<br />
Wichtig: hier noch nach Daten fahnden!<br />
Bislang dazu: Treue 1964, 7 und 29 und Brakensiek, 449, außerdem Könenkamp,<br />
Situation.<br />
2. Beispiele niedersächsischer Dörfer<br />
Ein wichtiges Kennzeichen vorindustrieller Verhältnisse waren deren Vielgestaltigkeit.<br />
Zwar gab es zentrale Elemente, die in jedem Dorf anzutreffen waren, aber je nach den<br />
lokalen Verhältnissen gab es immer wieder neue Kombinationen dieser Elemente.<br />
Deshalb sollen diese Elemente anhand zweier Siedlungen näher beschrieben werden.<br />
Ausgesucht wurden zwei Dörfer, in denen der Autor um 1990 selbst tätig war, die er<br />
also auch aus eigener Anschauung kennt.<br />
a) Wehrbleck, Strange, Nordholz<br />
Westlich der Weser, südwestlich von Sulingen liegen im Bereich der Sulinger Geest die<br />
drei Orte Wehrbleck, Strange und Nordholz. 140 Im Westen und Süden erstreckt sich<br />
das Wietingsmoor und begrenzt die Siedlungen. Die Ackerflächen sind relativ klein<br />
und befinden sich jeweils in direkter Nähe zur Siedlung. Im Falle von Nordholz ist die<br />
„Auenorientierung“ (Seedorf) offenkundig; bei Wehrbleck wird sie erst erkennbar,<br />
wenn die Höhenunterschiede und die nordöstlich des Dorfes vorhandene Niederung<br />
berücksichtigt werden. Wehrbleck und Nordholz sind alte Siedlungen. Nordholz ist bis<br />
in das 20. Jahrhundert im Kern <strong>eine</strong> Doppelhofanlage geblieben, vermutlich<br />
hervorgegangen aus <strong>eine</strong>m alten Meierhof; Wehrbleck dagegen ist schon im 18.<br />
Jahrhundert ein sozial und räumlich stark differenziertes Dorf. Die am Rande des<br />
Pagenmoors auf Heidesand angelegte Siedlung Strange schließlich gehört <strong>eine</strong>r<br />
jüngeren Siedlungsphase an, und besitzt nur geringe, nahezu bedeutungslose<br />
Ackerflächen. 141 Bemerkenswert sind diese drei Siedlungen deshalb, weil sie ein Beispiel<br />
für die Dynamik und Variationsbreite ländlicher Siedlung bilden.<br />
Die Verteilung der Höfe innerhalb des Dorfes legt die Annahme nahe, dass<br />
Wehrbleck wie Nordholz ursprünglich aus zwei Meierhöfen bestanden hat, die<br />
zwischen Feucht- und Grünland im Nordosten und dem Ackerland im Westen lagen.<br />
Der geteilte Hofraum der beiden halben Höfe deutet darauf hin, dass sie aus <strong>eine</strong>m<br />
Meierhof hervorgegangen sind. Östlich von ihnen entwickelten sich die Kötnerstellen.<br />
Im 16. Jahrhundert verfügte Wehrbleck schon über 12 Hofstellen, wobei <strong>eine</strong>m<br />
Meierhof zwei halbe Höfe, acht Kötner und ein Brinksitzer gegenüberstanden. 142 Bis<br />
1677 verdichtete sich die Bebauung bei den Kötnerhöfen, während die großen<br />
Hofräume der drei Meier unangetastet blieben. Außerdem dehnte sich der Ort nach<br />
Norden aus. 1677 hatte sich die Zahl der Hofstellen durch die Ansetzung von<br />
Kleinstellen auf 18 erhöht. 143 Neben der Zunahme der Kleinstellen ist die innere<br />
Differenzierung der Kötner bemerkenswert, die in Fahrkötner (mit Pferdebesitz), halbe<br />
140 Die folgende Darstellung nach SCHNEIDER (1991), insbes. S. 27-30. Knappe Angaben über<br />
die Siedlungen jetzt auch im GOV Hoya.<br />
141 CORDES (1981), XX.<br />
142 Erbregister von 1581 (NHStAH Hann. 74 Sulingen 17).<br />
33
Fahrkötner, Handkötner, Dreiviertel- und Viertelhandkötner unterschieden werden.<br />
Die Größe des Landbesitzes wurde anhand der Aussaatmengen angegeben. 144 Der<br />
größte Hof Nr. 1 hatte 8 Malter 6 Scheffel Aussaat, die beiden Halbmeier hatten ca. 5<br />
½ Malter, die Kötner zwischen drei und vier Malter, die Brinksitzer zwischen 0 und 2<br />
Malter Aussaatflächen. Geht man davon aus, dass ein die Aussaatmenge von <strong>eine</strong>m<br />
Himten („Himtsaat“) etwa 1/3 Morgen entsprach, so wären das beim Meier ca. 53<br />
Morgen Ackerland, bei den Halbmeiern ca. 33 Morgen und bei den Brinksitzern bis zu<br />
10 Morgen, also insgesamt kl<strong>eine</strong> Flächen, die auf die große Bedeutung der<br />
Viehhaltung hinweisen. 145 Bei der Bewertung der Hofgrößen muss zudem die geringe<br />
Bodengüte berücksichtigt werden.<br />
1677 nennen die Akten für die 18 Wehrblecker Höfe insgesamt 35 Pferde, also<br />
knapp 2 je Hof, 8 Fohlen, 76 Kühe, 71 Rinder, 48 Schw<strong>eine</strong>, 10 Bienenstöcke und 169<br />
Schafe. 146 An dieser Aufstellung ist zunächst der Pferdebesatz bemerkenswert, denn die<br />
Unterschiede zwischen den einzelnen Hofklassen waren erstaunlich gering, bzw.<br />
teilweise nicht vorhanden. Alle Meier hielten zwei Pferde, die Kötner dagegen zwei bis<br />
drei und selbst die beiden Brinksitzer und <strong>eine</strong>r der vier Beibauern hatten zwei Pferde,<br />
während von den übrigen drei Beibauern nur <strong>eine</strong>r ein Tier hielt. Ein ähnliches Bild<br />
bietet sich bei den Kühen und den Rindern, wo die Kötner etwas mehr Tiere als die<br />
größeren Meierhöfe hielten, während die Zahl der von den Kleinstellen gehaltenen<br />
Tiere kaum unter der der größeren Höfe lag. Unterschiede zwischen großen und<br />
kl<strong>eine</strong>n Höfen sind dagegen bei den Schw<strong>eine</strong>n auszumachen, denn die<br />
Schw<strong>eine</strong>haltung war nicht nur insgesamt (mit 48 oder 2,67 Tieren je Hof)<br />
unbedeutend, unter den Kleinstellenbesitzern (Brinksitzern und Beibauern) gab es nur<br />
zwei, die überhaupt (jeweils zwei) Tiere hielten. Gering war ebenfalls die Bienenhaltung<br />
und die Schafhaltung (insgesamt 169 Tiere waren auf acht Herden verteilt).<br />
Wie sehr die Viehhaltung mit den genossenschaftlichen Nutzungsrechten<br />
korrespondierte, zeigen die Einträge in dem genannten Lagerbuch. So heißt es zum<br />
Vollmeier Hinrich Graue:<br />
„Mast in privato: Hat Eichen bey dem Hause stehen, da Von Bey Voller Mastzeit etwa 4 ad 5 Schw<strong>eine</strong><br />
gefeistet werden können. In Communio Er mit der Dehlzucht auff den Weddigeloh Berechtiget.<br />
Gem<strong>eine</strong> Weide: Leßet dessen Vieh promiscui in der finckenstelle von Weddigeloh gehen und weiden, und<br />
auff den umbliegenden Heiden. Fewerung: Grabet Torff auff s<strong>eine</strong>n Platze auf der Luuckflüße, hinter<br />
dem Holtze gewandt. Plaggen und Heidmatt: Ist gleich bey dem dorff, vorne schon angezeiget, Berechtiget.<br />
Schäffereye: Hat itzo k<strong>eine</strong>, muß aber sonsten dieselben auff der Heide und morasten nach Barver zu<br />
gehen und weiden lassen.” 147<br />
Dieser Auszug verdeutlicht die schon beschriebenen Elemente dörflicher Wirtschaft<br />
und läßt auch erkennen, weshalb gerade die Kleinstellen zwar über <strong>eine</strong>n relativ großen<br />
Viehstapel, aber nur wenig Schw<strong>eine</strong> verfügten. Der umfangreiche Rindviehbesatz<br />
143 Die Zahl der Meier war konstant geblieben, die der Kötner nur um <strong>eine</strong> Stelle<br />
angewachsen. Lagerbuch von 1677 (NHStAH Hann. 74 Sulingen 23).<br />
144 Dazu etwa KÖSTER (1977), XX. Die Umrechnung dieser Angaben in heutige Flächenmaße<br />
ist sehr schwierig.<br />
145<br />
ENGEL (1965), S. 5 und 8. Eingehender und differenzierter für Rotenburg/Wümme<br />
behandelt dies ThemaKÖSTER (1977) , S. 13-17). Siehe auch HIRSCHFELDER (1971), S. 53 für<br />
Osnabrück.<br />
146 NHStAH Hann. 74 Sulingen 23. Hierbei sollten die Abweichungen zwischen den<br />
erhobenen und den tatsächlichen Werten jedoch berücksichtigt werden (siehe oben S. ).<br />
147 Ebd. S. 413 f.<br />
34
musste den geringen Landbesitz kompensieren und wurde durch die<br />
genossenschaftlichen Nutzungsrechte erleichtert. Dagegen war die Schw<strong>eine</strong>haltung an<br />
Mastrechte gebunden, die nur bei den größeren Hofstellen mit entsprechenden<br />
Eichenbeständen vorhanden waren. Erklärungsbedürftig bleibt allerdings die bis zu<br />
den Kleinstellen reichende Pferdehaltung.<br />
Die in dem <strong>kurze</strong>n Textauszug aufgeführten Flurbezeichnungen (Weddigeloh,<br />
Finkenstelle, Luuckflüße) lassen die vorindustrielle Flur als ein komplexes, durch<br />
unterschiedliche Nutzungsrechte und Zuordnungen differenziertes Gebilde<br />
hervortreten, dessen wahre Bedeutung sich nur denjenigen erschloss, die das Gebiet<br />
aus eigener Anschauung kannten. 148<br />
Neben Wehrbleck gab es noch die beiden Vollmeier in Nordholz (12 bzw. 5 ½<br />
Malter Aussaat) und fünf Stellen in Strange nördlich von Wehrbleck. Diese Siedlung<br />
entstand auf <strong>eine</strong>r Sanddüne am Moor (daher der Flurname Strange), diente den<br />
Wehrblecker Bauern als gemeinsames Weiderevier (Anger) und wurde gegen den<br />
teilweise erbitterten Widerstand der Wehrblecker Einwohner im 18. Jahrhundert weiter<br />
ausgebaut. 149 Bis 1769 150 entstanden hier sechs Stellen, die allesamt als Brinksitzer bzw.<br />
Beibauern eingestuft wurden und mit Ausnahme des ersten Brinksitzers (3 Malter<br />
Aussaat) über kein eigenes Land verfügten. In Wehrbleck selbst nahm die Stellenzahl<br />
bis 1769 um ebenfalls sechs auf nunmehr 24 Stellen zu.<br />
Das Siedlungsgebiet um Wehrbleck wies damit in der zweiten Hälfte des<br />
18. Jahrhunderts das Nebeneinander von drei Siedlungsformen auf: <strong>eine</strong>n Doppelhof,<br />
<strong>eine</strong> relativ geschlossene Bauernsiedlung und <strong>eine</strong> Nachsiedlung. Unverkennbar war<br />
zudem die Zunahme der Kleinstellen seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert,<br />
womit <strong>eine</strong> Entwicklung fortgesetzt wurde, die schon im 16. Jahrhundert begonnen<br />
hatte.<br />
Angesichts der ungünstigen naturräumlichen Voraussetzungen <strong>–</strong> Heide und Moor<br />
prägten in erster Linie die Siedlungslandschaft, während die Ackerflächen relativ klein<br />
und den älteren Hofstellen vorbehalten waren <strong>–</strong> erhebt sich die Frage, welche<br />
wirtschaftliche Grundlage die Kleinstellen hatten. Gewiß nutzten sie die<br />
genossenschaftlichen Flächen zur Viehhaltung, was den erwähnten Widerstand der<br />
alten Siedler gegen die neuen Stellen provozierte, stachen Torf und arbeiteten teilweise<br />
bei den Bauern. Das allein dürfte aber nicht ausgereicht haben. Als weitere<br />
Erwerbsquelle taucht in den Quellen der „Hollandgang“ auf. 151 Eine Aufstellung von<br />
1767 nennt aus Wehrbleck 15 Männer, die nach Holland gingen um zu „baggern”<br />
(Torfstechen), Gras zu mähen oder Gartenarbeit zu verrichten. 152 Die meisten<br />
verließen ihren Ort Mitte April und kehrten im Juni und Juli zurück. Sie verdienten<br />
Brutto zwischen 18 und 40 Reichstaler (rt.), wovon nach Abzug der Lebensmittel 153 ,<br />
der Reisekosten und der Kleidungskosten 6 bis 21 rt. Übrig blieben. Insgesamt betrug<br />
der Nettoverdienst, der auf diese Weise in das Dorf kam, über 200 rt. Bis auf zwei<br />
Neubauer handelte es sich im übrigen um Häusler, die in den landesherrlichen<br />
Registern um dieses Zeit nicht erwähnt werden. Damit ist also die Frage, welche<br />
Existenzgrundlage die kl<strong>eine</strong>n Stätten hatten, nur zu <strong>eine</strong>m Teil zu beantworten.<br />
148 Allgemein zur Flurnamenforschung SCHEUERMANN (1995).<br />
149 NHStAH Hann. 74 Sulingen 1495. Allgemein CORDES (1981), XX.<br />
150 Ebd. (Nachträge).<br />
151 Hierzu BÖLSKER-SCHLICHT (1987); TACK (1902), EIYNCK (1993).<br />
152 NHStAH Hann. 74 Sulingen 1536.<br />
153 Fast alle nahmen zwischen 40 und 50 Pfd. Speck und etwas Fahrgeld mit.<br />
35
) Bokensdorf<br />
Bokensdorf liegt im Osten Niedersachsens nördlich von Fallersleben und nordwestlich<br />
von Wolfsburg. Es gehört zu den ostniedersächsischen Rundlingsdörfern und hat bis<br />
heute das Siedlungsbild <strong>eine</strong>s Rundlings bewahrt. 154 Die Bauernhöfe liegen um den<br />
Dorfplatz, das Dorf selbst befindet sich auf <strong>eine</strong>r kl<strong>eine</strong>n Anhöhe, die Höfe sind von<br />
Grünland umgeben. An dieser Stelle sollen nicht die unterschiedlichen Theorien zur<br />
Entstehung der Rundlinge diskutiert werden, vielmehr erscheint es beachtenswert, wie<br />
ein im Vergleich zu Wehrbleck ähnliches, im Detail abgewandeltes Siedlungsmuster zu<br />
erkennen ist. Das Dorf liegt auf <strong>eine</strong>r trockenen Anhöhe und ist von Grünland<br />
umgeben, in <strong>eine</strong>m zweiten Ring liegt das Ackerland, welches etwas umfangreicher als<br />
in Wehrbleck ist, aber ebenfalls durch Heideflächen ergänzt wird.<br />
1678 hatte das Dorf 12 Hausstellen: je fünf Meier (vier Vollmeier, ein Halbmeier),<br />
und fünf Kötnerstellen, außerdem zwei wüste Stellen. 155 Der Besitz an Ackerland<br />
variierte von 20 (Meier) bis fünf Morgen (Kötner). 156 Bis in das späte 18. Jahrhundert<br />
gab es kaum Veränderungen. 157 Lediglich die drei kleinsten Stellen werden im 18.<br />
Jahrhundert als Brinksitzer bezeichnet; seit 1747 gibt es auch k<strong>eine</strong> wüsten,<br />
unbewirtschafteten Stellen mehr. Damit weist die Siedlung nicht die Dynamik auf, der<br />
wir in Wehrbleck begegnet sind. Obwohl die dortigen Rahmenbedingungen eher<br />
ungünstiger als in Bokensdorf waren, kam es zu <strong>eine</strong>r Vergrößerung der Stellenzahl,<br />
die sich sowohl in <strong>eine</strong>r Verdichtung der Bebauung im Dorf als auch zur Entstehung<br />
der Neubauersiedlung Strange führte. Bokensdorf bleibt dagegen bis Ende des<br />
18. Jahrhunderts ein geschlossenes Rundlingsdorf, welches k<strong>eine</strong> Erweiterung erfährt<br />
und nur in geringem Maße durch Kleinbauerstellen ergänzt wird.<br />
Der Viehbesatz von Bokensdorf wich 1678, also <strong>eine</strong> Generation nach dem Ende<br />
des 30-jährigen Krieges, nur scheinbar von dem Wehrblecks ab. Pferde wurden in<br />
diesem Dorf gar nicht gehalten, während die Zahl der Kühe und Ochsen je Hof<br />
deutlich höher lag (durchschnittlich 11, in Einzelfällen bis 21). Hier wurden also<br />
Ochsen zur Anspannung genommen, was entweder als <strong>eine</strong> regionale Eigenheit<br />
gedeutet werden kann oder <strong>eine</strong> ortsspezifische Reaktion auf den Krieges sein<br />
konnte. 158 Die Schw<strong>eine</strong>haltung lag in Bokensdorf noch unter den Wehrblecker Werten<br />
(mit durchschnittlich 1,6 Tieren), die Schafhaltung leicht höher.<br />
3. Krisenjahre<br />
Wie empfindlich das innerdörfliche Gleichgewicht auf Störungen reagierte,<br />
offenbarten mit aller Deutlichkeit die Jahre 1771/72. 159 Zwei aufeinander folgende<br />
154 Allgemein TIETZE, KÜHLHORN (1977), S. 38-42. Da fehlt noch was. XX<br />
155 Höfebeschreibung von 1678, hier nach BOSSE (1988), S. 147. Allgemein RUND (1996),<br />
S. XX.<br />
156 Die Quelle nennt lediglich die Einsaatmengen, woraus sich die Flächen berechnen lassen<br />
(BOSSE (1988), S. 146).<br />
157 BOSSE (1988), S. 304 mit den Daten des Kontributionskatasters 1687, 1700, 1747; dem<br />
Feuerstellenverzeichnis von 1766 und der Mannzahlrolle von 1791.<br />
158 Gegen ersteres spricht, dass in den anderen Orten des Boldecker Landes durchaus<br />
Pferdehaltung vorkam; allerdings gab es auch in den anderen Dörfern größere Höfe, die<br />
k<strong>eine</strong> Pferde hielten; BOSSE (1988), 156-165,<br />
159 Grundsätzlich zu den Mißernten DIPPER (1994), 61-63; ABEL (1974), 191-266.<br />
36
Missernten zeigten verheerende Folgen, denn nach der ersten Missernte waren die<br />
Vorräte der „kl<strong>eine</strong>n Leute“ aufgebraucht und es fehlte schon teilweise an Aussaat. Die<br />
Preise stiegen sprunghaft, so dass auch für viele Landbewohner das Brotkorn nahezu<br />
unerschwinglich teuer wurde. Da die Bauern versuchten, ihre Ernte an die<br />
Meistbietenden zu verkaufen, da sie die während des vorhergegangenen Krieges<br />
erlittenen Verluste nun ausgleichen wollten, wurde das Brotkorn zudem noch knapp. In<br />
der Krise zeigte sich die Ungleichheit der ländlichen Gesellschaft ebenso krass wie die<br />
gegenseitige Abhängigkeit der dörflichen Schichten. Während <strong>eine</strong> kl<strong>eine</strong> Minderheit<br />
von Bauern von den extrem hohen Preisen profitierte, litt ein Großteil der ländlichen<br />
Bevölkerung an Hunger. Der durch die hohen Getreidepreise bedingte<br />
Kaufkraftschwund führte zu <strong>eine</strong>r Absatzkrise bei den ländlichen<br />
Gewerbetreibenden. 160 „Hungersnot ist nicht, wenn das Brot teuer ist, sondern wenn<br />
nicht so viel verdient werden kann, um genug Brot kaufen zu können“, heißt es noch<br />
1844. 161<br />
Der Hunger hatte demographische Konsequenzen. Die Sterblichkeit stieg unter den<br />
Kindern und alten Menschen in diesen beiden Jahren drastisch an, während die<br />
Geburten deutlich zurückgingen. Zwar war auch in „normalen“ Jahren die Sterblichkeit<br />
vergleichsweise hoch, wofür neben der extremen Kindersterblichkeit Epidemien (Ruhr<br />
oder Blattern) und Kriegsereignisse verantwortlich waren. 162 Dennoch gehörten Jahre<br />
mit <strong>eine</strong>r extrem überhöhten Sterblichkeit eher der Vergangenheit an. Die Entwicklung<br />
von 1771-1773 musste deshalb besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, weil in<br />
diesen Jahren die Regierungen erstmalig versuchten, durch systematische Erhebung<br />
statistischer Daten Informationen über die Bevölkerungsentwicklung zu erhalten. 163<br />
Die Regierungen versuchten auf beide Herausforderungen zu reagieren, indem<br />
Getreide aus Militärmagazinen zu vergünstigten Preisen angeboten, Höchstpreise<br />
festgelegt, Ausfuhrverbote erlassen und Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen<br />
wurden. 164 Allerdings zeigten sich zugleich die Grenzen des absolutistischen<br />
Wohlfahrtsstaates, der dieser Herausforderung nur bedingt gewachsen war, denn das<br />
Verhalten der Untertanen war mit den herkömmlichen Mitteln nur in begrenztem<br />
Umfang zu regeln. Zielkonflikte kamen hinzu. Viele Bauern waren bei den geringen<br />
Erntemengen auf hohe Preise angewiesen, um den vielen Verpflichtungen gegen Staat<br />
und Grundherren nachkommen zu können. Höchstpreise und Ausfuhrverbote<br />
verstärkten damit in erster Linie die Beschäftigungskrise für die kl<strong>eine</strong>n Leute, denen<br />
die Kunden und Arbeitgeber fehlten, da die Bauern überall einsparen mussten. 165<br />
Die wohlgemeinten Regelungsversuche scheiterten letztlich an der Realität des<br />
Wirtschaftsprozesses und den divergierenden Interessen der beteiligten Personen und<br />
Gruppen. Diese Zusammenhänge blieben den Zeitgenossen nicht verborgen. Nicht die<br />
Anlage von neuen Kornmagazinen, sondern höhere Ernten waren die beste Vorsorge<br />
gegen ähnliche Katastrophen. Eine Erhöhung der Produktivität konnte nur gelingen,<br />
wenn grundlegende Veränderungen durchgeführt wurden. Die Notwendigkeit solcher<br />
Veränderungen wurde seit den 1770er Jahren verstärkt diskutiert. Kritik wurde an der<br />
160 ABEL (1974), 207-209.<br />
161 Nach <strong>eine</strong>m Bericht aus dem Vogtland, zitiert bei JANTKE, HILGER (1965), 53.<br />
162 ABEL (1974), 252-257; ROTHE (1998), 137. Klären, ob schon die gedruckte Ausgabe!<br />
163 FISCHER, KUNZ (1991), XX.<br />
164 Beispiele bei ABEL (1974), 226-238. Ein regionales Beispiel bei SCHNEIDER (1983), 125-139.<br />
165 In Schaumburg-Lippe kam es deshalb zu dem Versuch, das Verhalten der an der<br />
Landwirtschaft beteiligten Personen durch <strong>eine</strong> gemeinsame Institution besser zu regeln,<br />
das „Institut zur Verbesserung des Nahrungsstandes“ (SCHNEIDER (1983), 145-152).<br />
37
isherigen Wirtschaftsweise überall dort geübt, wo Zeit und Arbeitskraft verschwendet<br />
wurden: bei den bäuerlichen Zwangsdiensten ebenso wie bei der extremen<br />
Parzellierung vieler Feldmarken oder den schlecht genutzten Gemeinweiden.<br />
Regierungen und Wissenschaftler erarbeiteten Vorschläge zur Steigerung der<br />
Produktivität und gaben Anregungen für den Anbau neuer Pflanzen und die<br />
<strong>Einführung</strong> neuer Fruchtfolgen, die Beschränkung bäuerlicher Freiheit durch Grund-<br />
und Leibherrschaft wie sie im nächsten Kapitel beschrieben wird, wurde zunehmend<br />
als nicht mit den Erfordernissen der Zeit verträglich empfunden.<br />
4. Ein Forschungsdiskurs<br />
Die beschriebenen Strukturen und Prozesse zeigen, dass die agrarisch-ländliche<br />
Gesellschaft vor 1800 weder statisch noch weltabgewandt war, sondern in hohem Maße<br />
dynamische Elemente aufwies und Teil <strong>eine</strong>s komplexen überregionalen ökonomischen<br />
und gesellschaftlichen Systems war. Von der Forschung wurden diese Elemente lange<br />
Zeit nicht berücksichtigt, was auch daran lag, dass die deutsche<br />
Agrargeschichtsforschung, von der Ausnahme Wilhelm Abel abgesehen, bis in die<br />
1970-er Jahre vornehmlich Verfassungsgeschichte betrieb und damit andere Aspekte<br />
kaum berücksichtigte.<br />
Vor fast 30 Jahren setzte jedoch <strong>eine</strong> wissenschaftliche Debatte ein, die langfristig zu<br />
<strong>eine</strong>r wesentlich differenzierteren Bewertung ländlicher Verhältnisse führte.<br />
Ausgangspunkt war ein 1975 veröffentlichter Aufsatz von Franklin F. Mendels über<br />
Flandern, in dem er das Zusammenwirken zweier unterschiedlich strukturierter<br />
ländlicher Regionen in Flandern untersuchte: Einerseits <strong>eine</strong> agrarisch orientierte,<br />
andererseits <strong>eine</strong> gewerblich strukturierte, die beide in <strong>eine</strong>m ökonomischen<br />
Wechselverhältnis zueinander standen. 166 Die L<strong>eine</strong>n herstellende gewerbliche Region<br />
war auf den Ankauf von Getreide aus der agrarischen Region angewiesen, die<br />
demzufolge <strong>eine</strong>n wichtigen Markt für ihre Produkte fand, was gleichzeitig der<br />
Intensivierung der Landwirtschaft diente. Mendels sah damals besonders in der<br />
gewerblichen Region <strong>eine</strong> Vorstufe für die Industrialisierung. Dieser Forschungsansatz<br />
wurde wenige Jahre später in <strong>eine</strong>r heftig diskutierten Studie über die<br />
„Industrialisierung vor der Industrialisierung“ theoretisch abgesichert und regional<br />
ausgeweitet. 167 Unabhängig von der nach wie vor nicht ausgeräumten Skepsis, ob es<br />
sich bei den unterschiedlichen Formen ländlicher Gewerbetätigkeit um Vorläufer der<br />
Industrialisierung handelte, lassen sich aus der damaligen Studie, den folgenden<br />
Diskussionen und Studien doch einige bemerkenswerte Schlussfolgerungen über<br />
ländliche Strukturen ziehen, die teilweise mit älteren Forschungsergebnissen<br />
übereinstimmen. 168<br />
Die ländliche Welt vor der Industrialisierung war nicht spätestens seit dem Beginn<br />
des 18. Jahrhunderts k<strong>eine</strong>swegs mehr <strong>eine</strong> rein bäuerlich-statische, sondern sie war<br />
erstens durch <strong>eine</strong>n sich kontinuierlich erhöhenden Anteil nichtbäuerlich, gewerblich<br />
166 MENDELS (1972).<br />
167 KRIEDTE, MEDICK, SCHLUMBOHM (1977); zu dem dann einsetzenden umfassenden<br />
Forschungsdiskurs fehlt noch <strong>eine</strong> Gesamtdarstellung; siehe aber exemplarisch: Cerman,<br />
Ogilvie: Einleitung: Theorien der Proto-Industrialisierung. In: Markus Cerman; Sheilagh C.<br />
Ogilvie (1994), 9-21. EBELING, MAGER (1997). Jetzt auch KRIEDTE, HANS MEDICK; JÜRGEN<br />
SCHLUMBOHM, JÜRGEN SCHLUMBOHM (1998).<br />
168 KRIEDTE, MEDICK, SCHLUMBOHM (1977); SCHLUMBOHM (1994).<br />
38
orientierter Bevölkerung gekennzeichnet und sie zwar zweitens in Teilbereichen<br />
dynamisch, d.h. von Wandel und Veränderung erfasst.<br />
Der nichtbäuerliche Bevölkerungsanteil nutzte zwar weiterhin die Möglichkeiten<br />
ländlicher Subsistenzsicherung über die Bewirtschaftung eigenen Landes, die Nutzung<br />
der Gemeinweiden und die Arbeit als Tagelöhner bei den bäuerlichen Betrieben. Sie<br />
war aber gezwungen, diese durch zusätzliche Aktivitäten zu ergänzen, die sich aus dem<br />
lokalen oder kleinregionalen Kontext ergaben (Handwerker für den örtlichen Bedarf),<br />
in zunehmenden Maße aber durch überregionale Strukturen bestimmt wurden. Dabei<br />
konnten sich jeweils kleinregionale Muster ausbilden. 169 Besondere Beachtung hat der<br />
nordwestdeutsche „L<strong>eine</strong>ngürtel“ gefunden, da er am besten in das 1977 entwickelte<br />
Konzept der „Industrialisierung vor der Industrialisierung“ passte. Auffällig ist<br />
besonders bei den beiden wichtigsten nordwestdeutschen Varianten der<br />
außerlandwirtschaftlichen Existenzsicherung auf internationalen Handels- und<br />
Wirtschaftsbeziehungen beruhte. Während die L<strong>eine</strong>nherstellung in internationale<br />
Handels- und Austauschbeziehungen integriert war, handelte es sich bei der<br />
Hollandgängerei um <strong>eine</strong> saisonale Wanderarbeit in die Niederlande. Beide<br />
„Hauptwege“ der gewerblichen Existenzsicherung in Nordwestdeutschland waren<br />
damit auf Rahmenbedingungen angewiesen, die nur in <strong>eine</strong>m begrenzten Umfang<br />
beeinflussbar waren.<br />
Als der im Rahmen des Protoindustrialisierungsansatzes bedeutsamere Weg ist der<br />
der L<strong>eine</strong>nherstellung als Sonderweg der Textilherstellung untersucht worden. Der<br />
besondere Stellenwert der Textilherstellung ergibt sich aus der Kombination gleich<br />
mehrerer Faktoren. Zunächst war ein Blick auf die deutsche Textilherstellung in der<br />
Phase der frühen Industrialisierung zwischen 1750 und 1850 schon allein deshalb nahe<br />
liegend, da in der früher beginnenden englischen Industrialisierung die<br />
Textilherstellung <strong>eine</strong>n zentralen Stellenwert einnahm, und somit es nahe liegend war,<br />
nach ähnlichen Prozessen in Deutschland zu suchen. Sodann verdienen die<br />
eigentlichen Produktionsprozesse Beachtung, weil sie nicht nur in <strong>eine</strong>m<br />
internationalen Zusammenhang gesehen werden müssen, da ein nicht unbedeutender<br />
Teil des L<strong>eine</strong>ns exportiert wurde, sondern sich spezifische Formen der Arbeitsteilung<br />
zwischen den Städten als Zentrum des Handels und dem flachen Land als<br />
Produktionsstandort herausbildeten. Während also die Produktion des L<strong>eine</strong>ns auf<br />
dem flachen Land stattfand und zwar in <strong>eine</strong>r Zone zwischen der agrarischen<br />
Produktion (Subsistenzsicherung) und <strong>eine</strong>r gewerblichen, wurde der Handel von<br />
bürgerlich-städtischen Kaufleuten übernommen. Nur durch deren Zwischenposition<br />
gelang es, die internationalen Beziehungen zu nutzen. 170 Die Beziehungen zwischen<br />
Produzenten und Händlern konnten in unterschiedlicher Weise geregelt sein, wobei das<br />
eigentliche Verlagssystem mit dem Händler, der den Produzenten die Rohware lieferte<br />
und das Fertigprodukt abnahm, nur vordergründig in stärkerem Gegensatz zum<br />
Kaufsystem stand, bei welchem der Produzent den Rohstoff (Garn) selbst beschaffte<br />
und dem Händler lediglich das fertige Produkt überließ.<br />
Die ländliche exportorientierte bzw. exportabhängige L<strong>eine</strong>nweberei blieb dem<br />
ländlichen Milieu und Existenzformen verhaftet, denn die Weber konnten nur deshalb<br />
im internationalen Handel bestehen, weil sie aufgrund ihrer ökonomischen<br />
Absicherung innerhalb der dörflichen Ökonomie zu sehr niedrigen Löhnen bzw.<br />
Preisen arbeiten konnten. Daraus folgerte auch, dass sie weiterhin in den saisonalen<br />
169 BÖLSKER-SCHLICHT (1987), S. 88 ff.<br />
170 Hier vielleicht ein <strong>kurze</strong>r Verweis auf die „Internationales System-Debatte“- Wallerstein.<br />
39
uralen Arbeitsrhythmus eingebunden blieben und die gewerbliche Tätigkeit als<br />
Saisonarbeit betrieben. Neben den klein- und unterbäuerlichen Bevölkerungsgruppen<br />
traten aber durchaus auch Bauern als Produzenten auf, die die arbeitsschwachen<br />
Phasen im Jahr für <strong>eine</strong>n zusätzlichen Verdienst nutzten. 171 Erst gegen Ende des 18.<br />
Jahrhunderts lassen sich Anzeichen dafür erkennen, dass die beschriebenen<br />
landwirtschaftlichen Bindungen sich aufzulösen beginnen und die Leinweber nahezu<br />
vollständig gewerbliche Arbeiter waren, deren agrarische Grundlage minimal wurde.<br />
Neben den ökonomischen Aspekten verdienen die demographischen ebenfalls<br />
besondere Aufmerksamkeit. In den frühen Überlegungen der „Industrialisierung vor<br />
der Industrialisierungs“ Studie gingen die Autoren noch davon aus, dass in den<br />
ländlichen Gebieten mit <strong>eine</strong>r verstärkten gewerblichen Komponente sich <strong>eine</strong>r anderes<br />
demographisches Muster nachweisen lasse als in den bäuerlichen Gebieten. Für<br />
letzteres ging man von <strong>eine</strong>m Modell aus, welches dem „european marriage pattern“<br />
entsprach und darin bestand, dass durch ein spätes Heiratsalter und <strong>eine</strong> begrenzte<br />
Zahl an Hochzeiten der Geburtenüberschuss relativ begrenzt blieb und damit ein<br />
angesichts begrenzter ökonomischer Ressourcen gefährliches schnelles<br />
Bevölkerungswachstum verhinderte. 172 Demgegenüber, so die ursprüngliche Annahme,<br />
gab es in den protoindustriellen Gebieten ein stark abweichendes Verhalten, welches in<br />
frühen Hochzeiten und <strong>eine</strong>r hohen Kinderzahl ebenso bestand wie in <strong>eine</strong>r Zunahme<br />
der Ehen, da junge Familien nun nicht mehr darauf angewiesen waren, <strong>eine</strong> Hofstelle<br />
zu übernehmen, sondern ihre Existenz auf <strong>eine</strong>n Webstuhl und <strong>eine</strong> kl<strong>eine</strong><br />
Mietwohnung gründen konnten. Dieses neue Heiratsmuster löste <strong>eine</strong>n schnellen<br />
Bevölkerungszuwachs aus, der letztlich in die Industrialisierung mündete.<br />
Wir wissen inzwischen, dass diese relativ einfachen Modelle nicht <strong>eine</strong>r komplexen<br />
Wirklichkeit entsprachen, aber jenseits aller mittlerweile notwendigen Differenzierung<br />
weisen sie auf <strong>eine</strong>n für die vorliegende Untersuchung zentralen Aspekt hin, dass die<br />
vorindustrielle ländlich-dörfliche Welt weder durch Uniformität noch durch Statik<br />
gekennzeichnet war. Die Art und Weise, wie die Menschen dieser Welt über ihre<br />
Zukunft entschieden, und das geschah nun nicht zuletzt mit der Heirat bzw. der<br />
fehlenden Möglichkeit zum Heiraten, belegt, dass es k<strong>eine</strong>swegs <strong>eine</strong> einheitliche Form<br />
gab, sondern, abhängig von Regionen, ökonomischen Fakten und soziologischen<br />
Zuordnungen, verschiedene Wege gab, die sich <strong>eine</strong>r vereinfachenden Bewertung<br />
entziehen.<br />
Auch wenn sich manche der ursprünglichen Annahmen der<br />
Protoindustrialisierungs-Theorie nicht aufrechterhalten ließen, so bleibt das Verdienst<br />
dieses Ansatzes nicht nur, die weitere Forschung entscheidend angeregt zu haben,<br />
sondern auch, erneut auf <strong>eine</strong> Aspekte hinzuweisen, die zu leicht bei <strong>eine</strong>r Bewertung<br />
dörflicher Verhältnisse übersehen werden. Sie zeigen, dass das Dorf der frühen<br />
Neuzeit k<strong>eine</strong>swegs von Bauern dominiert war, sondern die unterbäuerliche<br />
Bevölkerung tatsächlich in der Überzahl war, wenngleich sie nur über den Bruchteil des<br />
Bodens verfügen konnte, damit auf gewerbliche Tätigkeiten ausweichen musste und in<br />
deren Nutzung die Chance sah, <strong>eine</strong> eigene Familie zu gründen, wobei dieser Weg<br />
davon abhängig blieb, ob die Rahmenbedingungen (Absatzchancen auf den<br />
internationalen Märkten) gewahrt blieben.<br />
171 Dazu SCHLUMBOHM (1994)über Belm.<br />
172 Vorbildlich waren und sind die englischen Studien, etwa die klassische ältere von STONE<br />
(1990).<br />
40
5. Eine Frage der Perspektive<br />
Die Analyse sozialer und ökonomischer Verhältnisse auf den Dörfern folgt auch in<br />
dieser Darstellung sehr stark den vorhandenen Quellen. Diese allerdings beinhalten<br />
<strong>eine</strong> Problematik, die hier nicht gelöst, wohl aber diskutiert werden soll. Basis unserer<br />
Klassifizierung der ländlichen Gesellschaft sind statistische Daten der<br />
frühneuzeitlichen Landesherren und ihrer Verwaltung. Ihr Interesse bei der Erhebung<br />
der Daten lag darin, <strong>eine</strong>n Überblick über die ökonomische Leistungsfähigkeit der<br />
Höfe zu erhalten, wobei in erster Linie der Landbesitz die Bemessungsgrundlage<br />
darstellte. Andere Einkünfte wurden dagegen nicht oder nur ansatzweise zugrunde<br />
gelegt. Dagegen wurden die feudalen Belastungen weitgehend umfassend und genau<br />
wieder gegeben. Daraus ergeben sich heute Probleme für die Forschung, denn sie ist<br />
nur ansatzweise in der Lage, die tatsächlichen Einkünfte der landwirtschaftlichen<br />
Betriebe zu errechnen, von den grundsätzlichen methodischen Schwierigkeiten einmal<br />
abgesehen, die entstehen, wenn die Einkünfte aus landwirtschaftlicher Tätigkeit exakt<br />
bemessen wurde. 173<br />
Hier soll aber auf ein anderes Problem verwiesen werden: die Ordnung der<br />
ländlichen Bevölkerung in Hausbesitzende und Nichthausbesitzende, vor allem in die<br />
frühneuzeitlichen Hofklassen der Meier, Halbmeier, Großkötner usw. signalisiert <strong>eine</strong><br />
Ordnung der ländlichen Gesellschaft, die lediglich das Ergebnis landesherrlicher<br />
Vorstellung war. Inwiefern nicht auch andere Ordnungskriterien, etwa nach Wohlstand,<br />
nach sozialer Stellung im Dorf oder anderes von Bedeutung war, lässt sich aus diesen<br />
Daten schlecht ablesen. Zwar wissen wir etwa aus Prozessakten, dass innerhalb des<br />
Dorfes offenbar die großen Stellen an der Stelle der Hierarchie lagen, aber das ist nur<br />
<strong>eine</strong> mögliche Ordnung. Vor allem aber blendet der Blick auf die Hofklassen aus, dass<br />
Wohlstand im Dorf auch auf andere Weise als durch landwirtschaftliche Tätigkeit<br />
erworben werden konnte. Was wir aus den vorhandenen Daten auch ablesen können,<br />
ist nicht nur, dass die ländliche Bevölkerung k<strong>eine</strong>swegs homogen war, sondern auch,<br />
dass unser Bild vom „Bauern“ <strong>eine</strong>r Revision bedarf. 174 Die damit häufig verbundene<br />
Annahme <strong>eine</strong>r rein ländlichen, statischen Existenz kann den neueren<br />
Forschungsbefunden nicht mehr standhalten. Protoindustrielle Tätigkeiten förderten<br />
ebenso wie saisonale Wanderarbeiten <strong>eine</strong> erhöhte Mobilität dieser Gruppen, die<br />
zudem verstärkt nicht landwirtschaftliche Tätigkeiten ausübten. Zugleich dürften die<br />
Angehörigen dieser Gruppen auch in den Heimatregionen mobiler gewesen sein, als es<br />
häufig angenommen wird. Denn für die Angehörigen der land- und hauslosen<br />
Unterschichten gab es k<strong>eine</strong>n festen Wohnstandort, sondern sie bewegten sich in<br />
<strong>eine</strong>m engeren räumlichen Umfeld.<br />
3. Herrschaftliche Abhängigkeit<br />
KHS: dies Kapitel ganz an den Anfang stellen, weil hier wichtige Informationen zu finden<br />
sind, die in den weiteren Kapiteln, die jetzt vorher stehen, verwendet werden, etwa die<br />
Hofklassen oder die zentralen Quellen zum Thema.<br />
173 Dazu allgemein ACHILLES (1982).<br />
174 Vgl. dazu den aktuellen Diskurs zwischen Michael Kearny und Michael J. Watts: KEARNEY,<br />
WATTS (2002).<br />
41
1. For men der Abhängigkeit<br />
Abhängigkeit von Herrschaftsträgern gesellte sich zu der von Natur und Wetter. Sie<br />
beruhte seit dem 16. Jahrhundert auf der Verbindung zweier Komponenten: <strong>eine</strong>r<br />
personalen, sich räumlichen Abgrenzungen entziehenden, und <strong>eine</strong>r territorialen.<br />
Erstere wird auch zusammenfassend als Grundherrschaft bezeichnet. Dazu zählten<br />
neben der Grundherrschaft im engeren Sinn auch die Leibherrschaft oder<br />
Eigenbehörigkeit, das Zehntrecht oder die niedere Gerichtsbarkeit. 175<br />
Die territoriale Komponente war besonders gut dort ausgebildet, wo der Landesherr<br />
seit dem 14./15. Jahrhundert <strong>eine</strong> flächendeckende Verwaltung in Form der Ämter<br />
aufbaute. 176 Die landesherrlichen Ämter nahmen <strong>eine</strong> Zwitterstellung ein, denn sie<br />
hatten sowohl öffentliche Aufgaben 177 zu erfüllen als auch den grundherrlichen Besitz<br />
des Landesherrn zu verwalten, der aus diesen Einkünften s<strong>eine</strong> Staatsausgaben<br />
finanzierte. Der Landesherr war also insofern nichts anderes als ein besonders großer,<br />
öffentliche Aufgaben übernehmender Grundherr. Diese Zwitterstellung der Ämter wie<br />
des gesamten Staates, in dem sich nach heutiger Anschauung öffentliche und private<br />
Elemente miteinander verbanden, war ein Spezifikum der frühneuzeitlichen<br />
Gesellschaft. Seit dem späten Mittelalter genügten die grundherrlichen Einnahmen des<br />
Landesherrn allerdings nicht mehr aus, um die steigenden Staatsausgaben zu<br />
finanzieren. Deshalb wurden in Abstimmung mit den Landständen, der Vertretung des<br />
Adels, der Kirche und der Städte, Steuern beschlossen und erhoben. Die Steuern<br />
verdrängten jedoch nicht die grundherrlichen Einnahmen des Landesherrn, sondern<br />
ergänzten sie. Parallel mit deren Erhöhung erfolgte ebenfalls im 16. Jahrhundert der<br />
Ausbau der landesherrlichen Eigenbetriebe (Vorwerke) zur Erhöhung der naturalen<br />
Einnahmen. 178<br />
Die modernisierte landesherrliche Verwaltung diente nicht zuletzt der verbesserten<br />
Erfassung sämtlicher, dem Landesherrn zustehenden grundherrlichen Leistungen.<br />
Eine der ersten Aufgaben der Ämter war deshalb die systematische Sammlung von<br />
Informationen über die pflichtigen Höfe, die uns in Form der sogenannten<br />
registerförmigen Quellen (in der Sprache der Zeit: Amts-, Lager-, Hausbücher oder<br />
Erbregister) überliefert wurden. 179 Eine Eintragung im Erbregister des Amtes Neustadt<br />
von 1620 soll den Informationsgehalt <strong>eine</strong>s solchen Registers verdeutlichen. Bei dem<br />
Dorf Frielingen nördlich von Hannover heißt es u.a.:<br />
„dienstpflichtige Großköt(n)er”: „Frantz Langreder ist 20 Jahr , hat bey s<strong>eine</strong>m Hofe 12 Morgen, Illsmo.<br />
zustendig, zinset ans Haus Neustadt 4 fl.(Gulden) 15 g.(Groschen). Anstadt des Zehnten jerlichs ein<br />
175 Es fehlt <strong>eine</strong> neuere Agrargeschichte Niedersachsen, weshalb nur auf Einzelbeiträge<br />
hingewiesen werden kann; <strong>eine</strong>n guten Überblick für die Zeit der frühen Neuzeit bietet<br />
immer noch Werner Wittich (WITTICH (1896): Erster Abschnitt, „Die ländliche Verfassung<br />
Niedersachsens und der westfälischen Gebiete Kurhannovers im 18. Jahrhundert“ sowie<br />
sowie aus dem zweiten Abschnitt die Kapitel X und XI); für das Spätmittelalter ist jetzt<br />
heranzuziehen HAUPTMEYER (1997), 1110-1130. Einen gewissen Ersatz bieten die<br />
entsprechenden Kapitel in HUCKER, SCHUBERT, WEISBROD (1997), 185-201, 304-327. Weitere<br />
regionale Einzelstudien werden im folgenden zitiert.<br />
176<br />
WITTICH (1896), 147-184; als Einzelbeispiele: ; HIRSCHFELDER (1971), 14-20.<br />
177 Insofern waren sie Vorläufer der heutigen Kreisverwaltungen.<br />
178<br />
KRÜGER (1980); RIESENER (1991). Zum Ausbau der landesherrlichen Aktivitäten vgl. auch<br />
für Braunschweig , 24.<br />
179<br />
SCHNEIDER (1987), S. 46-50.<br />
42
Schwein. Hat <strong>eine</strong> Wiese vom Haus Ricklingen, zinset dahin 24 g. Dienet den Sommer 2 Tage die<br />
Woche, den Winter <strong>eine</strong> Wochen umb die andere 2 Tage und thut Burgfest und Erntedienst. Das Gewehr<br />
ist <strong>eine</strong> Hellebarte und Degen.” 180<br />
Die Angaben der Eintragung lassen sich in folgende Gruppen aufteilen:<br />
• Einordnung des Hofes in <strong>eine</strong> „Bauernklasse”, hier ein dienstpflichtiger<br />
Großkötner,<br />
• Hinweise zur Person des Bauern (Name und Alter),<br />
• Größe und Art des bewirtschafteten Landes (Ackerland in Morgen, Wiesen in Fuder<br />
Heu),<br />
• Nennung der Personen, denen der Bauer Abgaben zu entrichten hat: in diesem Fall<br />
der Landesherr (= Illustrissimo, der Gnädigste), bzw. das „Haus“<br />
Neustadt/Ricklingen, gemeint ist das Amt,<br />
• Bezeichnung der Abgaben (Zins, Zehnt) und der Dienste (Burgfest[dienst],<br />
Erntedienst),<br />
• Höhe der Abgaben und Umfang der Dienste,<br />
• Bewaffnung im Kriegsfall.<br />
Diese Angaben vermitteln uns <strong>eine</strong> erste Vorstellung von einigen wesentlichen<br />
Merkmalen bäuerlicher Abhängigkeit in der frühen Neuzeit von ca. 1500 bis 1800 bzw.<br />
sogar 1850. Die Bauern waren nicht Eigentümer, sondern sie hatten lediglich ein<br />
Nutzungsrecht am Hof und dem dazugehörigen Land, wofür sie an den oder die<br />
Eigentümer Abgaben und Dienste entrichten mussten.<br />
a) Die Grundherrschaft<br />
Die Verfügung über Grund und Boden, und damit häufig auch über die Menschen,<br />
gehörte zu den zentralen Elementen der agrarischen Gesellschaft. 181 Die Art und<br />
Weise, wie diese Verfügungsgewalt wahrgenommen wurde, erlaubt <strong>eine</strong>n wichtigen<br />
Einblick in die Strukturen und elementaren Grundlagen der frühneuzeitlichen<br />
Gesellschaft. Die Grundherrschaft war zentraler Bestandteil <strong>eine</strong>r Gesellschaft, welche<br />
durch Ungleichheit ebenso geprägt war wie durch die grundlegende Bedeutung von<br />
Landbesitz, der nicht allein von zentraler ökonomischer Bedeutung war, sondern<br />
zugleich über die gesellschaftliche Stellung, damit über Prestige und Chancen zur<br />
Machtausübung entschied.<br />
Größte Grundbesitzer waren der Landesherr, der Adel und die Kirche. Das Land<br />
wurde zu <strong>eine</strong>m großen Teil von Bauern bewirtschaftet, die lediglich ein Nutzungsrecht<br />
hatten (dominium utile), während das Obereigentum (dominium directum) beim<br />
Grundherrn lag, der damit die entscheidende Verfügungsgewalt über den Bauern und<br />
das Land ausübte. Während im Mittelalter Land und Leute (Bauern) eng miteinander<br />
verknüpft waren, hatte sich diese Bindung im Übergang zur Neuzeit weitgehend<br />
aufgelöst. Dies hatte zur Folge, dass bestimmte Höfe nur von Eigenbehörigen<br />
bewirtschaftet werden konnten.<br />
180 EHLICH (1984). Zu Frielingen: BARTEL-TRETOW (1985).<br />
181 Knapper Überblick zur grundherrlichen Bindung der Bauern bei TROSSBACH (1993), 6-20;<br />
die rein rechtlichen Verhältnisse beschreibt LÜTGE (1967), 116-200; für Niedersachsen<br />
immer noch wichtig WITTICH (1896), insbes. 1-11 (Grundherrschaft und Rittergut in<br />
Niedersachsen), 19-83 (Bäuerliches Besitzrecht) ; neuerdings ACHILLES (1993), 42-48. Die<br />
mittelalterlichen niedersächsichen Verhältnisse jetzt bei HAUPTMEYER (1997), 1055-1094;<br />
auf diese Darstellung sei grundsätzlich verwiesen.<br />
43
Kennzeichen der grundherrschaftlichen Verhältnisse war deren Zersplitterung:<br />
neben dem jeweiligen Landesherrn übten Adelige, Bürger, Städte und nicht zuletzt<br />
kirchliche Einrichtungen wie Pfarren, Stifte oder Klöster grundherrliche Rechte aus. In<br />
Niedersachsen gab es zudem k<strong>eine</strong> geschlossenen Herrschaftsbezirke einzelner<br />
Grundherren, sondern <strong>eine</strong> Gemengelage von Herrschaftsrechten, die sich bis auf den<br />
einzelnen Hof fortsetzen konnte. 182<br />
Tabelle 5 Hofklassen im Fürstentum Calenberg 1689<br />
Hofklasse absolut v.H. durchschn. Hofgröße in Morgen<br />
Vollmeier 1.531 16 50<br />
Halbmeier 1.038 11 34<br />
Kötner 4.285 45 9<br />
Brinksitzer 2.225 24 4<br />
Häuslinge 405 4 <strong>–</strong><br />
Gesamt 9.484 100 12<br />
Quelle: Eigene Berechnung nach Franz, Struktur.<br />
So hatten die Meier des Dorfes Seelze Anfang des 17. Jahrhunderts folgende<br />
Grundherren 183 :<br />
• Die Witwe des dienstpflichtigen Meiers Diedrich Lockemanns zahlte dem Pastor<br />
den Grundzins, sie diente außerdem an das Amt Blumenau.<br />
• Der „freie Junkern Meier“ Curdt Röver gab s<strong>eine</strong>n Grundzins an die von Alten zu<br />
Dunau und Goltern, mußte an diese auch dienen und hatte zudem geringe Dienste<br />
dem Amt Blumenau zu leisten.<br />
• Ähnlich erging es Hans Rindfleisch, dessen Grundherr Tonnies von Campen war.<br />
• Grundherr des Arndt Gieseken war der Kammermeister Albert Everding,<br />
außerdem waren geringe Diensten und Abgaben an das Amt Blumenau zu<br />
entrichten.<br />
• Albert Everding hatte den Hof des Curdt Gisken übernommen, „weil der Meyer<br />
darauf verarmt und s<strong>eine</strong> Zinße jerlich nicht entrichten konnen“.<br />
Das hier an <strong>eine</strong>m Beispiel erläuterte Bild ließe sich in größerem Maßstab<br />
wiederholen; als Muster bliebe die starke Gemengelage und das räumliche<br />
Nebeneinander unterschiedlicher Herrschaftsrechte. 184<br />
Exemplarisch sollen hier einige Daten aus dem Amt Blumenau wiedergegeben<br />
werden. Bemerkenswert ist die Verteilung der Grundherren (siehe Tabelle 50). Hier<br />
waren kirchliche Einrichtungen mit weitem Abstand wichtigste Grundbesitzer, es<br />
folgten der Adel und dann erst der Landesherr, nur knapp vor Bürgern.<br />
Tabelle 6: Grundherren im Amt Blumenau b. Hannover Anfang 16. Jahrhundert<br />
Kirche 39,5 %<br />
Adel 24,9 %<br />
Stifte/Klöster 20,4 %<br />
Landesherr 19,7 %<br />
Sonstige 14,1 %.<br />
Bürger 13,7 %<br />
182 Neueste Darstellung dieser Verhältnisse bei REINDERS-DÜSELDER (1995), etwa S. 55-57.<br />
183 Es handelte sich hier um die dienstpflichtigen Meier und die freien Meier; LATHWESEN<br />
(1978), S. 59-66; Neuabdruck in HAUPTMEYER, BEGEMANN (1992), S. xx.<br />
184 Beispiele hierfür lieferte schon WITTICH (1896), siehe etwa die Beispiele in den Anlagen,<br />
etwa die Verteilung der Grundherrschaft im Amt Rethen, Anlagen S. 25-29.<br />
44
Das Lagerbuch des Amtes Blumenau von 1600 ergänzt aus dem Lagerbuch von 1655 (= Veröffentlichungen der<br />
Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 34 = Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte<br />
Niedersachsens in der Neuzeit 4), bearb. von Heinrich Lathwesen, Hildesheim 1978, eigene Auswertung.<br />
Betrachtet man die Verteilung der Grundherren je nach Hofklassen, so zeigt sich, dass<br />
die großen und zugleich ältesten Höfe als Grundherren vorwiegend Klöster und Stifte<br />
hatten, während bei den kl<strong>eine</strong>n, jüngeren Stellen (Kötner, Brinksitzer) die Kirche und<br />
der Landesherr die wichtigsten Grundherren waren. Eine Sonderstellung nahmen die<br />
„freien“ Höfe ein, deren Grundherren entweder die Kirche oder der Adel war.<br />
„Freiheit“ bezog sich hier offenbar lediglich darauf, dass sie dem Landesherrn nicht<br />
dienstpflichtig waren.<br />
Tabelle 7: Die Verteilung der Grundherren nach Hofklassen im Amt Blumenau b.<br />
Hannover<br />
in v.H.<br />
Klasse Landesherr Kirche Übrige Adel Bürger Sonst.<br />
kirchliche<br />
Institutione<br />
Vollmeier 8,1 13,3 47,3 13,5 10,8 6,8<br />
Freie Vollmeier 3,3 13,6 1,7 66,1 10,2 5,1<br />
Halbmeier 6,4 12,8 32,1 8,9 25,6 14,1<br />
Freie Halbmeier 7,5 27,5 -- 52,5 7,5 5,0<br />
Höfelinge -- 10,0 -- 65,0 25,0<br />
Kötner 21,7 35,6 14,0 7,9 7,0 14,0<br />
Freie Kötner 13,5 47,9 1,0 25,0 8,3 4,2<br />
Brinksitzer 22,5 35,5 12,9 -- 9,6 16,7<br />
Das Lagerbuch des Amtes Blumenau von 1600 ergänzt aus dem Lagerbuch von 1655 (= Veröffentlichungen der<br />
Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 34 = Quellen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte<br />
Niedersachsens in der Neuzeit 4), bearb. von Heinrich Lathwesen, Hildesheim 1978, eigene Auswertung.<br />
Die Existenz von „freien“ Höfen, die dennoch den Landesherrn als Grundherrn<br />
hatten, verweist darauf, dass <strong>eine</strong> Reihe von Bauern hatte mehr als <strong>eine</strong>n Grundherrn<br />
hatten. Von 566 Betrieben hatten 103 zwei Grundherren, weitere 55 sogar mehr als<br />
zwei. 90 Betriebe hatten gar k<strong>eine</strong>n Grundherrn, sondern nur Hofherren, was daran<br />
lag, dass es sich um zu Stellen ohne Landbesitz handelte. Es gab also sogar die<br />
Unterscheidung zwischen Hofherr und Grundherr, also die Trennung der<br />
Herrschaftsrechte über den einzelnen Bauernhof von denen über das Ackerland. Die<br />
schon erwähnte Gemengelage der Herrschaftsrechte wird auch an diesen Verhältnissen<br />
wieder deutlich erkennbar.<br />
Diese Gemengelage mag zunächst den Bauern wie <strong>eine</strong>n Gefangenen in <strong>eine</strong>m<br />
dichten Netz unterschiedlicher Rechte und Ansprüche ersch<strong>eine</strong>n lassen. Sie dürfte<br />
aber eher den gegenteiligen Effekt gehabt haben, da die Rechtsansprüche der<br />
verschiedenen Herren sich gegenseitig blockieren konnten. Außerdem hatten die<br />
Bauern die Möglichkeit, die verschiedenen Grundherren gegeneinander auszuspielen,<br />
etwa den Landesherrn gegen den adeligen Grundherren.<br />
Welche Konsequenzen dagegen <strong>eine</strong> Bündelung von Herrschaftsrechten hatte, zeigt<br />
das Beispiel der Gebiete mit Gutsherrschaft, die für die Bauern <strong>eine</strong> extreme<br />
persönliche wie sachliche Abhängigkeit zur Folge hatte. Als Eigenbehörige und<br />
Schollenpflichtige <strong>eine</strong>m einzigen Gutsherrn unterworfen, der alle Herrschaftsrechte in<br />
s<strong>eine</strong>r Hand vereinigte, zu hohen Dienstleistungen auf dem Gutsbetrieb verpflichtet,<br />
entsprachen sie dem Stereotyp des abhängigen geknechteten Bauern. 185 Inzwischen<br />
185 En knapper neuerer Überblick bei RÖSENER (1993), S. 137-152.<br />
n<br />
45
wurde das Bild allerdings verf<strong>eine</strong>rt, ist facettenreicher geworden und hat zu <strong>eine</strong>r<br />
Abschwächung des bisher formulierten Kontrastes geführt. 186<br />
Neben der rechtlichen Abhängigkeit dürften weitere Faktoren <strong>eine</strong> Rolle bei der<br />
Ausgestaltung der konkreten Situation gespielt haben. Immerhin gab es <strong>eine</strong> große<br />
Bandbreite von Rechtsverhältnissen, die selbst in kl<strong>eine</strong>n Territorien wie in der<br />
Grafschaft Schaumburg (-Lippe) anzutreffen waren; sie reichte von freien über fastfreie<br />
bis hin zu eigenbehörigen Bauern. 187 In Osnabrück waren von 5000 Bauern etwa<br />
3200 Eigenbehörige von Grundherren, während der Landesherr relativ wenig<br />
abhängige Bauern hatte. 188 Andererseits dominierte in der Grafschaft Schaumburg-<br />
Lippe der Landesherr eindeutig die Grundherrschaft, wenngleich sein Anteil an den<br />
grundherrlich gebundenen Bauern zuweilen überschätzt wird. 189<br />
Im mittleren und südlichen Niedersachsen gab es vor den Agrarreformen nur<br />
wenige grundherrenfreie Bauern, die ihr Land ohne Einschränkung zu Eigentum<br />
besaßen und darüber frei verfügen konnten. In der Grafschaft Hoya waren es im 18.<br />
Jahrhundert Holländer, die im Mittelalter angesiedelt worden waren, Altfreie,<br />
Freigelassene und Vogteileute. 190 Vor allem in Rodungsgebieten konnten freie Bauern<br />
<strong>eine</strong>n größeren Anteil haben, allerdings waren die „freien Häger” im<br />
Schaumburgischen lediglich persönlich frei, unterlagen aber gleichwohl<br />
grundherrlichen Bindungen. 191 Auch die so genannten Freien im Amt Ilten waren<br />
grundherrschaftlich gebunden. 192<br />
Anders lagen die Verhältnisse in den reichen Marschengebieten Ostfrieslands und<br />
Nordoldenburgs sowie in den Ländern Wursten und Kehdingen, wo sich viele Bauern<br />
schon früh frei gekauft hatten, sofern sie nicht ohnehin ihr Land zu freiem Eigentum<br />
besaßen. Sie konnten ohne Genehmigung <strong>eine</strong>s Grundherrn ihr Land bzw. ihre<br />
Hofstelle veräußern, verpachten oder teilen. So konnte sich hier schon früh <strong>eine</strong><br />
gewinnorientierte Landwirtschaft mit großen Höfen entwickeln. 193 Aber das war eher<br />
die Ausnahme, denn ansonsten waren viele der westniedersächsischen, eigentlich<br />
westfälischen Bauern bis in das 19. Jahrhundert weder freie Inhaber ihrer Höfe noch<br />
ihres Landes, in den westlichen Gebieten waren sie auch noch persönlich als<br />
Eigenbehörige ihrem Leibherrn verpflichtet. Dass manche Kategorien zur<br />
Beschreibung ökonomischer und sozialer Realitäten unzureichend sind, mag daran<br />
ablesbar sein, dass im Oldenburgischen vorrangig die vom Status her hochstehenden<br />
Vollhöfe (Vollerben) Eigenbehörige, die Inhaber der (jüngeren) Kleinstellen zumeist<br />
Freie waren. 194<br />
Es gab mithin <strong>eine</strong> Reihe von regionalen Eigenheiten, k<strong>eine</strong>swegs ein homogenes<br />
Bild der agrarischen Verhältnisse. Einen groben Überblick soll die folgende Aufstellung<br />
über wichtige Besitzrechte Niedersachsens auf, um <strong>eine</strong>n Überblick verschaffen. 195<br />
186 Dazu jetzt die beiden Sammelbände Peters (1999), Peters, Krug-Richter (1995).<br />
187 Schneider (1994), 63-71.<br />
188 Landesherr: 14,3 %, Domkapitel 11,8 %, Adelige aus Osnabrück 38,8 %, Auswärtige 35,1<br />
%; HIRSCHFELDER (1971), 51-54.<br />
189<br />
SCHNEIDER (1994), 67.<br />
190<br />
RÖPKE (1924), 17-23.<br />
191<br />
SCHNEIDER (1994), 1, XX; allerdings hatten die Häger k<strong>eine</strong> Grundzinsen zu leisten,<br />
192<br />
FRITZEMEIER (1992), 111-132.<br />
193 Der große Reichtum der Marschenbauern führte allerdings auch zu großen sozialen<br />
Unterschieden: KAPPELHOFF (1982), 35-46.<br />
194<br />
REINDERS-DÜSELDER (1995), S. 159.<br />
46
) Das Meierrecht<br />
Vorherrschendes und prägendes Besitzrecht in Niedersachsen war das Meierrecht. Aus<br />
dem zunächst nur zeitlich begrenzten Nutzungsrecht wurde im Verlauf des<br />
16. Jahrhunderts ein „erbliches dingliches Recht auf Nutzung fremden Gutes mit der<br />
Verbindlichkeit, das Gut den Grundsätzen bäuerlicher Wirtschaftsführung gemäß zu<br />
bewirtschaften, bestimmte jährliche Leistungen davon zu entrichten und nach Ablauf<br />
bestimmter Perioden <strong>eine</strong>n neuen Meierbrief zu lösen” 196 . Während Ackerland, Wiesen<br />
und Hofstätte zu Meierrecht verliehen waren, gehörten die Hofgebäude in der Regel<br />
zum Eigentum (Allod) des Bauern. 197 Ein Hof konnte aber nicht nur Land nach dem<br />
Meierrecht besitzen, sondern auch nach weiteren Besitzrechten, wie dem Erbzinsrecht,<br />
dem Lehnrecht oder als Erbe. 198 Doch insgesamt dominierte das Meierrecht in<br />
Niedersachsen.<br />
Es hatte gleichsam zwei Gesichter. Auf der <strong>eine</strong>n Seite brachte es den Bauern ein<br />
vergleichsweises hohes Maß an Sicherheit, sowohl hinsichtlich des Hofes als auch der<br />
Abgaben. Ein „Bauernlegen“, d.h. das Aufkaufen bäuerlicher Betriebe, war kaum noch<br />
möglich, nachdem im 16. Jahrhundert noch Landesherren und Adelige davon<br />
Gebrauch gemacht hatten. 199 Allerdings gab es das Abmeierungsrecht, welches jedoch<br />
nur selten angewandt wurde. Es gab dem Grundherrn grundsätzlich die Möglichkeit,<br />
bei bestimmten groben Versäumnissen der Bauern, diese vom Hof zu entsetzen und<br />
sie durch <strong>eine</strong>n neuen Bauern zu ersetzen.<br />
Außerdem wurden die Bauern vor Abgabenerhöhungen ihrer Grundherren<br />
geschützt. Diese Seite ist in der älteren Literatur immer wieder hervorgehoben worden,<br />
zumal sie mit den ostelbischen Verhältnissen und der dortigen drastischen<br />
Verschlechterung bäuerlicher Besitzrechte kontrastiert. 200<br />
Doch das Meierrecht hatte noch ein zweites, zuweilen vergessenes Gesicht: Es war<br />
mit vielen Einschränkungen für den Bauern verbunden, die sowohl die<br />
Verfügungsgewalt über den bewirtschafteten Hof als auch die verstärkte <strong>Einführung</strong><br />
von neuen Steuern betrafen. Über den ersten Punkt geben die zeitgenössischen<br />
Meierbriefe in Verbindung mit der Gesetzgebung gute Auskunft.<br />
Als Beispiel sei der Meierbrief des Carl Heinrich Herbst aus Wennigsen genommen,<br />
der am 24. Dezember 1707 ausgestellt wurde. 201 Beteiligte des Vertrages waren die<br />
Äbtissin des Klosters Wennigsen und der dortige Amtmann für den Konvent auf der<br />
<strong>eine</strong>n, der genannte Carl Heinrich Herbst auf der anderen Seite. Zu <strong>eine</strong>m Meierhof<br />
gehörte nicht nur das Ackerland, sondern ein ganzes Bündel von Nutzungsrechten, die<br />
zu Beginn des Briefes detailliert beschrieben werden. Sie setzen sich aus folgenden<br />
Elementen zusammen:<br />
195 Einen guten Überblick bietet neben WITTICH (1896), 19-72, die Festschrift zum 100jährigen<br />
Bestehen der Königlichen Landwirtschaftsgesellschaft in Celle: Königliche<br />
Landwirtschaftsgesellschaft (1864), 2, S. 250-255, 398-404. Außerdem OBERSCHELP (1982),<br />
106-110.<br />
196<br />
WITTICH (1896), 3.<br />
197<br />
BODE (1910), 4.<br />
198<br />
OBERSCHELP (1982), 106 f.<br />
199 Zum Begriff siehe auch unten S. 60.<br />
200 Zur Entwicklung in Ostdeutschland jetzt die ältere Literatur zusammenfassend Kaak,<br />
Gutsherrschaft.<br />
201<br />
HAUPTMEYER, BEGEMANN (1992), Nr. 40.<br />
47
1. die Beschreibung des zum Hof gehörigen Landes, in diesem Fall 28 Morgen<br />
Ackerland und<br />
„<strong>eine</strong>n Theil in der Wull Wiese und 1 Wiese bei der Ahler See benebst 1 Garten am Hause und 1 kl.<br />
[<strong>eine</strong>n] Garten im Lindenfelde [und] 1 kl.[<strong>eine</strong>n] Garten am Hohenfelde so derselbe vom Lande und der<br />
Wanne gemacht, auch allen dazu gehörigen Recht- und Gerechtigkeiten im Felde, Holtze, Huede, Trifft<br />
und Weiden, nebst andern dazu gehörigen Pertinentzien 202 , in der Maaße, wie sein Vorwirth und deßen<br />
Vorfahren solches alles inne gehabt, genutzet und gebrauchet hat, auf Zeit s<strong>eine</strong>s Lebens hinwiederum<br />
eingethan und ihn damit bemeyert haben,“<br />
2. die Beschreibung der Auflagen, die für die Nutzung des Landes gelten, wobei diese<br />
Beschreibung sehr weitgehend und differenziert ist, wobei der zentrale Passus der ist,<br />
dass der Hof „in vollkommen gutem Stande“ gehalten werden soll:<br />
„dergestalt und also: dass er die Meyer-Stedde und deren Pertinentzien, in guter Aufsicht, Art, Gaile 203<br />
und Besamung halten, haußhälterisch gebrauchen, das geringste davon aber, ohne Unser Vorwissen und<br />
ausdrückliche Einwilligung, nicht verändern, beschweren, verkauffen, vertauschen, verpfänden, zur<br />
Abtheilung, Aussteuer, Mitgift, Leibzucht und Gegen-Vermächtnisse, es sey gäntzlich oder auf <strong>eine</strong><br />
Zeitlang, verschreiben, oder in einige andere Wege veräusern, noch Stellungs- oder Arts-weise andern<br />
Leuthen abtreten, und in fremde Hände kommen lassen, sondern vielmehr dasselbe beysammen verwahren<br />
und selbst cultiviren, sich auch mit allem Fleisse und Treue erkundigen, was etwa davon abkommen, und<br />
dass solches wieder herbeygebracht werde, auch ohne des Closters dabey ihm zu leistende Hülfe und<br />
Beystand, gebührend betreiben, und überhaupt den Hoff mit dessen Gebäuden, Zäunen, Inventarien-<br />
Stücken und Zubehörde in vollenkommenem gutem Stande erhalten solle,“<br />
3. Die Auflage, dass alle den Hof betreffenden Maßnahmen oder Verträge die<br />
Einwilligung, den Consens des Grundherrn, voraussetzen:<br />
„mit dem aus drücklichen Bedinge:dass das Meyerguth durch k<strong>eine</strong>rley Verträge und Contracte mit<br />
Schulden oder Abgifften ohne des Guhtsherren Einwilligung beschweret werde, gestalten dann nicht nur<br />
alle diejenige Schulden oder andere Verschreibungen, welche, ohne des Closters, als Guthsherrn, Consens,<br />
dem Hofe zur Last gemachet, übernommen und eingegangen seyn mögten, ohnedem von selbst null, nichtig<br />
und unkräftig, folglich ohne alle Verbindlichkeit seyn und bleiben, sondern auch so wenig deshalben, als<br />
wegen zu starker Beschwerung des Allodii 204 einige Remissiones 205 verlanget oder ertheilet werden sollen.“<br />
4. Und schließlich muss sich der Bauer zu besonderer Treue dem Grundherrn<br />
gegenüber verpflichten, wozu u.a. die regelmäßige Ablieferung der Abgaben gehört:<br />
„Ferner verspricht unser neuer Meyer Carl Hinrich Herbst Uns und Unserm Closter getreu und hold,<br />
daneben gehalten zu seyn, ausser dem bereits mit zehen Rthlr. entrichteten Weinkauffe, alljährlich um<br />
Michaelis an untadelicher marckgängiger Frucht und gebührender in hiesigen Landen eingeführten<br />
Braunschweigischen Maaße auf das Closter zu liefern …“<br />
Es war mithin alles genau geregelt, der Besitzstand ebenso festgeschrieben wie die<br />
Nutzungsrechte und die Tatsache, dass der Meier k<strong>eine</strong>rlei unternehmerischen<br />
Spielraum hatte. Er war kein eigenbehöriger Mann, aber dennoch ökonomisch kaum<br />
handlungsfähig. Für die Praxis waren indes nicht allein diese Bestimmungen, sondern<br />
die konkreten Kontrollmöglichkeiten des Grundherrn entscheidend.<br />
Der Bauer hatte für die ihm überlassenen Rechte Abgaben zu leisten, die im Falle<br />
des Carl Heinrich Herbst aus Getreideabgaben, Hühnern, Eiern und Geldabgaben<br />
bestanden. Den größten Posten bildeten die Getreideabgaben, es waren immerhin 2<br />
202 Nutzungsrechte.<br />
203 Düngung.<br />
204 Eigenbesitz.<br />
205 Nachlässe.<br />
48
Malter Roggen, 2 Malter Gerste und 3 Malter Hafer. Ein Malter Roggen hatte etwa das<br />
Gewicht von 120 kg, ein Malter Gerste wog ca. 105 kg, ein Malter Hafer 75 kg. 206 Der<br />
Hof hatte also jährlich etwa 240 kg Roggen, 210 kg Gerste und 225 kg Hafer zu<br />
entrichten. Geht man von <strong>eine</strong>m Rohertrag von 10 dt/ha aus, 207 so musste etwa die<br />
Ernte <strong>eine</strong>s ha oder knapp ein Sechstel des Ackerlandes für die Abgaben an den<br />
Grundherrn aufgewandt werden. Hinzu müssen aber die weiteren kl<strong>eine</strong>n Natural- und<br />
Geldabgaben, die Dienste sowie der Zehnte und schließlich die Leistungen an den<br />
Landesherrn und die Kirche berücksichtigt werden. Außerdem hatte der Bauer von<br />
den Erträgen des Landes das Saatgut für das nächste Jahr abzuzweigen. Der Meierbrief<br />
selbst kostete 10 Rtlr. Eine genauere Darstellung der ökonomischen Folgen der<br />
Abhängigkeit folgt unten S. )<br />
Der Meierbrief schloss mit weiteren Regularien, die den Bauern gegenüber dem<br />
Grundherrn auf <strong>eine</strong> Einhaltung der Vertragsbestimmungen verpflichteten.<br />
Andernfalls wurde <strong>eine</strong> Abmeierung angedroht.<br />
Solche Bestimmungen standen in engem Zusammenhang mit gesetzlichen<br />
Regelungen, die in den nordwestdeutschen Territorien seit dem Ende des<br />
16. Jahrhunderts erlassen worden waren. Als Teil übergreifender Regelungen wie<br />
Landtagsabschiede oder Polizeiordnungen bzw. von Einzelgesetzen wurde das<br />
Meierrecht näher definiert; erst im 18. Jahrhundert wurden komplette Meierordnungen<br />
realisiert, wenngleich nicht in allen Territorien. 208<br />
Als Beispiel für die gesetzlichen Regelungen, denen die Meierhöfe unterworfen<br />
waren, soll die Calenbergische Meierordnung vom 12. Mai 1772 in einigen wichtigen<br />
Auszügen vorgestellt werden. 209 Grundlegende Aussagen erfolgen schon im ersten<br />
Kapitel „Von der Beschaffenheit der Meyer-Güther“, woraus hervorgeht, dass bis zum<br />
Beweis des Gegenteils alle Bauernhöfe „es mögen Voll- oder Halbmeyer, Köther-Höfe<br />
oder Brinksitzer-Stellen seyn“ als Meiergüter gelten sollten. Das Meierrecht war also<br />
nicht auf die Klasse der Meier beschränkt, sondern betraf ebenfalls Kleinstellen wie<br />
Brinksitzer oder Straßensitzer. Unter Meiergütern wurden Höfe verstanden, „woran<br />
denen Guthsherren das Eigenthum, denen Meyern aber ein Erb-Pacht-Recht, unter der<br />
Bedingung zusteht, dass sie das Guth in gutem Stande erhalten, <strong>eine</strong>n jährlichen<br />
festgesetzten, und nicht zu erhöhenden Meyer-Zins richtig abtragen, und bey jeder<br />
Veränderung des Hauswirths, auch wo es hergebracht ist, des Gutsherren, gegen<br />
Bezahlung des Weinkaufs, 210 <strong>eine</strong>n neuen Meyer-Brief auslösen …“<br />
Art. 2 sicherte das Erbrecht des Meier für ihn und s<strong>eine</strong> Kinder auch dann, wenn<br />
der Meierbrief nicht auf Lebenszeit, sondern lediglich auf 9 oder 12 Jahre ausgestellt<br />
war. Geregelt wurde ebenfalls im ersten Kapitel, wie verfahren werden sollte, wenn ein<br />
Hof mehrere Grundherren hatte (derjenige, dem die höchsten Abgaben zustanden<br />
bzw. den Weinkauf vom Hof oder der Hofstätte erhielt). In den weiteren Kapiteln<br />
wurden die Regelungen für den Meierbrief und den Weinkauf, den Meierzins und die<br />
206 Nach ENGEL (1965), S. 9. Die Engelschen Angaben sind weit weniger präzise wie die<br />
anderer Autoren, dürften damit gerade deshalb realistischer sein. Über die vergeblichen<br />
Versuche des braunschweigischen Staates, einheitliche Hohlmaße durchzusetzen vgl.<br />
ALBRECHT (1980), XX.<br />
207 ACHILLES (1972a), 179 ff<br />
208 Königliche Landwirtschaftsgesellschaft (1864), 2, 402-404. TURNER (1960); <strong>eine</strong>n guten<br />
Überblick der hannoverschen Gesetze bietet OPPERMANN (1861).<br />
209 Basis ist die gedruckte Fassung in NHStAH Hann. 74 Calenberg Nr. 470.<br />
210 Der Weinkauf hatte nichts mit dem Wein zu tun, sondern war <strong>eine</strong> Gebühr für den<br />
Vertragsabschluß.<br />
49
Remissionen (Abgabenreduzierungen), die Verhältnisse bei Besetzung, Veräußerung,<br />
Teilung oder Verpfändung, die Erbfolge und schließlich die Abmeierung näher<br />
bestimmt. Das Meierrecht ließ dem Bauern theoretisch <strong>eine</strong>n nur geringen<br />
Handlungsspielraum, sicherte aber bestimmte Nutzungsrechte und schützte ihn vor<br />
Willkür seitens s<strong>eine</strong>r Herren.<br />
Eng verbunden mit dem Meierrecht war das Anerbenrecht. Es beendete die<br />
Realteilung und damit die Aufteilung des Hofes unter mehrere erbberechtigte Kinder.<br />
Die Realteilung hatte vor 1550 zu <strong>eine</strong>r verstärkten Zersplitterung des bäuerlichen<br />
Besitzes geführt. Diese sollte nun durch das Anerbenrecht verhindert und damit der<br />
Bestand <strong>eine</strong>s leistungsfähigen Bauernstandes gesichert werden. 211<br />
Die Erbgewohnheiten wiesen <strong>eine</strong> große Vielfalt auf, wie ein Blick auf die seit 1815<br />
zum Königreich Hannover gehörenden Gebiete zeigt. Im Fürstentum Lüneburg hatte<br />
sich bei den Meiergütern das Erbrecht des ältesten Sohnes erst zu Beginn des<br />
18. Jahrhunderts durchgesetzt, ähnlich wie in der Grafschaft Hoya. Im Fürstentum<br />
Calenberg konnte nach der Meierordnung von 1772 dagegen der Meier s<strong>eine</strong>n<br />
Nachfolger selbst bestimmen. Ein solches Wahlrecht gab es auch im Fürstentum<br />
Hildesheim. In den Herzogtümern Bremen und Verden wiederum konnte der älteste<br />
oder der jüngste Sohn erben. In der Grafschaft Diepholz hatte sich das Erbrecht des<br />
jüngsten Sohnes durchgesetzt. Im Fürstentum Osnabrück legte zwar die<br />
Eigentumsordnung von 1722 ein Erbrecht des jüngsten Sohnes bzw. der Tochter fest,<br />
doch herrschte in manchen Kirchspielen das Ältestenrecht. In den Grafschaften<br />
Lingen und Bentheim erbte das jüngste bzw. älteste (Bentheim) Kind. Im Münsterland<br />
schließlich wählte der Gutsherr den Erben. Bei aller Vielfalt hatten die Söhne<br />
grundsätzlich Vorrang vor den Töchtern. Gab es k<strong>eine</strong> leiblichen Erben des Bauern, so<br />
fiel der Hof an den Grundherrn zurück (Heimfallsrecht). Dieser musste den Hof dann<br />
wieder an <strong>eine</strong>n anderen Bauern vergeben. Oft wurden hierfür Verwandte des<br />
bisherigen Bauern gewählt.<br />
Zu den wenigen niedersächsischen Gebieten, in denen die Realteilung seit dem<br />
Mittelalter beibehalten wurde, gehört das Eichsfeld. 212 Hier wurde beim Eintreten <strong>eine</strong>s<br />
Erbfalls der Hof nicht von <strong>eine</strong>m Anerben übernommen, der die weichenden Erben<br />
mit Geldzahlungen oder Sachleistungen abfand. Vielmehr wurde der Hof unter alle<br />
Erben aufgeteilt. Zwar gab es oft Ehelosigkeit, um so die Existenz des Hofes zu<br />
sichern und <strong>eine</strong> Teilung zu verhindern, aber schon im 18. Jahrhundert fand die<br />
Realteilung immer häufigere Anwendung. Die Folge war <strong>eine</strong> Flurzersplitterung, wie sie<br />
in k<strong>eine</strong>r anderen niedersächsischen Landschaft jemals aufgetreten ist. Als Beispiel<br />
kann dabei die Flur von Werxhausen dienen, die schon im Jahre 1746 in 1560 Parzellen<br />
aufgeteilt war, die auf 115 Stelleninhaber entfielen. Drei Viertel aller Stelleninhaber<br />
besaßen weniger als <strong>eine</strong>n Morgen Ackerland. Doch nicht genug damit, fast die Hälfte<br />
der Gemarkung stand nicht den Einwohnern zur Verfügung, sondern gehörte dem<br />
Duderstädter Stadtgut.<br />
c) Zins- und Erbzinsrechte, Hägerrecht<br />
Ein geteiltes Besitzrecht zwischen dem Grundherrn als Obereigentümer (dominium<br />
directum) und dem Bauern als Untereigentümer (dominium utile) war das Zins- oder<br />
211 BISCHOFF (1966). Siehe auch den Überblick bei Königliche Landwirtschaftsgesellschaft<br />
(1864), S. 250-255.<br />
212 Zur Situation des Eichsfelds im 19. Jahrhundert: SCHNIER, SCHULZ-GREVE U.A. (1990).<br />
50
Erbzinsrecht (Emphyteuse). Der Bauer war zu bestimmten Abgaben an den<br />
Grundherrn verpflichtet (Erbzins), konnte jedoch ursprünglich frei über das<br />
Erbzinsland verfügen. Um 1600 wurden diese freien Verfügungsrechte eingeschränkt,<br />
die Bauern durften danach ihre Erbzinsgüter nicht mehr frei veräußern. 213 Im mittleren<br />
Niedersachsen waren allerdings meist nur kl<strong>eine</strong>re Grundstücke zu Erbzinsrecht<br />
ausgetan.<br />
Größere Bedeutung hatte das Hägerrecht. Es entstammte der Rodungsphase des<br />
Hochmittelalters und fand sich in den Rodungsdörfern (Namensendung auf -hagen<br />
oder -rode, aber auch andere Endungen möglich). Hägerland oder Erbland war meist<br />
nur gering mit Grundabgaben belastet und konnte frei vererbt werden. Zudem waren<br />
die Häger freie Leute, während die Masse der anderen Bauern noch hörig war. 214<br />
Verbunden mit dem Hägerrecht war übrigens häufig <strong>eine</strong> spezielle Flur- und<br />
Siedlungsform, khs: hier Querverweis? sowie die Namens für die Orte auf -hagen.<br />
d) Eigenbehörigkeit<br />
Während im östlichen Niedersachsen die Eigenbehörigkeit schon im 15. Jahrhundert<br />
weitgehend aufgelöst worden war, hielt sie sich im westliche Niedersachsen noch bis in<br />
das 19. Jahrhundert. 215 Gebiete mit Eigenbehörigkeit waren Osnabrück, Arenberg-<br />
Meppen, Lingen, Bentheim, Diepholz, Teile von Hoya sowie einige Calenbergische<br />
Ortschaften (Loccum, Vogtei Lachem), außerdem einige Dörfer im Schaumburgischen.<br />
Wichtige Grundzüge der Eigenbehörigkeit lassen sich an der der Osnabrückischen<br />
Eigentumsordnung ablesen. 216 Es waren „nicht allein die ‚eigenen Höfe’ und die zu<br />
denselben gehörenden Grundstücke im Eigenthume des Gutsherrn, wie solches auch<br />
bei dem Meierrechte der Fall ist, sondern auch die Besitzer der Höfe selbst und deren<br />
Nachkommen … Eigenthum des Gutsherrn. Ohne s<strong>eine</strong> Bewilligung konnte der<br />
Besitz <strong>eine</strong>r eigenbehörigen Stelle nicht übertragen werden, dabei mußten nicht nur<br />
Antrittsgelder, Laudemien, Auffahrten oder Weinkauf entrichtet werden, sondern der<br />
Gutsherr ließ auch auf s<strong>eine</strong> Stellen k<strong>eine</strong> neuen Wirthe oder Wirthinnen kommen,<br />
wenn sie nicht s<strong>eine</strong> Leibeigenen waren oder sich ihm zu leibeigen gaben.“ 217<br />
Die Abgaben waren im übrigen nicht festgelegt, so dass sie der Grundherr bei<br />
Übergabe des Hofes neu festlegen konnte. In Osnabrück durfte der Leibherr bei Tod<br />
des Eigenbehörigen die Hälfte des Vermögens einziehen, Prozesse gegen den<br />
Leibherrn konnte der Bauer nur aus s<strong>eine</strong>n eigenen Mitteln führen, nicht aus denen der<br />
Stelle. Insgesamt 21 Gründe zur Abmeierung nannte die Eigentumsordnung, wobei<br />
das Herunterwirtschaften der Stelle und das Verweigern von Abgaben am<br />
bedeutsamsten waren. Die Festschrift der Königlichen Landwirtschaftsgesellschaft<br />
kommentierte 1864 diesen Zustand mit den Worten:<br />
213 Herzog Heinrich Julii Constitution wegen verbotener Alienation der Lehn-, Erben-Zins-<br />
und Meier-Güter; 1598, April 3. In: OPPERMANN (1861), S.1 f.<br />
214 BLOHM (1943).<br />
215 Darstellung der Eigenbehörigkeit bei REINDERS-DÜSELDER (1995), 155-166; für Schaumburg<br />
SCHNEIDER (1994), 1, S. XX; Königliche Landwirtschaftsgesellschaft (1864), 2, 398-401.<br />
216 Hier nach Königliche Landwirtschaftsgesellschaft (1864), 2, 399; siehe auch KLOENTRUP<br />
(1798-1800), I, 290-308; HIRSCHFELDER (1971), 89-95 und öfter.<br />
217 Königliche Landwirtschaftsgesellschaft (1864), 2, 399.<br />
51
„Es wird wohl k<strong>eine</strong>r weiteren Ausführung bedürfen, dass aus solchen Verhältnissen viele<br />
Streitigkeiten entspringen mußten, und dass dabei <strong>eine</strong> Zunahme des Wohlstandes und ein<br />
Fortschritt in der Bewirthschaftung der eigenbehörigen Stellen schwerlich möglich war.“ 218<br />
Die Eigenbehörigkeit war, das geht aus den beschriebenen Verhältnissen auch<br />
hervor, immer an <strong>eine</strong>n Hof gebunden, doch konnten Grundherr und Leibherr<br />
unterschiedliche Personen sein. In jedem Fall musste sich ein aufheiratender, freier<br />
Partner in die Eigenbehörigkeit begeben. Die Eigenbehörigkeit bedeutete für den<br />
Bauern und s<strong>eine</strong> Familie <strong>eine</strong> entscheidende Einschränkung der persönlichen Freiheit.<br />
Ohne Zustimmung (Konsens) des Leibherrn konnte ein Eigenbehöriger weder<br />
heiraten noch vom Hof ziehen. 219 Erwerb von Eigentum (Allod) war zwar möglich,<br />
doch standen dem Leibherrn speziell in Westniedersachsen bzw. in den westfälischen<br />
Gebieten teilweise erhebliche Anteile am Erbe des Eigenbehörigen zu. Einschneidend<br />
konnten sich Sterbfallabgaben bei Tod <strong>eine</strong>s oder <strong>eine</strong>r Eigenbehörigen auswirken.<br />
Besthaupt, Bestkleid oder Bestpferd, die in den mittleren Teilen Niedersachsens<br />
gefordert wurden, ersch<strong>eine</strong>n gering im Vergleich zu den hohen Abgaben in<br />
Osnabrück, die bis zur Hälfte des Privatvermögens des Toten betragen konnten, mit<br />
einschneidenden ökonomischen Folgen verbunden war: „Der Hof konnte schnell<br />
verschulden und in Not geraten, wenn die Todesfälle in der Familie rasch aufeinander<br />
folgten.“ 220<br />
e) Zehntherrschaft<br />
Neben der Grundherrschaft bildete die Zehntherrschaft <strong>eine</strong> drückende und deshalb<br />
verhasste Belastung. Ursprünglich war der Zehnt <strong>eine</strong> rein kirchliche Abgabe gewesen.<br />
Schon früh kam er auch in den Besitz des Landesherrn, der ihn s<strong>eine</strong>rseits oft<br />
wiederverkaufte, verschenkte oder als Lehen an Adelige vergab. 221 Es wurde zwischen<br />
dem großen Getreidezehnten und dem kl<strong>eine</strong>n, dem Fleischzehnten, unterschieden,<br />
jedoch dürfte letzterer nur selten eingefordert worden sein. Die Zehntherrschaft lag im<br />
Gegensatz zu den meisten anderen herrschaftlichen Rechten in der Regel geschlossen<br />
auf der gesamten zehntpflichtigen Flur <strong>eine</strong>s Dorfes; daneben gab es auch immer noch<br />
kl<strong>eine</strong>re zehntfreie Grundstücke. Zehntpflichtiges Land war also doppelt belastet: über<br />
die Grundherrschaft mit den entsprechenden Abgaben und die Zehntherrschaft.<br />
Zehntherren waren in der frühen Neuzeit die gleichen Herren, die auch Grundherren<br />
sein konnten, also der Landesherr, die Kirche, Adelige und auch Bürgerliche.<br />
In den einzelnen Territorien hatte das Zehntrecht <strong>eine</strong> unterschiedliche Ausprägung<br />
gefunden, die anhand einiger Beispiele erläutert werden soll. 222 Die auch für das<br />
Fürstentum Göttingen geltende Calenberger Zehntordnung von 1709 schrieb vor,<br />
„dass von aller und jeder in der Zehntflur belegener Länderei, es mag darauf, über oder unter der<br />
Erde gewachsen sein, was da wolle, der Zehnte gegeben werden muß, und wer die Zehntfreiheit <strong>eine</strong>s<br />
Grundstücks in Anspruch nimmt, der soll beweisen, dass entweder der Zehntherr solche<br />
218 Königliche Landwirtschaftsgesellschaft (1864), 2, 400.<br />
219 Das Konsensrecht betraf im Osnabrückischen alle Rechtsgeschäfte von Eigenbehörigen,<br />
„die sich zum Nachteil des Hofes auswirken konnten“, größte Bedeutung erlangte es bei<br />
Krediten; HIRSCHFELDER (1971), 89 f.<br />
220 HIRSCHFELDER (1971), 152.<br />
221 Dazu als regionales Beispiel HIRSCHFELDER (1971), S. 164-167. Siehe allgemein OBERSCHELP<br />
(1982), 113-116.<br />
222 Nach Königliche Landwirtschaftsgesellschaft (1864), 2, 382-390.<br />
52
zugestanden, oder dass innerhalb 40 Jahren von solchem Stücke, wenn es besäet gewesen, kein<br />
Zehnten gegeben worden ist.“<br />
Für Brachland und die beim Pflügen notwendigen Wendeflächen galten besondere<br />
Regeln:<br />
„Der Zehnten von den in die Brache gesäeten oder gepflanzten Früchten, welche nach und nach<br />
eingeerndtet werden, Kohl, Rüben, Wurzeln usw. soll mit Geld bezahlt werden. Lassen die<br />
Zehntpflichtigen von dem zehntpflichtigen Lande über 8 bis 10 Fuß breite Wendungen unbestellt<br />
zur Weide liegen, so sollen sie dem Zehntherrn Entschädigung zahlen.“<br />
Neben der r<strong>eine</strong>n Belastung durch die Abgabe wirkten sich die vielfältigen<br />
Beschränkungen der Wirtschaftsführung behindernd aus:<br />
„Zehntpflichtige Ländereien dürfen nur mit der Genehmigung des Zehntherrn und der Hude-<br />
Interessenten zu Gärten, Wiesen, Weiden oder Holzungen umgewandelt werden. Aus Neubrüchen<br />
ist der Zehnten an den Grundherrn zu entrichten. Unzeitiges Abhüten oder Abschneiden der Saat<br />
ist verboten. Wenn außer dem Zehnten noch die 3. oder 4. Garbe (Theilkorn) zu entrichten (384)<br />
ist, soll zunächst der Zehnten und dann das Theilkorn gezogen werden, … Es dürfen nur Hocken<br />
oder Haufen von 10 oder 20, oder wo die 11. Garbe gezogen wird, von 11 oder 22 Garben gebildet<br />
werden. … Der Mißbrauch, dass Schnitter und Binder als Lohn für ihre Arbeit Garben erhalten<br />
und solche mit nach Hause nehmen, ehe der Zehnten davon gezogen worden ist, sowie dass den<br />
Kindbetterinnen einige Garben freigelassen werden, soll nicht Statt haben.“ 223<br />
Einschneidend für die bäuerliche Wirtschaftsführung war demnach nicht nur die<br />
Höhe des Zehntens, sondern in gleichem Maße auch die Modalitäten des Einziehens,<br />
denn die Bauern mussten dem Zehntherrn ansagen, „wann die Früchte gebunden,<br />
geschockt und trocken sind“, danach hatten sie bis zu <strong>eine</strong>n Tag zu warten, ehe sie ihre<br />
Ernte einfahren durften, um dem Zehntherrn Gelegenheit zu geben, s<strong>eine</strong>n Zehnten<br />
zu „ziehen“.<br />
Vergleichbare Bestimmungen sahen die anderen niedersächsischen Zehntordnungen<br />
vor. Ihnen allen gemeinsam waren die weit reichenden Rechte der Zehntherren, auch<br />
die Tatsache, dass beim Getreidezehnten meist die gesamte Feldmark <strong>eine</strong>s Dorfes<br />
pflichtig war und nur einzelne Feldstücken ausgenommen waren. Brach- und<br />
Gartenfrüchten unterlagen durchweg ebenfalls dem Zehntrecht.<br />
Beim Fleischzehnt gab es unterschiedliche Gewohnheiten:<br />
„In der Regel sind Pferde und Kühe angeschrieben und von <strong>eine</strong>m Jahre dem andern zugezählt, das<br />
Vieh hat ‘auf der Schrift’ gestanden, bis zehn Stück voll gewesen, worauf ein Stück als Zehnten<br />
abgegeben oder mit Geld bezahlt ist. Von dem kl<strong>eine</strong>n Vieh und den Immen ist der Zehnten<br />
alljährlich gezogen.“<br />
Die Zehntpflichtigkeit bildete zwar die Regel, es gab jedoch Ausnahmen: im<br />
Wendland, im Amt Neuhaus und im Boldeckerland fehlte sie, ebenfalls in den<br />
Marschen. 224 In Osnabrück wurde der Zehnt schon relativ früh durch Geldrenten<br />
ersetzt. In einigen Gebieten des Herzogtums Arenberg-Meppen, in den Grafschaften<br />
Bentheim und Lingen lag der Zehnt lediglich auf den älteren Teilen der Feldmark. Im<br />
Hümmling sollen „nur einige Ortschaften zehntpflichtig gewesen“ 225 sein. Ostfriesland<br />
(mit Ausnahme einiger Orte im Amt Leer) und der Oberharz kannten ebenfalls k<strong>eine</strong>n<br />
Zehnt.<br />
Im Laufe des 18. Jahrhunderts gingen die Bauern dazu über, den Zehnt für <strong>eine</strong><br />
gegen <strong>eine</strong> feste Geldsumme zu pachten, so dass die Behinderungen durch den<br />
223 [=274 - Königliche 1864 Festschrift zur Säcu...=], 2, 382-384.<br />
224 Königliche Landwirtschaftsgesellschaft (1864), 2, 390.<br />
225 Ebd.<br />
53
Zehntzug fortfielen. 226 Andererseits wurde der Zehnt an Dritte gern verpachtet, etwa<br />
an Bürger. 227<br />
f) Dienstwesen<br />
Neben den grundherrlichen Abgaben, denjenigen, die aus der Eigenbehörigkeit<br />
entstammten sowie dem Zehnt sind schließlich noch die Dienste als eigene Form der<br />
Belastung hervorzuheben. Das Dienstwesen gehört ohne Zweifel zu den komplexen<br />
Folgen bäuerlicher Abhängigkeit, es konnte <strong>eine</strong> erhebliche Belastung darstellen und es<br />
entzieht sich <strong>eine</strong>r einfachen Systematisierung. 228 Die Festschrift der Königlichen<br />
Landwirtschaftsgesellschaft unterteilte sie 1864 in öffentliche und private Dienste,<br />
wobei die öffentlichen wie folgt beschrieben wurden:<br />
„Zu den ersteren gehören zunächst die Hoheitsdienste, welche von Seiten der Regierung zu öffentlichen<br />
Zwecken gefordert werden können, namentlich die Landfolgen zur Nothhülfe in gem<strong>eine</strong>r Gefahr behuf<br />
Besserung der öffentlichen Wege, zu Arrestanten- und Krankenfuhren behuf Fortschaffung von Personen<br />
und Gegenständen zu militärischen Zwecken, die hohe Jagdfolge behuf Erlegung des zu Schaden gehenden<br />
Wildes und der Raubtiere, die Gefangenenwachen, Briefträgerdienste usw. …“<br />
Davon unterschieden wurden die Privatdienste, die auch als Herrendienste oder<br />
Frondienste bezeichnet wurden. Hierbei handelte es sich vorwiegend um<br />
landwirtschaftliche Arbeiten, die zur Bestellung großer Eigenwirtschaften (Vorwerke)<br />
von Adeligen oder des Landesherrn dienten:<br />
Die zu Privatzwecken zu leistenden Dienste sind von den Besitzern der berechtigten Domainen,<br />
Güter und Höfe zu leisten, werden unter dem Namen gutsherrliche oder Herrendienste begriffen<br />
und stehen in näherer oder fernerer Beziehung zu den berechtigten Grundstücken und deren<br />
Bewirtschaftung. Sie werden verwendet zu der Bestellung des Ackers, zum Mistfahren, Pflügen und<br />
Eggen, zum Mähen, Binden und Einfahren der Früchte, zum Mähen der Wiesen und zum<br />
Trocknen und Einfahren des Heues, zum Dreschen, zu Gartenarbeiten, zum Ausbringen der<br />
Ställe und Reinigen der Höfe, zu Wege- und Grabenarbeiten, zum Torfstechen sowie zum<br />
Trocknen und Einfahren des Torfs, zum Holzanfahren, Holzhauen, Schaafscheren,<br />
Flachsreinigen, Spinnen, usw., ferner bei dem Neubau und der Reparatur der Gebäude,<br />
Befriedigungen und Brücken (Burgvestdienste), in den Forsten und behuf der Jagd, zu Reisen,<br />
Marktfuhren, Botendiensten usw. Es gibt wohl k<strong>eine</strong> in <strong>eine</strong>m Landhaushalte gewöhnlich<br />
vorkommende Arbeit, zu welcher die gutsherrlichen Dienste nicht benutzt worden sind.“ 229<br />
Gleich, ob es sich um öffentliche oder private Dienste handelte, es wurde in jedem Fall<br />
ein breites Spektrum von Arbeiten verrichtet, wobei landwirtschaftliche Tätigkeiten bei<br />
den privaten Diensten überwogen. Dienste waren nach Bedarf zu leisten, <strong>eine</strong><br />
ungleiche Behandlung der Dienstpflichtigen sollte vermieden werden. Unterschieden<br />
wurde nach Spanndiensten und Handdiensten, wobei lediglich die größeren Höfe<br />
(Meier, teilweise auch große Kötnerbetriebe) zu Spanndiensten herangezogen wurden.<br />
Die Klassifizierung der Höfe folgte entsprechend den schon erwähnten Hofklassen:<br />
226 Königliche Landwirtschaftsgesellschaft (1864), 2, 392.<br />
227 OBERSCHELP (1982), 113.<br />
228 Wieder wird hier auf die Festschrift der königlichen Landwirtschaftsgesellschaft<br />
zurückgegriffen, die den besten Überblick bietet (Königliche Landwirtschaftsgesellschaft<br />
(1864), 2, 362-367.) Außerdem die ältere Literatur zusammenfassend: OBERSCHELP<br />
(1982), 116-119.<br />
229 Ebd., 363.<br />
54
„Von den bespannten Dienstpflichtigen leistet in der Regel ein Halbmeier, Vollspänner oder<br />
Ackermann das Doppelte <strong>eine</strong>s Halbmeiers, Halbspänners oder Halbackerhofes, sowie von den<br />
Handdienstpflichtigen der Vollköthner doppelt so viel zu leisten hat als der Halbköthner.“ Weitere<br />
Unterscheidungen betrafen die Tatsache, ob die Dienste in ihrem Umfang genau festgelegt, gemessen,<br />
waren oder nicht (ungemessen waren). Bei sogenannten Reihediensten wurden die Pflichtigen der<br />
Reihe nach herangezogen. Selbst An- und Abbauer sowie Häuslinge hatten für die Überlassung<br />
von Hausgrundstücken Dienste zu leisten.<br />
Im Fürstentum Calenberg, dem Fürstbistum Hildesheim sowie den Grafschaften<br />
Hoya und Diepholz gab es nur sehr wenige Ausnahmen von der Dienstpflicht. Die<br />
Hildesheimische Dienstordnung von 1773 bestimmte, „dass der gewöhnliche<br />
wöchentliche Reihedienst <strong>eine</strong>s Halbspänners in <strong>eine</strong>m und <strong>eine</strong>s Vollspänners in zwei<br />
Spanndiensttagen, der <strong>eine</strong>s Kothsassen aber in zwei Handdiensttagen“ bestand. Für<br />
die in <strong>eine</strong>r Woche nicht abgeleisteten Dienste wurde ein festgesetztes Dienstgeld<br />
bezahlt. 230 Laut Dienstordnung mussten Dienste im Winter tags zuvor bis 4 Uhr, im<br />
Sommer bis 6 Uhr angemeldet werden.<br />
„Ungehorsame Dienstpflichtige kann der Dienstherr, wenn er mit den Gerichten versehen ist 231 , zu<br />
ihrer Schuldigkeit anhalten, vorerst sie auspfänden und bei beharrlicher Widersetzlichkeit mit dem<br />
‘Gehorsam’ oder Gefängniß bestrafen.“ 232<br />
Die während des Dienstes zu leistenden Arbeiten, deren Dauer und weitere<br />
Modalitäten waren zwar definiert, jedoch lässt sich nicht immer exakt sagen, ob sie in<br />
dieser Form auch geleistet wurden. Problematisch dürfte die Trennung von privaten<br />
und öffentlichen Diensten gewesen sein, denn manch ein Amtmann wird nicht der<br />
Versuchung widerstanden haben, öffentliche Landfolgedienste für s<strong>eine</strong> Privatzwecke<br />
zu verwenden.<br />
Die Diensthöhen waren bei den Ackerdiensten immer je Woche festgelegt; wurde<br />
die Arbeit in dieser Zeit nicht verlangt, so musste statt dessen ein Dienstgeld bezahlt<br />
werden, welches in Hildesheim 9 Mgr. je Spanntag und 1 Ggr. 233 je Handtag betrug. Die<br />
Überprüfung der Dienstleistung erfolgte mittels Dienstbücher oder Kerbhölzer.<br />
Bei den Diensten gab es regionale Unterschiede. In Ostfriesland herrschte<br />
Dienstfreiheit, in den Grafschaften Bentheim, Lingen und dem Herzogtum Arenberg-<br />
Meppen bestand dagegen die Dienstpflicht. Im Fürstentum Osnabrück waren die<br />
eigenbehörigen Stellen zu Diensten verpflichtet, nicht jedoch die übrigen. Im Amt<br />
Grönenberg standen insgesamt 741 eigenbehörigen Kolonaten (Höfen) des<br />
Landesherrn, der Rittergüter, der säkularisierten Klöster und der Geistlichkeit 541 freie<br />
und schatzpflichtige Höfe gegenüber. 234 Die Osnabrückische Eigentumsordnung von<br />
1722 regelt im Kapitel XIII die Dienste, die u.a. nach dem Herkommen geleistet und<br />
nicht verändert werden durften. Hier gab es auch den Zwangsgesindedienst für die<br />
Kinder der Bauern, die nach ihrer Konfirmation ein halbes oder sogar ein ganzes Jahr<br />
beim Gutsherrn umsonst zu dienen hatten und anschließend noch weitere sieben Jahre<br />
dort zum Dienst gezwungen werden konnten. 235<br />
„Wenn <strong>eine</strong> eigenbehörige Person, Knecht oder Magd, ‘des Eigenthums oder desselben Schuldigkeit<br />
sich entziehen wollte’, so stand dem Gutsherrn die actio confession wider dieselbe zu. Bezeigte<br />
230 Königliche Landwirtschaftsgesellschaft (1864), 2, 364.<br />
231 Dies bedeutete, dass er gleichzeitig die Gerichtsherrschaft innehatte.<br />
232 Königliche Landwirtschaftsgesellschaft (1864), 2, 364.<br />
233 Gute Groschen, siehe Glossar.<br />
234 Königliche Landwirtschaftsgesellschaft (1864), 2, 366.<br />
235 Königliche Landwirtschaftsgesellschaft (1864), 2, 367.<br />
55
sie sich widersetzlich, so war dem Gutsherrn die levis coercitio, castigatio und custodia<br />
gestattet, worunter nach Cap. XIV, § 1 zu verstehen sein wird, dass er dieselbe längstens auf<br />
zweimal 24 Stunden zur Verwahrung zu bringen und mit Wasser und Brod zu speise befugt<br />
war.“ 236<br />
Das letzte Zitat weist darauf hin, dass die Dienstpflicht gewiss zu den<br />
problematischen Rechten gehörte. In Osnabrück wurden die Diensthöhen im<br />
17. Jahrhundert nach dem Herkommen geleistet, was dazu führte, dass Vollhöfe<br />
(Vollerben) mit der Hand, Markkötter aber mit dem Spann dienen mussten, wenn sich<br />
in jüngerer Zeit ihre Betriebsgröße deutlich verändert hatte. Im 17. Jahrhundert waren<br />
alle Dienste gemessen, im 18. Jahrhundert dagegen kam es zu <strong>eine</strong>r Zunahme der für<br />
den Dienstherrn günstigeren ungemessenen Dienste. 237 Die Dienstherren, gleich ob es<br />
sich um den Landesherrn oder die privaten Grundherren handelte, waren bemüht „sich<br />
möglichst viele Dienste in natura zu sichern und sie nach Möglichkeit an Umfang zu<br />
vergrößern“ 238 . Für die Pflichtigen waren die Dienste mit vielen Belastungen<br />
verbunden: die Meier mussten teilweise ein eigenes Pferdegespann mit Wagen für den<br />
Dienst vorhalten, während für die Handdienste meist nicht der Bauer arbeitete,<br />
sondern Tagelöhner aus dem Dorf. Insbesondere in Erntezeiten waren die Dienste in<br />
besonderem Maße nachteilig, da jetzt auf dem Hof alle verfügbaren Kräfte benötigt<br />
wurden, jedoch der Dienstherr ebenfalls alle vorhandenen Diensttage abforderte. Das<br />
war insofern doppelt nachteilig, weil es spezielle Erntedienste gab, die Dienstbelastung<br />
also gerade in dieser wichtigen Phase des landwirtschaftlichen Jahres noch höher lag als<br />
üblich. Deshalb bevorzugten die Pflichtigen die Zahlung <strong>eine</strong>s Dienstgeldes, um den<br />
betriebswirtschaftlichen Nachteilen entgehen zu können. Häufig wurden nicht alle<br />
Dienste benötigt, so dass der „Überschuss“ an Dritte verpachtet wurde. 239<br />
Zwar kannte das Dienstwesen k<strong>eine</strong> willkürlichen Maßnahmen, sondern folgte<br />
bestimmten Regeln, aber der Dienstherr hatte derart genug Auslegungsmöglichkeiten,<br />
um s<strong>eine</strong> Interessen durchsetzen zu können. Andererseits konnten sich die Bauern<br />
durch nachlässige und langsame Verrichtung der Arbeit in gewissen Grenzen dagegen<br />
wehren.<br />
Dienste waren gewiss unrentabel und konfliktfördernd, stellten aber aus der Sicht<br />
der Empfänger lange Zeit <strong>eine</strong> leicht zu handhabende Form der Nutzung bäuerlicher<br />
Arbeitskraft dar.<br />
g) Gerichtsherrschaft<br />
Seit dem späten Mittelalter begann sich die Landesherrschaft zu stabilisieren; sie wurde<br />
institutionalisiert und allmählich auch territorialisiert. 240 Gleichwohl hielten sich viele<br />
personelle, nicht raumbezogene Elemente von Herrschaft, wie etwa in der<br />
Gerichtsherrschaft. 241 Der Landesherr konkurrierte in diesem Bereich mit anderen<br />
Herrschaftsträgern und konnte sie erst in <strong>eine</strong>m langen Prozess nach und nach<br />
verdrängen.<br />
236 Ebd.<br />
237HIRSCHFELDER (1971), 117 f. Allgemein zu den Diensten in Osnabrück: ders., 120-140;<br />
WINKLER (1959), 43-55.<br />
238<br />
WINKLER (1959), 52 ff.<br />
239<br />
HIRSCHFELDER (1971), 130-132.<br />
240 Dazu jetzt zusammenfassend für Niedersachsen HUCKER, SCHUBERT, WEISBROD (1997), 783-<br />
785. Sollte sein: Schubert, Niedersachsen ?? XX<br />
241<br />
BOETTICHER (1992). Khs: reicht das?<br />
56
Oft waren die Gerichtsherren zugleich Grundherren der jweiligen Bauern und<br />
wurden dann als Gutsherren bezeichnet. Es liegt auf der Hand, dass diese<br />
Kombination dem Grundherrn besondere Möglichkeiten gegenüber s<strong>eine</strong>n Bauern<br />
gab. Es ist allerdings ein Kennzeichen der niedersächsischen Agrarverfassung, dass<br />
solche Verhältnisse nicht überwogen. Selbst dort, wo von Gutsherren die Rede war,<br />
handelte es sich nicht um Gutsherren im Sinne weit reichender Herrschaftsrechte wie<br />
in einigen ostelbischen, gutsherrschaftlichen Gebieten, wo alle Herrschaftsrechte<br />
(Grund-, Leib-, Gerichtsherr) in der Hand <strong>eine</strong>s Herrn vereinigt waren, der zudem<br />
über geschlossene Herrschaftsgebiete verfügte.<br />
Dem Gerichtsherrn standen Gebühren für bestimmte regelmäßig zu erbringende<br />
Leistungen, Gerichtsdienste außerdem Gebühren (Sporteln) für die Inanspruchnahme<br />
des Gerichtsherrn und natürlich Strafgelder (Brüche) zu. Was die Gerichtsherrschaft<br />
von anderen Herrschaftsrechten auszeichnete, war ihre Koppelung mit den Diensten.<br />
Es scheint durchgängig so gewesen zu sein, dass dem Gerichtsherrn, nicht dem<br />
Grundherrn die Leistung von bäuerlichen Diensten zustand.<br />
2. Die Ag rar verfassung im Spannungsfeld zwischen<br />
Gr undher ren und Landesher ren<br />
Die Gerichtsherrschaft verweist auf die herausragende Stellung, die der Landesherr<br />
unter den Herrschaftsträgern einnahm. In der älteren Forschung wurden die weit<br />
reichenden, noch zu skizzierenden Eingriffe der nordwestdeutschen Landesherren in<br />
die grundherrlichen Rechte hervorgehoben und als „Bauernschutz“ bezeichnet. Diese<br />
Wertschätzung des niedersächsischen „Bauernschutzes“ resultierte nicht zuletzt aus<br />
dem Vergleich mit den ostelbischen Verhältnissen, wo sich im 15. und 16. Jahrhundert<br />
der Übergang zur modernen Gutsherrschaft mit <strong>eine</strong>r drastischen Einschränkung<br />
bäuerlicher Rechte vollzog. 242 Insofern war es durchaus nahe liegend, wenn Werner<br />
Wittich sein ursprüngliches Thema, die hannoverschen Agrarreformen, deshalb nur<br />
kursorisch behandelte, weil er meinte, dass die wesentlichen Entwicklungen im<br />
16. Jahrhundert mit der Durchsetzung des Bauernschutzes stattfanden. 243 Allerdings<br />
sollten Feststellungen dieser Art nicht überbewertet werden, denn inzwischen wissen<br />
wir, dass die Entwicklung auch in Nordwestdeutschland wesentlich komplexer verlief.<br />
Zudem erfolgte der Bauernschutz k<strong>eine</strong>swegs uneigennützig, sondern sollte die<br />
Einnahmen des Landesherrn absichern. 244<br />
Werner Wittich begann s<strong>eine</strong> Darstellung nicht zufällig mit <strong>eine</strong>m Kapitel über<br />
„Grundherrschaft und Rittergut in Niedersachsen“. 245 Damit verwies er auf den engen<br />
Zusammenhang <strong>eine</strong>s „mit Privilegien oder Herrschaftsrechten versehenen<br />
Grundbesitz(es)“ 246 mit der rechtlichen Situation der bäuerlichen Bevölkerung hin. Die<br />
Einbindung der grundherrlich gebundenen Bevölkerung in ein komplexes System<br />
personaler Abhängigkeit blieb grundsätzlich bis in das 19. Jahrhundert hinein bestehen,<br />
besaß regionale Unterschiede und <strong>eine</strong> gewisse, noch darzustellende Entwicklung.<br />
242 Neuester Forschungsüberblick bei KAAK (1991).<br />
243 WITTICH (1896), VIII.<br />
244 HAUPTMEYER (1997), 1128.<br />
245 WITTICH (1896), 1-12.<br />
246 WITTICH (1896), 1.<br />
57
Das 16. Jahrhundert war <strong>eine</strong> Phase starken ökonomischen und demographischen<br />
Wandels. 247 Die nach der Stagnationsphase des 15. Jahrhunderts schnell wachsende<br />
Bevölkerung war ein wichtiges Element <strong>eine</strong>r allgem<strong>eine</strong>n Aufschwungphase.<br />
Kennzeichen dieser Aufschwungphase waren u.a. stark steigende Getreidepreise<br />
aufgrund der zunehmenden Nachfrage nach Getreide und daraus resultierend <strong>eine</strong><br />
verstärkte Förderung der Landwirtschaft, <strong>eine</strong> Zunahme des Großbetriebs und <strong>eine</strong><br />
regionale Differenzierung der Produktion. 248 Die Tendenz zum Großbetrieb war zwar<br />
in Ostdeutschland am stärksten ausgeprägt, lässt sich aber auch in Niedersachsen<br />
beobachten. 249 Wenig bekannt sind die Ansätze zur Herausbildung landwirtschaftlicher<br />
Großbetriebe in niedersächsischen und westfälischen Gebieten, die sowohl vom Adel<br />
als auch vom Landesherrn getragen wurden. 250 Durch das Aufkaufen von Bauernhöfen<br />
entstanden etwa im Calenbergischen bei Hannover mehrere Rittergüter aus bisherigen<br />
Bauernhöfen oder wüsten Fluren. 251 Vergleichbare Entwicklungen lassen sich in<br />
anderen Territorien beobachten. 252 Für den Weserraum bildeten die infolge der hohen<br />
Agrarpreise gestiegenen Einnahmen die Basis für teilweise erhebliche Einkommen<br />
adeliger Haushalte. 253 Allerdings blieb es in Niedersachsen bei Ansätzen, die im 17. und<br />
18. Jahrhundert sogar teilweise zurückgenommen wurden. 254<br />
Adel und Landesherren suchten durch das Aufkaufen bzw. Einziehen von<br />
Bauernland die Voraussetzung für eigene, von Bauern zu bewirtschaftende<br />
Großbetriebe zu schaffen, um die Einnahmen zu erhöhen, was insbesondere für die<br />
Landesherren angesichts steigender Ausgaben auch dringend nötig war. 255 Die<br />
Steigerung der Domäneneinnahmen durch <strong>eine</strong> Vergrößerung der landesherrlichen<br />
Eigenbetriebe und <strong>eine</strong> Intensivierung der Produktion stellten also die Antwort auf<br />
zunehmende Finanzprobleme dar. Bis in das 18. Jahrhundert galten die<br />
Domäneneinnahmen immerhin als die zentrale Finanzierungsquelle des Staates. Somit<br />
waren auch Einnahmen aus der Grundherrschaft oder Leibherrschaft steuerliche<br />
Leistungen. 256 Mit der Zunahme landesherrlicher Aufgaben zeigte sich, dass die<br />
bisherigen Einnahmen aus der Domäne und den landesherrlichen Regalien<br />
unzureichend waren. Ein Weg der Geldbeschaffung bildete die Verpfändung von<br />
landesherrlichen Einkünften, insbesondere von Ämtern und Schlössern. 257 Dieser Weg<br />
konnte aber nicht auf Dauer beschritten werden, da hierdurch die Einnahmesituation<br />
nur kurzfristig verbessert wurde. Statt dessen wurden zwei andere Wege beschritten:<br />
247 ABEL (1978b), 97-141; BAUER, MATIS (1988)=1584 - Bauer 1988 Geburt der Neuzeit: ...=].<br />
248 Allerdings stellt sich die Frage, weshalb in Europa weit reichender agrarischer Fortschritt<br />
nur in wenigen Regionen eintrat, obwohl die Rahmenbedingungen vergleichsweise günstig<br />
waren; dazu etwa DUPLESSIS (1997), Part II.<br />
249 KAAK (1991), XX.<br />
250 Am, Beispiel des südniedersächsischen Klosters Mariengarten: BOETTICHER (1989), 82 und<br />
90. Jetzt unter Hinweis auf die ältere Forschung und mit neuen Ergebnissen MAURER<br />
(1995), insbes. 242 f.<br />
251 STOELTING, MUENCHHAUSEN (1912).<br />
252 Als neueste Zusammenfassung MAURER (1995), XX. BOETTICHER (1986), 226 f.<br />
253 RICHARZ (1971), 28-30; 67-95.<br />
254 Beispiele dafür bei OEHR (1903), 26 für Braunschweig; RÖPKE (1924), 28; WRASMANN (1921),<br />
I, 76; HESSE (1900), 43-50. Zusammenfassend BOETTICHER (1986), 227 f.<br />
255 Belege dafür bei OEHR (1903), 19; SAALFELD, ABEL (1960), 23-33 (für Adel wie Landesherr);<br />
MAURER (1995), 242 f.; HAUPTMEYER (1997), 1128.<br />
256 HIRSCHFELDER (1971), 152.<br />
257 SCHUBERT (1991), 15.<br />
58
die <strong>Einführung</strong> von Steuern unter Hinzuziehung der anderen Herrschaftsträger im<br />
Land, also den Landständen, und <strong>eine</strong> systematische Verbesserung der<br />
Domäneneinnahmen. 258<br />
Struktur der Staatseinnahmen in der Frühen Neuzeit<br />
Gruppe Bezeichnungen Bedeutung<br />
Regalia Monopole, Zölle Geldeinnahmen<br />
gesamte Bevölkerung, aber Ausnahmen<br />
Konnten nur begrenzt gesteigert werden<br />
Domäneneinna<br />
hmen<br />
Abgaben der Bauern an den<br />
Landesherrn als Grundherrn<br />
(Grundabgaben, Zehnt etc.)<br />
Einnahmen aus den<br />
Vorwerken<br />
Forsteinnahmen<br />
Steuern Bede<br />
Schatz<br />
Personensteuern<br />
Grundsteuern<br />
Accise (Verbrauchssteuer)<br />
Geld- und Naturaleinnahmen<br />
Landbevölkerung<br />
Konnten vor allem durch verbesserte Verwaltung,<br />
Erhöhung der Dienste und Ausbau der Vorwerke<br />
gesteigert werden<br />
Geldeinnahmen<br />
gesamte Bevölkerung, aber Ausnahmen<br />
Weitgehend abhängig von den Landständen, die<br />
auch teilweise die Verwaltung dieser Steuern<br />
übernahmen,<br />
mit der Kontribution (Grundsteuer) ein neuer<br />
Steuertyp, den der Landesherr allein kontrollierte<br />
Steuerähnliche Leistungen waren von den Bewohnern <strong>eine</strong>s Territoriums<br />
(Herzogtum, Grafschaft, Bistum) aufzubringende Leistungen. Allerdings wurden die<br />
Landbewohner meist stärker belastet als die Stadtbürger. Geldzahlungen (Bede, Schatz,<br />
Kopfsteuer, Kontribution) dienten vorrangig der Kriegführung, wurden aber auch zu<br />
anderen Zwecken verwandt. Hinzu kamen spezielle, ausschließlich von der<br />
Landbevölkerung zu leistende Dienste für den Wegebau, die Erbauung oder Reparatur<br />
landesherrlicher Gebäude (Burgfestdienste) oder für den Krieg (Landfolgedienste,<br />
Kriegerfuhren). 259 Nicht die Entwicklung zum modernen Steuerstaat, der lediglich auf<br />
der Erhebung direkter wie indirekter Steuern und Abgaben beruht, sondern der<br />
Ausbau aller Einnahmen, auch der naturalen aus der Landwirtschaft, kennzeichnet die<br />
Entwicklung bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Selbst dort, wo aufgrund des<br />
Bergbaus die monetären Einnahmen überdurchschnittlich hoch waren wie im<br />
Herzogtum Braunschweig, fand ein systematischer Ausbau landwirtschaftlicher<br />
Leistungen statt. 260 Ein weiteres Kennzeichen dieser Entwicklung war die systematische<br />
Erfassung aller Leistungen und Abgaben. Das entscheidende Moment dieser<br />
Entwicklung dürfte neben der Etablierung neuer Abgaben die Durchsetzung des<br />
Untertanenprinzips gewesen sein: „Die Steuer macht den Untertan.” 261<br />
Am Beispiel der steuerlichen Belastung des Amtes Ilten östlich von Hannover lässt<br />
sich ein Überblick der finanziellen Belastung mit den unterschiedlichen Steuer- und<br />
Abgabenarten gewinnen, aus dem hervorgeht, dass vor allem die Kontribution und der<br />
Zehnt <strong>eine</strong> hohe Belastung darstellten (vgl. Abbildung 1).<br />
258 Siehe dazu allgemein: REINHARD (1996); REINHARD (1999).<br />
259 KRÜGER (1980).<br />
260 KRASCHEWSKI (1978), 139.<br />
261 SCHUBERT (1991), 21.<br />
59
Abbildung 1: Abgaben im Amt Ilten nach FRITZEMEIER, Korporation, 112<br />
40<br />
37,5<br />
35<br />
32,5<br />
30<br />
27,5<br />
25<br />
22,5<br />
20<br />
17,5<br />
15<br />
12,5<br />
10<br />
7,5<br />
Abgaben im Amt Ilten 1770<br />
Angesichts der bis dahin bestehenden großen Probleme der Territorien, ihre<br />
finanziellen Probleme zu lösen, 262 mussten alle Ressourcen genutzt werden, wozu auch<br />
die Intensivierung bzw. der Ausbau von Domänen gehörte. Die Landesherren nutzten<br />
also jede sich bietende Gelegenheit, ihre Einnahmen zu erhöhen, und dies hatte Folgen<br />
für die Entwicklung der Landwirtschaft in Nordwestdeutschland. Aufgrund s<strong>eine</strong>s<br />
steigenden Geldbedarfs erwies sich die Landesherren als ernsthafte Konkurrenten der<br />
privaten Grund-, Leib- und Zehntherren. Benötigte sie zur Deckung ihrer Bedürfnisse<br />
von den Bauern höhere Leistungen, so mussten die Ansprüche der anderen in ihrer<br />
Höhe begrenzt werden. Noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts war etwa den<br />
Calenberger Grundherren zugesichert worden, dass sie nach eigenem Gutdünken ihre<br />
Bauern „setzen und entsetzen” konnten. 263 Damit hatten sie das Recht, ihre Bauern<br />
nach Ablauf der Pachtzeit ohne weiteres vom Hof zu vertreiben, den Hof<br />
anschließend gegen höhere Abgaben an <strong>eine</strong>n anderen Bauern zu verpachten oder ihn<br />
selbst (das heißt durch dienstpflichtige Bauern) zu bewirtschaften. Es gab <strong>eine</strong>n<br />
offenkundigen Trend hin zur verstärkten Bewirtschaftung von Eigenbetrieben seitens<br />
der größeren Grundherren. 264<br />
Doch schon bald engten die welfischen Landesherren die Befugnisse der<br />
Grundherren immer weiter ein. 265 Schon 1526 durften die calenbergischen<br />
Grundherren ihre Bauern nicht einfach mehr mit neuen Abgaben belasten. 266 5<br />
2,5<br />
0<br />
Amtsabgaben<br />
Grundherrliche Abgaben<br />
Service<br />
Zehnt<br />
Kontribution<br />
Dorfabgaben<br />
Am Ende<br />
dieses Jahrhunderts war an die Stelle der Zeitpacht die Erblichkeit bäuerlichen Besitzes<br />
getreten und <strong>eine</strong> Erhöhung grundherrlicher Abgaben ausgeschlossen. Gleichzeitig<br />
wurden die bäuerlichen Dienstleistungen (Herrendienste) in ihrer Höhe begrenzt.<br />
Abgeschlossen wurde diese Entwicklung in den beiden Landtagsabschieden von<br />
Salzdahlum 1597 für das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel und Gandersheim<br />
262 GRESKY (1984).<br />
263 Privileg Herzog Erich I. von 1526 (SPITTLER (1786), I, 209-212) xx überprüfen!<br />
264 Am, Beispiel des südniedersächsischen Klosters Mariengarten: BOETTICHER (1989) 82 und<br />
90. Jetzt unter Hinweis auf die ältere Forschung und mit neuen Ergebnissen MAURER<br />
(1995), insbes. 242 f.<br />
265 Allgemein zum Bauernschutz im 16. Jahrhundert: HÖTZSCH (1902); für Braunschweig OEHR<br />
(1903), SAALFELD, ABEL (1960), 17-19, SOMMER (1983).<br />
266 SCHUBERT (1991), 37.<br />
60
1601 für das Herzogtum Calenberg. 267 Damit verloren die adeligen Grundherren<br />
weitgehend die Möglichkeit, bäuerliche Abgaben zu erhöhen oder die Bauern von ihren<br />
Höfen zu „entsetzen“. Von den damaligen welfischen Landen blieb nur Göttingen von<br />
diesen Regelungen unberührt.<br />
Nutznießer waren nicht so sehr die Bauern. Denn wenn sie auch nicht mehr mit<br />
steigenden Abgaben an den Grundherren zu rechnen brauchten, hieß das nicht, dass<br />
ihre Belastungen gleich blieben. Ab jetzt war es der Staat, der immer höhere<br />
Steuerforderungen an die Bauern stellte. Er hatte die Voraussetzungen geschaffen, um<br />
nunmehr weitgehend allein darüber entscheiden zu können, welche neuen Abgaben<br />
und Leistungen auf die Bauern entfielen. 268<br />
Bis in jüngere Zeit wird betont, dass der Bauernschutz eingeführt worden sei, damit<br />
die Landesherren zu Lasten der Adeligen, die ihre Einnahmen ja nicht mehr erhöhen<br />
durften, nunmehr durch Steuererhöhungen die Staatseinnahmen weiter verbesserten. 269<br />
Doch dürfen dabei nicht die domanialen Einnahmen vergessen werden. Die Nutzung<br />
von Domänen gehört k<strong>eine</strong>swegs zu den mittelalterlichen Elementen frühmoderner<br />
Staatlichkeit, sondern im Gegenteil zu deren modernen. 270 Angesichts der sich gegen<br />
Ende des 14. Jahrhunderts offenbarenden massiven Finanzprobleme und der<br />
Erfahrung, dass sich die Landstände die Bewilligung von Steuern nur gegen politische<br />
Mitspracherechte bezahlen ließen, war der Weg zu <strong>eine</strong>r Intensivierung der<br />
Domäneneinnahmen vorgezeichnet. 271<br />
Spätestens seit dem 15. Jahrhundert verbesserte die Landesherrschaft die<br />
überkommenen Formen der Herrschaftsausübung über die Bauern und ergänzte sie<br />
durch neue. Mit den Ämtern wurde <strong>eine</strong> flächendeckende untere<br />
Verwaltungsorganisation aufgebaut, die <strong>eine</strong> wesentlich effektivere Kontrolle<br />
ermöglichte. 272 Bis dahin hatten sich die Bauern den Ansprüchen der Herrschaft<br />
verhältnismäßig leicht entziehen können, da nur ungenaue Abgabenregister bestanden<br />
und die bäuerlichen Besitzverhältnisse kaum kontrolliert wurden. Aufgrund der im<br />
16. Jahrhundert begonnenen Anfertigung von Registern (Erbregister, Lagerbücher)<br />
hatten die landesherrlichen Beamten nun <strong>eine</strong>n hinreichend genauen Überblick und<br />
konnten so etwa Besitzveränderungen durch Verkäufe oder Verpfändungen leichter<br />
feststellen. 273<br />
Hinzu kam der im 16. Jahrhundert energisch betriebene Ausbau der<br />
Rentkammerverwaltung und die damit verbundene Vergrößerung der landesherrlichen<br />
Vorwere. 274 Dadurch wurden die Bauern nicht nur zu Steuerleistungen heran gezogen,<br />
267 10.10.1601: Chur-Braunschweigisch-Lüneburgische Landesverordnungen und Gesetze. Caput<br />
VIII: Land-Tages-Abscheide und Reglement Landtschafftlicher Wahlen, zum Gebrauch der<br />
Fürstentümer, Graf- und Herrschaften Calenbergischen Theils, Göttingen 1740.<br />
268 Diese Darstellung verkürzt bewusst die komplexere Entwicklung zum modernen Staat,<br />
denn die Landstände und damit auch die Feudalherren, waren auch in Niedersachsen bis<br />
zum 17. Jahrhundert entscheidend an dieser Entwicklung beteiligt.<br />
269 Etwa WEHLER (1987), 72.<br />
270 Dazu jetzt als knapper Überblick mit Bibliographie BUCHHOLZ (1996), hier insbes. 59-64.<br />
271 KRÜGER (1980), XX, ACHILLES (1972a), XX.<br />
272 Diese Kontrolle erfolgte aber nicht lückenlos: SCHLUMBOHM (1997); neuerdings und stärker<br />
differenzierend: HÄRTER (2002).<br />
273 RICHTER (1979), KROESCHELL (1974).<br />
274 Für Braunschweig: KRASCHEWSKI (1978), 45-50. Siehe auch HAHN (1989), neuester<br />
Überblick zur Entwicklung der Landstände im 16. Jahrhundert: SCHUBERT (1991).<br />
61
sondern ebenfalls für Arbeitsleistungen auf den Domänen. 275 Damit gliederte sich die<br />
Landesherrschaft in den allgem<strong>eine</strong>n Prozess zur Ausdehnung des Gutsbetriebs ein,<br />
bzw. übernimmt geradezu <strong>eine</strong> Führungsposition. Die Festlegung der Dienste und<br />
deren Organisation stellte im 16. Jahrhundert <strong>eine</strong> erhebliche Leistung dar, die auch<br />
dazu führte, dass die untere Verwaltungsebene der Ämter stärker an die Rentkammer<br />
gebunden wurde. 276<br />
Parallel dazu wurden steuerähnliche Leistungen in Zusammenarbeit mit den<br />
Landständen eingeführt und systematisch ausgebaut; nach der Kontribution als<br />
Grundsteuer wurde in Hannover 1686 der Licent als Verbrauchssteuer eingeführt. 277<br />
Nach anfänglichen Problemen kam mit der revidierten Licentordnung von 1690 der<br />
große Erfolg; im gleichen Jahr erbrachte die neue Steuer <strong>eine</strong>n Ertrag von<br />
250.000 Rtlr., die in erster Linie aus der Besteuerung von Mehl, Brot, Fleisch und Bier<br />
resultierten. Ein Überblick der gesamten steuerlichen Belastung des Landes ist<br />
aufgrund der unterschiedlichen Kassen nicht einfach, dennoch ist unverkennbar, dass<br />
die steuerlichen Einnahmen und die Rentkammereinkünfte in Kombination mit den<br />
Bergwerkseinkünften von zentraler Bedeutung für den Staatshaushalt waren. 278 Mit all<br />
diesen Maßnahmen gelang es, die Staatsfinanzen auf <strong>eine</strong> breitere Grundlage zu stellen,<br />
ohne dass dabei die Kammereinnahmen vernachlässigt wurden.<br />
Schriftenreihe: Veröffentlichungen der Historischen Kommission für<br />
Niedersachsen und Bremen ; 18<br />
Ähnlich wie in Calenberg/Hannover sah es um 1750 im Herzogtum Braunschweig<br />
aus, wo von 941.000 Rtlr. Gesamteinnahmen immerhin 412.000 Rtlr. aus der Kammer-<br />
und Klosterkammer bzw. aus deren Grundbesitz stammten. 279<br />
Auch in diesem Bereich bewirkten die landesherrlichen Aktivitäten ein<br />
Zurückdrängen der konkurrierenden grundherrlichen Gewalten, ohne dabei die<br />
Grundherrschaft in Frage zu stellen. 280 Mit der zunehmenden Durchsetzung<br />
„absolutistischer” Tendenzen im 17. Jahrhundert verstärkte sich diese Tendenz noch<br />
weiter. 281<br />
Die hier skizzierten Vorgänge blieben nicht auf Nordwestdeutschland beschränkt.<br />
Der Weg, die Domäneneinnahmen systematisch auszubauen, kennzeichnet besonders<br />
das 16. Jahrhundert. Hierfür ist in der Forschung der Begriff des „Finanzstaates”<br />
eingeführt worden. 282 In Deutschland blieben die Domäneneinnahmen bis in das<br />
19. Jahrhundert von zentraler Bedeutung für die Staatseinnahmen. 283 Insofern kann<br />
kaum von <strong>eine</strong>r Übergangslösung zwischen Domänen- und Steuerstaat gesprochen<br />
275 SOMMER (1983), 96-98.<br />
276 KRASCHEWSKI (1978), 51, Anm. 175: undat. Ausschreiben an alle Ämter, den Herrendienst<br />
richtig abzurechnen.<br />
277 SPITTLER, WÄCHTER (1835), II, 341-345; SCHNATH (1938), I, 319-324. Winnige, Kontribution,<br />
60 f und 67 f.<br />
278 Zahlen bei SCHNATH (1938), I, 326 f. Einen knappen Überblick enthält KALTHOFF, ROHR<br />
(1983), 29-32.<br />
279 ACHILLES (1972b), 149, Tab. 11.<br />
280 WITTICH (1896), XX.<br />
281 Zur Entwicklung in Braunschweig jetzt zusammenfassend: RÖMER (2000), insbes. S. 551 ff.<br />
282 KRÜGER (1980), kritisch dazu REINHARD (1996), 280 f.<br />
283 Zu den Versuchen Steins, die Domänen zu verkaufen siehe SCHEEL, SCHMIDT (1967), etwa<br />
II, Nr. 547, 618 f oder I, Nr. 89, 297; siehe auch BUCHHOLZ (1996), 59.<br />
62
werden. 284 Nicht der Übergang von naturalen und domanialen Einnahmen zu solchen<br />
monetärer und steuerlicher Art kennzeichnen die Entwicklung zwischen dem 16. und<br />
dem 18. Jahrhundert, sondern die zunehmende Erfassung sämtlicher Leistungen durch<br />
den Staat. Kersten Krüger schreibt zu den Auswirkungen der territorialen Politik in<br />
dieser Jahrhundert:<br />
„Sie [die Politik] macht sich geltend als <strong>eine</strong> von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zunehmende Erfassung der<br />
grundherrlichen und gerichtsherrlichen Einnahmequellen, als stetig anwachsende Anspannung der<br />
Leistungen für den Staat …“ 285<br />
Schon Werner Wittich hat auf die durchaus erkennbaren Entwicklungsprozesse der<br />
nordwestdeutschen Agrarverfassung hingewiesen. Anfang des 18. Jahrhunderts musste<br />
der Staat eingreifen, um Versuche der Grundherren, Zinserhöhungen durchzusetzen,<br />
zu verhindern. 286 Andererseits erhielten die Grundherren in Calenberg ab 1719 wieder<br />
erweiterte Verfügungsrechte über ihre Bauernhöfe. Auflösungstendenzen gab es<br />
besonders in den den Grafschaften Hoya-Diepholz und dem Herzogtum Bremen-<br />
Verden, wo reiche, mit Diensten und Abgaben nicht übermäßig belastete Bauern sich<br />
zunehmend von ihren Gutsherren freikauften. 287 Eine 1766 erlassene Verordnung<br />
blockierte <strong>eine</strong> weitere Lösung der Höfe aus der Grundherrschaft und schrieb die<br />
bisherigen Eingriffs- und Kontrollrechte fest. 288 Die Auflösungstendenzen im Stift<br />
Verden gingen immerhin so weit, dass Bauern sogar ganze Güter aufkauften. 289<br />
In ihrem regionalen und territorialen Wechselspiel glich die nordwestdeutsche<br />
Agrarverfassung <strong>eine</strong>m zeitlich wie räumlich variierendem Muster. Hervorzuheben ist<br />
die Trennung in westlich der Weser gelegene Gebiete mit Eigenbehörigkeit und in<br />
östliche ohne persönliche Abhängigkeitsbeziehungen. 290 Zusammenfassend lassen sich<br />
folgende Elemente der „nordwestdeutschen Agrarverfassung” benennen:<br />
• die Vielzahl der feudalen Herrschaftsrechte über die Bauern,<br />
• die Aufteilung dieser Rechte auf mehrere Personen bzw. Einrichtungen,<br />
• die relative Sicherheit der Bauern vor willkürlichen Eingriffen der einzelnen<br />
Herrschaftsträger,<br />
• der geringe Grad der Verfügungsgewalt, den die Bauern über „ihren” Boden hatten,<br />
• die dominierende Stellung der Landesherrschaft.<br />
284 BUCHHOLZ (1996), 17.<br />
285 KRÜGER (1980), 45.<br />
286 WITTICH (1896), 409 f.<br />
287 WITTICH (1896), 411 f; HESSE (1900), 133.<br />
288 WITTICH (1896), 412; HESSE (1900), 116f.<br />
289 HESSE (1900), 133.<br />
290 Weitgehend, aber nicht völlig: siehe die Beispiele Schaumburg-Lippe und Stift Loccum<br />
EGGERS (1994).<br />
63
3. Ökonomische Folg en bäuerlicher Abhängigkeit<br />
Nachdem die ältere agrargeschichtliche Forschung sich auf die Untersuchung<br />
rechtlicher Fragen konzentrierte und nur ansatzweise die soziale und ökonomische<br />
Dimension bäuerlicher Abhängigkeit untersuchte 291 , erfolgte in den 1960er Jahren unter<br />
dem Einfluss der Untersuchungen von Wilhelm Abel ein entscheidender Neuansatz.<br />
Abels Hinwendung zur Wirtschafts- und Konjunkturgeschichte, eingeleitet mit s<strong>eine</strong>n<br />
„Agrarkrisen und Agrarkonjunkturen” 292 , förderte <strong>eine</strong> Reihe von Untersuchungen zur<br />
ökonomischen Situation bäuerlicher Betriebe. 293<br />
Feudale und staatliche Abhängigkeit äußerte sich in <strong>eine</strong>r Vielzahl von Leistungen<br />
an die unterschiedlichsten Empfänger aus. Diese für Gebiete mit Grundherrschaft, also<br />
auch für Niedersachsen, typische Aufsplitterung erschwert nicht nur uns Heutigen den<br />
Überblick, sondern bereitete auch schon den Zeitgenossen Mühe. Besonders adelige<br />
Herren mit wenigen, über ein großes Gebiet verstreut wohnenden abhängigen Bauern<br />
hatten lediglich beschränkte Kontrollmöglichkeiten. 294 Eine teure Verwaltung mit der<br />
regelmäßigen Führung von registerförmigen Daten zur Erfassung der Abhängigen kam<br />
oft nicht in Frage. Die Bauern hatten in diesen Fällen die Möglichkeit, sich einzelnen<br />
Abgaben wie dem Weinkauf zu entziehen.<br />
Anders sah es dort aus, wo sich mehrere Rechte in <strong>eine</strong>r Hand befanden oder der<br />
jeweilige Herr viele abhängige Bauern hatte und über <strong>eine</strong> gut arbeitende Verwaltung<br />
verfügte. Dazu gehörten neben den einzelnen Landesherren besonders die Klöster.<br />
Hatten sie zudem die Gerichtsherrschaft über die abhängigen Höfe inne, so konnten<br />
sie ihre Rechte an diesen durchsetzen. 295<br />
Das große Interesse der Feudalherren an der Sicherung ihrer Einnahmen führte<br />
dazu, dass sie vergleichsweise gut Buch führten, so dass wir über diesen Bereich gut<br />
informiert sind. Schwieriger, beinahe unmöglich ist es, <strong>eine</strong> betriebswirtschaftliche<br />
Gesamtrechnung zu erstellen, die auch die Einnahmen und die Betriebsausgaben<br />
erfasst. 296 Hierzu fehlen uns viele wichtige Informationen; lediglich einige ausgewählte<br />
Höfe können relativ genau berechnet werden. Verallgem<strong>eine</strong>rn lassen sich solche Daten<br />
aber kaum, zu groß waren die Unterschiede hinsichtlich Hofgröße, Landgüte und<br />
Abgaben. Außerdem schwankten die Ernteerträge von Jahr zu Jahr viel stärker als<br />
heute. Da es k<strong>eine</strong> Buchführung gab, fehlen viele Informationen über Einnahmen und<br />
Ausgaben der Höfe.<br />
Achilles, der 71 hannoversche Betriebe untersuchte, von denen es ausführliche<br />
zeitgenössische Ertragsanschläge gibt, schreibt dazu: „Schon die einfache Frage,<br />
291 Ein gutes Beispiel bieten hierfür die Arbeiten von Friedrich Lütge, etwa s<strong>eine</strong><br />
Agrarverfassung. LÜTGE (1967)<br />
292 ABEL (1978b).<br />
293 Dies gilt auch für den europäischen Vergleich. Siehe etwa BÉAUR (1999), insbes. S. 136 f,<br />
sowie insgesamt der zitierte Band. Béaur fragt gleich zu Beginn, weshalb die Produktivität<br />
der Landwirtschaft so lange ein so geringes Interesse gefunden hat.<br />
294 Ein kl<strong>eine</strong>s Beispiel für die Probleme der Grundherren, ihre Herrschaftsansprüche<br />
durchzusetzen, bietet SCHNEIDER (1989)<br />
295 Beispiel dafür BOETTICHER (1989).<br />
296 Neuere knappe Zusammenfassung bei ACHILLES (1972a) , S. 28-35. Siehe außerdem<br />
ACHILLES (1982), passim. Einzelstudien für Niedersachsen stammen von BREMEN (1971),<br />
RISTO (1964), ACHILLES (1982); zusammenfassend ABEL (1978a), 253-257.<br />
64
welchen Umfang die Dienste hatten und ob sie <strong>eine</strong> drückende Lasten waren, ist<br />
höchstens für den Einzelfall, nicht aber für alle 71 Betriebe zu beantworten.“ 297<br />
Wir sind also auf mehr oder weniger genaue Schätzungen angewiesen. Bei den von<br />
Achilles untersuchten Betrieben im Fürstentum Calenberg schwankte der in Geld<br />
berechnete Anteil der einzelnen Lasten an dem Rohertrag der Höfe zwischen 25 und<br />
30 %, während er im damals noch zu Hannover gehörenden Herzogtum Lauenburg<br />
mit 10 % extrem niedrig lag. 298 Eine Übersicht weiterer Einzel- und<br />
Reihenuntersuchungen kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Belastung durch Steuern<br />
und Abgaben zwischen weniger als 10 % im Jeverland und nahezu 40 % im mittleren<br />
Niedersachsen bewegte, woraus sich mit aller Vorsicht schließen ließe, dass in den<br />
Gebieten mit ausgeprägterer Grundherrschaft etwa 20 <strong>–</strong> 30 % der Roheinnahmen für<br />
feudale und staatliche Abgaben zu entrichten waren. 299<br />
Von dem Rohertrag gingen aber nicht nur die feudalen und staatlichen Lasten ab,<br />
sondern das Saatkorn, die Naturalentnahmen und Betriebsausgaben sowie Lohn oder<br />
Reparaturkosten. Unter Berücksichtigung dieser Posten lassen sich zwei Feststellungen<br />
treffen. Zum <strong>eine</strong>n waren die Einkommensunterschiede zwischen den großen und den<br />
kl<strong>eine</strong>n Betrieben im Vergleich zu heute eher gering, reiche Bauern bildeten die<br />
Ausnahme. Andererseits hatten viele Höfe teils erhebliche Schulden, die sich zum Teil<br />
daraus ergaben, dass die normalen Ausgaben höher als die Einnahmen waren. So<br />
hatten die von Ulrich Risto untersuchten Höfe der Vogtei Soltau <strong>eine</strong>n<br />
durchschnittlichen Zuschussbedarf von 21 % des Roheinkommens. 300 Solche Werte<br />
werden zwar durch andere Untersuchungen nicht bestätigt, jedoch ist es unzweifelhaft,<br />
dass Schulden ein durchaus normales Phänomen der frühneuzeitlichen Landwirtschaft<br />
waren. 301<br />
Es gab Schulden infolge <strong>eine</strong>s grundsätzlichen Mißverhältnisses zwischen<br />
Einnahmen und Ausgaben, weil letztere zu hoch oder erstere zu niedrig waren.<br />
Aufgrund der Bindung der Dienste an die Betriebsgröße litten speziell kl<strong>eine</strong> Betriebe<br />
<strong>eine</strong>r Hofklasse unter der Dienstlast. 302 Außerdem dürfte auch schon in der<br />
vorindustriellen Landwirtschaft die betriebswirtschaftliche Eignung der<br />
Betriebsinhaber nicht nur von unterschiedlicher Qualität, sondern auch von Bedeutung<br />
für die finanzielle Situation der Betriebe gewesen sein, was sich in den zeitgenössischen<br />
Quellen beispielsweise in Klagen über die „Trunksucht” der Bauern niederschlägt. 303<br />
Hinzu kamen weitere Faktoren wie Schulden infolge <strong>eine</strong>s zu hohen Brautschatzes<br />
oder durch Freikauf. 304 Konjunkturelle Entwicklungen dürfen vor allem im<br />
18. Jahrhundert nicht unterschätzt werden, da zumindest große Betriebe in<br />
zunehmenden Maße in Marktverflechtungen eingebunden wurden. 305 Für<br />
marktorientierte Betriebe erwiesen sich zudem die unzureichenden<br />
297 ACHILLES (1982), 117.<br />
298 ACHILLES (1982).<br />
299 Übersicht bei ABEL (1978a), 254.<br />
300 ABEL (1978a), 254; RISTO (1964)Risto, Abgaben.<br />
301 PRÖVE (1929), 23; GAGLIARDO (1969), 45-49; WINKLER (1959), 71-84; HIRSCHFELDER (1971),<br />
179-181; HENNING (1964); SCHNEIDER (1982).<br />
302 Ein Beispiel bei RASMUSSEN (1989), 79 f.<br />
303 Ebd., 64.<br />
304 Der Halbmeier Hartmann Bergdorf Nr. 1 in Schaumburg-Lippe kaufte sich 1772 von der<br />
Eigenbehörigkeit frei und mußte anschließend mit 1576 Rtlr. Schulden in die Äußerung.<br />
STAB L 3 Mc 75 f, Bericht Amt Bückeburg vom 30.6.1814.<br />
305 ACHILLES (1982).<br />
65
Kreditmöglichkeiten als Hemmschuh. Eine Verschuldung bäuerlicher Betriebe dürfte<br />
demnach nicht allein Ausdruck zu hoher Feudalquoten bzw. Steuerlasten gewesen sein.<br />
Wenn Betriebe in Relation zu ihrer Klasseneinteilung zu klein wurden, konnte das<br />
auch daran liegen, dass sie Land durch Verpfänden verloren hatten. Zwar war dies nach<br />
dem Meierrecht verboten, aber vor der <strong>Einführung</strong> der ersten Vermessungen kaum zu<br />
kontrollieren. Eine 1712 vorgenommene Erhebung in 14 Dörfern des Weserberglandes<br />
ergab, dass durchschnittlich fast 7 % des Landes versetzt waren, wobei die Werte in<br />
einzelnen Dörfern bis auf 20 % ansteigen konnten. Solche extremen Werte gab es in<br />
Orten mit <strong>eine</strong>r hohen Bevölkerungsdichte, <strong>eine</strong>m großen Anteil an Kötnern,<br />
erheblichen Flurerweiterungen seit dem 16. Jahrhundert und <strong>eine</strong>r starken<br />
Gemengelage des Ackerlandes. 306 In Verden sch<strong>eine</strong>n die Meier die Höfe als ihr<br />
Eigentum betrachtet und deshalb eigenständig Land versetzt oder verpfändet zu haben.<br />
1624 wurden zur Verhinderung unkontrollierter Landverkäufe angelegt. 307 Hinweise<br />
auf Versetzen von Landstücken gibt es auch aus dem Fürstentum Lüneburg. 308<br />
Es fehlte nicht an Versuchen, der problematischen, schon im 16. Jahrhundert<br />
erkennbaren Verschuldungstendenz zu begegnen; neben <strong>eine</strong>r verstärkten staatlichen<br />
Aufsicht sind spezielle Entschuldungsverfahren zu nennen, wie das schaumburglippische<br />
Äußerungsverfahren. 309 Das schaumburg-lippische Verfahren beispielsweise<br />
sicherte zwar der Familie des Bauern den Hofbesitz, führte aber ansonsten zu<br />
erheblichen Einbußen in der Lebensführung.<br />
306 MARTEN (1965), 121, 123.<br />
307 HESSE (1900), 65 f.<<br />
308 PRÖVE (1929), 23, der vom Versetzen von Land in geringem Umfang berichtet.<br />
309 SCHNEIDER (1982); ähnlich war das hoyaische Administrationsverfahren; RÖPKE (1924), 75-<br />
79.<br />
66
IV. Agrarreformen als sozialer Prozess<br />
1. Reformkonzepte<br />
„Die Landwirtschaft ist ein Gewerbe, welches zum Zweck hat, durch Produktion vegetabilischer<br />
und tierischer Substanzen Gewinn zu erzeugen oder Geld zu erwerben. Je höher dieser Gewinn<br />
nachhaltig ist, desto vollständiger wird dieser Zweck erfüllt. Die vollkommenste Landwirtschaft ist<br />
also die, welche den möglich höchsten, nachhaltigen Gewinn, nach Verhältnis des Vermögens, der<br />
Kräfte und Umstände aus ihrem Betriebe zieht.” 1<br />
Diese vielzitierten Sätze Albrechts Thaers aus dem Jahre 1809 werden allgemein als<br />
Beleg für die Modernisierungsansätze des 18. Jahrhunderts genommen, obwohl sie<br />
dem frühen 19. Jahrhundert entstammen. Gleichwohl sind sie als Ausdruck<br />
gewandelter Vorstellungen auch für das 18. Jahrhundert von Bedeutung, verweisen sie<br />
doch darauf, dass ohne <strong>eine</strong> grundsätzliche Neubewertung agrarischer Tätigkeit das<br />
Problem der geringen Produktivität nicht gelöst werden konnte. 2 Wie groß der Schritt<br />
war, den Thaer hier für Deutschland formulierte, wird erkennbar, wenn man zum<br />
Vergleich <strong>eine</strong> Quelle über die Situation der kurhannoverschen Landwirtschaft aus dem<br />
Jahre 1766 heranzieht, die im Auftrag des Königs Informationen den „wahren<br />
Zustand, fernern Erwerb und hingegen s<strong>eine</strong> Ausgaben und Abgiften“ hannoverscher<br />
Landwirte erfassen sollte. 3 Hinter diesen Sätzen verbarg sich etwas anderes als <strong>eine</strong><br />
Gewinnerwartung. Vielmehr wollte der König „wissen, ob die Bauernhöfe in der Lage<br />
waren, ihren Bewirtschaftern <strong>eine</strong>n standesgemäßen Lebensunterhalt zu gewähren und<br />
den Berechtigten, wozu auch er [=der König] gehörte, ihre ‚Abgiften’ zu sichern“. 4<br />
Der Vergleich dieser beiden Aussagen zeigt den zwischen 1766 und 1809 erfolgten<br />
Wandel, wobei davon auszugehen ist, dass die Thaer‘sche Bewertung nur langsam <strong>eine</strong><br />
größere Verbreitung unter den Landwirten fand. Insofern hatten die ersten Sätze der<br />
„Grundsätze der rationellen Landwirtschaft” vornehmlich programmatischen<br />
Charakter. Dass Thaer weder ständische Schranken oder Vorrechte noch<br />
patriarchalische Beziehungen zwischen Bauern und Gutsherren akzeptieren wollte,<br />
wies ebenfalls in das 19. Jahrhundert. Das Werk richtete sich weniger an abhängige<br />
Bauern, sondern an bürgerliche oder adelige Bewirtschafter von großen Gutsbetrieben;<br />
insofern unterschied es sich wesentlich von Reformbemühungen, die nicht den<br />
Grundherren, sondern den abhängigen Bauern zu <strong>eine</strong>r modernen<br />
Landbewirtschaftung anregen wollten.<br />
Es war ein weiter Weg, bis solche Sätze niedergeschrieben werden konnten. Zwar<br />
gab es schon seit dem 16. Jahrhundert <strong>eine</strong> beachtliche Fülle von Schriften, die<br />
praktische Hinweise zur bäuerlichen Wirtschaftsführung enthielten („Hausväterliteratur”),<br />
jedoch waren sie nicht nach wissenschaftlichen Kriterien geschrieben.<br />
Erst mit der Einrichtung kameralistischer Lehrstühle an den Universitäten des<br />
1 THAER (1880), 3. Zu Thaer jetzt: PANNE (2002).<br />
2 Allgemein: [=49 - Abel 1978 Geschichte der deuts...=, FRAUENDORFER (1963); CONRADY<br />
(1967); MITTELHÄUSSER (1977), bes. 371-375. Es gibt inzwischen <strong>eine</strong> breite internationale<br />
Literatur zum Aspekt von Agrarreformen und den Begriff der „Agrarrevolution“; siehe<br />
etwa .<br />
3 ACHILLES (1982), 4.<br />
4 ACHILLES (1982), 7.<br />
67
18. Jahrhunderts, wie z.B. 1755 in Göttingen, änderte sich das. 5 Die nun einsetzende<br />
systematische theoretische Auseinandersetzung mit der Landwirtschaft zielte vor allem<br />
auf <strong>eine</strong> Hebung der Einkünfte des eigenen Staates und klammerte damit Aspekte des<br />
internationalen Handels weitgehend aus. 6 Die Landwirtschaft spielte allein deshalb in<br />
der Arbeit bedeutender Kameralisten <strong>eine</strong> zentrale Rolle, weil sie der wichtigste<br />
ökonomische Bereich der Volkswirtschaft war. Die Analyse der Kameralisten legte <strong>eine</strong><br />
Reihe von Schwachstellen der agrarischen Wirtschaft bloß. Bemängelt wurden die<br />
mangelnde Effektivität, die unzureichende Bodenbearbeitung, die unzureichend<br />
eingeführte Fruchtwechselwirtschaft, die genossenschaftlichen Nutzungsrechte und die<br />
naturalen Belastungen der abhängigen bäuerlichen Betriebe. J. H. G. von Justi nannte<br />
folgende Problembereiche:<br />
• <strong>eine</strong> zu enge Siedlungsweise, weshalb er <strong>eine</strong> Auflockerung der Dörfer bzw.<br />
Aussiedlung der Höfe forderte,<br />
• zu schmale und zu lange Ackerstreifen,<br />
• die gemeinschaftlichen Weiderechte auf Brach- und Stoppelfelder, die aufgehoben<br />
und statt dessen Gemeinheitsteilungen und Verkoppelungen durchgeführt werden<br />
sollten,<br />
• <strong>eine</strong> teilweise übermäßige Größe von Rittergütern (und teilweise auch von<br />
Bauerngütern),<br />
• die feudale Abhängigkeit der Bauern, insbesondere die Dienstpflicht,<br />
• <strong>eine</strong> schlechte Wirtschaftsführung seitens der Bauern. 7<br />
Die Bedeutung der Kameralisten bestand aber nicht allein darin, Mängel aufzulisten<br />
und Verbesserungsvorschläge zu erstellen, sondern in ihrer Vermittlungsfunktion als<br />
akademische Lehrer und Autoren wichtiger kameralistischer Werke. 8 Die Adressaten<br />
ihrer Arbeiten waren nicht die Bauern, sondern Beamte, Gutsbesitzer, Pastoren und<br />
Lehrer. Allein ihnen wurde <strong>eine</strong> modernisierende Funktion innerhalb der<br />
frühneuzeitlichen Landwirtschaft zugewiesen, woran sich bis in das 20. Jahrhundert nur<br />
wenig änderte. 9<br />
1. Refor m der Landwir tschaft<br />
Nicht so sehr die einzelnen Reformmaßnahmen selbst, sondern <strong>eine</strong> grundsätzliche<br />
und intensive Beschäftigung mit der Landwirtschaft war das Kennzeichen des<br />
18. Jahrhunderts. Sie blieb nicht allein auf die Universitäten beschränkt, sondern<br />
erfasste weite Bevölkerungsgruppen. Wichtige Mittler zwischen Wissenschaft und<br />
Öffentlichkeit waren die seit der Mitte des Jahrhunderts überall gegründeten<br />
5 Einen knappen ideengeschichtlichen Einblick bietet FRAUENDORFER (1963), 116-126 zu der<br />
Hausväterliteratur und 126-141 zu den Kameralisten. Siehe auch DITTRICH (1974) , 35-122.<br />
6<br />
FRAUENDORFER (1963), 126-141; GAGLIARDO (1969), 37 f.<br />
7 Justi, Abhandlung von denen Hindernissen <strong>eine</strong>r blühenden Landwirtschaft, hier nach<br />
ABEL (1978a), 282.<br />
8 Die Aufstellung kameralistischer Schriften bei DITTRICH (1974), 125-145 ist leider<br />
unvollständig. Einen immer noch brauchbaren Überblick bietet ABEL (1978a), 280-289, der<br />
den Durchbruch zur wissenschaftlichen Landbauwissenschaft auf die Jahre 1727 und 1753<br />
bis 1759 legt (ebd., S. 281). Siehe auch die älteren Darstellungen von Zielenziger,<br />
Kameralisten und TAUTSCHER (1947). Einen Überblick zur niedersächsischen<br />
Landwirtschaft bietet ACHILLES (1987), außerdem ACHILLES (1987).<br />
9<br />
ACHILLES (1994).<br />
68
Landwirtschaftsgesellschaften, von denen die Celler (1764), deren berühmtestes<br />
Mitglied Albrecht Thaer war, besondere Bedeutung erlangte. Mitglieder der<br />
Gesellschaften waren aber nicht die abhängigen Bauern, sondern neben den<br />
Wissenschaftlern vorrangig Beamte, Adlige und Bürgerliche, unter diesen wiederum<br />
viele Lehrer und Pastoren. 10<br />
Broschüren, Zeitschriften, Bücher und Kalender dienten der Verbreitung neuer<br />
Erkenntnisse. Bauernkalender wandten sich speziell an bäuerliche Leser. Eine der<br />
bekanntesten Schriften für die ländliche Bevölkerung war das „Noth- und<br />
Hülfsbüchlein für Bauersleute oder lehrreiche Freuden- und Trauer-Geschichte des<br />
Dorfes Mildheim“ des Gothaer Verlegers und Publizisten Rudolph Zacharias Becker,<br />
dessen Erstausgabe 1788 erschien. In der Rahmenhandlung, den Freuden- und<br />
Trauergeschichten des Dorfes Mildheim, wurden der Landbevölkerung nicht nur<br />
Lehren über den richtigen Umgang mit der Obrigkeit erteilt, sondern sie wurde auch<br />
belehrt, dass Menschen erst dann beerdigt werden sollten, wenn ihr Tod einwandfrei<br />
sichergestellt war. Sie erfuhren, wie sie Brot richtig backen konnten, wie „<strong>eine</strong><br />
geschickte, reinliche und ordentliche Hausfrau viel dazu hilft, dass ihre Leute gesund<br />
bleiben und ein hohes Alter erlangen“ 11 , oder wie „bei <strong>eine</strong>r ungeschickten, säuischen<br />
und unordentlichen Hausfrau immer alles kränkelt und elend ist“. Im zweiten Teil des<br />
Buches wurden Hilfen zu <strong>eine</strong>r verbesserten Landwirtschaft gegeben und das Vorbild<br />
des Schweizer Bauern Kleinjogg gepriesen. 12 Schließlich folgten im dritten Teil Tips für<br />
Notfälle wie das Verhalten bei Bissen von tollwütigen Hunden oder „vom Behexen,<br />
Zaubern und Vergiften“.<br />
Lehrer und Pastoren versuchten durch praktische Vorführungen und theoretische<br />
Erläuterungen die Bauern zur Übernahme neuer Landbaumethoden zu bewegen.<br />
Zurück hielten sich dagegen die Reformer, wenn es um die herrschaftliche<br />
Abhängigkeit ging. Nur wenige Radikale brachten dieses Thema zu Sprache. 13 Die<br />
übrigen befürchteten offenbar, dass <strong>eine</strong> Diskussion bäuerlicher Unfreiheit bald in <strong>eine</strong><br />
grundsätzliche Kritik der damaligen politischen Zustände einmünden würde. 14 Mit dem<br />
Ausbruch der Französischen Revolution und ihrem Übergreifen in das linksrheinische<br />
Deutschland erhielten Reformen in diesem Bereich <strong>eine</strong> zusätzliche Brisanz. 15 Die<br />
Angst der Herrschenden vor bäuerlichem Widerstand war vielleicht nicht so<br />
unbegründet, denn besonders in den reichen Regionen setzten sich die Bauern schon<br />
früh mit der Französischen Revolution auseinander: „Es scheint … die … These<br />
angebracht zu sein, dass wie k<strong>eine</strong> voraufgegangene politisch-geistige Umwälzung …<br />
10 Zur Gründung der Gesellschaft siehe DEIKE, DEIKE (1994) , außerdem enthalten die<br />
Festschriften der Gesellschaft wichtige Informationen (insbesondere Königliche<br />
Landwirtschaftsgesellschaft (1864), hier ; ebenfalls , 15-44). Die meisten Mitglieder der<br />
Gesellschaft stammten aus dem nordöstlichen und mittleren Niedersachsen; PRASS (1997b),<br />
60.<br />
11 BECKER (1980 = 1788), Nr. 19, 155-160.<br />
12 „Die Wirthschaft <strong>eine</strong>s philosophischen Bauers.“ Entworfen von H. E. Hirzel, M.D. und Stadtarzt<br />
in Zürich. Neue und vermehrte Auflage Zürich 1774. Ein gekürzter Nachdruck ist 1980 in<br />
Zürich erschienen.<br />
13 Ein Beispiel dafür bietet die Schrift von MÜNCHHAUSEN (1793), etwa 26: „Tausend Jahre<br />
Unrecht macht k<strong>eine</strong> Stunde recht.“ Münchhausen war u.a. „Chur-Hannöverischer Justizrat und<br />
Hofgerichtsassessor“, so im Titel des Buches.<br />
14 Dazu SCHREINER (1983).<br />
15 MÖLLER (1989), 528-531; WEIS (1982), 201-204. Für Süddeutschland Beispiele SCHEEL (1980), etwa<br />
90.<br />
69
die Französische Revolution und ihre Folgen die Gemüter in Stadt und Land zutiefst<br />
bewegt haben: Wie anders ist es zu erklären, dass auf den Höfen der Bauer dieser Zeit<br />
viele Bücher über Frankreich, s<strong>eine</strong> Politik, sein neues Recht und s<strong>eine</strong> neue Freiheit<br />
gekauft hat, wenn es ihn nicht persönlich getroffen hätte?“ 16<br />
Die Übernahme neuer Fruchtfolgen oder Anbaumethoden erfolgte k<strong>eine</strong>swegs<br />
linear, wie die von Otto Ulbricht untersuchte <strong>Einführung</strong> des Rotklees belegt. 17 Klee<br />
war zwar in Deutschland seit langem bekannt, wurde aber bis zur Mitte des<br />
18. Jahrhunderts nur in geringem Umfang eingesetzt. Die Tatsache, dass schon vor der<br />
Jahrhundertwende Hoyaische Bauern Rotklee säten, zeigt jedoch, „dass unter gewissen<br />
Umständen die von den Zeitgenossen wie von der modernen Diffusionsforschung<br />
behauptete Neuerungsfeindlichkeit dieser Gruppe zurücktreten konnte” 18 . Die weitere<br />
Verbreitung des Klees blieb allerdings weiterhin begrenzt, woran auch Rinderpest und<br />
Hungersnot Anfang der 1770er Jahren ihren Beitrag hatten, da der Klee im Gegensatz<br />
zur Kartoffel nicht direkt für die menschliche Ernährung genutzt werden konnte.<br />
Anfang der 1780er Jahre hatte sich der Kleeanbau dann zumindest im Calenbergischen<br />
durchgesetzt, und wurde von 1789 bis 1803 durch die unentgeltliche Abgabe von<br />
Kleesamen weiter gefördert. 19 Trotz zuletzt 48.000 Pfund verteilten Kleesamens gelang<br />
gleichwohl nur <strong>eine</strong> sehr langsame Übernahme, wofür Ulbricht vor allem das Problem<br />
der „over-adoption” verantwortlich macht: der Klee wurde zu sehr gepriesen, so dass<br />
Enttäuschungen bei wenig sachgerechtem Anbau nicht ausbleiben konnten. 20<br />
2. Die Celler Landwir tschaftsg esellschaft und die englische<br />
Landwir tschaft<br />
Besondere Beachtung verdienen die Aktivitäten der Cellischen<br />
Landwirtschaftgesellschaft und die Rolle der englischen Landwirtschaft für<br />
Reformansätze in Kurhannover. 21 Aufgabe der 1764 gegründeten Gesellschaft war es,<br />
„den Wohlstand Unserer Teutschen Lande durch Landwirthschaftliche Verbesserungen<br />
zu befordern, und zu dem Ende sowohl ihre eigenem dahin einschlagende Einsichten<br />
und Erfahrungen bekant zu machen als die von anderen gemachten Anmerckungen<br />
einzusammeln und zu verbreiten”. 22 Angesichts schon früherer Gründungen in<br />
Frankreich und Deutschland stellte diese Gesellschaft nichts grundsätzlich Neues dar,<br />
gehörte aber zu den frühen Gründungen in Deutschland. 23<br />
Die Landwirtschaftsgesellschaft war darum bemüht, systematischer Informationen<br />
über agrarische Innovationen zu verbreiten, wozu <strong>eine</strong> typisches Verfahren gewählt<br />
wurde: Preisschriften und Prämien für vorbildliche Landwirte. 24 Als Medium diente das<br />
16<br />
OTTENJANN (1984), 105.<br />
17<br />
ULBRICHT (1980), 279-297. Zu der langsamen <strong>Einführung</strong> des Klees auch PRASS (1997b), 81.<br />
18<br />
ULBRICHT (1980), 283.<br />
19<br />
ULBRICHT (1980), 290 f.<br />
20<br />
ULBRICHT (1980), 297. PRASS (1997b), 55, 81 f.<br />
21 Die folgende Darstellung bezieht sich in erster Linie auf ULBRICHT (1980); s.a. DEIKE,<br />
DEIKE (1994); Ulbrichts Arbeit stellt auch <strong>eine</strong> kritische Auseinandersetzung mit KROKER<br />
(1971), dar. Jetzt auch PANNE (2002).<br />
22 ULBRICHT (1980), 265.<br />
23 ABEL (1978a), 277; BLUM (1978), 287-292; DEIKE, DEIKE (1994), 19-52.<br />
24 PRASS (1997b), 53 f.<br />
70
Hannoversche Magazin, welches aber nur <strong>eine</strong> begrenzte Wirkung entfalten konnte,<br />
weshalb ab 1788 nur noch wenige Preisschriften ausgeschrieben wurden. 25 Statt dessen<br />
wurden andere Wege gewählt, wie die Verteilung von silbernen Medaillen und<br />
Bechern. 26 Hinzu kam die direkte Beratung der Bauern sowie die Versendung von<br />
Materialien etwa zur <strong>Einführung</strong> des Kleeanbaus. 27 Gering waren die Erfolge bei<br />
strukturellen Reformmaßnahmen wie der <strong>Einführung</strong> der Stallfütterung, da diese mit<br />
umfangreichen Investitionen und Betriebsumstellungen verbunden war, für die vielen<br />
Landwirten die Mittel fehlten. Stärkeres Engagement leistete die Gesellschaft bei den<br />
Gemeinheitsteilungen und Verkoppelungen. 28<br />
Otto Ulbricht hat sich mit der Frage auseinander gesetzt, ob die Celler Gesellschaft<br />
tatsächlich dazu diente, die englische Landwirtschaft in Hannover einzuführen. 29<br />
Offenbar geschah dies nur in geringem Maße, sondern es wurden vorrangig deutsche<br />
Entwicklungen beachtet. 30 Die hannoversche Gesellschaft nahm sogar insofern <strong>eine</strong><br />
Sonderrolle ein, als im Gegensatz zu anderen Landwirtschaftsgesellschaften k<strong>eine</strong><br />
besondere Vorliebe für England bestand: „Von Frankreich über Ungarn und Rußland<br />
bis nach Schweden herrschte die anglophile Haltung vor <strong>–</strong> nur in dem in Personalunion<br />
mit Großbritannien verbundenen Hannover nicht.“ 31 Belege für diese Aussage finden<br />
sich in den Schriften wichtiger Kameralisten wie Otto Fr. v. Münchhausens<br />
„Hausvater” (1764-1773) oder den Arbeiten von Johann Beckmann, wobei letzterer<br />
sogar von <strong>eine</strong>m Innovationstransfer von Deutschland nach England ausging. 32<br />
Am Beispiel des Claus Brüggemann lassen sich zentrale Elemente und Probleme<br />
des Innovationstransfers zwischen England und Hannover nachvollziehen. 33 Der aus<br />
Lauenburg stammende Brüggemann wurde zwischen 1778 und 1782 vom bekannten<br />
englischen Landwirt Duckett in Petersham und Esher ausgebildet. Zu den vermittelten<br />
Lerninhalten gehörten hochintensiver Ackerbau, Einsatz neuer Geräte, Drillwirtschaft<br />
und die englische Schafzucht. Nach s<strong>eine</strong>r Rückkehr sollte Brüggemann die<br />
erworbenen Kenntnisse in der Lüneburger Heide anwenden. Er scheiterte jedoch und<br />
erfuhr seitdem heftige Kritik. Es spricht indes vieles dafür, dass nicht der Lauenburger<br />
Landwirt, sondern das gewählte Verfahren und das Verhalten der hannoverschen<br />
Behörden problematisch waren. Die Heidekultivierung ließ sich weder mit <strong>eine</strong>m<br />
einzelnen innovativen Landwirt, noch ohne großen finanziellen Aufwand erreichen.<br />
Zudem ist es fraglich, ob die vermittelten Methoden überhaupt auf die Lüneburger<br />
Heide anwendbar waren. Duckett, Brüggemanns englischer Lehrer, kannte die<br />
25<br />
PRASS (1997b), 54; auf <strong>eine</strong>r systematischen Auswertung des Magazins basieren die<br />
Darstellungen von Oberschelp: OBERSCHELP (1985), OBERSCHELP (1982); zum Magazin<br />
<strong>kurze</strong> Hinweise ebd., XIII-XIV. Noch immer relevant: Königliche<br />
Landwirtschaftsgesellschaft (1864), 1,<br />
26 Königliche Landwirtschaftsgesellschaft (1864)Prass, Reformprogramm, 54 f; ähnlich verfuhr man<br />
in Schaumburg-Lippe (Schneider, Verhältnisse, 145), wo allerdings Belohnung und<br />
Bestrafung sich ergänzen sollten.<br />
27<br />
PRASS (1997b), 55.<br />
28<br />
PRASS (1997b), 56 f.<br />
29<br />
ULBRICHT (1980)=1715 - Ulbricht 1980 Englische Landwirtsc...=], 268 f. Dazu hat vor <strong>kurze</strong>n<br />
Walter Achilles kritisch Stellung bezogen, ohne die grundlegende Argumentation von<br />
Ulbricht widerlegen zu können, ACHILLES (2001).<br />
30<br />
ULBRICHT (1980), 270.<br />
31<br />
ULBRICHT (1980), 206.<br />
32<br />
ULBRICHT (1980), 122.<br />
33<br />
ULBRICHT (1980), 233-241.<br />
71
Lüneburger Heide nicht und konnte s<strong>eine</strong>n Zögling nur unzureichend auf die<br />
gewünschte Aufgabe vorbereiten. Ein Scheitern Brüggemanns war damit gleichsam<br />
vorprogrammiert.<br />
Blicken wir auf Albrecht Thaer. 34 Thaer wurde am 14. 5. 1752 in Celle geboren,<br />
studierte von 1770 bis 1774 in Göttingen Medizin, wurde 1784 Mitglied der<br />
Landwirtschaftsgesellschaft in Celle und kaufte dort ein 36 ha großes Anwesen, das er<br />
zum Musterbetrieb ausbaute. Er begründete s<strong>eine</strong>n Ruhm und s<strong>eine</strong> große Wirkung<br />
mit den zwischen 1798 und 1804 erschienenen Beiträgen zur Kenntnis der englischen<br />
Landwirtschaft. 35 Zur gleichen Zeit (1799 bis 1804) publizierte er zudem s<strong>eine</strong><br />
„Annalen der niedersächsischen Landwirtschaft“. 1804 ging er nach Preußen, wo er<br />
1806 in Möglin ein landwirtschaftliches Institut gründete. Als Höhepunkt s<strong>eine</strong>r<br />
Tätigkeit dürften die 1809 bis 1812 erschienenen „Grundsätze der rationellen<br />
Landwirtschaft“ gelten. Thaer, der seit 1810 außerordentlicher Professor in Berlin war,<br />
starb am 26.10.1828 in Möglin.<br />
Thaer war selbst nie in England gewesen; s<strong>eine</strong> Informationen hatte er aus<br />
Veröffentlichungen und von zwei wichtigen Englandreisenden: dem hannoverschen<br />
Hofrat Jobst Anton v. Hinüber, der 1766/67 in England gewesen war, 36 und dem<br />
Amtmann Friedrich Christian Georg Westfeld aus Weende bei Göttingen, der 1792 in<br />
England war, sich aber schon vorher in verschiedenen Schriften zur englischen<br />
Landwirtschaft geäußert hatte. 37 Selbst den wichtigsten Agrarschriftsteller Englands,<br />
Arthur Young, kannte Thaer nur aus dessen Schriften. 38 Von Hinüber, mit dessen Sohn<br />
Gerhard Thaer eng befreundet war, stellte ihm außerdem s<strong>eine</strong> umfangreiche<br />
Bibliothek zur Verfügung.<br />
Es war nicht so sehr das Ergebnis der Personalunion, wenn ab 1800 in Hannover<br />
<strong>eine</strong> positive Aufnahme der englischen Landwirtschaft zu verzeichnen war, sondern es<br />
war speziell dem Wirken Thaers zuzuschreiben. Während einige s<strong>eine</strong>r hannoverschen<br />
Fachkollegen eher skeptisch der Englischen Landwirtschaft gegenüberstanden, befand<br />
sich Thaer in weitgehender Übereinstimmung mit anderen nichthannoverschen, etwa<br />
preußischen Englandreisenden. 39 Der agrarwissenschaftliche Fortschritt des<br />
18. Jahrhunderts war also kaum ein gleichförmiger Prozess, sondern er wurde selbst in<br />
der Gruppe der Reformer von individuellen wie kollektiven Wahrnehmungsverhalten<br />
beeinflusst. Die Selbstwahrnehmung der hannoverschen Reformer als <strong>eine</strong> Art<br />
„Avantgarde“, als erfolgreiche Modernisierer dürfte deren Verhalten nicht unwesentlich<br />
bestimmt haben.<br />
34 Zu Thaer aus <strong>eine</strong>m umfangreichen Schrifttum: KLEMM (1994), sowie KLEMM, MEYER<br />
(1968). Jetzt PANNE (2002).<br />
35 Der genaue Titel lautet: Einleitung zur Kenntnis der englischen Landwirtschaft und ihrer<br />
neuen praktischen und theoretischen Fortschritte in Rücksicht auf Vervollkommnung<br />
deutscher Landwirthe und Cameralisten. 3 Bde., Hannover 1798-1800.<br />
36 ULBRICHT (1980), 222 f.<br />
37 ULBRICHT (1980), 242.<br />
38 ULBRICHT (1980), 142-159.<br />
39 ULBRICHT (1980), 261. Zu den Englandreisen im 18. Jahrhundert siehe ‘??? (1983); MAURER<br />
(1992).<br />
72
3. Dienstabstellung en<br />
Das Dienstwesen gehört in den meisten nordwestdeutschen Territorien zu den<br />
zentralen Elementen der frühneuzeitlichen Agrarverfassung. Es bildete in mehrfacher<br />
Hinsicht <strong>eine</strong> wichtige Grundlage der damaligen Staaten, da ohne die so genannten<br />
Herrendienste die landesherrlichen Domänen nicht bewirtschaftet, ohne die<br />
Landfolgedienste die vielfältigen Transport- und Arbeitsleistungen in Krieg und<br />
Frieden nicht erbracht werden konnten. Am Beispiel der Dienste lässt sich die<br />
Argumentationsweise der Kritiker der alten Agrarverfassung gut verdeutlichen. Das<br />
Dienstwesen bestand in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus ständigen und<br />
nichtständigen Diensten, Hand- und Spanndiensten, Diensten für Gerichts-, Grund-<br />
und Leibherren, für den Landesherrn und die Gemeinde. In Niedersachsen bildeten<br />
die sogenannten Herren- oder Frondienste neben den landesherrlichen und<br />
kommunalen Diensten vor allem dort <strong>eine</strong> große Belastung, wo größere landesherrliche<br />
Domänen bestanden. 40 Das Dienstwesen war insgesamt derart kompliziert, dass schon<br />
den Zeitgenossen ein Überblick schwer fiel.<br />
Unter den vielfältigen Diensten nahmen die „Herrendienste“ <strong>eine</strong> Sonderrolle ein,<br />
da sie die wichtigste Gruppe darstellten und in größerer Zahl vorzugsweise auf den<br />
landesherrlichen Domänen verrichtet wurden. Während auf den kl<strong>eine</strong>n adligen<br />
Gütern schon früh die Dienste in Geldzahlungen umgewandelt worden waren,<br />
bestanden bei den landesherrlichen Domänen oft die naturalen Dienste bis Mitte des<br />
18. Jahrhunderts weiter. Somit mussten gerade die dem Landesherrn dienstpflichtigen<br />
Bauern ein Interesse an der Abstellung dieser Dienste haben.<br />
Kritiker des überkommenen Frondienstwesens waren deshalb auch<br />
Verwaltungsbeamte, die in ihrer täglichen Praxis mit dem Dienstwesen konfrontiert<br />
wurden und dessen Ineffektivität sahen, wie der schaumburg-lippische Kammerrat<br />
Westfeld (1746-1782). 41 Westfeld hatte nicht nur Anfang der 1770er Jahre mit der<br />
Abstellung der Herrendienste auf einigen schaumburg-lippischen Vorwerken<br />
begonnen, sondern wenige Jahre später in <strong>eine</strong>r Preisschrift der Göttingischen<br />
Akademie der Wissenschaft s<strong>eine</strong> Überlegungen zu den Dienstabstellungen und die<br />
gemachten Erfahrungen ausführlich dargestellt. Er argumentierte auf mehreren<br />
Ebenen: 42<br />
Für den Staat sah er den Nutzen der Dienstabstellung darin, dass die Produktivität<br />
der Untertanen steigen werde. Den Untertanen helfe die Abstellung, weil sie die<br />
Arbeitszeit effektiver nutzen konnten, um ihr eigenes Feld besser zu bestellen oder<br />
zusätzliche Arbeiten zu übernehmen. Es wirke zudem nicht mehr das schlechte Vorbild<br />
der langsam und nachlässig verrichteten Arbeit im Herrendienst, außerdem könne<br />
durch den Wegfall der Dienste auch die kostspielige Pferdehaltung verringert werden. 43<br />
Den Empfängern der Dienste ging nach Ansicht des Kammerrats nichts verloren, weil<br />
sie erstens durch Geldzahlungen entschädigt wurden und zweitens die<br />
Arbeitsverfassung der Betriebe von der schwerfälligen Arbeit mit Dienstpflichtigen auf<br />
40 Siehe oben S. 54.<br />
41 Einen guten Überblick zu Westfelds Wirken bietet ULBRICHT (1980), S. 241-250; siehe<br />
außerdem SCHNEIDER (1983), 112-118.<br />
42 Siehe Text in HAUPTMEYER, BEGEMANN (1992), S. XX.<br />
43 ACHILLES (1982), 116. Wenige Jahrzehnte später argumentierte Gustav von Gülich, der die<br />
Folgen der Dienstabstellungen erlebt hatte, anders: die Bauern würden zu unnützen und<br />
den Ackerbau behindernden Frachtfuhren übergehen; GÜLICH (1831), XX.<br />
73
<strong>eine</strong> mit Tagelöhnern umstellen konnten. Westfeld fasste sein Konzept mit den Worten<br />
zusammen:<br />
„Niemand soll verlieren und der Dienstpflichtige den Aufwand, der k<strong>eine</strong>m zugute gekommen ist,<br />
gewinnen.”<br />
Unter Westfeld wurden in Schaumburg-Lippe Anfang der 1770er Jahre erste<br />
Dienstabstellungen durchgeführt. Die Bauern hatten für die entfallenden Dienste ein<br />
erhöhtes Dienstgeld 44 zu zahlen, wobei sich der Dienstherr <strong>eine</strong>n Restbestand naturaler<br />
Dienste vorbehielt. Da die Abstellungsrezesse auf 30 Jahre abgeschlossen wurden,<br />
kann man noch nicht von Ablösung, also <strong>eine</strong>r endgültigen Aufhebung sprechen.<br />
Westfeld hatte die schaumburg-lippischen Reformen 1773 im Rahmen <strong>eine</strong>r<br />
Preisschrift der Göttingischen Akademie der Wissenschaften <strong>eine</strong>m größeren<br />
Publikum vorstellen können. Mit der Darstellung des regionalen Beispiels verband er<br />
ein allgem<strong>eine</strong>s Konzept für Dienstabstellungen auf landesherrlichen Vorwerken. 45<br />
„Der Gewinn, den der Staat von der Aufhebung der Frondienstbarkeit haben wird, der wahre<br />
Wohlstand der Untertanen, die Beförderung der Industrie 46 , die Bevölkerung, die Verbesserung des<br />
Ackerbaus, die Verminderung der unnützen Consumtion, die größere Freiheit des Volkes und die<br />
Folgen von allen diesen Vorteilen ... die Glückseligkeit des Ganzen <strong>–</strong> macht diese Sache mehr zur<br />
Angelegenheit des Staates als der einzelnen Besitzer der Diensthöfe.” 47<br />
Nach s<strong>eine</strong>m Übertritt in hannoversche Dienste war Westfeld u.a. 48 auch als<br />
Oberkommissar für die in Kurhannover schon in den 1750er Jahren projektierten,<br />
durch den 7jährigen Krieg verhinderten, seit Mitte der 1770er Jahre erneut voran<br />
getriebenen Dienstabstellungen zuständig. 49 Schon vor dem Ausbruch des 7jährigen<br />
Krieges hatte es unter dem Einfluss des kurhannoverschen Geheimrates Gerlach<br />
Adolf von Münchhausen Erhebungen über das Dienstwesen gegeben, die dessen<br />
Schwächen offen legten. 50 Münchhausen arbeitete deshalb nach dem Ende des Krieges<br />
gezielt auf <strong>eine</strong> Abstellung der Dienste hin. 1768 begannen unter s<strong>eine</strong>m Einfluss die<br />
Vorarbeiten für Dienstabstellungen in sieben calenbergischen Dörfern. Vermutlich<br />
durch Münchhausens Tod wurden die weiteren Arbeiten unterbrochen und erst Ende<br />
1773 wieder aufgenommen; im Mai 1774 einigte sich die Kammer auf <strong>eine</strong>n Plan zur<br />
Dienstabstellung. 51 Zugleich wurden die sich aus <strong>eine</strong>r Abstellung ergebenden Folgen<br />
sowohl für die Domänen, die Ersatz für die bisherigen Dienste finden mussten, als<br />
auch für die Bauern, die das erhöhte Dienstgeld aufzubringen hatten, erörtert.<br />
Bis Mitte der 1790er Jahre waren auf allen hannoverschen Domänen die<br />
Dienstabstellungen durchgeführt. Dabei wurden die Dienste in folgende Gruppen<br />
unterteilt, die jeweils in unterschiedlichem Maße der Dienstabstellung unterworfen<br />
waren:<br />
• Hoheitsdienste wurden gar nicht abgestellt,<br />
• Amtsdienste wurden teilweise abgestellt und<br />
44 Dienstgeld hatten sich auch zu zahlen, wenn die jeweils wochenweise festgelegten Dienste<br />
nicht benötigt wurden.<br />
45 Siehe dazu auch SCHNEIDER (1995a).<br />
46 Industrie hier im Sinne von Fleiß gebraucht.<br />
47 C.F.G. Westfeld: Über die Abstellung des Herrendienstes. In: Hannoversches Magazin 56.<br />
Stück, 1773, Sp. 882 <strong>–</strong> 912. SCHNEIDER (1983), 112-124.<br />
48 Er war zudem neben s<strong>eine</strong>r Tätigkeit als Klosteramtmann erst in Wülfinghausen, dann in<br />
Weende.<br />
49 Zu den früheren Versuchen siehe WITTICH (1896), 415 und CONRADY (1967), 181.<br />
50 WITTICH (1896), 415 f.<br />
51 WITTICH (1896), 418.<br />
74
• Landwirtschaftsdienste wurden völlig abgestellt.<br />
Am Beispiel der Dienstabstellung im Amt Blumenau lassen sich die bisherigen<br />
Strukturen und die Art der Abstellung gut verdeutlichen. 52<br />
Zu Spanndiensten wurden Vollmeier, Dreiviertelmeier, Halbmeier und Höfelinge<br />
herangezogen, zu den Handdiensten die Höfelinge, Großkötner, Mittelkötner,<br />
Kleinkötner und Brinksitzer.<br />
Dienstbelastung und Dienstabstellung im Amt Blumenau 1770<br />
nur dem Landesherrn pflichtige Höfe<br />
Hofklasse Dienste/ Jahr Dienstgeld<br />
Vollmeier,<br />
66 (davon 48 „ordinaire“) 5 Rtlr. 19 Gr. 3 Pf f. 48 Tage<br />
Dreiviertelmeier<br />
Spanntage<br />
Halbmeier<br />
37 4/5 ( 28 4<br />
/ ) Spanntage<br />
5<br />
Höfelinge 25 (19 ½) Spanntage<br />
Großköter 71 (50) Handdienste<br />
Kleinköter 50,5 (37,5) Handdienste<br />
Brinksitzer 37 (25) Handdienste 9 Gr. 3 Pf. f. 25 Tage<br />
NHStAH Hann. 88 A 477<br />
Es wurden aber nicht alle Dienste tatsächlich wirklich („in natura“) geleistet.<br />
1738/39 gab es insgesamt 5802 ½ ordinäre Spanndienste, von denen aber tatsächlich<br />
nur 4152 (71,6 %) verrichtet wurden. Bei den Handdiensten war das Missverhältnis<br />
zwischen Soll und Ist noch gravierender: statt der 14925 ordinären Handdiensttage<br />
wurden von den Pflichtigen nur 5516 oder 37 % geleistet. 53<br />
Der Rezess über die Verwandlung der Natural-Hand- und Spanndienste in<br />
Geldabgaben im Amt Blumenau wurde am 30.12.1775 geschlossen. Danach wurde der<br />
gewöhnliche Wochendienst vollständig aufgehoben, wofür die Bauern statt des<br />
normalen Dienstgeldes nun ein sogenanntes erhöhtes zu zahlen hatten (siehe Tabelle).<br />
Bestehen blieben die Burgfestdienste, die aber nur „in Herrschaftlichen<br />
Angelegenheiten und Amts-Bedürfnissen“ verlangt werden sollten, also nicht für<br />
landwirtschaftliche Dienste, was bislang offenkundig der Fall war. Zu den ebenfalls<br />
weiterhin bestehenden Landfolgediensten hieß es: „dass die wirksamsten<br />
Vorkehrungen getroffen werden sollen, damit bey der Verrichtung der Landfolgen und<br />
Kriegerreisen, wann solche erfordert und ausgeschrieben werden, kein Misbrauch<br />
vorgehe, noch ein Untertan vor dem andern beschwert werde“.<br />
Die Aufzählung enthält weitere von der Abstellung nicht betroffene Dienste <strong>–</strong><br />
Jagdfolgen, Amtsdienste, Mühlendienste, Holz- und Hudedienste <strong>–</strong> und zeigt das<br />
Ausmaß und die Bedeutung, die die Dienstleistungen für das Funktionieren des<br />
frühneuzeitlichen Staates besaßen.<br />
Sechs bzw. acht Zahlungstermine wurden für die Spanndienst-, bzw.<br />
Handdienstleistenden festgelegt; die Zahlungen begannen bei ersteren am 1. September<br />
und endeten am 1. Februar, bei den Handdienstpflichtigen war es die Zeit vom 1.<br />
August bis zum 1. März. Diese Vorgaben wurden ergänzt durch Strafen bei<br />
Zahlungsversäumnis und den Zusatz:<br />
„Würde auch <strong>eine</strong>r oder anderer s<strong>eine</strong> eingeerndteten Früchte so früh verschleudern, daß zu besorgen<br />
wäre, er werde die späteren Termine gehörig nicht im Stande seyn, so ist von Obrigkeits wegen der<br />
weitere Verkauf der Früchte zu inhibitieren.“<br />
52 Darstellung nach NHStAH Hann. 88 A 477. Siehe auch SCHNEIDER (1995a), hier 68-74 zu<br />
den Dienstabstellungen im Amt Aerzen.<br />
53 NHStAH Hann. 88 A Nr. 475. Über die Abstellungen im Amt Calenberg berichtet<br />
BECKMANN (1779), 114-138. Die Regelungen in den beiden Ämtern waren weitgehend identisch.<br />
75
Der Rezess hatte <strong>eine</strong> Dauer von 30 Jahren; zwei Jahre vor dessen Ablauf sollten die<br />
Bauern entscheiden können, wie danach zu verfahren sei. Zum Schluss wurden sie<br />
ermahnt, den Vertrag in allen Punkten sorgfältig einzuhalten und sich grundsätzlich als<br />
gute Hauswirte zu beweisen:<br />
„Gleichwie nun schlieslich die in dem gegenwärtigen Recesse beschriebenen Veränderungen des<br />
Dienstwesens in dem Amte Blumenau mit Hintansetzung aller Vortheile für die allergnädigste<br />
Landes-Herrschaft blos den eigenen Nutzen und die Beförderung des Wohlstandes der Unterthanen<br />
zum Zweck hat, Also erwartet man zuverlässig, daß die Unterthanen ihrer Seits allem demjenigen,<br />
wozu dieser Vergleich und Recess sie verbindet, auf das genaueste nachkommen, die erhaltene große<br />
Erleichterung in ihren Dienst-Pflichten sich gehörig zu Nuzze machen, mithin ihre Feld-Arbeit,<br />
Handthierung und Gewerbe mit allem Fleiße obliegen und in ihrem Hauswesen überhaupt <strong>eine</strong><br />
solche Einrichtung treffen werden, daß dieselben die huldreichsten Absichten Sr. Königlichen<br />
Majestät … auf das vollkommenste in Erfüllung bringen …“<br />
Die in dieser Aussage genannte Begründung, die Reform diene in erster Linie den<br />
Bauern, entsprach nur bedingt der tatsächlichen Intention, denn die überlieferten<br />
internen Berechnungen zeigen, dass die Kammer vorrangig bemüht war, ihre<br />
Einnahmen zu erhöhen. 54<br />
Bis 1787 konnte die Reform konnte in 65 Ämtern durchgeführt werden, sie<br />
scheiterte in fünf lüneburgischen Ämtern, in 27 Ämtern war bis dahin noch gar nichts<br />
geschehen. 55<br />
Bislang fehlen genauere Untersuchungen über die konkreten Folgen dieser Reform,<br />
zu vermuten ist jedoch, dass ihre Wirkung unterschiedlich ausfiel. In <strong>eine</strong>m Bericht des<br />
Amtes Dannenberg vom 11.11.1786 hieß es, die Abstellung der Dienste bringe<br />
„k<strong>eine</strong>n Nutzen, denn daß die Mähers Tagelöhner senden, ist ihnen auch jetzt vergönnet, und bis<br />
auf den Vormäher, der s<strong>eine</strong> Pröven erhält, schicken sie gewöhnlich solche Leute, deren Abgang in<br />
den vielen verschiedenen Dörfern, woraus sie erfolgen, nicht vermerket werden kann, ja es sind<br />
darunter Leute, die hier in der Stadt als Tagelöhner ihr Brodt suchen. Freilich liegen diese, so lange<br />
das Mähen dauert, zusammen und trincken auf Rechnung ihrer Wirthe vielleicht einige Tonnen<br />
Bier mehr als sie solten, … sie sind hergegen früh und spät zur Stelle und müssen der Anführung<br />
des Vormähers … gehorchen.“<br />
Durch die Dienstabstellungen änderte sich die Wirtschaftsführung vieler<br />
landesherrlicher Domänen. Während bei den größeren Betrieben nur die entfernt<br />
liegenden Ländereien wegen der weiten Wege an Bauern verpachtet wurden, löste man<br />
die kl<strong>eine</strong>ren z.T. durch Vereinzelung, d.h. durch Verpachtung aller Flurstücke an<br />
Bauern, auf. 56<br />
Die Reform wurde k<strong>eine</strong>swegs von den Bauern abgelehnt, sondern teilweise sogar<br />
energisch gefordert, schien sie doch das Ende <strong>eine</strong>r drückenden Last zu bedeuten. 57<br />
Solange die Getreidepreise hoch und zugleich die Ernten ertragreich waren, dürfte es<br />
k<strong>eine</strong> großen Probleme bereitet haben, die notwendigen Dienstgelder aufzubringen. 58<br />
Wir wissen allerdings noch zu wenig von den bäuerlichen Verhältnissen, um in diesem<br />
54 Solche internen Berechnungen sind für das Amt Aerzen überliefert; NHStAH Hann. 88 A<br />
97 I.<br />
55 Von diesen lagen wiederum 14 in Lüneburg; WITTICH (1896), 420.<br />
56 WITTICH (1896), 421. Im hannoverschen Amt Fallesleben kam es im 18. Jahrhundert nicht<br />
mehr zu <strong>eine</strong>r Verpachtung; RIESENER (1991), 146-149. Es fehlen allerdings Detailstudien über<br />
weitere Ämter.<br />
57 SCHNEIDER (1995a). Ähnlich sah es in Schaumburg-Lippe aus; SCHNEIDER (1983), 119.<br />
58 GÜLICH (1827), 27.<br />
76
Punkt eindeutige Aussagen machen zu können. Immerhin gibt es Indizien dafür, dass<br />
die finanziellen Lasten speziell bei den kl<strong>eine</strong>ren Betrieben nicht gering waren. 59<br />
Die Abstellung der Herrendienste verlief allerdings nicht überall reibungslos, weil<br />
die Amtspächter oft bestrebt waren, ich möglichst lange der für sie praktischen Dienste<br />
zu vergewissern. Gleichwohl war sie in <strong>eine</strong>m überschaubaren Zeitraum abgeschlossen.<br />
Allerdings blieben die Dienstabstellungen auf die landesherrlichen Ämter begrenzt.<br />
Die adeligen Gutsbesitzer entschieden jeweils individuell, ob und wie sie die<br />
bäuerlichen Dienste verlangten. Insgesamt wissen wir über die Zustände auf den<br />
adeligen Gütern noch zu wenig. 60<br />
Die Dienstabstellungen hatten zweierlei Konsequenzen: sie beschleunigten die<br />
Monetarisierung der Landeseinkünfte und sie förderten die ohnehin sich entwickelnde<br />
Marktbindung der landwirtschaftlichen Bevölkerung. Ihr schrittweiser, tastender<br />
Charakter ist unverkennbar, es wird weder Grundherrschaft in Frage gestellt, noch<br />
versucht, die Ökonomie des Landes auf <strong>eine</strong> neue Grundlage zu stellen.<br />
Dagegen wurde zwar die Leibeigenschaft als Überrest <strong>eine</strong>s barbarischen Zeitalters<br />
kritisiert, Vorschläge, wie die vielfältigen herrschaftlichen Abhängigkeiten überwunden<br />
werden konnten, unterblieben. 61 Das war nicht weiter verwunderlich, denn mit der<br />
herrschaftlichen Abhängigkeit stand auch die soziale Stellung der Adeligen zur<br />
Disposition und mehr noch, die gesamte Einnahmestruktur des Staates. Reformansätze<br />
in diesem Bereich berührten damit die gesellschaftliche und staatliche Struktur, griffen<br />
in die autonomen Rechte des Adels ein, erforderten ein neues Steuersystem und hätten<br />
<strong>eine</strong> grundlegende Gesellschaftsreform zur Konsequenz gehabt. 62<br />
4. Gemeinheitsteilung en<br />
1779 stellten vier Vollmeier und elf Halbmeier des Dorfes Klein Berkel im<br />
calenbergischen Amt Aerzen <strong>eine</strong>n Antrag auf Teilung des 39 Morgen umfassenden<br />
Großen und Kl<strong>eine</strong>n Angers vor Klein Berkel bei Hameln. 63 Nutzungsberechtigte,<br />
sogenannte Interessenten, waren neben den genannten Antragstellern noch sechs<br />
„Dreispänner“ (Drittelmeier), 12 Vollkötner, 10 Halbkötner und das königliche Amt<br />
Aerzen mit dazugehöriger Schäferei. Gegenstand dieses Antrags war die Aufhebung<br />
bislang genossenschaftlich genutzer Flächen, also Gemeinheiten, die nun in <strong>eine</strong><br />
individuelle Nutzung überführt werden sollten. Es handelt sich also um <strong>eine</strong>n Antrag<br />
auf <strong>eine</strong> Gemeinheitsteilung.<br />
Wie ging es in Klein Berkel weiter? Die im folgenden Jahr aufgenommenen<br />
Verhandlungen brachten kein Ergebnis, obwohl sich die Kammer eingeschaltet hatte.<br />
Grund für das Scheitern war die Weigerung der Kleinstellenbesitzer, dem Teilungsplan<br />
zuzustimmen. Dieser sah <strong>eine</strong> Verteilung des Landes in Abhängigkeit von der<br />
Klasseneinteilung vor. Ein Halbmeier sollte die Hälfte <strong>eine</strong>s Vollmeiers, ein<br />
59 Klagen über Schwierigkeiten, das Dienstgeld aufzubringen, sind jedenfalls überliefert; etwa<br />
Klagen der Bauern des Amtes Aerzen vom 6.7.1789; NHStAH Hann. 88 A 97 II; des<br />
Amtes Blumenau, Amtsbericht vom 18.3.1783; NHStAH Hann. 479.<br />
60 GÜLICH (1827), 28 f vergleicht aber für das Fürstentum Calenberg die Verhältnisse auf den<br />
adeligen Gütern mit weiterhin hohen Dienstlasten mit denen der landesherrlichen Bauern,<br />
was darauf hindeutet, daß hier weiterhin Dienste verlangt wurden.<br />
61 MÜNCHHAUSEN (1793) sowie SCHREINER (1983).<br />
62 Dazu ZIMMERMANN (1983).<br />
63 NHStAH Hann. 88 A Nr. 205; danach die folgende Darstellung.<br />
77
Dreispänner ein Drittel, ein Vollkötner ein Viertel erhalten. 10 Jahre später, im<br />
Dezember 1789, wurde ein zweiter Versuch unternommen, nachdem auch das Amt<br />
Aerzen die Ansicht vertreten hatte, dass der erste Teilungsmaßstab ungerecht sei.<br />
Obwohl die Kötner wesentlich stärker als die Meier auf den Anger angewiesen waren,<br />
hätten sie jeweils nur nur 1/3 Morgen erhalten, was selbst zum Halten <strong>eine</strong>r Kuh zu<br />
wenig war. Versuche, durch <strong>eine</strong>n anderen Teilungsmaßstab zu <strong>eine</strong>r Regelung zu<br />
gelangen, scheiterten ebenfalls.<br />
Der Verlauf dieser gescheiterten frühen Teilung weist auf wichtige Aspekte von<br />
Gemeinheitsteilungen. Das Hauptproblem bestand darin, dass nicht alle Dorfbewohner<br />
<strong>eine</strong>n gleich großen Anteil des Landes erhielten, sondern die Anteile entsprechend der<br />
Hofgröße gestaffelt waren. Die sozial und ökonomisch dominante bäuerliche<br />
Bevölkerung versuchte ihre Interessen durchzusetzen, stieß dabei aber auf den<br />
Widerstand der Kleinstelleninhaber, die in existentieller Weise auf das<br />
genossenschaftlich genutzte Land angewiesen waren. Das Finden <strong>eine</strong>s<br />
Teilungsmaßstabes war also mehr als ein technisches Problem, sondern eng verbunden<br />
mit den sozialen Verhältnissen im Dorf.<br />
Das Beispiel zeigt zugleich, dass die Initiative zur Teilung von den Bauern ausging<br />
und vermutlich nicht von der Obrigkeit. Aufschlussreich ist das Verhalten des<br />
landesherrlichen Amtes, welches gegen die Teilung stimmte, indem es betonte, die<br />
Aufhebung der bisherigen Nutzung des Angers bringe dem Amtshaushalt wesentliche<br />
Nachteile, da insbesondere die Schafzucht dann sehr eingeschränkt sei. Der Amtmann<br />
schloss mit den Worten:<br />
„Aus diesem erheblichem Grunde hat ein jeder hiesiger Haushaltspächter Ursache zu wünschen,<br />
daß diese beiden benannten Gemeinheits Pertinentien in statu quo verbleiben mögten.“ 64<br />
Ein Jahr später, vermutlich nach <strong>eine</strong>m Wechsel des Amtmannes, wurde dann doch die<br />
Teilung in modifizierter Form durchgeführt.<br />
Wie schwer tun wir uns heute mit Veränderungen und Reformen, wenn sie unseren<br />
eigenen Lebensbereich betreffen und es sich um wohl vertraute Dinge handelt?<br />
Ziel <strong>eine</strong>r Gemeinheitsteilung war die individuelle Aufteilung bisher<br />
genossenschaftlich genutzter Ländereien an die bisherigen Nutzungsberechtigten, seien<br />
es die Bewohner <strong>eine</strong>s oder mehrerer Dörfer, landesherrliche Domänen oder adelige<br />
Güter. Dadurch sollte <strong>eine</strong> intensivere Grünlandwirtschaft und <strong>eine</strong> Erhöhung des<br />
Viehstapels erreicht werden, wodurch wiederum der Düngeranfall steigen und damit<br />
der Ackerbau verbessert würde. Das Problem bestand darin, die bisherigen<br />
gemeinsamen Rechte in individuelle so aufzuteilen, dass niemand verlor und alle<br />
gewannen. Solange alle Beteiligten sich einigen konnten, gab es k<strong>eine</strong> Schwierigkeiten,<br />
doch gehörten freiwillige Einigungen zu den Ausnahmen. Häufig widersetzte sich<br />
mindestens <strong>eine</strong> der Parteien, so dass genaue Regeln festgelegt werden mussten, woran<br />
es aber zunächst mangelte. Das Verfahren war nicht allein deshalb nur schwer<br />
durchzuführen. Häufig war nicht einmal bekannt, wie groß die zu teilenden Flächen<br />
waren, weshalb zuvor <strong>eine</strong> erste Vermessung durchgeführt werden musste. Das alles<br />
kostete Geld, und das war gerade bei den kl<strong>eine</strong>n Stellen knapp. 65<br />
Die im Falle Klein Berkels gefundene Lösung <strong>eine</strong>r Aufteilung nach Hofklassen<br />
wurde zwar auch in anderen Fällen versucht 66 , war aber nur bedingt geeignet, da jeweils<br />
64 Ebd., Bericht vom 6.12.1788.<br />
65<br />
THAER (1799), 1, 95, verweist auf die Kosten, welche Gemeinheitsteilungen verhindern<br />
könnten.<br />
66<br />
GOLKOWSKY (1966), 35-46.<br />
78
ortstypische Verhältnisse einbezogen werden mussten. So wurden in dem zum Amt<br />
Stolzenau gehörigen Dorf Holzhausen 1777 drei Maßstäbe diskutiert: nach der<br />
Kontribution von den Ländereien, nach der Kontribution von den Häusern und der<br />
„Qualité“ der Höfe. 67 Gegen den Widerstand der Brinksitzer, die teilweise relativ viel<br />
Land bewirtschafteten, wurde der dritte Maßstab, die Hofklasse, zugrunde gelegt, so<br />
dass am Ende die Meier acht mal so viel Land erhielten wie die Brinksitzer.<br />
Für die frühen Reformen spielten landesherrliche Anregungen <strong>eine</strong> wichtige Rolle.<br />
Die Verordnung vom 22. November 1768, „wie in Landes-Oeconomie-<br />
Angelegenheiten zu verfahren“, markiert <strong>eine</strong>n wichtigen Einschnitt innerhalb der<br />
niedersächsischen, bzw. hannoverschen Agrarreformen. Hier heißt es eingangs:<br />
„Wir Georg der Andere 68 Fügen hiermit zu wissen, wasmaßen Wir seit hergestelltem Frieden es<br />
<strong>eine</strong>n, Unserer Aufmerksamkeit besonders würdigen Gegenstand sein lassen, <strong>eine</strong>stheils durch die<br />
Aufhebung der der Kultur des Landes gemeiniglich schädlich und nachtheilig fallenden<br />
Gemeinheiten, anderntheils durch Anordnung verschiedener zur Verbesserung des Landes<br />
abzweckenden gemeinnützigen Veranstaltungen, und endlich durch Ansetzung neuer Anbauer und<br />
des Endes geschehene Anweisungen, das Wohl Unserer deutschen Lande und getreuen Unterthanen<br />
zu befördern, solchergestalt die Landesprodukte zu vermehren, Unsere Lande durch Herbeiziehung<br />
mehrerer ansässiger Unterthanen zu bevölkern, und allen und jeden derselben Gelegenheit zu<br />
verschaffen, vermittelst ihres Fleißes und ihrer Arbeit ihr gutes und austrägliches Auskommen zu<br />
erwerben.” 69<br />
Erlassen wurde die Verordnung nicht zufällig wenige Jahre nach dem Ende des<br />
7jährigen Krieges, hatte dieser doch die Notwendigkeit <strong>eine</strong>r intensiveren Förderung<br />
der Landwirtschaft und der gesamten Volkswirtschaft vor Augen geführt. Außerdem<br />
hatte er <strong>eine</strong>n Schuldenberg hinterlassen, der jetzt durch <strong>eine</strong> allgem<strong>eine</strong> Förderung des<br />
Landes abgebaut werden sollte. 70<br />
Mit der Gründung der Cellischen Landwirtschaftsgesellschaft war schon zuvor ein<br />
wichtiger Schritt in Richtung auf <strong>eine</strong> modernisierte Landwirtschaft erfolgt, jetzt sollte<br />
mit <strong>eine</strong>r konkreten Maßnahme die Sitaution des Landes dadurch verbessert werden,<br />
dass die Landnutzung intensiviert wurde. Damit sollte zugleich <strong>eine</strong> Erhöhung der<br />
Einwohnerzahl erreicht werden. 71<br />
Die Lüneburger Heide bildete mit ihren weiten ungenutzten Heideflächen ein<br />
geeignetes Experimentierfeld für Modernisierungsversuche, denn wie hieß es in Thaers<br />
Annalen?<br />
„Die Unfruchtbarkeit dieser Gegend ist fast durch ganz Europa bekannt, und unter der<br />
Lüneburger Heide denkt man sich die Wüste Arabiens im Kl<strong>eine</strong>n.” 72<br />
Hier bestanden aus der Sicht der modernen Agrarwissenschaft zu viele Defizierte: die<br />
fehlende systematische Einteilung in Winter-, Sommer- und Brachfelder,<br />
unzureichende Weiden und Wiesen, denen lediglich <strong>eine</strong> intensiv betriebene Pferde-<br />
und Schw<strong>eine</strong>- sowie Bienenzucht gegenüberstand. Die zeitgenössische<br />
Ertragsberechnung <strong>eine</strong>s Hofes erbrachte ein jährliches Minus von 18 Rtlr. 23 Gr. 73<br />
67<br />
GOLKOWSKY (1966), 41.<br />
68 Versehentlich für Georg der Dritte.<br />
69<br />
SPANGENBERG (1820), 239 - 243, hier S. 239.<br />
70 Allgemein dazu RÖMER (1998). Speziell:OBERSCHELP (1982), 108 f.<br />
71 Hierzu knapp zusammenfassend und die ältere Literatur referierend BRAKENSIEK (1991),<br />
196 f.<br />
72<br />
THAER (1799), 1, 86.<br />
73<br />
THAER (1799), 1, 102-141.<br />
79
Dieses Ergebnis wird durch neuere Berechnungen bestätigt. 74 Nur dank der<br />
Übernahme von Nebenarbeiten konnten die Betriebe finanziell überleben. Thaers<br />
Annalen nennen „Verkehr mit dem Holze, Fracht-Fahren, Pferde-Zucht und Handel,<br />
Torf-Stechen, Sammeln des Fuhren-Saamens und des Wacholder, auch wohl<br />
Bickbeeren, das Kaufgarn-Spinnen und das Weben grober Leinwand, verstärkte<br />
Bienenzucht”, fügen aber hinzu, der Frachtdienst als Hauptverdienst sei ein „Grund<br />
zum Verderben” der betreffenden Höfe. 75<br />
Besondere Bedeutung hatte für die teilweise großen Heidebetriebe die Nutzung der<br />
weiträumigen Heideflächen, 76 die <strong>eine</strong> notwendige Grundlage zur Verbesserung des<br />
Ackerlandes bildeten, indem sie als Streuheide oder als Plaggenheide genutzt wurden. 77<br />
Das große „Entwicklungspotential“ des Fürstentums Lüneburg mochte durchaus<br />
anstachelnd wirken 78 , stellte die Beamten aber auch vor weitreichende Probleme. Der<br />
Versuch, durch Innovationstransfer aus England zu <strong>eine</strong>r Intensivierung der<br />
agrarischen Produktion beizutragen, scheiterte beinahe kläglich, wie das Beispiel des<br />
Claus Brüggemann zeigt, dessen Erfahrungen sich nicht in der Lüneburger Heide<br />
durchsetzen ließen. 79<br />
Trotz dieser Rückschläge wurden in dieser Region die Versuche zur Verbesserung<br />
der Reformen nicht aufgegeben, zu sehr wirkten hier die schwierigen naturräumlichen<br />
Verhältnisse und wohl auch das dänisch-lauenburgische Beispiel. Sie erstreckten sich<br />
sowohl auf die Zusammenlegung der Felder (Verkoppelungen) wie die<br />
Gemeinheitsteilungen. Impulse gingen von der Landesherrschaft und den<br />
lünebugischen bzw. den hoyaischen Landständen aus. 80 Allerdings sollte gerade die<br />
Verordnung von 1768 nicht überbewertet werden, da sie in ihren Aussagen und<br />
Ausführungsbestimmungen zu unbestimmt war, um <strong>eine</strong>n schnellen Reformprozess zu<br />
ermöglichen.<br />
Eine entscheidende Rolle spielten die unteren Beamten, denn sie konnten durch ihre<br />
gute Orts- und Untertanenkenntnis, durch ihre eigenen agrarischen Aktivitäten, ihre<br />
Funktion als Verwaltungs- und Gerichtsbeamte sowie als Pächter landesherrlicher<br />
Domänen in vielfältiger Weise das lokale Geschehen beeinflussen. Ihr Verhalten konnte<br />
sich dabei sowohl fördernd wie bremsend auf das jeweilige Geschehen auswirken, 81 da<br />
sie nicht selten zugleich Pächter des jeweiligen Amtsvorwerks waren. So hatten sie<br />
<strong>eine</strong>rseits die Interessen des Landesherrn zu vertreten und andererseits ihre eigenen.<br />
Allerdings waren sie gerade deshalb besser mit den praktischen Problemen vertraut als<br />
ihre juristisch geschulten Nachfolger des 19. Jahrhunderts. 82 Die Kammer bemühte<br />
sich in den 1770er Jahren, gerade die unteren Beamten zu Reformen zu motivieren. 83<br />
74<br />
RISTO (1964), 99-101.<br />
75<br />
THAER (1799), 1, 110-111, Zitat S. 113. Grund war die Tatsache, dass die Betriebe bei der<br />
zu starken Übernahme von Frachtdiensten die eigene Landwirschaft vernachlässigten.<br />
76 Ein „idealtypischer Heidehof“ bewirtschaftete ca. 1400 Morgen Heide, aber nur 170<br />
Morgen Ackerland; VÖLKSEN (1984), 16.<br />
77<br />
VÖLKSEN (1984), S. 17. Siehe auch THAER (1799), 1, 147-150.<br />
78<br />
BRAKENSIEK (1991), 196.<br />
79<br />
ULBRICHT (1980), 233-241; s.a. oben S. .<br />
80<br />
GOLKOWSKY (1966), 22-28.<br />
81<br />
PRASS (1997b), 67 f; insofern ist die Zuordnung der Amtleute zu den „Agenten“ der<br />
Reformen zumindest doppelsinnig.<br />
82 Seit der neuen Amtsordnung von 1823 waren die Amtleute k<strong>eine</strong> Pächter mehr; PRASS<br />
(1997b), 186.<br />
80
Impulse konnten auch von Adeligen ausgehen, die <strong>eine</strong> Eigenwirtschaft betrieben.<br />
Ihr Einfluss auf das Reformgeschehen dürfte aber analog zu dem der Amtmänner<br />
ambivalent gewesen sein, denn sie waren zwar eher in der Lage, sich mit den neueren<br />
wissenschaftlichen Erkenntnissen auseinander zu setzen und hatten aufgrund <strong>eine</strong>r<br />
höheren Marktquote ein größeres Interesse, Innovationen durchzuführen, profitierten<br />
jedoch auch von dem bisherigen System, vor allem dort, wo sie die<br />
Schäfereigerechtigkeit innehatten. 84<br />
Schließlich dürfen die Bauern nicht vergessen werden, wobei unsere Kenntnis noch<br />
rudimentär ist. Es deutet einiges darauf hin, dass sie immer wieder und schon zu<br />
<strong>eine</strong>m relativ frühen Zeitpunkt auf Reformen drängten. 85 Dabei ging die Initiative<br />
meist, aber nicht immer von den größeren Betrieben aus, die stärker marktorientiert<br />
wirtschafteten, und für die <strong>eine</strong> stärkere Individualisierung der Landwirtschaft von<br />
Vorteil war. Es konnten aber auch von den Kleinstellenbesitzern Anregungen<br />
ausgehen. 86<br />
Schließlich hatten schon die frühen Reformen <strong>eine</strong> räumliche Komponente. Stefan<br />
Brakensiek konnte für ostwestfälische Gebiete mit <strong>eine</strong>r ausgeprägten<br />
Protoindustrialisierung ermitteln, dass die größere Binnennachfrage nach<br />
Nahrungsmitteln seitens der Heimarbeiter <strong>eine</strong>n Modernisierungsprozeß in Gang<br />
setzte. 87 Für Niedersachsen fehlen uns entsprechende Regionalstudien, auch wenn es<br />
derzeit k<strong>eine</strong> Hinweise für derartige dynamische Prozesse gibt, sind sie doch nicht<br />
auszuschließen. 88 Hier wurden allerdings die ersten Reformen nicht in den verdichteten<br />
Regionen mit Heimgewerbe, sondern in den nordöstlichen Geestgebieten durchgeführt<br />
und in den Bördegebieten des mittleren Niedersachsen, während sie in den westlichen<br />
Geest- und Moorgebieten erst im 19. Jahrhundert realisiert wurden. Es gab mithin im<br />
18. Jahrhundert <strong>eine</strong> starke regionale Differenzierung des Reformgeschehens, wobei<br />
die naturräumlichen Voraussetzungen und die daraus resultierende Flurnutzung, der<br />
Marktzugang, aber auch die staatliche Reformbürokratie <strong>eine</strong> entscheidende Rolle<br />
spielten. 89<br />
Die Gründe für die nur zögernden Anfänge der ersten Gemeinheitsteilungen lagen<br />
nicht zuletzt darin, dass die bisherige Feldbewirtschaftung bei allen rationalen<br />
Nachteilen das Ergebnis <strong>eine</strong>r Reihe von komplexen Anpassungsprozessen war und<br />
somit für die Zeitgenossen in hohem Maße sinnvoll und vernünftig erschien, wie selbst<br />
einige Agrarwissenschaftler feststellten. Ein Haupteinwand gegen die neuen Formen<br />
der Feldbewirtschaftung könnte gewesen sein, dass bei ihnen zwar die Erträge<br />
optimiert wurden, gleichzeitig aber die Risiken stiegen, während die alte<br />
Bewirschaftungsform vergleichsweise sichere Ernten garantierte. 90<br />
Auch wenn die Initiative einzelner gesellschaftlicher Gruppen am Anfang vieler<br />
kl<strong>eine</strong>r Reformen stand, so spielten dennoch gesetzliche Regelungen <strong>eine</strong> nicht<br />
83 NHStAH Hann 74 Dannenberg, Nr. 3077: „Die Beförderung der Gemeinheits-<br />
Theilungen und Verkoppelungen und deshalb ertheilte Aufträge.“<br />
84 Dazu u.a. auch PRASS (1997b), 130-132, 149 f.<br />
85 GOLKOWSKY (1966), 55.<br />
86 Ebd., SCHNEIDER (1994), 1, 91.<br />
87 BRAKENSIEK (1991), 402-404 (Zusammenfassung).<br />
88 Brakensieks Feststellungen über die nichtwestfälischen Gebiete müssen deshalb auch mit<br />
gewisser Vorsicht bewertet werden.<br />
89 BRAKENSIEK (1991), 394-423 (Zusammenfassung) und GOLKOWSKY (1966), 55. Eine<br />
systematische, neuere Forschungsergebnisse an den Akten überprüfende Darstellungen<br />
gibt es nicht.<br />
81
unerhebliche Rolle. Sie bestand u.a. darin, einheitliche und realisierbare<br />
Rahmenbedingungen festzulegen. Einen grundlegenden Anstoß für<br />
Gemeinheitsteilungen gab im Kurfürstentum Hannover die schon erwähnte<br />
Verordnung vom 22. November 1768, wie in „Landes-Oekonomie-Angelegenheiten zu<br />
verfahren”. 91 Hauptaufgabe dieser Verordnung war es, die landesherrlichen Beamten zu<br />
ermuntern, in ihrem Amtsbezirk jede sich bietende Gelegenheit für Teilungen zu<br />
nutzen. Dem gleichen Zweck dienten in der Folgezeit weitere Kammerausschreiben.<br />
Ab 1776 hatten auf Anforderung der Rentkammer „die sämtlichen Beamten alljährlich<br />
auf Maitag und ohnvergeßlich einzuberichten, ob und inwiefern sie in ihrem Amte<br />
Gelegenheit gehabt, Gemeinheitsteilungen wirklich zustande zu bringen, oder aber im<br />
Gefolge des obigen vorzubereiten”. 92<br />
Etwa zur gleichen Zeit wurden in den anderen niedersächsischen Territorien<br />
ähnliche Schritte unternommen, um die Felder zusammen zu legen oder die<br />
Gemeinheiten aufzuteilen. In Braunschweig wurden während und nach der<br />
Generallandesvermessung von 1746 bis 1784 Gemeinheiten aufgehoben und erste<br />
Verkoppelungen durchgeführt. 93 Das Hezogtum Braunschweig wies sehr<br />
unterschiedliche naturräumliche Gebiete auf: Geest in den nördlichen, Börde in den<br />
mittleren und Berg- und Hügelland in den südlichen Landesteilen. Der Anteil der<br />
Gemeinheiten oder Allmende war in den nördlichen Landesteilen sehr hoch, in den<br />
übrigen Gebieten vergleichsweise niedrig. Entsprechend ihrer Funktion als<br />
kartographische Aufnahme konnte die Landesvermessung zwar erste Korrekturen des<br />
vorhandenen Feldsystems erreichen, aber k<strong>eine</strong> grundsätzliche Umgestaltung der<br />
gesamten Feldmark.<br />
In Osnabrück war die Situation anders als in Braunschweig, denn hier bildeten<br />
Einzelhöfe und große Gemeinheitsflächen (hier: Marken) <strong>eine</strong>n wesentlichen<br />
Bestandteil der Kulturlandschaft. 94 Seit dem 16. Jahrhundert hatte es <strong>eine</strong>n drastischen<br />
Anstieg der unterbäuerlichen Heuerlinge gegeben, die zunehmend die vorhandenen<br />
Marken für ihr Vieh nutzten. 95 Schon früh gab es Ansätze zur Aufhebung der Marken,<br />
da deren Zustand sich in Folge der Übernutzung erheblich verschlechterte und sie im<br />
Berg- und Hügelland ihre Aufgabe als Holzlieferant nicht mehr erfüllen konnten.<br />
„Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts trat deutlich zu Tage, dass die<br />
Markenwirtschaft <strong>–</strong> verstanden vor allem als Holz- und Mastwirtschaft <strong>–</strong> am Ende<br />
war.“ 96 Mit zwei Verordnungen von 1721 und 1785 sollten freiwillige Markenteilungen<br />
gefördert werden, wobei diese „die Merkmale <strong>eine</strong>r freiwilligen Selbstauflösung der<br />
Markgenossenschaft“ hatten. 97 Jedoch wurden die zahlenmäßig dominierenden<br />
Heuerlinge nur in geringem Maße beteiligt, obwohl sie besonders auf die<br />
90 Etwa Westfeld über die Verkoppelungen; GOLKOWSKY (1966), S. XX. In der<br />
westeuropäischen Forschung werden derzeit wieder die positiven Elemente der alten<br />
Agrarwirtschaft diskutiert; siehe etwa: BEKAR, REED (2003).<br />
91 Beleg für die Quellen.<br />
92 Zit. nach GOLKOWSKY (1966), 92 f.<br />
93<br />
KRAATZ (1975), 2 f; WISWE (1965); außerdem mit knapper Zusammenfassung BRAKENSIEK<br />
(1991), S. 222.<br />
94<br />
BRAKENSIEK (1991), 299-310 mit der neuesten Zusammenfassung;<br />
95 Als Regionalstudie mit <strong>eine</strong>r detaillierten Beschreibung der Konflikte um die<br />
Markennutzung: SCHLUMBOHM (1994), 46-58.<br />
96<br />
BRAKENSIEK (1991), 305.<br />
97<br />
BRAKENSIEK (1991), 308; Middendorf (1927), XX.<br />
82
Markennutzung angewiesen waren, was zu <strong>eine</strong>r deutlichen Verschlechterung ihrer<br />
ökonomischen Situation führte.<br />
Im Herzogtum Oldenburg, das seit 1773 zu Dänemark gehörte, fanden dagegen<br />
k<strong>eine</strong> weit reichenden Reformen wie im dänischen Holstein statt. 98 Auf der Geest hatte<br />
ein ähnlicher Prozess wie in Osnabrück mit <strong>eine</strong>r weitgehenden Entwaldung und <strong>eine</strong>r<br />
Zunahme der Kleinstellenbesitzer eingesetzt. Eine allgem<strong>eine</strong> Landesvermessung sollte<br />
ab 1790 der Vorbereitung von Reformen dienen, zu denen es aber im 18. Jahrhundert<br />
nicht mehr kam.<br />
In der Grafschaft Schaumburg-Lippe und der benachbarten, mit Hessen<br />
verbundenen Grafschaft Schaumburg kam es im 18. Jahrhundert lediglich zu ersten<br />
Versuchen. Das Fehlen gesetzlicher Regelungen verhinderte hier in beiden Fällen<br />
entsprechende Reformansätze. 99 Einzelne von den Gemeinden ausgehende Versuche in<br />
der Grafschaft Schaumburg scheiterten speziell am Widerstand der<br />
Schäfereiberechtigten.<br />
Das seit 1744 zu Preußen gehörende Ostfriesland, erfuhr mit dem 1765 erlassenen<br />
Urbarmachungsedikt <strong>eine</strong>n wichtigen Anstoß für Gemeinheitsteilungen, da als<br />
Voraussetzung für die Kolonisation die Generalteilungen der bislang von mehreren<br />
Gemeinden kollektiv benutzten Flächen notwendig war. 100<br />
Insgesamt waren die Ergebnisse dieser frühen Reformphase bescheiden. Der<br />
schleppende Verlauf der Gemeinheitsteilungen hatte mehrere Gründe. Am Anfang<br />
stand zunächst Überzeugungsarbeit, denn die Vorzüge <strong>eine</strong>r individuellen<br />
Gründlandnutzung waren entweder nicht allen sofort klar oder sie bestanden nur für<br />
einzelne Gruppen der bisherigen Berechtigten. Schwierig war das Verfahren, da die<br />
Gemeinheiten in der Regel von mehreren Gemeinden, dem landesherrlichen Amt und<br />
gegebenenfalls <strong>eine</strong>m adligen Gut genutzt wurden. Ehe die bisherigen<br />
Nutzungsberechtigten das Land individuell bewirtschaften konnten, bedurfte es erst<br />
<strong>eine</strong>r Generalteilung, die die Anteile der einzelnen Gemeinde trennte, was bei der<br />
Gemengelage der bisherigen Rechte, Mast-, Hude- und Holznutzung, nicht immer<br />
einfach war. Noch schwieriger war, wie schon dargestellt, der zweite Abschnitt, die<br />
Spezialteilung, durch die die Anteile der einzelnen Gemeindemitglieder bestimmt<br />
wurden. Oft gab es gegen die angewandten Teilungsmaßstäbe Widerstand in den<br />
Gemeinden.<br />
Dennoch sollten die Dorfbewohner in ihrer hemmenden Wirkung auf die Reform<br />
nicht überschätzt werden, denn die Beispiele für deren Einsatz zugunsten der Reform<br />
sind trotz <strong>eine</strong>s noch lückenhaften Forschungsstandes unübersehbar, wobei neben den<br />
Unterschieden zwischen den einzelnen Hofklassen regionale Abweichungen zu<br />
berücksichtigen sind. Gerade weil die Reform in hohem Maße in die vorhandenen<br />
dörflichen Strukturen eingriff und sie veränderte, kam der Regelungsfähigkeit des<br />
Staates <strong>eine</strong> nicht zu unterschätzende Rolle zu. Und gerade in diesem Punkt<br />
vermochten die entsprechenden Gesetze und Verordnungen kaum zu überzeugen,<br />
enthielten sie doch zumeist nur Absichtserklärungen, aber k<strong>eine</strong> genauen, juristisch<br />
einwandfreien Prozeduren. 101 Außerdem fehlte ein entsprechend ausgebildeter<br />
Verwaltungsapparat, der in der Lage gewesen wäre, die notwendigen Maßnahmen wie<br />
Vermessung, Erfassung des Bestandes und korrekte Berechnung der Abfindungen, in<br />
98 BRAKENSIEK (1991), 249-258. SCHAER, ECKHARDT (1993).<br />
99 BRAKENSIEK (1991), 235-242; SCHNEIDER (1994), 1, 82 f und 87.<br />
100 BRAKENSIEK (1991), 245.<br />
101 PRASS (1997b), 45-47.<br />
83
überschaubarer Zeit zu realisieren. In diesen Punkten brachte erst das 19. Jahrhundert<br />
den entscheidenden Durchbruch.<br />
5. Fr ühe Verkoppelung en<br />
Am 5. Dezember 1775 wurde vom Amt Dannenberg im Wendland zu Protokoll<br />
genommen, der Hauswirt Heinrich Meyer aus Samnatz wünsche, dass s<strong>eine</strong> Abgaben<br />
reduziert werden mögen, da er genauso viele Abgaben wie s<strong>eine</strong> Nachbarn zu leisten<br />
habe, obwohl er über weniger Land verfüge. Dem Protokoll ist weiter beigefügt, „dass<br />
sie [die Dorfbewohner] ihre Acker Länderey seit geraumer Zeit in 4 Theilen, oder<br />
Schlägen getheilet, wovon 2 für Winter, 1 für Sommer Frucht und der 4. Theil das<br />
Brackfeld ausmache.” Damit war der Wunsch verbunden, die Felder verkoppeln zu<br />
lassen. Mit diesem relativ <strong>kurze</strong>n Protokoll begann <strong>eine</strong> nahezu 20jährige Odyssee um<br />
die Verkoppelung der kl<strong>eine</strong>n Samnatzer Feldmark, die stellvertretend für ein zentrales<br />
Reformgeschehen in Nordwestdeutschland hier vorgestellt werden soll. 102<br />
13 Jahre später, am 13.8.1788, meldete der Kondukteur Ziegler aus Neuhaus an das<br />
Amt Dannenberg:<br />
„Euer Wohlgebohren habe ich die Ehre zu benachrichtigen, daß Jeden der Samnatzer Einwohner<br />
am 9ten d.M.[onats] 5 Koppeln angewiesen worden, um nach vollendeter Erndte die Bestellung der<br />
Saat in denselben vornehmen zu können. Die Sache wird dem Anschein nach den Vorteil<br />
übertreffen, den die Bauern sich davon versprochen haben...“<br />
Schon am 23. Oktober desselben Jahres berichtete er von dem erfolgreichen Abschluß<br />
der Verkoppelung in Samnatz:<br />
„Die Einteilung der Feldmark Samnatz ist dahin berichtiget, daß jeder der 4 Eingesessenen in 7<br />
Binnenschlägen zu 9 Morg.= 63 Morgen,<br />
in 7 Außenschlägen zu 5 ½ Morgen = 38 ½ Morgen,<br />
in Allem an Ackerländereien 101 ½ Morgen<br />
erhalten hat.<br />
An Wiesenlande hat jeder erhalten 1 ¾ Morgen. Die Haide ist theils an den Koppeln geschnitten,<br />
um die Ackerländereien daraus erweitern zu können, theils ist selbige zum Busch und Plaggenhieb<br />
in Schlägen von 5 Morgen bis zu 40 Morgen gelegt, so daß jeder Hauswirth in Allem an Haide<br />
und Weide besitzt<br />
180 Morgen.<br />
An Gartenland ist jedem, theils in Verbindung mit der zu Futterkräutern bestimmten Hofkoppel,<br />
teils um und bei der Wohnung zugeteilt 3 Morgen.<br />
Zum Anbau sind reserviert 5 Morgen.<br />
Der Schultze hat zur Dienstkoppel erhalten 12 Morgen.<br />
Auf den Fall, daß die Darzauer Schafhude aufgehoben werden sollte, ist <strong>eine</strong> Trift zu den übrigen<br />
Feldmarken abgepfahlet.“<br />
Weshalb hatte es lange 13 Jahre gedauert, bis die Zusammenlegung der Felder<br />
durchgeführt wurde, obwohl die Voraussetzungen hier vergleichsweise günstig waren,<br />
denn die Inhaber der vier Samnatzer Hausstellen waren sich von Beginn an einig? Über<br />
die Verkoppelung entschieden jedoch nicht nur die Bauern, sondern es gab neben der<br />
Schäferei <strong>eine</strong> Obrigkeit, die in der Veränderung der Feldmark <strong>eine</strong> Chance sah,<br />
zugleich die Abgaben zu erhöhen.<br />
102 Darstellung nach NHStAH Hann. 74 Dannenberg 3546; s.a. WRASE (1973), S. 37.<br />
84
Die Verzögerung lag mithin nicht allein an dem Widerstand der Bauern oder der<br />
Unfähigkeit der Beamten, sondern an weiteren Faktoren. Betrachten wir dazu noch<br />
einmal kurz die alte Feldbewirtschaftungsform, wie sie in Niedersachsen bis Anfang<br />
des 19. Jahrhunderts üblich war. Sie basierte auf der individuellen Nutzung des<br />
eigentlichen Hofes, der Bewirtschaftung des Ackerlandes und der gemeinsamen<br />
Nutzung der Grünflächen, der Heide, Moore und Wälder (vgl. oben Seite ff).<br />
Modernisierungen, und sei es nur die von den Verfechtern <strong>eine</strong>r modernen<br />
Agrarwirtschaft geforderte Besömmerung der Brache mit Klee oder Leguminosen,<br />
bereitete unter diesen Bedingungen Probleme. Allerdings war die Besömmerung der<br />
Brache schon seit dem 17. Jahrhundert in landesherrlichen Ordnungen geregelt, wie in<br />
der Calenberger Zehntordnung, die die besömmerte Fläche auf maximal ¼ des<br />
Brachfeldes begrenzte. 103<br />
Weiderechte spielten in den südlichen Landesteilen, in Calenberg, Göttingen,<br />
Grubenhagen, Hohnstein und Hildesheim <strong>eine</strong> größere Rolle, wobei meist die<br />
Domänen und adeligen Güter die Schäfereirechte für ganze Gerichtsbezirke besaßen,<br />
so dass hier sowohl Gemeinheitsteilungen wie auch Flurzusammenlegungen auf<br />
Widerstände stießen. 104 Dagegen spielten diese Rechte in den nördlichen Landesteilen,<br />
wo es weder Weideberechtigungen noch Schäfereirechte in größerer Zahl gab, k<strong>eine</strong><br />
entscheidende Rolle.<br />
Einer intensiven und individuellen Bewirtschaftung des Landes standen sowohl<br />
diese Weideberechtigungen als auch die sonstige, sich aus der starken Parzellierung des<br />
Landes ergebenden Nutzungsbeschränkungen entgegen. Ansätze zur Aufhebung dieser<br />
Beschränkungen reichen bis in das späte Mittelalter und das 16. Jahrhundert zurück, als<br />
etwa in den Marschgegenden ein intensiver Ackerbau aufgenommen wurde. 105 Eine<br />
frühe Umlegung gab es Anfang der 30er Jahre des 16. Jahrhunderts in zwei Dörfern<br />
des Bistums Verden. 106<br />
Weitere Verkoppelungen sind vereinzelt auch im 17. und frühen 18. Jahrhundert<br />
nachzuweisen; doch fallen sie zahlenmäßig nicht ins Gewicht. 107 Viele Ansätze<br />
scheiterten, weil sich die Beteiligten nicht einigen konnten, die Reformbestrebungen<br />
zu akademisch und obrigkeitlich waren und die Bauern nicht überzeugen konnten. Es<br />
fehlte an Vorbildern und sichtbaren Erfolgen in nächster Nachbarschaft. Solche<br />
Vorbilder gab es seit dem 18. Jahrhundert in England und in Dänemark. In England<br />
waren schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts 50 % bis 75 % der landwirtschaftlichen<br />
Nutzfläche verkoppelt und eingehegt. 108 In <strong>eine</strong>m komplexen, regional sehr<br />
unterschiedlich verlaufenden Prozess wurden dort seit dem 16. Jahrhundert die<br />
genossenschaftlichen Nutzungen durch individuelle ersetzt. Es fanden die sogenannten<br />
Einhegungen (enclosures) statt, die darin bestanden, dass die bislang offenen Felder<br />
durch Steinwälle oder Hecken eingeht wurden. Ziel der Einhegungen war die<br />
Erhöhung der Produktivität der Landwirtschaft vor allem durch <strong>eine</strong> Intensivierung<br />
der Schafzucht. Verlierer dieser Entwicklung waren die Bauern, denn die<br />
Gemeinweiden verschwanden und die Umstellung kostete viel Geld. 109<br />
103 Ebd., wo als zweites Beispiel die Hildesheimer Polizeiordnung von 1665 erwähnt wird.<br />
104<br />
WRASE (1973), 350 und PRASS (1997b), 130-132.<br />
105<br />
SEEDORF (1962).<br />
106<br />
SEEDORF (1962).<br />
107 Beleg fehlt!<br />
108<br />
HOSKINS (1985), S. 147-154, S. 177-210. Hier fehlt noch neuere englische Literatur! etwa<br />
Neeson Englische agrargeschichte, siehe Hist-Sem!<br />
85
Im dänischen Schleswig-Holstein hatte seit 1712 <strong>eine</strong> zunächst freiwillige<br />
Zusammenlegungsbewegung eingesetzt, in deren Verlauf Bauern und adelige Reformer<br />
gemeinsam begannen, die vorhandene Agrarverfassung zu verändern. Ergebnis dieses<br />
Prozesses war die Anlage von mit Wall und Hecken umstandenen Koppeln, auf denen<br />
<strong>eine</strong> geregelte Feld-Gras-Wirtschaft betrieben wurde. Der Begriff (Koppel), nicht<br />
jedoch die Elemente Wall und Hecke oder die spezielle Koppelwirtschaft wurde in<br />
Niedersachsen übernommen. Die zunächst freiwilligen, teilweise gegen den<br />
landesherrlichen Widerstand realisierten Verkoppelungen waren derart erfolgreich, dass<br />
sie seit 1768 in ein staatliches Verfahren überführt wurden. 110<br />
KHS: hier Karte einfügen?<br />
Die Entwicklung in Schleswig-Holstein mit ihren sichtbaren Erfolgen beeinflusste<br />
entscheidend den Fortgang der Gemeinheitsteilungen und Verkoppelungen im<br />
benachbarten Herzogtum Lauenburg, das bis zum Wiener Kongress 1815 zum<br />
Kurfürstentum Hannover gehörte. 111 Allerdings sollte dieser Übergang zu Reformen<br />
im benachbarten Lauenburg nicht als Ergebnis systematischer Übertragung seitens der<br />
Obrigkeit gesehen werden. Zwar wurden hier die ersten Verkoppelungen nicht von den<br />
Bauern in Eigenregie durchgeführt, aber von ihnen gingen wichtige Anstöße aus. 112<br />
Der entscheidende Grund für die beginnenden Verkoppelungen dürfte darin zu sehen<br />
sein, dass die vorhandene genossenschaftliche Feldnutzung angesichts <strong>eine</strong>r<br />
gestiegenen Bevölkerung an ihre Grenze stieß. Es fehlte vor allem an ausreichendem<br />
Dünger, so dass die Erträge des Ackerbaus zu gering waren. Von Gerhard Meyer ist<br />
auf die enge Verbindung genossenschaftlicher und herrschaftlicher Elemente in der<br />
alten Agrarverfassung verwiesen worden und darauf, dass angesichts der zunehmenden<br />
landesherrlichen Spielräume das adelige Element, mithin die Grundherrschaft immer<br />
weniger Akzeptanz fand. 113 Eine begrenzte Maßnahme wie die Verkoppelung stellte<br />
letztlich das gesamte System der Feldwirtschaft und der feudalen Abhängigkeit in<br />
Frage, denn den Bauern war nicht allein daran gelegen, die bisherigen<br />
genossenschaftlichen Elemente der Feldwirtschaft, sondern zugleich die herrschaftliche<br />
Ordnung als solche zu beseitigen bzw. zu reduzieren. Auf das übrige Kurfürstentum<br />
Hannover griff diese Entwicklung jedoch nicht über.<br />
Dort gingen wichtige Impulse von der Regierung, bzw. der Kammer aus. 1766<br />
wurden, weil die Bauern k<strong>eine</strong> Versuche unternahmen, im Fürstentum Lüneburg<br />
mehrere kl<strong>eine</strong> Vorwerke aufgeteilt und an Bauern oder an Neubauern (Anbauern)<br />
vergeben. 114 Erste dörfliche Verkoppelungen wurden in der zweiten Hälfte der 1770er<br />
Jahre in den Ämtern Ebstorf und Neuhaus durchgeführt. Bezeichnend für diese<br />
frühen Anfänge war der Wunsch der Bauern, mit der Verkoppelung zugleich <strong>eine</strong><br />
Senkung der Abgaben und <strong>eine</strong> Abfindung der Schäfereigerechtigkeit durchzuführen.<br />
Die weiteren Jahre waren von mühsam erreichten kl<strong>eine</strong>n Fortschritten geprägt; 115<br />
nur wenige Maßnahmen konnten realisiert werden, wie in Breese, wo 1787 ein<br />
Teilungs- und 1791 ein Verkoppelungsplan vorgelegt wird, in Gümse, wo es 1792 zum<br />
Verkoppelungsplan kommt oder in Saaße und Tatendorf, wo lediglich die<br />
109 „Briefly, one may define enclosures as a method of increasing the productivity or<br />
profitability of land.“ THIRSK (1984), S. 65 f.<br />
110<br />
AST-REIMERS (1965); PRANGE (1971).<br />
111<br />
MEYER (1965).<br />
112<br />
MEYER (1965), S. 52-55.<br />
113<br />
MEYER (1965), S. 57-59.<br />
114 Das folgende nach WRASE (1973), S. 34 f.<br />
115<br />
WRASE (1973), S. 36-38.<br />
86
Verkoppelung erreicht wird. 1792 schließlich gelingt die Verkoppelung der Feldmark<br />
Strachau. Bezeichnend für diese frühen Reformen ist, dass in den meisten Fällen die<br />
landesherrlichen Vorwerke mit einbezogen wurden.<br />
Die Bilanz zweier Jahrzehnte war enttäuschend: Weder bei den Verkoppelungen<br />
noch den Gemeinheitsteilungen konnten große Erfolge erzielt werde. So wurden<br />
zwischen 1775 und 1796 im gesamten Kurfürstentum lediglich 36 Teilungen ermittelt,<br />
weshalb <strong>eine</strong> Kommission eingesetzt wurde, die <strong>eine</strong> Gemeinheitsteilungsordnung für<br />
das Fürstentum Lüneburg entwarf. 116<br />
Der Versuch, auf freiwilliger Basis ohne ein differenziertes gesetzliches<br />
Instrumentarium zu <strong>eine</strong>r umfassenden Neugestaltung der Landwirtschaft zu gelangen,<br />
scheiterte im Gegensatz zu Holstein in Hannover. Die Verzögerungen waren die Folge<br />
mehrerer Faktoren. So erschwerte die Vielzahl der sich überlagernden Nutzungsrechte<br />
<strong>eine</strong> gütliche Einigung zwischen den Beteiligten vor allem dann, wenn seitens der<br />
Verwaltung k<strong>eine</strong> kompetenten Fachleute zur Verfügung standen. Hinzu kamen speziell<br />
die Schäfereirechte, die in Lüneburg wie auch in anderen Regionen zu <strong>eine</strong>r Blockade<br />
von Gemeinheitsteilungen und Verkoppelungen führen konnten. Teilweise verbot sich<br />
<strong>eine</strong> Teilreform auch deshalb, weil die naturräumlichen Voraussetzungen ungeeignet<br />
waren und nur <strong>eine</strong> umfassende Maßnahme sinnvoll war. Schließlich konnten die<br />
Kosten retardierend wirken, weshalb die Kammer im Herzogtum Lauenburg auch alle<br />
Kosten, im Fürstentum Lüneburg zumindest die Vermessungskosten übernommen<br />
hatte. 117 Problematisch dürfte aber letztlich das gesamte Verfahren gewesen sein, denn<br />
bei dem Fehlen bäuerlich-ländlicher Aktivitäten, die gezielt und gut wie in Schleswig-<br />
Holstein organisiert das Verfahren vorantrieben, ließ sich mit dem fallweisen Vorgehen<br />
ohne ausgebildete Verwaltungsbeamte, ohne <strong>eine</strong>n entsprechenden Apparat und ohne<br />
detaillierte Verfahrensvorschriften relativ wenig ausrichten.<br />
2. Nachholende Modernisierung?<br />
Der 30jährige Krieg und die ihm folgenden Kriege hatten tiefe Wunden besonders im<br />
mittleren Europa geschlagen. Städte und Dörfer waren menschenleer, Häuser und<br />
Höfe standen verlassen, die Menschen waren vertrieben oder auf der Flucht vor dem<br />
Krieg aus ihrer Heimat verschwunden, waren verarmt und bettelten. Dennoch gelang<br />
es in vergleichsweise <strong>kurze</strong>r Zeit, die Verluste und Schäden des Krieges auszugleichen,<br />
so dass spätestens um 1750 die Einwohnerzahlen wieder über denen vor 1618 lagen. 118<br />
Der Westfälische Frieden hatte zu <strong>eine</strong>r weiteren Aufwertung der deutschen<br />
Territorialstaaten geführt und deren Handlungsmöglichkeiten erweitert. Maßnahmen<br />
zur Verbesserung, Vereinheitlichung und Modernisierung der Verwaltung waren<br />
notwendig, um die inzwischen ausgedehnten landesherrlichen und staatlichen<br />
Aktivitäten zu finanzieren. Besonders in zwei Bereichen, der Hofhaltung und dem<br />
Militärwesen, hatten der Krieg und die Nachkriegszeit <strong>eine</strong>n erheblichen Handlungs-<br />
und Finanzbedarf geweckt. 119 Das war insofern nichts Neues, als schon im<br />
16. Jahrhundert der Landesherr die Landstände um Geld bitten musste. Seit dem<br />
17. Jahrhundert war er bemüht, s<strong>eine</strong> Finanzen möglichst ohne ständische Mitsprache<br />
zu organisieren, weshalb die ständische Rechte beschnitten und neue Steuern, wie die<br />
116 WRASE (1973), S. 43.<br />
117 WRASE (1973), S. 48 f.<br />
118 PRESS (1991), 270.<br />
119 Siehe hierzu jetzt WINNIGE (1996).<br />
87
Kontribution, eingeführt wurden. 120 Eine Ausschaltung der Landstände wie in den<br />
brandenburgisch-preußischen Territorien gab es allerdings in Niedersachsen nur in<br />
begrenztem Maße.<br />
Die Frage, ob es <strong>eine</strong>n „starken“ Staat gab, gar <strong>eine</strong>n „absolutistischen“ wird bis in<br />
jüngste Zeit kontrovers diskutiert. 121 Von Winfried Baumgart stammt etwa die<br />
Formulierung, es habe sich um <strong>eine</strong>n „funktional selektiven Staat“ gehandelt. 122 Die<br />
Diskussion über die Handlungsmöglichkeiten des absolutistischen Staates ist für unser<br />
Thema von nicht geringer Bedeutung. Sie führt zu der Frage nach den Faktoren, die<br />
zur Durchsetzung <strong>eine</strong>r neuen Form der Landbewirtschaftung geführt haben. Damit<br />
ist die Frage verbunden, wie diese Form überhaupt bewertet werden soll. Die<br />
Agrarverfassung, wie sie sich bis in das 17. Jahrhundert entwickelt hatte, war zu <strong>eine</strong>m<br />
wesentlichen Teil das Ergebnis politischer Entscheidungsprozesse, unterschiedlicher<br />
Machtverhältnisse und Zielvorstellungen. Der sich im 16. Jahrhundert etablierende<br />
Steuerstaat war in entscheidendem Maße auf <strong>eine</strong> leistungsfähige Landwirtschaft<br />
angewiesen. Konkurrierende Herrschaft seitens des Adels konnte im Westen<br />
weitgehend zurückgedrängt bzw. kontrolliert werden, ohne sie letztlich in Frage zu<br />
stellen. Ein Machtkompromiss wie in Preußen zwischen Staat und Adel war hier nicht<br />
notwendig. 123<br />
Die neuere Forschung hat allerdings teilweise erhebliche Zweifel geäußert, ob es im<br />
späten 17. und frühen 18. Jahrhundert <strong>eine</strong>n absolutistischen Staat gegeben habe, der<br />
unabhängig von den Landständen, insbesondere dem Adel hat regieren und sich<br />
gegenüber lokalen und regionalen Gewalten sowie dem Herkommen hat durchsetzen<br />
können. Die Staaten des 18. Jahrhunderts blieben in ihrer Handlungsfähigkeit weiter<br />
durch die landständischen Positionen, die territorialen Eigenheiten und <strong>eine</strong><br />
unzureichende Behördenorganisation eingeschränkt, was insbesondere, aber nicht<br />
allein für die nordwestdeutschen Gebiete gilt. 124 Aber haben sie diese Beschränkung<br />
überhaupt in dieser Form gesehen, oder waren diese Elemente nicht-moderner<br />
Staatlichkeit selbstverständliches Kennzeichen landesherrlicher Politik? 125<br />
Exemplarisch lässt sich dies an den ständischen Mitspracherechten und der<br />
Verwaltungsstruktur zeigen. Zwar ist sich die Forschung inzwischen längst darüber<br />
einig, dass von <strong>eine</strong>r Ausschaltung landständischer Rechte kaum die Rede sein kann,<br />
auch wenn in einigen Territorien wie in Brandenburg-Preußen k<strong>eine</strong> Landtage mehr<br />
einberufen wurden und die Landstände das Steuerbewilligungsrecht verloren hatten. 126<br />
Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis für die agrarischen Verhältnisse kann nur darin<br />
bestehen, stärker nach den internen Reibungsverlusten zu fragen, weil der Adel als<br />
wichtigster politischer und sozialer Repräsentant erhebliche Möglichkeiten zur<br />
Blockade hatte. Selbst der preußische Absolutismus als Herrschaftskompromiß mit<br />
dem Adel weist auf diese Dimension hin, die in den kurhannoverschen Landen von<br />
120 PRESS (1991),<br />
121 Einen guten Überblick bieten die Aufsätze in BIRTSCH (1996), und ASCH (1996).<br />
122 So auf der Tagung der Frühneuzeit-AG in Jena, am 19.9.1997.<br />
123 Dazu die oben genannten neueren Literaturtitel, außerdem SCHLUMBOHM (1997); neuerdings<br />
und stärker differenzierend: HÄRTER (2002). Allerdings stellte sich die Frage speziell im<br />
größten nordwestdeutschen Territorium, in Kurhannover deshalb nicht, weil hier der<br />
Landesherr in England war und die im 17. Jahrhundert erkennbaren Tendenzen zum<br />
Absolutismus nicht weiter entwickelt wurden.<br />
124 Eine Ausnahme bildete der Kleinstaat Schaumburg-Lippe, dazu HAUPTMEYER (1980).<br />
125 Auf die spezifische Form frühmoderner Staatlichkeit verweist: BLÄNKNER (1992).<br />
126 Als neuere Darstellung dazu DREITZEL (1992).<br />
88
weit größerer Bedeutung war. Hier blieben die alten regionalen bzw. territorialen<br />
Landstände bis in das 19. Jahrhundert bestehen und schränkten <strong>eine</strong> einheitliche und<br />
gesamtstaatliche Reformpolitik ein.<br />
So klagte Spittler in s<strong>eine</strong>r Geschichte Kurhannovers: Wenn König Georg III. für<br />
acht Millionen Briten <strong>eine</strong> neue Steuer auflegen wolle, müsse er nur die Bewilligung des<br />
Parlamentes einholen, „aber wenn derselbe von s<strong>eine</strong>n sämtlichen Deutschen Unterthanen, welche<br />
ungefähr höchstens den zehnten Theil s<strong>eine</strong>r Insulaner ausmachen, <strong>eine</strong> allgem<strong>eine</strong> neue Steuer<br />
verlangt, so muß mit sechs verschiedenen Parlamenten vorher verhandelt werden, und jedes dieser sechs<br />
verschiedenen Parlamente besteht aus mehreren Classen von Landständen gleichwichtiger Rechte und<br />
gleichversicherter Privilegien, welche alle, so sehr sonst ihre Vorzüge verschieden sind, um ihre freye<br />
Einwilligung hierüber befragt werden müssen, auch will am Ende das Volk im Lande Hadeln noch<br />
besonders gebeten seyn“. 127<br />
Es gab k<strong>eine</strong>n einheitlichen hannoverschen Staat, sondern ein Konglomerat von<br />
mehr oder weniger eigenständigen Teilterritorien, die jeweils über eigene<br />
landständische Vertretungen verfügten. Die Diskussionen mit den lüneburgischen<br />
Landständen über die Ausweisung neuer Anbauerstellen zeigen den begrenzten<br />
staatlichen Handlungsspielraum. 128 Die im Fürstentum Lüneburg zu Tage tretenden<br />
Positionen lassen die komplexe Struktur frühneuzeitlicher Staaten erkennen, was zur<br />
Folge hatte, dass landesherrliche Intentionen in Konflikt mit den Interessen anderer<br />
gesellschaftlicher Gruppen geraten konnten. Die neuere Forschung hat auf das<br />
Programmatische und auch das Propagandistische des Absolutismus verwiesen und<br />
damit den Begriff stärker auf s<strong>eine</strong>n zeitgeschichtlichen Kontext reduziert. 129 Zugleich<br />
zeigen diese Arbeiten, dass die Handlungsweise des Staates kontextgebunden und<br />
k<strong>eine</strong>swegs immer geplant war. Zugleich waren die Unterschiede zwischen den<br />
europäischen Staaten, die über absolutistische oder nicht absolutistische Monarchien<br />
verfügten, weit geringer als früher angenommen. Die englische Monarchie, der ein<br />
starkes Parlament gegenüber stand, war teilweise gewiss genauso handlungsfähig wie<br />
die „absolutistischen“ Konkurrenten in Deutschland, worauf auch das obige Zitat<br />
Spittlers hinweist.<br />
Angesichts dieses Forschungs- und Diskussionsstandes ist es überraschend, dass<br />
hinsichtlich der Agrarreformen <strong>eine</strong> neuere Debatte weitgehend ausgeblieben ist. Die<br />
großen Männer und Ideen dominieren bis in jüngste Handbücher sowohl zur<br />
niedersächsischen Geschichte als auch zur deutschen Agrargeschichte. 130 Solche<br />
Darstellungen sind entstanden vor dem Hintergrund <strong>eine</strong>r positivistischen<br />
Fortschreibung aufklärerischen Gedankenguts, unter der Annahme, dass die Reformen<br />
erfolgreich und insofern die ihnen zugrunde liegenden Prozesse nicht weiter zu<br />
untersuchen seien.<br />
127 DREITZEL (1992), I, 1 f.<br />
128 DEIKE, DEIKE (1994), 63-67.<br />
129 Als Frage formuliert in der Einleitung von ASCH (1996), 23; außerdem ebd. Ernst Hinrichs:<br />
Abschied vom Absolutismus, 361. Schon vor über 30 Jahren hat Ernst Hubatsch davor<br />
gewarnt, den Absolutismus des 17. und 18. Jahrhunderts über zubewerten: „Der angeblich<br />
absolut regierende Herrscher der Barockzeit war noch ziemlich weit entfernt von der Absolutheit der modernen<br />
abstrakten demokratischen Staatsgewalt, wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert … herausbildet.“ (HUBATSCH<br />
(1965), 9). Schon im Titel ist die Dichotomie des Absolutismusbegriffs angelegt bei<br />
VIERHAUS (1990).<br />
130 HUCKER, SCHUBERT, WEISBROD (1997), 349-352; ACHILLES (1993), 91-100, der die „treibenden<br />
Ideen und Kräfte“ darstellt.<br />
89
Anders stellt es sich dar, wenn nach dem Zusammenhang von Staatlichkeit und den<br />
Folgen ökonomischer Entwicklungen oder den Verhaltensweisen unterschiedlicher<br />
gesellschaftlicher Gruppen gefragt wird. Zuweilen wirkt die ältere, von Knapp<br />
angeregte Forschung problemorientierter, denn schon Wittich wies auf den engen<br />
Zusammenhang von staatlichen Interessen und Agrarpolitik im 18. Jahrhundert hin. 131<br />
Im 16. Jahrhundert standen die Agrarpolitik und Maßnahmen zur Verbesserung der<br />
staatlichen Einnahmen in <strong>eine</strong>m engen, funktionalen Verhältnis. Daran änderte sich<br />
auch in der Folgezeit nichts; im Gegenteil, angesichts <strong>eine</strong>r zunehmenden<br />
Staatsverschuldung kam der Forderung nach Verbesserung der Einnahmesituation<br />
erhöhte Priorität zu. 132 Die neue Position der Territorialstaaten, die internationalen<br />
Konflikte und die Bemühungen um <strong>eine</strong> neue Herrschaftslegitimation bedingten <strong>eine</strong><br />
verstärkte Förderung des wirtschaftlichen Geschehens, mit der Absicht, die<br />
Einwohnerzahl zu erhöhen, <strong>eine</strong> aktive Handelsbilanz zu erzielen und <strong>eine</strong>n möglichst<br />
großen Staatsschatz zu erwirtschaften. 133 Im Gegensatz zu älteren Vorstellungen, die in<br />
<strong>eine</strong>r steigenden Bevölkerung eher <strong>eine</strong> Bedrohung knapper Ressourcen sahen, wurde<br />
seit dem 16. Jahrhundert Bevölkerungswachstum als notwendige Voraussetzung<br />
gesamtgesellschaftlichen Wachstums gesehen: 134<br />
„Sie [die Landesherren] wollten mehr Untertanen haben, weil mehr Untertanen mehr<br />
Steuerzahler, mehr Arbeiter und mehr Konsumenten bedeuteten, die die Wirtschaft stimulierten,<br />
und mehr Rekruten für die Armee waren.“ 135<br />
Die dabei angewandten Methoden merkantilistischer Wirtschaftspolitik orientierten<br />
sich zwar vergleichsweise stark an dem französischen Vorbild, wiesen jedoch zugleich<br />
individuelle Ausformungen auf. Bei aller Förderung von Gewerbe und Handwerk blieb<br />
die Dominanz der Landwirtschaft ungebrochen. Die Auseinandersetzung mit der<br />
agrarischen Produktionsweise schlug sich in der Entstehung <strong>eine</strong>r speziellen<br />
Literaturgattung („Hausväterliteratur“), der Etablierung von ökonomischen Sozietäten,<br />
schließlich der Einrichtung kameralistischer Lehrstühle zur Forschung und Ausbildung<br />
des Verwaltungsnachwuchses nieder. Die systematische und kritische<br />
Auseinandersetzung mit der vorhandenen agrarischen Produktionsweise legte bald<br />
viele problematische Aspekte bloß, wies auf Ungereimtheiten hin und benannte<br />
Änderungsvorschläge. Gleichwohl stand sie weiterhin in enger Verbindung mit der<br />
vorhandenen landesherrlichen Ebene. Die Wirkungen dieser theoretischen,<br />
aufklärerischen Auseinandersetzung mit der Landwirtschaft sollte jedoch nicht<br />
überbewertet werden, denn die in sich geschlossenen Theoriegebäude <strong>eine</strong>s Quesnay<br />
oder Beckmann entstammen in der Regel der zweiten Hälfte des Jahrhunderts,<br />
während Reformansätze schon viel früher, wenngleich vereinzelt und ohne<br />
systematische Begründung entstanden. Dies ist exemplarisch an der Neuorganisation<br />
der preußischen Domänenverwaltung unter Friedrich-Wilhelm zu sehen, welche durch<br />
die <strong>Einführung</strong> des Generalpächters <strong>eine</strong> verbesserte Einnahmesituation für den Staat<br />
bezweckte. 136<br />
131 Ansatzweise geschieht dies bei WEHLER (1987), 164-170.<br />
132 REINHARD (1996).<br />
133 BLUM (1978), 206-209.<br />
134 SCHULZE (1987), 26.<br />
135 BLUM (1978), 207, eigene Übersetzung. („They wanted more subjects because more subjects meant<br />
more taxpayers, more workers and consumers to stimulate economic life and more recruits for their<br />
armies.“)<br />
136 MÜLLER (1981), hier 318.<br />
90
Die Konzentration auf die theoretische Auseinandersetzung mit der Landwirtschaft<br />
verkennt zugleich, dass hierdurch Kausalitäten nahe gelegt werden, die in der Praxis<br />
kaum nachzuweisen sind. Die zunehmende Inanspruchnahme aller ökonomischen<br />
Kräfte als Voraussetzung für <strong>eine</strong> Steigerung der staatlichen Leistungskraft in <strong>eine</strong>m<br />
Jahrhundert der Kriege und Konflikte musste gewissermaßen notgedrungen an erster<br />
Stelle die Landwirtschaft berücksichtigen.<br />
Die in mehreren nordwestdeutschen Territorien betriebene Redintegrationspolitik,<br />
die Wiederbesetzung vornehmlich der größeren Hofstellen mit Landwirten, muss als<br />
ein Versuch gewertet werden, die für den Staat wichtigste Hofgruppe, die spannfähigen<br />
Betriebe, möglichst schnell wieder in vollständiger Zahl zur Verfügung zu haben,<br />
während die von der ländlichen Bevölkerung begehrteren, weil weniger belasteten<br />
Kleinstellen an zweiter Stelle standen. Ohne <strong>eine</strong> leistungsfähige bäuerliche<br />
Oberschicht waren viele staatlichen und militärischen Funktionen kaum zu erfüllen, so<br />
dass diese Schicht zunächst von den landesherrlichen Verwaltungen gefördert wurde. 137<br />
Die Redintegrationspolitik tangierte letztlich auch die grundherrschaftlichen<br />
Verfügungsrechte über die Höfe, und so ist es nicht verwunderlich, wenn die gegen<br />
Ende des 16. Jahrhunderts begonnene Bauernschutzpolitik nach dem Krieg fortgesetzt<br />
wurde. Gleichzeitig gab es Ende des 17. Jahrhunderts erste Bestrebungen, die naturalen<br />
Verpflichtungen der Bauern zu lockern, weil sie <strong>eine</strong>r effektiven Wirtschaft im Wege<br />
standen. 138 Die agrarischen Verhältnisse befanden sich also schon vor 1750 im Fluss.<br />
Doch hatte dies k<strong>eine</strong> Reduktion der Belastung der Bauern zur Folge, sondern das<br />
Gegenteil: „Es scheint kaum möglich, dass zu den schon vor dem Kriege bestehenden<br />
nicht unbeträchtlichen Lasten noch neue hinzugekommen sein können. Und doch ist<br />
es so …“ 139 Zu den im Fürstentum Osnabrück vorhandenen Abgaben kamen neue<br />
hinzu, es wurden vermehrt Dienste in natura gefordert und gleichzeitig andere in Geld<br />
umgewandelt, was das Dienstwesen noch unübersichtlicher werden ließ. 140<br />
Die Förderung der Kameralwissenschaft hatte ohne Zweifel <strong>eine</strong>n funktionalen<br />
Aspekt, der vorrangig dem fiskalischen Ziel merkantilistischer Vorstellungen diente.<br />
Insofern gingen, jenseits aufklärerisch-kritischer Gedankengänge von den finanziellen<br />
Erfordernissen wichtige Impulse für <strong>eine</strong> Umgestaltung der vorhandenen agrarischen<br />
Verhältnisse aus, die in <strong>eine</strong>m engen Zusammenhang mit der allgem<strong>eine</strong>n Wirtschafts-<br />
und Finanzpolitik standen. Sichtbar werden die landesherrlichen Präferenzen<br />
beispielsweise bei frühen Versuchen, die Dienste auf den landesherrlichen Domänen<br />
abzustellen. Hier ging es nicht um <strong>eine</strong> Entlastung der bäuerlichen Betriebe als<br />
Selbstzweck, sondern um <strong>eine</strong> Verbesserung der Einnahmesituation der Domäne bzw.<br />
der Kammerkasse. 141 Wenn <strong>eine</strong> solche Maßnahme auch mit ökonomischen Vorteilen<br />
für die Bauern verbunden war, so war das sicherlich <strong>eine</strong> angenehme, im Sinne<br />
kameralistischer Politik sinnvolle Folge, die aber nicht im Zentrum des Anliegens<br />
stand.<br />
Seit dem 17., spätestens dem 18. Jahrhundert können wir <strong>eine</strong> Zunahme staatlicher<br />
Aktivitäten gegenüber ständischen Zwischengewalten wie dem Adel oder den Städten<br />
137 Beispiele bei MAUERSBERG (1938), 104; RÖPKE (1924), 61-66; PRÖVE (1929), 42 f; DEIKE,<br />
DEIKE (1994), 54.<br />
138<br />
HESSE (1900), 101 f.<br />
139<br />
WINKLER (1959), 58.<br />
140<br />
HIRSCHFELDER (1971), 133-138.<br />
141 Für Preußen zeigte dies schon GROPP (1967), 65 und 162, der <strong>eine</strong>m kurzfristigen Defizit<br />
<strong>eine</strong>n langfristigen Gewinn gegenüberstellte. Siehe auch unten S. .<br />
91
feststellen. 142 Selbst dort, wo es wie in den Ländern des Kurfürstentums Hannover<br />
nicht zur Ausbildung des Absolutismus kam, 143 nahm die staatliche Kontrolle des<br />
bäuerlichen Besitzes zu Lasten der adeligen Grundherren weiter zu. Diese Ausweitung<br />
staatlicher Eingriffe war für den agrarischen Sektor insofern von Bedeutung, als sich<br />
hier das Bestreben artikulierte, die adeligen Zwischengewalten nach und nach zu<br />
entmachten, und <strong>eine</strong> umfassende und direkte Eingriffsmöglichkeit auf alle ländlichen<br />
Untertanen zu erreichen. 144 Über die genauen Elemente dieses Veränderungsprozesses<br />
sind wir noch unzureichend informiert, aber es gibt Hinweise darauf, daß die Struktur<br />
der nordwestdeutschen Grundherrschaft mit der Gemengelage feudaler Rechte und<br />
kl<strong>eine</strong>n gutswirtschaftlichen Betrieben, der geringen Zahl von adeligen Gerichten und<br />
dem seit dem Ende des 16. Jahrhunderts durchgesetzten Bauernschutz dieser Tendenz<br />
zur Ausdehnung staatlicher Handlungsräume entgegenkam. 145 Hierdurch wurde den<br />
Privatgrundherren ein Teil ihrer elementaren sozialen und ökonomischen Rechte<br />
genommen und vermutlich die Position des Adels geschwächt. Es ist aber noch<br />
weiteren Untersuchungen vorbehalten, das Ausmaß und die Reichweite dieser<br />
staatlichen Eingriffe präziser zu ermitteln. Die Bedeutung dieser Eingriffe dürfte<br />
vermutlich weniger in ihrem Umfang, sondern in ihrer inhaltlichen Richtung zu sehen<br />
sein, denn hier artikulierte sich <strong>eine</strong> Agrarpolitik an, die <strong>eine</strong>rseits in der Tradition des<br />
Bauernschutzes des 16. Jahrhunderts stand und andererseits schon Elemente der<br />
Reformpolitik des 19. Jahrhunderts enthielt. Unzureichend ist bislang die Frage<br />
beantwortet, wie der hannoversche Adel auf diese Politik reagierte.<br />
Trotz der offenkundigen Einschränkung privatgrundherrlicher Rechte blieb die<br />
ständische Struktur der Gesamtgesellschaft vorerst unantastbar, was im hannoverschen<br />
Staat um so mehr galt, als hier der Adel im 18. Jahrhundert zentrale politische<br />
Funktionen übernommen hatte und ihm kein ortsanwesender handlungsfähiger<br />
Landesherr gegenüberstand. 146 Damit ist ein aus landesherrlicher Sicht zentrales<br />
Dilemma der Reformen angesprochen: Die politischen Strukturen setzten <strong>eine</strong> enge<br />
Abstimmung mit den ständischen Zwischengewalten, speziell dem Adel voraus,<br />
wodurch <strong>eine</strong> einheitliche Reformpolitik entscheidend behindert bzw. in ihrer Richtung<br />
und ihren Inhalten verändert wurde. Ebenfalls nicht deckungsgleich mit der staatlichen<br />
Reformpolitik war die Position der Bauern, deren Widerstand gegen Ausweisungen für<br />
neue Anbauernstellen schon angesprochen wurde. 147 In letzter Konsequenz bedeutete<br />
dies, dass der Versuch, die agrarischen Verhältnisse entsprechend den fiskalischen und<br />
staatlichen Interessen neu zu ordnen, die vorhandene gesellschaftliche Ordnung nach<br />
und nach verändern musste. Das musste zwangsläufig auch zu <strong>eine</strong>r neuen<br />
Finanzverwaltung führen die aber erst im 19. Jahrhundert realisiert wurde.<br />
Die Frage ist, ob nicht analog zur Entwicklung im 16. Jahrhundert die Erhöhung<br />
von Steuern einherging mit <strong>eine</strong>r effektiveren Verwaltung der Domäne. Der 30jährige<br />
Krieg hatte zumindest <strong>eine</strong> erhöhten Finanzbedarf zur Folge, der sich sofort in neuen<br />
bzw. erhöhten Steuern niederschlug. 148 Während die grundherrlichen bzw. domanialen<br />
Einnahmen weitgehend stagnierten, expandierten die Steuern weiter und wurden erst<br />
142 WITTICH (1896); gibt es auch noch Neueres? Weitgehend danach auch mehrfach Achilles,<br />
zuletzt inACHILLES (1982), 5.<br />
143 Entsprechende Ansätze des 17. Jahrhunderts fanden nach der Übernahme der englischen<br />
Krone k<strong>eine</strong> Fortsetzung im 18. Jahrhundert.<br />
144 Darauf hat schon vor 100 Jahren Werner Wittich hingewiesen.<br />
145 Bislang nur ROTHE (1998).<br />
146 Lampe?<br />
147 DEIKE, DEIKE (1994), etwa S. 58-62.<br />
92
in den 1790er Jahren unter dem Eindruck der französischen. Revolution gesenkt. 149 Die<br />
finanzielle Situation des Landes und speziell der Kammer verbesserte sich dadurch<br />
aber nicht, 1770 bis 1780 mussten sogar 1 Mill. Rtlr. aufgenommen werden. 150<br />
Neben den Reformversuchen im agrarischen Bereich gab es weitere Maßnahmen<br />
wie die Vereinheitlichung von Maßen und Gewichten 151 oder statistische und<br />
kartographische Aufnahmen des Staatsgebietes und s<strong>eine</strong>r Einwohner, wobei das<br />
militärische Interesse unverkennbar, aber nicht allein ausschlaggebend war. Dabei<br />
konnten auch Vorhaben, die eigentlich nur der Erfassung des vorhandenen Zustandes<br />
dienen sollten, zu Veränderungen führen, wie die braunschweigische<br />
Landesvermessung der 1740er Jahre. Sie war bald verknüpft mit ersten, noch<br />
zögerlichen Verbesserungen der Feldstruktur und weist damit in die Richtung der<br />
späteren Verkoppelung. Ein Blick auf die Aufgaben dieser Landesvermessung<br />
verdeutlicht die Komplexität absolutistischer Reformversuche, denn sie sollten dienen<br />
• der Fixierung der Grundbesitzverhältnisse und Berichtigung der durch Abpflügen<br />
und „Okkupation“ eingetretenen Ungerechtigkeiten und damit zur Erlangung <strong>eine</strong>r<br />
größeren Rechtssicherheit;<br />
• der Vorbereitung <strong>eine</strong>r Zusammenlegung der Grundstücke (Verkoppelung),<br />
verbunden mit <strong>eine</strong>r gerechteren Steuerveranlagung;<br />
• der Vorbereitung <strong>eine</strong>r Aufteilung der Gemeinheiten und Koppelweiden, sowie<br />
<strong>eine</strong>r Urbarmachung der Moore und Heiden;<br />
• zur Ermöglichung <strong>eine</strong>r rationellen, individuell gestalteten Wirtschaftsweise und<br />
dadurch deutlichen Ertragssteigerungen. 152<br />
Einen anderen Weg ging man in Kurhannover wenige Jahrzehnte später mit der<br />
Kurhannoverschen Landesaufnahme, die auf der Basis <strong>eine</strong>r vergleichsweise<br />
großmaßstäblichen Karte (1:21.333) <strong>eine</strong> Übersicht des gesamten Landes mit<br />
kultivierten und nicht kultivierten Flächen, Wegen und Straßen, ländlichen und<br />
städtischen Siedlungen (einschließlich der Feuerstellen) enthielt, allerdings auf <strong>eine</strong><br />
exakte Erfassung der agrarischen Verhältnisse verzichtete. Analoge Kartenwerke zu<br />
den braunschweigischen entstanden in Oldenburg, Osnabrück und Schaumburg-<br />
Lippe. 153<br />
Mit der kartographisch exakten Erfassung des eigenen Staatsgebietes<br />
korrespondierte die flächendeckende Erfassung der Einwohner <strong>–</strong> jenseits steuerlicher<br />
Einschätzung wie noch im Fall der hannoverschen Kopfsteuerbeschreibung von<br />
1689 154 <strong>–</strong> und erlaubte damit zum ersten Mal präzise Angaben über Einwohnerzahl,<br />
Fläche, Struktur, topographische Verhältnisse, Besiedlungsdichte und Wegenetz.<br />
Gleichzeitig gingen von solchen Erhebungen Impulse für <strong>eine</strong> stärkere<br />
Vereinheitlichung und Normierung gegen regionale und lokale Sonderregeln aus. 155<br />
Für <strong>eine</strong> in internationaler Konkurrenz befindliche, auf die Steigerung der eigenen<br />
Einkünfte zielende und damit die effektivere Nutzung der vorhandenen Ressourcen<br />
148 Vgl. die Personensteuerverordnung für die Fürstentümer Calenberg und Göttingen vom<br />
9.8.1763; abgedruckt in OBERSCHELP (1985),148-156. Als lokales Beispiel siehe Fritzemeier,<br />
Korporation, 112 f.<br />
149 Oberschelp, Revolution, Textband, 125-142 mit Beispielen aus niedersächsischen Territorien.<br />
150 OBERSCHELP (1983), 107 f.<br />
151 Dazu ALBRECHT (1980) für Braunschweig hinsichtlich der Maße und Gewichte.<br />
152 JORDAN (1955), 149.<br />
153 Eine gute Übersicht mit Einzelbeispielen liefert LEERHOFF (1985).<br />
154 Hauptmeyer, Hannover, I, XX.<br />
155 ALBRECHT (1980). XX<br />
93
zielende „Volks“-Wirtschaft, musste die konkrete Situation jenseits theoretischer<br />
Wirtschaftsmodelle 156 zur Überprüfung bestehender Nutzungsformen führen und<br />
Verbesserungsversuche anregen. Allerdings waren das noch im wahrsten Sinne begrenzte<br />
Modernisierungsversuche, die nur mit Vorsicht im Verständnis neuerer<br />
Modernisierungstheorien interpretiert werden sollten. 157<br />
Dies wird dann schnell deutlich, wenn berücksichtigt wird, dass der „Staat“ als<br />
handlungsfähiges Subjekt im Sinne „absolutistischer“ Vorstellungen nicht überbewertet<br />
werden darf. Er stieß an vielfältige, bewusst wahrgenommene oder zunächst als normal<br />
bewertete Grenzen. 158 Auf das Verhalten <strong>eine</strong>r an <strong>eine</strong>r moralischen Ökonomie und<br />
dem Herkommen orientierten Bevölkerung, besonders den zurückhaltenden,<br />
vorsichtigen „Landmann“ ist oft genug verwiesen worden. Über das Verhalten der<br />
ländlichen Bevölkerung wird noch näher einzugehen sein, jedoch ist schon hier der<br />
Verweis notwendig, dass es kaum allein der Bevölkerung anzulasten ist, wenn<br />
Reformansätze stecken blieben. Tatsächlich waren die beschriebenen mentalen,<br />
politischen und administrativen Grenzen mindestens ebenso mächtig wie die<br />
Verhaltensweisen der Untertanen.<br />
Diesen gleichsam äußeren Faktoren gesellten sich innere hinzu, die in der Struktur<br />
der frühneuzeitlichen Staaten begründet lagen. Nicht ob es Domänen gab, war die<br />
entscheidende Frage des 18. Jahrhunderts, sondern wie sie bewirtschaftet wurden. Die<br />
in den niedersächsischen Territorien übliche Verpachtung der Domäne an den<br />
ortsansässigen Amtmann mochte unter den Bedingungen des frühen 18. Jahrhunderts<br />
durchaus sinnvoll sein, wies aber im Sinne <strong>eine</strong>r effektiveren Administration und<br />
systematischen Bewirtschaftung des Domaniallandes Nachteile auf. 159 Zum <strong>eine</strong>n<br />
vereinte der Amtmann mehrere Funktionen in sich: als Vertreter der landesherrlichen<br />
also hoheitlichen Verwaltung, als Inhaber der niederen Gerichtsbarkeit, als Vertreter<br />
des Domaniums und als privater Pächter des Vorwerks. Damit hatte er viele<br />
Möglichkeiten auf s<strong>eine</strong>r Seite, während <strong>eine</strong> sinnvolle Kontrolle s<strong>eine</strong>r Aktivitäten<br />
durch die Kammer oder die Regierung erschwert war. 160 Hinsichtlich agrarischer<br />
Veränderungen hatten die Amtleute <strong>eine</strong> wichtige, häufig übersehene Position. Zwar<br />
mussten auch sie, als Domänenpächter, an <strong>eine</strong>r Ertragssteigerung interessiert sein,<br />
jedoch kaum an <strong>eine</strong>r Erhöhung der Pacht und nur begrenzt an <strong>eine</strong>r Veränderung<br />
<strong>eine</strong>s Systems, dass ihnen <strong>eine</strong>n großen Handlungsspielraum ließ. Ob Dienste effektiv<br />
oder ineffektiv waren, blieb für die Amtleute solange von geringer Bedeutung, wie sie<br />
je nach ihren Bedürfnissen aus unterschiedlichen Formen <strong>–</strong> Naturaldienst, Geldleistung<br />
<strong>–</strong> die für sie jeweils günstigste auswählen konnten.<br />
Die an fiskalischen Interessen orientierte Politik der Staaten, vielfach gebrochen<br />
durch das Herkommen, durch Verwaltungstraditionen und ständische Mitwirkung, sah<br />
sich zudem <strong>eine</strong>r komplexen, im Verlauf des 18. Jahrhunderts nicht zuletzt durch die<br />
eigenen Aktivitäten radikal ändernden sozialen und ökonomischen Realität gegenüber.<br />
Hierzu zählten besonders die sozialen und demographischen Veränderungen in Folge<br />
des aktiv geförderten schnellen Bevölkerungswachstums. Die Frage nach den Gründen<br />
für den schnellen und im gesamteuropäischen Vergleich herausragenden deutschen<br />
Bevölkerungsanstieg hat die Forschung in den letzten Jahrzehnten intensiv<br />
156 Wie sie Achilles in s<strong>eine</strong>m Handbuch, ACHILLES (1993), XX, kritisiert.<br />
157 SCHMIDT (2002), 91. NB: Ist es die 2. Auflage?<br />
158 Darauf verweist erneut Clemens Zimmermann; ZIMMERMANN (1996).<br />
159 Hierzu RIESENER (1991).<br />
160 OBERSCHELP (1983), 108.<br />
94
eschäftigt. 161 Neben der staatlichen Bevölkerungspolitik durch die Ausweisung neuer<br />
Hausstellen dürften besonders ökonomische Anreize von Bedeutung gewesen sein. Die<br />
Rolle der so genannten Protoindustrialisierung, also der gewerblichen Durchdringung<br />
des flachen Landes besonders durch die L<strong>eine</strong>nherstellung, ist zwar weiterhin<br />
umstritten, aber es dürfte k<strong>eine</strong>m Zweifel unterliegen, dass die exportorientierte<br />
L<strong>eine</strong>nweberei <strong>eine</strong> wichtige Rolle bei der Bevölkerungszunahme spielte, die regional<br />
durch die Hollandgängerei ergänzt wurde 162 . Die Reichweite dieses spezielles<br />
Erklärungsansatzes ist indes zu gering, denn auch in anderen Gebieten mit geringer<br />
Exportorientierung wie im Calenberger Land gab es ein deutliches<br />
Bevölkerungswachstum, wobei wir auch hier <strong>eine</strong>r in hohem Maße sozial und<br />
ökonomisch differenzierten Bevölkerung begegnen. 163 Der Garnverkauf war in diesen<br />
Gebieten noch bis in das 19. Jahrhundert von großer Bedeutung für die<br />
unterbäuerlichen Schichten. 164 „ … viele Kötner als die Brinksitzer und Häuslinge sind<br />
um so mehr auf das Spinnrad angewiesen, da sie oft fast k<strong>eine</strong> andere Produkte als<br />
Garn zum Verkauf haben“. 165<br />
Mochte unter den Bedingungen <strong>eine</strong>r geringen Bevölkerungszahl die Ansetzung<br />
neuer Anbauer noch unproblematisch ersch<strong>eine</strong>n, so verschärften sich mit der weiteren<br />
Bevölkerungszunahme die sozialen Probleme und zeigten, dass im vorhandenen<br />
agrarischen System <strong>eine</strong> beliebige Stellenausweitung und Bevölkerungszunahme zu<br />
systembedingten Konflikten führte. Zwar wäre die Vorstellung <strong>eine</strong>s „bäuerlichen“<br />
Dorfes schon für die Zeit um 1600 reichlich abwegig, aber es gab offenkundig Grenzen<br />
für <strong>eine</strong> anwachsende ländliche Unterschicht. Damit hatte die staatliche Politik zu <strong>eine</strong>r<br />
Dynamik beigetragen, in ihrer gesellschaftlichen Reichweite spätestens mit der großen<br />
Krise der 1770er Jahre offenkundig wurde.<br />
Zwei aufeinander folgende Mißernten in Folge schlechter Witterung sorgten 1770<br />
und 1771 nicht nur für Getreideknappheit, sondern auch für schnell und drastisch<br />
steigende Getreidepreise, unter denen besonders die unterbäuerliche Bevölkerung zu<br />
leiden hatte. Aufgrund der weiträumigen Ausdehnung der Krise konnten<br />
Getreideimporte nur <strong>eine</strong> geringe Entlastung bringen. Zugleich zeigte sich, dass<br />
Nordwestdeutschland Teil <strong>eine</strong>s überregionalen Marktsystems war, wodurch es auch zu<br />
<strong>eine</strong>m Abfluß des Getreides in Regionen mit vergleichsweise hoher Kaufkraft und<br />
Nachfrage kam. Versuche, durch Exportverbote und Maximalpreise die sozialen Folgen<br />
der Krise zu dämpfen, zeigten nur <strong>eine</strong> begrenzte Wirkung, denn entweder wurden sie<br />
umgangen und blieben damit wirkungslos, oder sie führten zu empfindlichen<br />
Einkommensverlusten bei der bäuerlichen Bevölkerung, was sich wiederum zu Lasten<br />
der unterbäuerlichen gewerblichen Bevölkerungsschicht auswirkte, der nun<br />
zahlungskräftige Kunden fehlte. 166<br />
Kurz nach dem für Norddeutschland verlustreichen 7jährigen Krieg stellte die Krise<br />
<strong>eine</strong> Herausforderung an den staatlichen Apparat und die vorhandenen<br />
Lenkungsmechanismen zur Bewältigung von Agrarkrisen dar. Zwar stand der Staat der<br />
Krise k<strong>eine</strong>swegs tatenlos gegenüber, sondern setzte die vorhandenen Instrumente ein:<br />
Verteilung von billigem Getreide aus Kornmagazinen, Ausfuhrsperren für Getreide,<br />
161 DIPPER (1994), 42-45.<br />
162 Siehe oben S. 25.<br />
163 HAGENAH (1985).<br />
164 GÜLICH (1827), 21-22.<br />
165 GÜLICH (1827), 22.<br />
166 Dazu Abel, Massenarmut mit <strong>eine</strong>r detaillierten Schilderung des Verlaufs der Krise; ABEL<br />
(1974), XX.<br />
95
Erhebung von statistischen Daten zur Bevölkerung. Aber er musste auch erkennen,<br />
dass die ökonomischen Interessen der Bevölkerung teilweise weit auseinander klafften<br />
und zugleich miteinander verbunden waren: die bäuerliche, marktorientierte<br />
Bevölkerung benötigte gerade nach dem Krieg hohe Preise, die unterbäuerliche<br />
Bevölkerung wiederum war auf billige Nahrungsmittel ebenso angewiesen wie auch<br />
Nachfrage nach gewerblichen Produkten. Abhilfe gegen ähnliche katastrophale<br />
Entwicklungen konnte nur <strong>eine</strong> grundlegende Förderung der Landwirtschaft<br />
bringen. 167<br />
khs: dies als Aufhänger der gesamten Arbeit?<br />
Ein zweiter, mit den vorhandenen Strukturen eng verbundener Aspekt scheint<br />
dagegen nicht wahrgenommen worden zu sein, denn das Anwachsen der<br />
unterbäuerlichen Bevölkerung war in Teilgebieten Niedersachsens nur durch die<br />
internationalen Handelsbeziehungen möglich geworden. 168 Jede Maßnahme, die die<br />
gewerblichen Tätigkeiten der „kl<strong>eine</strong>n Leute“ förderte, setzte die weitere Existenz<br />
dieser Märkte für Arbeitskräfte oder gewerbliche Produkte voraus; erst die mit der<br />
englischen Industrialisierung einsetzende Wirtschaftskrise im 19. Jahrhundert<br />
offenbarte die fundamentale Schwäche dieser Form der Anpassung.<br />
Die Erfahrung der Krise traf auf <strong>eine</strong> für landwirtschaftliche Fragen sensibilisierte<br />
Öffentlichkeit und Verwaltung, was den nun einsetzenden bzw. sich verstärkenden<br />
Lernprozeß beschleunigte. So boten sich für die zuvor entwickelten theoretischen und<br />
praktischen Überlegungen zur Intensivierung der agrarischen Produktion, sei es die<br />
Besömmerung der Brache oder die <strong>Einführung</strong> der Kartoffel, nachhaltig und<br />
jedermann erkennbare Anwendungsmöglichkeiten. Gleichzeitig erwies sich nun das<br />
vorhandene grundherrschaftliche System als idealer Anknüpfungspunkt, um erste<br />
Feudalismuskritik zu üben, und damit die archaischen Zustände, die „Versclavung“ der<br />
Bauern anzuprangern und <strong>eine</strong> Befreiung aller Untertanen zu verlangen. Dagegen blieb<br />
die englische Landwirtschaft noch lange Zeit kein Vorbild für hannoversche<br />
Reformversuche. Zwar wurde das englische Beispiel von hannoverschen bzw.<br />
deutschen Agrarwissenschaftlern aufmerksam, aber auch kritisch betrachtet; Impulse<br />
sch<strong>eine</strong>n aber zunächst kaum von England ausgegangen zu sein. Erst um die<br />
Jahrhundertwende änderte sich dies mit dem Ersch<strong>eine</strong>n der „Englischen<br />
Landwirtschaft“ von Albrecht Thaer. 169<br />
Die durch Agrarkrise von 1771/72 forcierte Beschäftigung mit agrartechnischen<br />
und agrarrechtlichen Fragen erhielt in den folgenden Jahrzehnten weiteren<br />
Aufschwung durch das Marktgeschehen. Die seit der Mitte der 1770er Jahre zwar<br />
langsam, aber kontinuierlich steigenden Agrarpreise boten für diejenigen, die <strong>eine</strong><br />
Marktquote erwirtschaften konnten, also die Großbetriebe des Adels, die Domänen<br />
und die größeren Bauernhöfe, <strong>eine</strong>n wichtigen Anreiz, die Produktivität des Betriebes<br />
zu heben. Es sind zudem nicht zufälligerweise die Jahre nach 1780, in denen die<br />
wissenschaftliche und öffentliche Auseinandersetzung mit der Landwirtschaft an<br />
Intensität gewann und die Cellische Landwirtschaftsgesellschaft ihre Aktivitäten<br />
verstärkte. 170<br />
167 Siehe oben S. 42. Vgl. auch HENNING (1979), 1, 289? Dipper, Landwirtschaft und ländliche<br />
Gesellschaft, S. 289.<br />
168 Hierzu jetzt HAUPTMEYER (1994).<br />
169 Dazu umfassend ULBRICHT (1980).<br />
170<br />
ACHILLES (1982),<br />
96
Die staatlichen Eingriffe bzw. Modernisierungsversuche griffen aber noch weiter.<br />
Neben der Ausweisung neuer Stellen muss vor allem die Intensivierung der<br />
Domanialwirtschaft berücksichtigt werden, in der zunehmend neuere<br />
betriebswirtschaftliche Methoden Eingang fanden, wodurch die Einnahmen der<br />
Domäne in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts deutlich stiegen. 171 Diese<br />
Einnahmesteigerung durch die Verbesserung der Domänenbewirtschaftung und durch<br />
Erhöhung der steuerlichen Belastung hinterließ natürlich auch Spuren bei den<br />
Betrieben, wobei die größeren etwas besser als die kl<strong>eine</strong>ren abschnitten. 172<br />
3. Die Rolle der Bauern<br />
Im 18. Jahrhundert lebten immer noch 80 % der Menschen auf dem Lande. Auf den<br />
vorhergehenden Seiten wurde dargelegt, wie wichtig die Landwirtschaft für die<br />
damaligen Staaten war und wie sich daraus die unterschiedlichen Reformvorstellungen<br />
entwickelten. Die Bauern wurden indes als Partner bei den verschiedenen<br />
Reformbemühungen nicht ernst genommen. Es galt allgemein die Ansicht, dass unter<br />
den Bedingungen herrschaftlicher Abhängigkeit von den Bauern k<strong>eine</strong> Eigeninitiative<br />
erwartet werden könne. Daraus entstand das Bild vom widerspenstigen Bauern, der zu<br />
s<strong>eine</strong>m Glück gezwungen werden müsse. Ist dies berechtigt? 173<br />
Die neuere Forschung verharrt bei <strong>eine</strong>m eindeutigen „Sowohl-Als-Auch“. Rudolf<br />
Schlögl schreibt: „Es ist wohl an der Zeit, das Bild vom naturverbundenen,<br />
rückwärtsgewandeten, in s<strong>eine</strong>n Entscheidungen blindlings an Traditionen orientierten<br />
Landmann hinter sich zu lassen und sich damit von Vorstellungen zu befreien, in<br />
denen ein vom Modernisierungsschock wundgeschlagenes Bewußtsein seit der<br />
Romantik Zuflucht sucht.“ 174<br />
Die Vorstellung, dass Bauern eher modernisierungshemmend gewirkt hätten, bleibt<br />
bis heute selbst dort vorherrschend, wo der Befund zumindest zu <strong>eine</strong>r Abmilderung<br />
dieser Vorstellung führen müsste. So schreibt Rainer Prass in s<strong>eine</strong>r Studie: „Die im 18.<br />
Jahrhundert zu beobachtenden Bemühungen bürgerlicher und adeliger<br />
Landwirtschaftsreformer, den Bauern neue agrarische Methoden nahezubringen,<br />
stehen in enger Verbindung mit dem aus der ‚Aufklärung‘ kommenden Anstoß zum<br />
praktischen Handeln.” 175 Die Bauern ersch<strong>eine</strong>n an dieser Stelle wieder als die<br />
störrischen Esel, denen ohnehin nicht zu helfen sei: „Ökonomische Probleme und die<br />
Haltung der Bauern ließen zahlreiche Ratschläge ins Leere laufen, so dass viele gut<br />
m<strong>eine</strong>nde Agronomen schier über die Widerborstigkeit der Bauern verzweifelten.” 176<br />
Nach der Reformfähigkeit und Reformbereitschaft der übrigen, an den frühen<br />
Agrarreformen beteiligten Gruppen wird hingegen selten gefragt, deren<br />
Modernisierungsmodell kaum diskutiert. Dabei steht der von Rainer Prass formulierte<br />
Befund in deutlichem Gegensatz zu s<strong>eine</strong>n übrigen Ergebnissen: nicht allein die<br />
Bauern, sondern speziell der hannoversche Staat vermochte es nicht, <strong>eine</strong><br />
Reformstrategie zu entwickeln, die <strong>eine</strong>rseits praxis- und zielorientiert, andererseits<br />
171 ACHILLES (1972a), etwa 148<br />
172 Ebd., S.182.<br />
173 Dazu als Diskussionsanregungen ZIMMERMANN (1989), SCHLÖGL (1989); TROSSBACH (1993),<br />
44-50.<br />
174 SCHLÖGL (1989), 113.<br />
175 PRASS (1997b), 50.<br />
176 Ebd., 51.<br />
97
ereit war, vorhandene Strukturen in Frage zu stellen. Die vielfältigen Blockaden etwa<br />
seitens der Amtmänner sind auf den vorhergehenden Seiten dargelegt worden. 177<br />
Der Landesherr hatte mithin zwar ein Interesse an Reformen, aber die Fähigkeit,<br />
neue Grundsätze zumindest im eigenen Herrschaftsbereich, also auf den Domänen<br />
durchzusetzen, war selbst nur begrenzt vorhanden, zudem fehlte es an eindeutigen<br />
Kriterien für die Realisierung der Reformen. Aus Clemens Zimmermanns<br />
Untersuchung badischer Reformmaßnahmen kennen wir die großen Probleme des<br />
„absolutistischen“ Staates, gesellschaftliche Reformansätze tatsächlich zu realisieren,<br />
bzw. wissen um die diesen Bemühungen immanente Tendenz zum Scheitern. 178 Der<br />
hannoversche Staat stand zwar insbesondere seit dem Siebenjährigen Krieg unter<br />
verstärkten finanziellen Zwängen, die sich reformfördernd auswirkten, 179 aber es fehlte<br />
an <strong>eine</strong>r zielstrebigen Strategie zur Realisierung <strong>eine</strong>r neuen gesellschaftlichen<br />
Konzeption. Aber hätte ein im Lande lebender Herrscher tatsächlich diese Defizite<br />
ausgleichen können, wäre es ihm gelungen, die grundlegende Umgestaltung der<br />
Gesellschaft in die Hand zu nehmen, den Adel aus s<strong>eine</strong>r herausgehobenen sozialen<br />
wie ökonomischen wie politischen Position herauszunehmen?<br />
Ansätze zu diesen Reformen sind zwar zu erkennen, aber was hervorsticht, sind die<br />
Hindernisse, die sich überall auftaten, wo im Sinne <strong>eine</strong>r neuen rationellen<br />
Landwirtschaft gehandelt werden musste.<br />
Nur wenig wissen wir über den Adel, aber doch immerhin so viel, dass der Adel<br />
nicht als durchweg reformfreudige Gruppe zu charakterisieren wäre. 180 Weshalb sollte<br />
dann aber ein eindeutiges Verhalten der Bauern erwartet werden? Und schließlich: die<br />
Reformmodelle <strong>eine</strong>r individualisierten Nutzung des Landes 181 dürfen nicht zu<br />
schematisch gesehen werden, sondern als Teil <strong>eine</strong>s gesellschaftlichen Lernprozesses,<br />
der eingebunden war in <strong>eine</strong> verstärkte Dynamik der Gesamtgesellschaft. Im Rahmen<br />
der beschriebenen Prozesse des Bevölkerungsanstiegs, der sozialen Differenzierung<br />
und der verstärkten Markteinbindung der verschiedenen ländlichen Sozialgruppen<br />
bekam die Modernisierung der Landwirtschaft bzw. deren Verhinderung <strong>eine</strong> neue,<br />
grundlegende Bedeutung, die sich aber erst aus der ökonomischen und sozialen Praxis<br />
ergab und für die verschiedenen, durch den Prozess erfassten Gruppen <strong>eine</strong><br />
abweichende Bedeutung hatte. Unter Berücksichtigung dieser Aspekte und der<br />
Tatsache, dass die regionale Vielfalt erheblich, der Einfluss naturräumlicher und<br />
verkehrlicher Strukturen nicht zu unterschätzen war, wird verständlich, dass es kein<br />
einheitliches Verhalten der Bauern geben konnte.<br />
Allerdings muss auch gefragt werden, warum die Landbevölkerung nicht selbständig<br />
zu Reformen griff, wie dies in den benachbarten Gebieten Lauenburgs und Holsteins<br />
geschah? 182 Lag dies daran, dass hier der Druck der Landesherrschaft auf die Dörfer zu<br />
gering war? Aber warum blieb es dann auch im absolutistisch regierten Schaumburg-<br />
Lippe so ruhig? 183<br />
Eine wichtige Rolle spielte ohne Zweifel der Bevölkerungsanstieg als Ausdruck<br />
tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen. Er destabilisierte zunehmend das<br />
177 SCHNEIDER (1995a), XX.<br />
178 ZIMMERMANN (1983),<br />
179 OBERSCHELP (1983), 107 f.<br />
180 BUCHHOLZ (1952), XX.<br />
181 SCHLÖGL (1989), 113; allgemein dazu Brakensiek, Individualisierung,<br />
182 AST-REIMERS (1965); PRANGE (1971).<br />
183 [=148 - Schneider 1983 Die landwirtschaftli...=], XX.<br />
98
innerdörfliche Gleichgewicht und die Beziehungen der dörflichen Gruppen<br />
zueinander.<br />
Aber <strong>eine</strong> Zweiteilung in Bauern und „Landarme“ wird vermutlich nicht den<br />
komplexeren Strukturen vieler Dörfer gerecht, in denen sich nicht nur Landbesitzende<br />
und Landlose gegenüberstanden, sondern auch Mittelbauern und Kleinbauern, deren<br />
Interessenlage sich von der der großen Landbesitzer ebenso unterschied wie von der<br />
der Landlosen, die als Tagelöhner, L<strong>eine</strong>weber oder Hollandgänger ihre Einkommen<br />
sicherten. 184 Vor der Annahme <strong>eine</strong>r Polarisierung der dörflichen Gesellschaft in<br />
Bauern und „Habenichtse“ (Heuerlinge) hat Christoph Reinders-Düselder zu Recht<br />
gewarnt. 185<br />
Nicht nur das Anwachsen der ländlichen Unterschichten war ein Kennzeichen dieser<br />
Phase, sondern auch Veränderungen in der Schicht der eigentlichen Bauern. In der<br />
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stiegen aufgrund des schnellen<br />
Bevölkerungswachstums die Agrarpreise stark an. Nur Bauern, die größere<br />
Getreidemengen auf den städtischen Märkten verkaufen konnten, profitierten hiervon.<br />
Das waren aber vergleichsweise wenige. Die meisten mittleren und kl<strong>eine</strong>ren<br />
Bauernhöfe hatten dagegen kaum Vorteile von den hohen Preisen, da sie nur geringe<br />
Überschüsse erwirtschafteten. So gesellte sich in den Dörfern zu dem Gegensatz<br />
zwischen Bauern und nichtbäuerlicher Bevölkerung noch ein zweiter zwischen reichen<br />
und armen Bauern. Allerdings wird hinsichtlich der kl<strong>eine</strong>n Betriebe zu fragen sein, ob<br />
diese nicht auf andere Weise von den ökonomischen Trends profitieren und damit ihre<br />
Einnahmen steigern konnten. Gleichwohl dürften zumeist die reichen Bauern von<br />
Gemeinheitsteilungen und Verkoppelungen Nutzen gezogen haben.<br />
Vor allem sind die steigenden Agrarpreise zu berücksichtigen. Diese nutzten in<br />
erster Linie den größeren Betrieben. „In Perioden des Bevölkerungswachstums und<br />
Agrarpreisanstiegs profitierten c.p. immer weniger … Großbauern immer mehr,<br />
während das (Real-) Einkommen von immer mehr kl<strong>eine</strong>n und kleinsten bäuerlichen<br />
Stellen, ähnlich wie das der r<strong>eine</strong>n Lohneinkommensbezieher, immer mehr<br />
zurückging.“ 186<br />
Walter Achilles hat auf der Basis der differenzierten Ertragsberechnungen<br />
kurhannoverscher Bauernhöfe aus dem Jahr 1765 und unter Berücksichtigung der bis<br />
1800 erfolgten Preissteigerungen ebenfalls nachweisen können, dass vom<br />
Getreidepreisanstieg lediglich <strong>eine</strong> kl<strong>eine</strong> Gruppe großer Höfe profitierte, während die<br />
kl<strong>eine</strong>n Betrieben nur in geringem Maße ihre Einkommen steigern konnten: „Es waren<br />
die großen Betriebe mit hohen Verkaufsquoten, denen die Preiskonjunktur zugute<br />
kam.“ 187<br />
184<br />
RÖSENER (1993), 200; zur Differenzierung s.a. ACHILLES (1982), 137-139; FREIBURG (1977),<br />
321-324.<br />
185 , 69 und 71.<br />
186<br />
FREIBURG (1977), 323. Freiburg wendet sich mit diesen Aussagen gegen <strong>eine</strong><br />
vereinfachende Darstellung der positiven Folgen <strong>eine</strong>r Agrarkonjunktur wie sie von<br />
Wilhelm Abel vertreten wurde (Abel, Agrarkrisen), allerdings wird dabei übersehen, daß<br />
schon Abel auf die unterschiedlichen Folgen hoher Preise hingewiesen hat (23-25).<br />
187<br />
ACHILLES (1982), 133.<br />
99
Abbildung 2 Einkommensentwicklung von 56<br />
Vollerwerbsbetrieben<br />
Betriebe<br />
14<br />
13<br />
12<br />
11<br />
10<br />
9<br />
8<br />
7<br />
6<br />
5<br />
4<br />
3<br />
Allerdings zeigen die von Achilles mitgeteilten Daten (siehe Abbildung 2188 ), dass die<br />
Verhältnisse offenbar nicht so einfach gesehen werden können, denn insgesamt<br />
verschob sich das Einkommensniveau nach oben. Zugleich sollte der Begriff der<br />
Agrarkonjunktur vorsichtig verwendet werden wie der Blick auf die Entwicklung der<br />
niedersächsischen Getreidepreise zeigt (siehe Abbildung nächste Seite) 189 , die zwar<br />
insgesamt zwischen Mitte der 1760er Jahre und dem Jahr 1800 <strong>eine</strong> deutliche<br />
Steigerung aufweisen, aber nicht gleichförmig, sondern als zyklischer Prozeß. Aus dem<br />
diesem ragen die Krisenjahre 1770 bis 1772 mit ihren drastischen Preissteigerungen<br />
ebenso heraus wie die ihnen vorweggehenden und folgenden Jahre mit sehr niedrigen<br />
Preisen. Anschließend stiegen die Preise zwar langfristig an, jedoch erneut in <strong>eine</strong>m<br />
zyklischen Wechsel von sehr hohen und sehr niedrigen Preisen. Erst in den 1790er<br />
Jahren gab es <strong>eine</strong>n starken und anhaltenden Preisanstieg. Die kurzfristigen,<br />
erheblichen Preisschwankungen werden durch die üblichen Zehnjahresdurchschnitte<br />
verdeckt190 , dürften aber für die Betriebe <strong>eine</strong> große Bedeutung gehabt haben. Für die<br />
betriebswirtschaftliche Entwicklung mußte nicht nur das langfristige Geschehen<br />
relevant gewesen sein, sondern auch das kurzfristige, entschied es doch über das<br />
konkrete Betriebsergebnis.<br />
Dennoch gibt es weitere Indizieren dafür, daß der Konjunkturaufschwung <strong>eine</strong><br />
Realität war und positive Folgen für die größeren Betriebe hatte. Helmut Ottenjann hat<br />
für das Osnabrücker Artland nachweisen können, daß in den 1770er Jahren <strong>eine</strong><br />
intensive Bautätigkeit einsetzte, die bis in die Zeit des Vormärz anhielt. 191<br />
2<br />
1<br />
0<br />
Un- Über Über Über Über Über Über Über Über Über Über Über<br />
ter 80 11 141 171 201 231 261 291 321 381 561<br />
80<br />
Einkommensgruppen in Rtlr.<br />
188 Die Abbildung bei ACHILLES (1982), 132, wurde umgezeichnet; für 1765 ließen sich auf der<br />
Vorlage allerdings nur Daten für 50 Betriebe ermitteln).<br />
189 Erstellt auf der Basis der von OBERSCHELP (1986), 86 f, mitgeteilten Daten.<br />
190 Etwa bei ABEL (1978b), Abb. 47, 182.<br />
191 OTTENJANN (1987), 12 f.<br />
1765<br />
1800<br />
100
50,0<br />
45,0<br />
40,0<br />
35,0<br />
30,0<br />
25,0<br />
20,0<br />
15,0<br />
10,0<br />
5,0<br />
Getreidepreise in Hannover<br />
November und Dezember<br />
0,0<br />
1765 1769 1773 1777 1781 1785 1789 1793 1797<br />
1764 1768 1772 1776 1780 1784 1788 1792 1796 1800<br />
Die Wirkung dieses Preisschubs dürfte in den einzelnen Regionen Niedersachsens<br />
unterschiedlich gewesen sein, je nachdem welchen Zugang zu Märkten die Bauern<br />
hatten. In der Nähe größerer Marktorte war dieser eher gegeben als in den stadtfernen<br />
Geestgebieten, wo allerdings der Getreideanbau <strong>eine</strong> untergeordnete Rolle spielte. Hier<br />
traten insbesondere Wanderarbeiter als Verbraucher, Gläubiger und Geldgeber zugleich<br />
auf.<br />
Das von Abel entwickelte und von Wehler übernommene Modell, wonach Betriebe<br />
mit <strong>eine</strong>r hohen Marktquote von niedrigen Ernten und den entsprechend hohen<br />
Preisen profitierten, wirkt zwar schlüssig, dürfte aber in der Anwendung nicht geringe<br />
Probleme verursachen. Vermutlich wirkten sich für die Betriebe mittlere Ernten am<br />
günstigsten aus, weil dann die Preise und die Erntemengen relativ hoch waren, so daß<br />
ein größerer Teil der Betriebe überhaupt <strong>eine</strong> Marktquote erwirtschaften konnte. 192<br />
Andererseits muss berücksichtigt werden, dass nicht allein Getreide von der<br />
ländlich-bäuerlichen Bevölkerung auf den Märkten verkauft wurde, sondern <strong>eine</strong><br />
Vielzahl anderer agrarischer Produkte wie Vieh, Butter, Wolle, Heu, Stroh, Torf und<br />
Handelsgewächse. 193 Aus dem schaumburg-lippischen Amt Hagenburg hieß es Mitte<br />
der 1830er Jahre: „… wohnen hier Mehre[re], welche ein eigenes Gewerbe daraus<br />
machen, dergleichen Viktualien hier im Amte aufzukaufen und auf die hannoverschen<br />
Wochenmärkte zu bringen”. 194<br />
Entscheidendes Merkmal des gesamten Reformprozesses war <strong>eine</strong><br />
Individualisierung der Landnutzung, die die bisherige genossenschaftliche Nutzung<br />
ersetzte. Doch bedeutete diese Individualisierung nicht, daß der Prozeß selbst allein<br />
192 GÜLICH (1827), 11 f.<br />
193 GÜLICH (1827), 12.<br />
194 Schreiben des Amtes Bückeburg vom 13.5.1835 in: STAB L 3 Sg 2.<br />
101
von Individuen getragen wurde. Es war vielmehr die Gemeinde der Bauern, die <strong>eine</strong><br />
zentrale Rolle spielte. Die bäuerliche Gemeinde bildete vor den Agrarreformen nicht<br />
nur <strong>eine</strong>n sozialen, sondern auch <strong>eine</strong>n ökonomischen Verband, was nicht zuletzt die<br />
Folge der komplexen Nutzungsrechte der Feldmark war. Sie betraf aber auch viele<br />
andere Bereiche des dörflichen und privaten Lebens, wie den Hausbau, die Geburt<br />
oder den Tod. Das Aufeinanderangewiesensein bedeutete aber weder, daß es sich um<br />
konfliktfreie noch um gleichberechtigte Strukturen handelte. Die vielfältigen<br />
Nutzungsrechte, wie sie am Beispiel der Dannenberger Gemeinheide Nebenstedt<br />
beschrieben worden sind (s. oben S. ) führten gerade bei steigender Bevölkerungszahl<br />
nahezu zwangsläufig zu Konflikten. 195 Zugleich sorgte die Binnendifferenzierung des<br />
Dorfes in die unterschiedlichen Besitzklassen für ein ausgeprägtes Oben und Unten,<br />
das zudem durch Verwandtschaftsbeziehungen ergänzt wurde. Es gab mithin <strong>eine</strong> Fülle<br />
von Konfliktlinien, die aber gemeinschaftliches Handeln k<strong>eine</strong>swegs behinderten, da es<br />
Regelungsmechanismen in den Fällen gab, wo aufgrund äußerer Einflüsse organisiertes<br />
Verhalten notwendig war. 196<br />
Die bäuerliche Gemeinde war indes kein autonomes soziales Gebilde, sondern<br />
landesherrlichen und adeligen Einflüssen unterworfen, es unterstand insbesondere der<br />
Aufsicht des Amtes bzw. des Gutes. Die aus Schleswig-Holstein schon seit Jahren<br />
vorliegenden Studien über die dortigen Agrarreformen vermögen wichtige<br />
Erkenntnisse zu liefern über den Zusammenhang von kommunalem Verhalten und<br />
Reformtätigkeit. 197<br />
Ingeborg Ast-Reimers kommt in ihrer Studie zu dem Ergebnis, daß die<br />
Verkoppelung in Schleswig-Holstein „k<strong>eine</strong>swegs nur <strong>eine</strong> rein agrartechnische<br />
Maßnahme war, sondern … Teil jener umfassenden Umformung der sozialen Struktur,<br />
die zur Ausbildung des modernen Staates … führte“ 198 . An diesem Prozeß war die<br />
Gemeinden nicht passiv beteiligt, sondern aktiv, indem sie von sich aus<br />
Verkoppelungen initiierten. Allerdings dürften die sozialen Veränderungen in den<br />
Gemeinden <strong>eine</strong>n wesentlichen Schub in diesem Prozeß dargestellt haben. Für<br />
Niedersachsen fehlen vergleichende Untersuchungen, <strong>eine</strong> Reduktion der<br />
innerdörflichen Dynamik auf Streitigkeiten scheint wenig angemessen, hier müssen wir<br />
auf einzelne Beobachtungen zurückgreifen. 199 Dabei zeigt <strong>eine</strong> genauere Untersuchung<br />
der Reformakten, dass ähnlich wie in Schleswig-Holstein auch in Niedersachsen die<br />
Dorfbewohner sich zunehmend als gleichberechtigte Partner der Verwaltung sahen, ja<br />
sogar in zumindest <strong>eine</strong>m Fall gleichsam mit der Verwaltung „spielten“, d.h. die<br />
vorhandene Verwaltungsstruktur und innere Konkurrenz zu ihrem Nutzen<br />
auszuspielen verstanden. 200<br />
195 Siehe auch PRASS (1997b), 97. Grundlegend WUNDER (1986).<br />
196 DÜLMEN (1999).<br />
197 PRANGE (1971) sowie insbesondere AST-REIMERS (1965).<br />
198 AST-REIMERS (1965), 321.<br />
199 PRASS (1997b), 102-104. Leider geht diese neueste Studie so gut wie nicht auf die internen<br />
Entwicklungen in den Gemeinden ein, sondern macht sich weitgehend die Perspektive der<br />
Verwaltung zu eigen. Untersuchungen, die Aufschluss über die innere Prozesse in den<br />
Dörfern im Zusammenhang mit den Agrarreformen geben könnten, fehlen bislang. M<strong>eine</strong><br />
eigenen Stichproben zum Amt Blumenau und schaumburg-lippischen Verfahren Anfang<br />
des 19. Jahrhundert lassen aber Grund zu der Annahme, dass dieser Aspekt größere<br />
Beachtung verdient. SCHNEIDER (1994), 1, 91 f.<br />
200 SCHNEIDER (1995a), XX.<br />
102
Die dörfliche Genossenschaft bildete ein dynamisches Gleichgewicht, welches sich<br />
nicht allein in fortwährender Bewegung befand und durch die internen Entwicklungen<br />
sowie die neuen ökonomischen Möglichkeiten immer neue Impulse erfuhr. Nach außen<br />
traten die Gemeinden in längeren Verfahren durch Syndici auf, die sich jedoch offenbar<br />
nicht immer ihrer Gemeindegenossen sicher sein konnten. Die neuen ökonomischen<br />
Möglichkeiten dank steigender Getreidepreise und neuer Bewirtschaftungsformen<br />
wurden nicht von allen, sondern nur einzelnen Dorfbewohnern genutzt.<br />
V. Ein Zwischenergebnis<br />
Der ländliche Raum erfuhr am Ende des 18. Jahrhunderts komplexe Prozesse der<br />
Anpassung an interne und externe Faktoren, er befand sich in <strong>eine</strong>m dynamischen<br />
Gleichgewicht, war also in hohem Maß anfällig für Veränderung. Gleichwohl geht von<br />
diesem komplexen Gebilde ein hohes Maß an Faszination aus. Die Anpassung an die<br />
jeweiligen regionalen und lokalen Gegebenheiten hatte <strong>eine</strong>n Prozesscharakter und war<br />
durch Krisenphasen gekennzeichnet. Eine dieser Krisen war die europaweite<br />
Hungersnot Anfang der 1770er Jahre, die in ihren konkreten Auswirkungen zunächst<br />
zu <strong>eine</strong>m Rückgang der Geburtenzahlen und <strong>eine</strong>m deutlichen Anstieg der<br />
Sterbezahlen führte. Sodann belegte sie, dass die traditionellen<br />
Krisenregelungsmechanismen der Terrtorialstaaten (insbesondere der Verkauf von<br />
magaziniertem Getreide zu verbilligten Preisen und das Getreideausfuhrverbote)<br />
unzureichend waren. Waren schon die kurzfristigen Auswirkungen gravierend, so traf<br />
dies erst recht auf die mittelfristigen zu, denn nach 1772 lässt sich <strong>eine</strong> Zunahme von<br />
Reformbemühungen in der Landwirtschaft erkennen, die auf <strong>eine</strong> Erhöhung der<br />
agrarischen Produktivität zielten.<br />
Diese Reformen legten allerdings die inneren Widersprüche dieser Gesellschaft<br />
bloß, worauf schon am Beispiel des Verhältnisses von Reformen zur Grundherrschaft<br />
verwiesen wurde. Aber auch die dörfliche Sozialstruktur widersetzte sich teils einzelner<br />
Reformen oder erzwang deren Änderung. Hier zeigte sich ein zweiter innerer<br />
Widerspruch. Einerseits nahmen die Marktbeziehungen erkennbar zu, was hinsichtlich<br />
der gewerblichen Komponente bei den Unterschichten nahe liegend ist, aber auch für<br />
<strong>eine</strong> zunehmende Anzahl bäuerlicher Betriebe galt, die die günstigen Agrarpreise als<br />
Folge des allgem<strong>eine</strong>n Bevölkerungsanstiegs Nutzen wollten. Als Konsequenz aus<br />
dieser Marktorientierung gab es gerade bei den vollbäuerlichen die Tendenz zur<br />
Aushöhlung der feudalen und der genossenschaftlichen Bindungen, was im letzten Fall<br />
zwar mit den Interessen der Territorialstaaten an <strong>eine</strong>r Erhöhung der agrarischen<br />
Produktivität korrespondierte, aber nicht mit den Interessen der ländlichen<br />
Unterschichten. Diese sicherten ihre gewerbliche Existenz durch die Nutzung der<br />
genossenschaftlichen Flächen und konnten durch Gemeinheitsteilungen in <strong>eine</strong><br />
existenzgefährdende Situation geraten. Die Konflikte um die Osnabrücker<br />
Markenteilungsordnung von 1785 zeigen diesen Widerspruch ebenso wie einzelne<br />
örtliche Verfahren. 1 Andererseits konnten solche Teilungsverfahren Impulse für <strong>eine</strong><br />
weitere gewerbliche Durchdringung des ländlichen Raumes auslösen, wenn sie die<br />
Voraussetzungen dafür schufen, dass die Produktivität der Betriebe erhöht und<br />
siedlungswilligen Angehörigen der Unterschichten die Chance zur Ansiedlung gegeben<br />
wurde. 2<br />
1 Markenteilungsordnung von 1785, Mooser, Brakensiek, Schneider.<br />
2 Brakensiek.<br />
103
Somit ergibt sich für das Ende des 18. Jahrhunderts ein differenziertes Bild<br />
ländlicher Verhältnisse. Das Dorf war kein Bauerndorf mehr, es hatte <strong>eine</strong> mehr oder<br />
weniger ausgeprägte gewerbliche Komponente, so dass die Unterschichten bzw. die<br />
landarmen Bevölkerungsgruppen auf ein Ensemble von Tätigkeiten zurückgreifen<br />
mussten, um ihre Existenz zu sichern. Diese Tätigkeiten lagen entweder außerhalb des<br />
Dorfes (Wanderarbeit) oder waren von außerdörflichen, überregionalen Absatzmärkten<br />
abhängig (L<strong>eine</strong>nweberei).<br />
Bäuerliche und nichtbäuerliche Bevölkerung blieben aufeinander bezogen, zeigten<br />
aber Verhaltensweisen, die durch Abgrenzung gekennzeichnet waren und die in ihrer<br />
langfristigen Entwicklung auseinander liefen.<br />
So sehr Veränderungsbedarf bestand, so wenig gab es in sich geschlossene<br />
Konzepte der Modernisierung. Das wäre allerdings auch überraschend gewesen, denn<br />
zum Wesen der Reform gehört auch ihr Prozesscharakter. Bei all ihren Schwächen<br />
hatte die alte Agrarverfassung auch Vorteile aufzuweisen, weshalb <strong>eine</strong> einfache<br />
Ablösung kaum in Frage kam. Nicht so sehr die Theorie, sondern die Praxis warf<br />
Probleme auf, die erst in <strong>eine</strong>m langwierigen Lernprozeß bei sich gleichzeitig<br />
verändernden Rahmenbedingungen gelöst werden konnten. Dies macht besonders die<br />
frühen Agrarreformen so interessant, bieten sie doch k<strong>eine</strong> einfache Lösung, sondern<br />
Lösungswege auf, die nicht geplant waren, sondern sich entwickelten, wobei <strong>eine</strong> Reihe<br />
von Faktoren die Entwicklung beeinflussten. Sie lassen sich in folgende Gruppen<br />
zusammenfassen:<br />
1. Lernprozesse der wichtigsten Gruppen (Adel, Bauern, Beamte): sie alle mussten<br />
erst lernen, welche Vorteile die einzelnen Reformen für sie boten, wie sie neue<br />
Techniken sinnvoll einsetzen konnten;<br />
2. die ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen änderten sich im Verlauf<br />
des 18. Jahrhunderts; der Anstieg der Bevölkerung, die zunehmende<br />
Vergewerblichung des flachen Landes und die Marktorientierung der bäuerlichen<br />
Bevölkerung gehörten dazu; sie schufen <strong>eine</strong>n zunehmenden Innovationsdruck;<br />
3. nur geringen Druck übten bis etwa 1790 die politischen Rahmenbedingungen<br />
aus. Zwar zielte die landesherrliche Politik seit ca. 1750 auf die Ausdehnung der<br />
eigenen Handlungsräume; jedoch wurde die gesellschaftliche Ordnung nie in Frage<br />
gestellt; dies geschah erst nach 1790 unter dem Druck der französischen Revolution.<br />
VI.Wie dies Buch entstand<br />
Dieser Text hat <strong>eine</strong> lange Vorgeschichte: sie reicht in das Jahr 1989 hinein, als der<br />
dritte „Baustein zur Regional- und Lokalgeschichte“ über die Agrarreformen in<br />
Niedersachsen erschien. Er wurde damals verfasst von Prof. Hans-Heinrich Seedorf<br />
und dem Autor dieses Bandes. Dank der Tatsache, dass der Band auch von der<br />
Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung in ihr Programm<br />
aufgenommen wurde, erfuhr er schnell <strong>eine</strong> relativ große Verbreitung. Seit einiger Zeit<br />
ist dieser Band vergriffen. Aufgrund der vielen Nachfragen begann ich vor einigen<br />
Jahren damit <strong>eine</strong>n neuen Text zu schreiben, der im Laufe der Zeit aber <strong>eine</strong><br />
Eigendynamik entwickelte. Zunächst stellte ich fest, dass der alte Text weit stärker<br />
überarbeitet werden musste, als ich zunächst angenommen hatte. Doch damit wurde er<br />
automatisch länger. So entstand die Idee, aus dem <strong>eine</strong>n Band zwei zu machen. Doch<br />
104
dieser erste Band, „Am Vorabend der Bauernbefreiung“, blieb liegen, andere Dinge<br />
kamen dazwischen. Manchmal ist dies aber auch von Vorteil, denn die Frage war, für<br />
wen dieser Text eigentlich geschrieben werden soll. Für den Laien, den interessierten<br />
Laien, war der erste Text 1989 geschrieben worden, doch die Überarbeitung sollte auch<br />
die KollegInnen erreichen.<br />
In den Jahren, in denen der vorhandene Text liegen blieb, arbeitete ich auf anderen<br />
Feldern, wie der regionalen Industrialisierungsgeschichte, oder ich fragte nach dem<br />
Nutzen, den das Internet für Historiker haben kann. Dabei verschob sich mein Blick<br />
auf die Agrargeschichte, und nun, 2003, wird mir in neuer Form bewusster, wie wichtig<br />
nicht nur die Agrargeschichte ist, sondern wie wenig neuere Forschungen und<br />
Erkenntnisse die breitere Bevölkerung erreichen. Dabei gibt es fast überall diese<br />
immanenten Bilder früherer Wirklichkeit von Dorf und Landwirtschaft. Sie sind meist<br />
einfach, plastisch und wirken plausibel. Dass sie den neuerem Forschungsstand nicht<br />
standhalten können, ist kaum bewusst, wobei selbst Forschungen zur Agrargeschichte,<br />
insbesondere den Reformen, noch teilweise diesen alten Bildern verhaftet sind.<br />
So ist dies Buch, selbst wenn es mehrere Schichten enthält, doch vor allem <strong>eine</strong>m<br />
Aspekt verpflichtet: der Freude an der Agrargeschichte, dem Erzählen und Berichten<br />
von Neuem, das weit über die einfachen Bilder hinausgeht, welche immer noch in<br />
vielen Köpfen präsent sind.<br />
Es ist aber auch der Überzeugung verpflichtet, dass die Vergangenheit und ihre<br />
Erforschung für uns heute wichtig ist, weil sie uns konfrontiert mit Ansichten und<br />
Bildern, die wenig mit der historischen Wirklichkeit zu tun haben, aber<br />
handlungsleitend wirken. 1 Die Korrektur dieser falschen Bilder sollte weiterhin <strong>eine</strong><br />
wichtige Aufgabe des Historikers sein. Eine andere wichtige Aufgabe wird dagegen nur<br />
selten erwähnt: den Menschen vermitteln, dass jeden Tag etwas Neues beginnt, und<br />
damit <strong>–</strong> bei aller Wirkung der Vergangenheit in die Gegenwart hinein <strong>–</strong> auch Abschied<br />
von der Vergangenheit genommen werden kann.<br />
VII.Ländliche Gesellschaft und Agrarreformen<br />
Am Anfang von Untersuchungen zu den Agrarreformen des 18. und 19. Jahrhunderts<br />
steht zuweilen ein Hinweis auf die aktuelle Situation der Landwirtschaft. 1 Und in der<br />
Tat drängt sich die Vermutung auf, dass die damaligen Prozesse in <strong>eine</strong>r direkten<br />
Verbindung mit den aktuellen Verhältnissen stehen. Aber in welcher? Dass die heutige<br />
Agrarpolitik <strong>eine</strong> Genese hat, die auf jene Reformprogramme zurückzuführen sei,<br />
wäre erst einmal zu überprüfen und kann nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden.<br />
1 Man kann es auch anders formulieren: wenn in Büchern, die sich der aktuellen Lage der<br />
Gesellschaft und ihrer Weiterentwicklung derart groteske Fehleinschätzungen finden wie<br />
bei Henzler, Herbert A./ Lothar Späth, Die Zweite Wende. Wie Deutschland es schaffen<br />
wird. Weinheim und Berlin 1998, dann muss man wohl fragen, welche weiteren eklatanten<br />
Fehleinschätzungen <strong>eine</strong> solche Darstellung noch aufzuweisen hat. Siehe etwa S. 18: „In<br />
der Mitte des 18. (!) Jahrhunderts verursachte der Zusammenbruch ein Massenelend, weil<br />
die Agrarwirtschaft zusammenbrach. Für die Millionen von Arbeitslosen, die damals<br />
hungernd in die Städte drangen, konnte sich niemand neue Arbeitsplätze vorstellen.“ Von<br />
dem schlechten Deutsch einmal abgesehen: im 18. Jahrhundert gab es k<strong>eine</strong>n<br />
„Zusammenbruch“, sondern wenn, dann im 19. Jahrhundert, und dann strömten die<br />
Menschen nicht in die Städte, sondern wanderten aus, vornehmlich in die USA.<br />
1 PRASS (1997b), S.<br />
105
Dass die Agrarpolitiker sich der früheren Reformansätze bewusst waren und somit aus<br />
der Vergangenheit lernten, ist bislang ebenfalls noch nicht bewiesen worden (und ich<br />
halte es für fraglich). Fragen dieser Art werden aber meist gar nicht gestellt, sondern es<br />
bleibt bei dem allgem<strong>eine</strong>n Hinweis auf die Bedeutung des agrarischen Sektors.<br />
Diese Arbeit will <strong>eine</strong>n anderen Weg gehen. Sie beginnt, nach <strong>eine</strong>m Blick auf die<br />
alte Agrarverfassung, mit <strong>eine</strong>r Darstellung des frühen Reformprozesses und sieht in<br />
den Reformen des 19. Jahrhunderts mehr als ein endlich nach vielen Widerständen<br />
durchgesetztes Reformprogramm. Die Darstellung folgt der Annahme, dass die<br />
Agrarreformen <strong>eine</strong>n komplexen Prozess darstellten, in dem unterschiedliche<br />
Zukunftsperspektiven, Wahrnehmungsformen, Mentalitäten, Verhaltensweisen und<br />
Interessen in <strong>eine</strong>m zeitlichen Kontext wirkten. Die Erfahrung der Vergangenheit<br />
spielt in diesem Szenario zwar auch <strong>eine</strong> Rolle, aber <strong>eine</strong> begrenzte, da sie über<br />
Wahrnehmungsformen, Mentalitäten und Verhaltensweisen in Erscheinung tritt, aber<br />
nicht in der Form <strong>eine</strong>r systematischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.<br />
Dies schließt aber nicht aus, dass sich in verschiedenen Phasen einzelne Leitbilder und<br />
Werturteile durchgesetzt haben, die gleichsam das Substrat vergangener Erfahrungen<br />
bildeten und deshalb <strong>eine</strong> große Wirkung auf das jeweilige Handeln der Betroffenen<br />
hatte.<br />
Geht man von dieser Überlegung aus, so enthalten die Reformen <strong>eine</strong> neue<br />
Perspektive, denn nicht allein die Realisierung des Reformprogramms des 19.<br />
Jahrhunderts steht dann im Vordergrund, sondern die Frage, welche Mechanismen<br />
wirkten, damit die schließlich durchgeführten Reformen verwirklicht wurden und wie<br />
das um 1850 erkennbare Ergebnis im Vergleich zu den Ansätzen um 1750 und der<br />
weiteren Entwicklung zu bewerten ist.<br />
1850 ist im übrigen bis in neueste Untersuchung das Grenzjahr geblieben, wofür<br />
spricht, dass um diese Zeit die letzten gesetzlichen Regelungen erfolgt sind. 2 Jedoch<br />
spricht gegen diese zeitliche Grenze, dass um 1850 weder die Ablösungen noch die<br />
Verkoppelungen und Gemeinheitsteilungen abgeschlossen waren. Sie ragten vielmehr<br />
weit in die Industrialisierung hinein, und müssen deshalb in ihrer Wechselbeziehungen<br />
zu den allgem<strong>eine</strong>n ökonomischen Veränderungen gesehen werden. In dem hier<br />
vorzulegenden Überblick wird die Grenze aber noch weiter hinausgeschoben, nämlich<br />
bis in die Nachkriegszeit. Die Elemente der Reformen und die damit verbundenen<br />
Wahrnehmungen der agrarischen Wirklichkeit hatten während des Kaiserreichs <strong>eine</strong><br />
neue Qualität erreicht, die sie durchaus von den Reformansätzen des 18. Jahrhunderts<br />
unterschied, ja unterscheiden mussten. Trotz der Industrialisierung behielten die<br />
Intensivierung der Produktion, der Ausbau der agrarischen Nutzfläche und die<br />
Anerkennung <strong>eine</strong>r arbeitsintensiven Produktion bis in die Nachkriegsjahre <strong>eine</strong><br />
unangefochtene Priorität.<br />
Nicht nur die Leitbilder, sondern auch die Agrarprogramme reflektierten <strong>eine</strong><br />
Agrarstruktur und <strong>eine</strong> Agrarpolitik, die das Ergebnis der industrialisierten<br />
Landwirtschaft des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts war. In dieser nahm der<br />
kl<strong>eine</strong> und mittlere Landwirt <strong>eine</strong> zentrale Stellung ein, nicht allein, weil er ökonomisch<br />
von Bedeutung war, sondern als Gegenbild <strong>eine</strong>r industrialisierten Gesellschaft dienen<br />
konnte. Die Angst vor dem Proletariat und die Hoffnung auf den „gesunden“<br />
Bauernstand verband die Agrarpolitiker und Agrarsoziologen der 1950er Jahre mit<br />
einigen Agrarreformern des Vormärz, unter denen Carl Bertram Stüve gewiss <strong>eine</strong><br />
herausragende Stellung, zumindest in Niedersachsen, einnahm.<br />
2 Für Norddeutschland bietet die Untersuchung von PRASS (1997b), den besten Überblick.<br />
106
Eine engere Verknüpfung der Reform mit dem jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld<br />
bietet die Möglichkeit, die Reform stärker als <strong>eine</strong>n Prozess zu begreifen, der nicht<br />
linear verlief, sondern sowohl durch die Erfahrungen und daran sich orientierenden<br />
Zielvorstellungen der handelnden Personen als auch durch gesellschaftliche<br />
Entwicklungen beeinflusst war. Beides waren gleichsam Variablen in diesem Prozess<br />
und deren Stellung zueinander entschied über die Richtung und Geschwindigkeit des<br />
Reformprozesses. Die enge Verknüpfung von Reformzielen, Reformerfahrungen und<br />
gesellschaftlichem Wandel hat zur Folge, dass damit auch die Erkenntnis verbunden ist,<br />
dass die bisherigen Erfahrungen nicht auf die Gegenwart übertragbar sind. Die Muster<br />
der Konfliktbewältigung waren selbst in der Vergangenheit nicht allein das Ergebnis<br />
<strong>eine</strong>s einheitlichen Reformkonzeptes noch können sie es in der Gegenwart sein.<br />
In den letzten 250 Jahren wurde die Landwirtschaft durch <strong>eine</strong> Reihe von<br />
allgem<strong>eine</strong>n und speziellen Veränderungen erfasst und derart umgeformt, dass <strong>eine</strong><br />
Bewertung der einzelnen Entwicklungen nicht einfach ist. Die Frage, welche<br />
Phänomene dörflicher Existenz nur über <strong>eine</strong>n längeren Zeitraum grundlegend<br />
veränderbar waren, welche dagegen auch von kurzfristigen Entwicklungen erfasst und<br />
umgeformt wurden, ist k<strong>eine</strong>swegs leicht zu beantworten. Die Bedeutung der<br />
grundlegenden Veränderungen sollte gewiss nicht unterschätzt werden. Heutige<br />
Landwirte lehnen teilweise die Annahme, ihre Vorfahren vor 200 Jahren seien<br />
Abhängige, ja teilweise sogar Leibeigene gewesen, strikt ab. Die Vorstellung von<br />
bäuerlicher Freiheit ist inzwischen derart selbstverständlich geworden, dass damit<br />
konkurrierende Wahrnehmungen kaum akzeptiert werden. Andererseits werden in der<br />
aktuellen Planung, in der Agrarpolitik, in der öffentlichen Diskussion, ja selbst in der<br />
Werbung immer wieder Bilder und Vorstellungen des „alten”, scheinbar statischen<br />
Dorfes verwandt, die sich schon bei oberflächlicher Prüfung als verfehlt und irrig<br />
erweisen, bzw. in Teilelementen der Phase der Hochindustrialisierung um die Wende<br />
zum 20. Jahrhundert zugeordnet werden können. 3<br />
Die Veränderungen der letzten 240 Jahre erfolgten nicht kontinuierlich im Rahmen<br />
<strong>eine</strong>s gleichmäßig verlaufenden Prozesses, sondern sprunghaft, es lassen sich<br />
regelrechte Entwicklungsschübe, dann wieder Phasen langsamer Veränderung<br />
voneinander unterscheiden. Die Erkenntnis, dass der ländliche Raum wie die ihn<br />
umgebende frühneuzeitliche Gesellschaft nicht statisch waren, trifft mehr noch auf die<br />
neuzeitliche Landwirtschaft zu, scheint aber immer wieder in Konflikt zu geraten mit<br />
<strong>eine</strong>m Gesellschaftsmodell, welches gerade vom Dorf und dem ländlichen Raum Statik<br />
verlangt. 4<br />
Im Vergleich zu den späteren Veränderungen mag die frühneuzeitliche Gesellschaft<br />
relativ statisch gewirkt haben, denn bis Ende des 18. bzw. Mitte des 19. Jahrhunderts<br />
gab es einzelne Konstanten, die den ländlichen Raum kennzeichneten. Zu diesen<br />
gehörten:<br />
• die Bindung der bäuerlich-ländlichen Bevölkerung in starker rechtlicher („feudaler”)<br />
Abhängigkeit von Grundherren, Leibherren, Dienstherren und Gerichtsherren,<br />
3 Zu den Modernisierungen der Jahrhundertwende bieten ein eindrucksvolles regionales<br />
Beispiel HANSEN, TILLMANN (1990).<br />
4 Beispiele dafür bieten die verschiedenen Ansätze im Rahmen der Dorferneuerung, die u.a.<br />
als Reaktion auf massive Modernisierungsprozesse in den 1960er und 1970er Jahren zu<br />
sehen. Einen Überblick der Diskussionen Ende der 1980er Jahre geführt wurden bieten<br />
die Studieneinheiten „Dorfentwicklung“ des Deutschen Instituts für Fernstudien,<br />
Tübingen 1989.<br />
107
• die ausgeprägten genossenschaftlichen Binnenbeziehungen im Dorf, die sich sowohl<br />
auf die Nutzung rein gemeindlicher Einrichtungen (Gemeinweide, Anger etc.) als<br />
auch vorwiegend individuell genutzter Flächen erstreckten (Acker),<br />
• die enge Bindung agrarischer Existenz an die naturräumlichen Voraussetzungen,<br />
• die starke soziale Differenzierung der dörflich-ländlichen Bevölkerung mit <strong>eine</strong>m<br />
hohen und weiter steigenden Anteil klein- und nichtbäuerlicher<br />
Bevölkerungsgruppen, die in hohem Maße auf gewerbliche Tätigkeiten angewiesen<br />
waren.<br />
Zwar gab es hinsichtlich der konkreten Ausprägung dörflicher Existenz und<br />
Abhängigkeit <strong>eine</strong> Fülle von regionalen und lokalen Besonderheiten, die selbst <strong>eine</strong><br />
Typisierung erschweren, aber es lässt sich ein Grundmuster erkennen, in dem die<br />
genannten Elemente in unterschiedlicher Ausprägung unter wechselnder Beziehung<br />
zueinander zu erkennen sind.<br />
Gleichwohl sollte nicht übersehen werden, dass es auch vor 1800 Veränderung in<br />
der agrarischen Welt gab, wie die nordwestdeutsche Agrarverfassung ebenso wie die<br />
internationalen Wirtschaftsbeziehungen belegen, denen der ländliche Raum<br />
unterworfen war (vgl. unten Kapitel Dorf und Landwirtschaft vor der<br />
Industrialisierung) und die, soweit die Vermutung in <strong>eine</strong>m fließenden Prozess in die<br />
erste Reformphase übergingen.<br />
1. <strong>„Bauernbefreiung“</strong> und „liberale Agrarreformen“<br />
Die in dem Titel dieses Bandes genannten Bezeichnungen Agrarreformen und<br />
Bauernbefreiung können zu Irritationen Anlass geben, handelt es sich doch um<br />
konkurrierende bzw. gegenseitig ausschließende Begriffe. Es gibt dennoch gute<br />
Gründe, beide Begriffe zu benutzen. Um deren Bedeutungsgehalt richtig einschätzen<br />
zu können, ist es notwendig, sich ihrer historiographischen Dimension zu<br />
vergegenwärtigen. Von „Bauernbefreiung” sprach Georg Friedrich Knapp, damals<br />
Hochschullehrer am Staatswissenschaftlichen Seminar in Straßburg, zum ersten Mal<br />
1887, als er in s<strong>eine</strong>m Werk mit dem bezeichnenden Titel „Über die Bauernbefreiung<br />
und den Ursprung der Landarbeiter in den älteren Theilen Preußens“ die preußischen<br />
Agrarreformen <strong>eine</strong>r kritischen Prüfung unterzog. 5 Ausgehend von <strong>eine</strong>r Analyse der<br />
früheren Zustände und ersten Reformansätze im 18. Jahrhundert widmete er sich<br />
speziell den aus dem Oktoberedikt von 1807 hervorgegangenen Reformgesetzen in<br />
den Preußen. 6 Das Oktoberedikt, vor allem jedoch das Edikt von 1811 und die<br />
Deklaration zu diesem Edikt von 1816 schufen zwar trotz massiver adeliger<br />
Gegenwehr die Voraussetzungen für die Auflösung der Gutsherrschaft als intensivster<br />
Form feudaler Herrschaft in Europa. 7 Die Befreiung fand jedoch unter Bedingungen<br />
statt, die vornehmlich den Gutsherren nützte und den Bauern gegenüber ihren<br />
ehemaligen Herren kaum Schutz bot.<br />
5<br />
KNAPP (1887). Die neueste Gesamtdarstellung unter Ausklammerung der<br />
Gemeinheitsteilungen und Verkoppelungen bietet DIPPER (1980), dort S. XX-XX ein<br />
Überblick zur Forschungsgeschichte. Die bislang umfassendste neuere Studie bietet<br />
HARNISCH (1984), siehe jetzt auch ACHILLES (1993).<br />
6 Deshalb findet sich der Hinweis auf die Entwicklung in den „älteren Theilen” Preußens<br />
im Titel der Arbeit.<br />
7 Allerdings wurde die Gutsherrschaft in anderen Territorien, wie im benachbarten<br />
Mecklenburg noch intensiver ausgeübt, Mager, Mecklenburg.<br />
108
Eine vollständig entschädigungslose Befreiung der Bauern war indes ohnehin<br />
illusorisch, denn selbst in den von Frankreich dominierten bzw. beeinflussten Gebieten<br />
des Rheinbundes wurde zur gleichen Zeit lediglich die persönliche Abhängigkeit<br />
(Leibeigenschaft) entschädigungslos aufgehoben.<br />
Die Festlegung von Landabtretungen an der Stelle von Geldzahlungen (wie in den<br />
französischen dominierten oder beeinflussten Gebieten Deutschlands) war angesichts<br />
der unleugbaren Geldknappheit ostelbischer Bauern verständlich. Allerdings bedeutete<br />
die Abtretung von der Hälfte bis zu <strong>eine</strong>m Drittel des Landes, dass die bäuerliche<br />
Bevölkerung besonders schwer betroffen wurde, zumal der Bauernschutz nicht weiter<br />
bestand. Die Konsequenzen aus diesem Reformansatz waren nach Knapps Ansicht<br />
unverkennbar: Die Bauern wurden gleichsam doppelt befreit, denn neben den<br />
bisherigen feudalen Belastungen verloren sie zudem ihr Land, wodurch <strong>eine</strong> nicht<br />
geringe Anzahl von ihnen zu Landarbeitern herab gestuft wurden. Gleichzeitig waren<br />
die bisherigen Gutsbesitzer zwar ihrer alten feudalen Rechte enthoben, konnten aber<br />
ihre ökonomischen und politischen Rechte weitgehend sichern.<br />
Knapp verband mit s<strong>eine</strong>r Darstellung der Agrarreformen <strong>eine</strong> heftige Kritik an<br />
<strong>eine</strong>m liberalen Staat, der nicht nach den sozialen Folgen s<strong>eine</strong>r Aktivitäten fragte, und<br />
damit millionenfaches Elend auslösen konnte <strong>–</strong> ein Elend, welches zu Beginn s<strong>eine</strong>s<br />
Jahrhunderts die dörfliche Bevölkerung, gegen dessen Ende die Arbeiterbevölkerung<br />
erfasste.<br />
S<strong>eine</strong> Analyse hielt allerdings <strong>eine</strong>r kritischen Überprüfung nicht stand, was nicht<br />
verhinderte, dass die preußischen Reformen in Folge des Oktoberedikts lange Zeit als<br />
gleichsam idealtypische Form der Bauernbefreiung verstanden wurden. S<strong>eine</strong> Schüler,<br />
unter ihnen Werner Wittich, untersuchten in den folgenden Jahrzehnten bis zum<br />
Ersten Weltkrieg die Verhältnisse in anderen Territorien Deutschlands und gelangten<br />
zu <strong>eine</strong>m wesentlich milderen Befund, denn hier kam es nicht zu den Landabtretungen<br />
wie in den älteren Teilen Preußens, somit auch nicht zu <strong>eine</strong>r massenhaften Entstehung<br />
<strong>eine</strong>s Landarbeiterproletariats. 8<br />
Damit konzentrierte sich die Forschung weiter auf die altpreußischen Reformen<br />
und konnte bald das von Knapp skizzierte Bild in wichtigen Elementen korrigieren.<br />
S<strong>eine</strong> Annahme, erst durch die Reformen sei <strong>eine</strong> nennenswerte Landarbeiterschaft<br />
entstanden, konnte widerlegt werden, denn schon im 18. Jahrhundert nahm die Zahl<br />
der Landarbeiter erkennbar zu. 9 Auch s<strong>eine</strong> Vermutung, die Bauern seien die<br />
eindeutigen Verlierer der Reformen gewesen, ließ sich in dieser pauschalen Form nicht<br />
aufrecht erhalten. Knapps Thesen müssen vor allem in drei Bereichen korrigiert<br />
werden:<br />
• Eine stärkere Landarbeiterschaft gab es schon im 18. Jahrhundert,<br />
• die Befreiung der Gutsbauern in Folge des Oktoberedikts bis zum<br />
Regulierungsedikt von 1816 betraf nur <strong>eine</strong>, wenngleich starke Minderheit der<br />
gesamten bäuerlichen Bevölkerung,<br />
• für <strong>eine</strong> Bewertung der bäuerlichen Landverluste müssen neben den eigentlichen<br />
Landregulierungen zusätzlich die Veränderungen in Folge der Gemeinheitsteilungen<br />
und Verkoppelungen berücksichtigt werden. 10<br />
Genau 70 Jahre nach Knapp veröffentlichte Werner Conze <strong>eine</strong>n Aufsatz, in dem er<br />
<strong>eine</strong> inhaltliche und begriffliche Ausweitung vornahm. Conze berücksichtigte dabei,<br />
8 Schüler nennen, WITTICH (1896), LUDWIG (1896).<br />
9 Beleg!<br />
10 Dazu zusammenfassend HARNISCH (1984).<br />
109
dass Knapp nur <strong>eine</strong>n Teilaspekt des gesamten Reformprozesses analysiert hatte,<br />
nämlich die Befreiung der gutsuntertänigen Bauern in den ostelbischen Gebieten<br />
Preußens. 11 Was aber war mit den Bauern in den anderen Gebieten Deutschlands und<br />
Europas geschehen, deren herrschaftliche Abhängigkeit (Grundherrschaft) wesentlich<br />
geringer war und die zugleich nicht nur ihre herrschaftlichen, sondern auch ihre<br />
genossenschaftlichen Beziehungen auflösten? Conze befreite die Wahrnehmung des<br />
Reformprozesses aus der Enge der Knappschen Definition und erweiterte sie auf die<br />
<strong>eine</strong>s grundlegenden epochalen und europaweiten Prozesses. Für diesen umfassenden<br />
Prozess benutzte er den Begriff der „liberalen Agrarreformen“, womit sowohl die<br />
Tatsache gemeint war, dass die Reformen <strong>eine</strong> Befreiung von bisherigen<br />
Abhängigkeiten bedeuteten, als auch der Umstand berücksichtigt wurde, dass die<br />
wesentlichen treibenden Kräfte hinter den Reformen liberale Politiker und Beamte<br />
waren. Zugleich fasst der Begriff der „Agrar”-Reformen den betroffenen<br />
Personenkreis weiter, denn nicht nur die im eigentlichen Sinn „bäuerliche”<br />
Bevölkerung, sondern die gesamte ländliche Bevölkerung und über sie hinaus die<br />
gesamte Gesellschaft wurde durch die Reformen verändert. Gleichzeitig aber wurden<br />
durch diese Interpretation der Reformen die skeptischen, sicherlich aus der s<strong>eine</strong>r<br />
zeitigen innenpolitischen Situation entstandenen Bewertungen von Knapp stark<br />
relativiert und ihnen damit die Schärfe genommen, vielmehr der Eindruck <strong>eine</strong>s in sich<br />
geschlossenen und stimmigen Konzeptes vermittelt.<br />
Schon dieser kl<strong>eine</strong> Ausflug in die Begriffsgeschichte zeigt, dass die zu<br />
behandelnden Phänomene komplex und vielschichtig sind und sich <strong>eine</strong>m einfachen<br />
Zugriff entziehen. Bauernbefreiung und Agrarreformen weisen auf einzelne Aspekte<br />
des gesamten Reformkomplexes hin, sie betonen dabei jeweils unterschiedliche Seiten<br />
etwas stärker, sind zugleich aber ambivalente Begriffe (die Bauernbefreiung in höherem<br />
Maße), deren Bedeutung sich nicht auf den ersten Blick erschließt.<br />
Die jüngere Forschung hat zu <strong>eine</strong>r weiteren Differenzierung des Reformprozesses<br />
beigetragen. Diese neuen Beiträge beziehen sich vor allem auf drei Aspekte: Zum<br />
<strong>eine</strong>n zeigen diese Arbeiten, dass die Reformphase wesentlich länger gedauert hat, als<br />
lange Zeit angenommen wurde. 12 Zwar waren bis 1850 die wichtigsten Reformgesetze<br />
veröffentlicht, aber die Realisierung der entsprechenden Reformmaßnahmen zog sich<br />
bis weit in die zweite Jahrhunderthälfte hin. 13<br />
Zum zweiten konnte die starke regionale Differenzierung des Reformprozesses<br />
nachgewiesen werden, die über die altbekannte Zweiteilung in Gebiete mit Guts- bzw.<br />
Grundherrschaft hinausgingen. Da die agrarischen Verhältnisse sich ebenfalls dieser<br />
einfachen Zweiteilung entziehen, ist es letztlich nicht verwunderlich, dass auch der<br />
Reformprozess starke regionale Aufsplitterungen aufwies.<br />
Drittens konnte schließlich der Zusammenhang zwischen agrarischen und<br />
gesamtgesellschaftlichen Veränderungen, insbesondere der Übergang zu <strong>eine</strong>r<br />
industriellen Gesellschaft stärker entwickelt werden, wobei die Wechselbeziehungen<br />
zwischen Industrialisierung und Agrarreformen besondere Aufmerksamkeit<br />
verdienen. 14<br />
11 CONZE ([1947]).<br />
12 Diese enge zeitliche Zuordnung spiegelt sich bis heute in entsprechenden Buchtiteln<br />
wider, die <strong>eine</strong> Reformdauer von 1750 bis 1850 nahe legen (so etwa BRAKENSIEK (1991),<br />
dessen Titel eben diesen Zeitraum wiedergibt, während die Darstellung <strong>eine</strong>n anderen<br />
Befund nahelegt). Zu Recht weist ACHILLES (1993), S. XX auf diesen Befund hin.<br />
13 Dazu mehrfach Walter Achilles, zuletzt in: VOGTHERR (2001).<br />
14 PIERENKEMPER (1989),<br />
110
Viertens wurde endlich viel stärker nach den Akteuren gefragt. Waren es nur die<br />
„großen Männer“ der Handbücher wie Albrecht Daniel Thaer, oder spielten nicht auch<br />
die Bauern <strong>eine</strong> größere Rolle als früher angenommen wurde. 15<br />
Bislang nur unzureichend diskutiert wurde über <strong>eine</strong>n neuen Perspektivenwechsel,<br />
obwohl die aktuelle Situation des ländlichen Raumes und der Landwirtschaft die Frage<br />
aufwirft, in welchem Kontext die aktuellen Entwicklungen zu sehen sind. So ist etwa zu<br />
fragen, wie die deutschen, insbesondere die niedersächsischen Reformen im Kontext<br />
europäischer Veränderungen zu bewerten sind, wobei speziell an die englischen und die<br />
dänischen Wege in die Moderne zu denken ist. Im Vergleich mit diesen beiden Ländern<br />
wird deutlich, dass die strukturellen Prozesse der niedersächsischen Reformen <strong>eine</strong><br />
Grenze hatten, die bis heute weitreichende Auswirkungen auf die Gliederung des<br />
ländlichen Raumes und die öffentliche Wahrnehmung des Dorfes hat. Die Bewahrung<br />
<strong>eine</strong>r dörflich-bäuerlichen Struktur statt <strong>eine</strong>r Trennung von Dorf und<br />
landwirtschaftlichem Betrieb ist k<strong>eine</strong>swegs selbstverständlich, wie das dänische und<br />
englische Beispiel zeigen.<br />
Das Festhalten an der Einheit von Dorf, Landwirtschaft und bäuerlichem<br />
Familienbetrieb ist ein spezifisches Kennzeichen der deutschen Verhältnisse und so<br />
nicht ohne weiteres in anderen Ländern Westeuropas anzutreffen. Es hat bis heute<br />
weitreichende Folgen, wie die noch immer nicht aufgegebene Absicht, durch<br />
Dorferneuerungsmaßnahmen die landwirtschaftliche Struktur zu stärken, obwohl die<br />
Praxis zeigt, dass gerade dies Ziel nicht erreicht werden kann. 16<br />
Von erheblicher Bedeutung waren ebenfalls die durch die Reformen des 19.<br />
Jahrhunderts zwar initiierten, aber teilweise erst im 20. Jahrhundert abgeschlossenen<br />
Eingriffe in die Kulturlandschaft. Gemeinheitsteilungen und Verkoppelungen zielten<br />
auf <strong>eine</strong> rationale Feldbewirtschaftung und lösten die alten Feldstrukturen zugunsten<br />
neuerer auf. Dadurch wurde <strong>eine</strong> intensivere Nutzung der Feldmark erreicht und die<br />
„Ödländereien“ erheblich reduziert. 17 Trotzdem scheint sich das Bild der<br />
Kulturlandschaft im 19. Jahrhundert vergleichsweise wenig verändert zu haben,<br />
zumindest wenn man es mit den strukturellen Wandlungen nach 1945 vergleicht. 18<br />
Dennoch sollte die Bedeutung der Reformmaßnahmen des 19. Jahrhunderts nicht<br />
unterschätzt werden, wurden doch damals Feldstrukturen (Graben- und Wegenetz)<br />
geschaffen und Denk- und Handlungsmuster entwickelt, die unter den Bedingungen<br />
und mit den technischen Möglichkeiten der Nachkriegszeit zu <strong>eine</strong>m radikalen<br />
Landschaftswandel mit weitreichenden ökologischen Folgen führte.<br />
Die Agrarreformen waren nicht daraufhin konzipiert, die Landwirtschaft im<br />
Rahmen <strong>eine</strong>r kapitalistisch-industriellen Volkswirtschaft effektiver zu gestalten.<br />
Zumindest in Niedersachsen wollten die handelnden Personen bis Mitte des 19.<br />
Jahrhunderts k<strong>eine</strong>swegs die Voraussetzungen für <strong>eine</strong> industrielle sondern für <strong>eine</strong><br />
effektivere agrarische Gesellschaft schaffen. Die Realität war <strong>eine</strong> andere, denn<br />
Agrarreformen und Industrialisierung standen in <strong>eine</strong>m engen wechselseitigen<br />
Verhältnis, jedoch wirkten die ideologischen Grundlagen der Agrarreformen insofern<br />
noch lange nach, als sie zu <strong>eine</strong>r massiven Kritik an der Industriegesellschaft führten,<br />
15 Siehe jetzt dazu JbW, vielleicht auch m<strong>eine</strong> Arbeiten, außerdem Prass, Agrarreform.<br />
16 Dazu Literatur noch nennen!<br />
17 Literatur!<br />
18 Hierzu etwa die Beispiele von Wöbse in dem Profil. Andere Aussagen von Schubert,<br />
Niedersachsen, S. XX. KÜSTER (1996),<br />
111
nicht bedenkend, dass dieser Industriegesellschaft wichtige ökonomische Impulse zu<br />
verdanken waren.<br />
VIII.Die Bauernbefreiung als Prozess<br />
Die Erkenntnis, dass die Reformen in sich komplexer waren, als es die ältere Forschung<br />
angenommen hatte, fand in der früheren Auflage dieses Buches s<strong>eine</strong> Entsprechung in<br />
<strong>eine</strong>m relativ umfangreichen Kapitel, welches sich mit den frühen Reformen<br />
auseinander setzte. Dahinter stand die Vermutung, dass die Annahme <strong>eine</strong>r von oben<br />
durchgesetzten und auf Verwaltungswege realisierten Reform nicht zutreffen könne. 1<br />
Zumindest zwei Indizien bietet die Situation vor 1800 für diese Annahme. Zum<br />
<strong>eine</strong>n fällt auf, dass es k<strong>eine</strong>swegs so einfach ist, herauszufinden, welche<br />
Personengruppen für oder gegen die Reformen waren, wie die ältere Forschung<br />
annahm. Sie sah vor allem in den Bauern Gegner jeder Veränderung, Befürworter von<br />
Reformen vermutete man im Adel und besonders in der Beamtenschaft sowie dem<br />
agrarisch interessierten Bürgertum und nicht zuletzt in der Agrarwissenschaft 2 .<br />
Zweifellos waren unter den Befürwortern Adelige, Bürgerliche und nicht zuletzt die<br />
landesherrlichen Beamten. Allerdings waren nicht alle Angehörige dieser Gruppen<br />
Reformbefürworter und zudem unterschieden sich ihre Positionen z.T. deutlich<br />
voneinander. 3 Viele Beamte befanden sich in <strong>eine</strong>r doppelten, manchmal dreifachen<br />
Rolle: Erstens waren sie Träger der unteren, lokalen landesherrlichen bzw. staatlichen<br />
Verwaltungsebene, zweitens waren sie Aufsichtsbeamte für die landesherrlichen<br />
Eigenwirtschaften und die dem Landesherrn in s<strong>eine</strong>n grundherrlichen Funktionen<br />
zustehenden Abgaben, und drittens waren sie häufig Pächter der landesherrlichen<br />
Amtsvorwerke. Das Rollenverständnis des Pächters, der möglichst hohe Einnahmen<br />
aus dem gepachteten Vorwerk erwirtschaften wollte, konnte nicht immer mit dem des<br />
landesherrlichen Beamten, der die Politik des Landes zu vertreten hatte,<br />
übereinstimmen. Oder anders ausgedrückt: betriebswirtschaftliche Aspekte konnten in<br />
Konkurrenz zu volkswirtschaftlichen und politischen treten.<br />
Uns begegnet dies Dilemma etwa dort, wo die Vorwerkspächter große Schafherden<br />
hielten, die auf die Weiderechte an den Ackerländereien angewiesen waren, so dass<br />
landesherrliche Versuche zur Zusammenlegung der Felder mit den<br />
betriebswirtschaftlichen Zielen der Pächter kollidierten. 4<br />
Zugleich gab es hinsichtlich der praktischen Umsetzung vieler Neuerungen häufig<br />
Unsicherheit, da es <strong>eine</strong>rseits an Erfahrungswerten mangelte, andererseits bei vielen<br />
Verbesserungen häufig übersehen wurde, dass sie an Voraussetzungen gebunden<br />
waren, die es nicht überall gab. So konnte <strong>eine</strong> auf Bördeböden sinnvolle Maßnahme<br />
auf Geestböden scheitern. 5 Zielkonflikte konnten ebenfalls zu Schwierigkeiten führen.<br />
Grundsätzlich wurde <strong>eine</strong> stärkere Individualisierung der Feldnutzung angestrebt, aber<br />
war dies Ziel auch bei den Wäldern sinnvoll? Oder drohte hier durch <strong>eine</strong> individuelle<br />
1 „Von oben“ muß sicherlich präzisiert werden, gemeint sind bürgerliche und staatliche<br />
Reformvorstellungen und Reformansätze, wie sie bis jüngst im Vordergrund stehen<br />
(Schubert in HUCKER, SCHUBERT, WEISBROD (1997), S. 349-352).<br />
2 Die sich in dieser Zeit erst etablierte!<br />
3 Eindrucksvolle Belege für diese Position bieten: BUCHHOLZ (1952), S. XX und BRAKENSIEK<br />
(1991), S. XX)<br />
4 Dazu habe ich einiges XX.<br />
5<br />
ULBRICHT (1980), S. XX bietet dazu ein schönes Beispiel anhand der Umsetzung englischer<br />
Erfahrungen auf die Lüneburger Heide, siehe dazu unten S. .<br />
112
Nutzung nicht deren Zerstörung, obwohl Ende des 18. Jahrhunderts angesichts <strong>eine</strong>s<br />
mehr oder minder akuten Holzmangels Aufforstungen besonders auf den Heideböden<br />
dringend notwendig waren. 6<br />
In den letzten Jahren hat sich unsere Kenntnis über bäuerliche Verhaltensweisen<br />
und Lebensstile in der frühneuzeitlichen Gesellschaft erheblich erweitert. 7 Die schon<br />
vor Jahren an einzelnen regionalen Beispielen sich abzeichnende Tatsache, dass Bauern<br />
und Landbewohner nicht so waren, wie zeitgenössische Publizisten sie darstellten <strong>–</strong><br />
faul, störrisch, ohne eigene Initiative <strong>–</strong> , sondern, dass sie durchaus in der Lage sein<br />
konnten, ihre rechtlichen und wirtschaftlichen Interessen zu verfolgen, wurde<br />
insbesondere durch neuere Studien zur ostdeutschen Agrargeschichte eindrucksvoll<br />
untermauert. Die Handlungsfähigkeit der Landbevölkerung war selbst dort gegeben,<br />
wo nach bisheriger Lehrmeinung ein System herrschaftlicher Unterdrückung bestand,<br />
nämlich in Gebieten mit Gutsherrschaft. Schon vor Jahren konnte Hans Heinrich<br />
Müller zudem nachweisen, dass der agrarische Fortschritt auch von Bauern getragen<br />
wurde; <strong>eine</strong> Erkenntnis, zu der Forscher aus Schleswig-Holstein ebenfalls wichtige<br />
Beiträge geliefert haben. 8<br />
Die bisherigen Untersuchungen zu den Reformen in der frühen Neuzeit deuten<br />
darauf hin, dass sie weit weniger von oben gesteuert wurden, sondern dadurch<br />
gekennzeichnet waren, dass von Angehörigen unterschiedlicher Gruppen schrittweise<br />
Versuche zur Lösung konkreter Probleme unternommen wurden. Es gab zwar in den<br />
Schriften der Agrarwissenschaftler <strong>eine</strong> differenzierte Programmatik, die die rechtliche<br />
Abhängigkeit der Bauern ebenso anprangerte wie sie Vorschläge für <strong>eine</strong> moderne und<br />
rationelle Feldwirtschaft entwickelte. Aber was wurde davon realisiert bzw. auf welcher<br />
Grundlage entwickelten sich die konkreten Reformmaßnahmen? Die Erkenntnis, dass<br />
<strong>eine</strong> rationellere Landwirtschaft notwendig war, um die vielfältigen neuen<br />
Anforderungen erfüllen zu können, war zwar gegeben, aber wie ließ sich diese<br />
Erkenntnis in praktisches Handeln umsetzen? Und andersherum, mussten diejenigen,<br />
welche praktisch handelten, dies auf der Basis theoretischen Wissens tun oder nicht<br />
aus eigener Erfahrung bzw. unter dem Druck äußerer Bedingungen handeln? Und<br />
warum betrachten wir immer die Impulse der Theorie auf die Praxis und fragen nicht<br />
stärker, welche Impulse von der Praxis ausgingen?<br />
Gerade weil wir inzwischen genauer die strukturellen Elemente des frühmodernen<br />
Staates kennen mit s<strong>eine</strong>m Gegenüber von Anspruch und Wirklichkeit, müssen wir<br />
vorsichtig sein in der Bewertung von Absichtserklärungen im agrarischen Sektor.<br />
Es spricht vieles dafür, dass die Reformen in <strong>eine</strong>m komplexen Prozess stattfanden,<br />
welcher durch das Zusammenspiel unterschiedlicher Kräfte gekennzeichnet war. Der<br />
schrittweise, prozesshafte Charakter wird an vielen Beispielen deutlich: Während<br />
Gemeinheitsteilungen durchgeführt wurden, blieben die vorhandenen Dienste<br />
bestehen, wurde die Leibeigenschaft nicht angetastet. Angesichts der Komplexität der<br />
alten Agrarverfassung mit sich räumlich und sachlich überlagernden und ineinander<br />
verschachtelten Rechten war ein solches schrittweises Vorgehen vermutlich <strong>eine</strong><br />
sinnvolle Lösung, wobei die Realisierung einzelner Schritte weitere Reformen<br />
notwendig werden ließ.<br />
6 Hierzu Diskussion über Holzmangel und mein Beispiel über Northen und Ditterke. Dazu<br />
jetzt auch NEUBER (2002).<br />
7 Einen guten neueren Überblick bieten PETERS (1999); PETERS, KRUG-RICHTER (1995);<br />
HOLENSTEIN (1996).<br />
8 AST-REIMERS (1965), PRANGE (1971), MÜLLER (1967).<br />
113
So wurde Schritt für Schritt die alte Agrarverfassung zur Disposition gestellt. Damit<br />
waren diese Reformen eher ein allgem<strong>eine</strong>r Lernprozess, der durch Versuch und<br />
Irrtum geprägt war, an dem alle ländlichen Bevölkerungsgruppen sich, wenngleich in<br />
unterschiedlicher Intensität, beteiligten und gewiss auch voneinander lernten. Dieser<br />
Befund, dass die soziale Praxis von grundlegender Bedeutung war, 9 lässt die frühe<br />
Reformphase als eigenständige Phase von den späteren Reformen abgrenzen, weshalb<br />
sie als sozialer Prozess bezeichnet werden soll. Ungeklärt blieb bis zum Ende des Alten<br />
Reiches dagegen die Frage, wie die Machtfrage zu lösen sei, denn <strong>eine</strong> komplette<br />
Auflösung der alten Abhängigkeiten hätte auch die vorhandene gesellschaftliche<br />
Ordnung in Frage gestellt, vor allem den Adel <strong>eine</strong>n Teil s<strong>eine</strong>r Privilegien gekostet.<br />
Die Frage, ob der deutsche Weg auch ohne den Einfluss Frankreichs zum gleichen<br />
Ziel gelangt wäre, bleibt müßig, allerdings zeigt die weitere Entwicklung im 19.<br />
Jahrhundert, dass es dem Adel gelang, wichtige Positionen zu halten. Andererseits<br />
wurden die einzelnen Reformschritte heftig durch die Bauern bzw. die ländliche<br />
Bevölkerung erkämpft, es bedurfte also nach 1815 weiter des Druckes „von unten“, um<br />
den Reformprozeß zu beschleunigen bzw. wieder in Gang zu setzen.<br />
Andererseits unterscheiden sich die Reformen besonders seit den 1830er Jahren<br />
signifikant von den früheren Ansätzen. Zunehmende Professionalisierung,<br />
Bürokratisierung und Vereinheitlichung sind die Kennzeichen dieser Verfahren. Nicht<br />
mehr einzelne Amtleute, Adelige oder Bauern „probieren“ Reformen aus, sondern neu<br />
geschaffene Behörden mit ausgebildeten Fachleuten agieren auf der Basis detaillierter<br />
gesetzlicher Vorschriften. Zwar findet auch auf diese Weise die Reform nicht in <strong>eine</strong>m<br />
einzigen großen Schritt statt, sondern besteht weiterhin aus mehreren Ansätzen und<br />
braucht für die praktische Umsetzung mehrere Jahrzehnte. Aber das waren praktische<br />
Probleme, konnte doch angesichts der umfassenden und flächendeckenden<br />
Neugestaltung der Landwirtschaft nicht binnen weniger Jahre realisiert werden.<br />
Unterschiede bestehen auch bei den Ablösungen, die mehr als die<br />
Gemeinheitsteilungen in <strong>eine</strong>m politischen Prozess verwirklicht wurden. Deren<br />
gesetzliche Realisierung erfolgte um 1830 und 1848/49 in zwei großen Schüben und<br />
wurde eingeleitet durch ländliche Unruhen, die es den reformbereiten bürgerlichen<br />
Politikern und Beamten ermöglichte, ihre Reformkonzepte zu realisieren. Nicht so sehr<br />
der Inhalt dieser Reformgesetze, sondern die Tatsache, dass sie überhaupt zustande<br />
kamen, war die Folge der bäuerlich-ländlichen Unruhen. Zudem fanden die<br />
Auseinandersetzungen in diesem Bereich in <strong>eine</strong>r deutschlandweiten Öffentlichkeit<br />
statt, so dass zwar die einzelstaatlichen Gesetze jeweils Eigenheiten beibehielten, aber<br />
viele Gemeinsamkeiten aufwiesen. Insbesondere in der 1848er Revolution verbreiteten<br />
sich Neuigkeiten über Agrarreformen in kürzester Zeit. Trotz dieser Einflüsse „von<br />
unten“ bleibt unverkennbar, dass die Reformen selbst von liberalen Bürokraten und<br />
Politikern entscheidend geprägt und betrieben wurde. Nicht mehr das gleichsam<br />
individuelle Ausprobieren einzelner Reformansätze, seien es Dienstabstellungen oder<br />
Gemeinheitsteilungen, sondern die in <strong>eine</strong>r größeren Öffentlichkeit diskutierte<br />
Ablösung des alten Feudalsystem war das Kennzeichnende dieser Phase. Nicht mehr<br />
soziales Lernen, sondern politische Aktivitäten sind damit für diese Phase<br />
kennzeichnend, weshalb von den Reformen als politischer Prozess gesprochen wird.<br />
Die mit der Revolution verbundenen gesetzlichen Maßnahmen stellen auf<br />
gesetzlicher Ebene in der Tat den Abschluss der Reformen dar; die damit erreichte<br />
9 Dazu jetzt BIRTSCH (1996), etwa S. 44 (Beitrag Zimmermann, Abstract) oder 107 (Beitrag<br />
Birtsch).<br />
114
Auflösung des Feudalismus veränderte die politische Haltung der Landbevölkerung in<br />
signifikanter Weise. Der Reformprozess selbst war damit k<strong>eine</strong>swegs abgeschlossen,<br />
sondern benötigte für die Realisierung teilweise noch weitere Jahrzehnte.<br />
Bemerkenswert sind die Unterschiede im 19. Jahrhundert zu anderen europäischen<br />
Territorien. Auffällig ist der Unterschied zwischen der englischen und der deutschen<br />
Entwicklung: Hier <strong>eine</strong> Dreiteilung in Großgrundbesitzer, große Pächter und<br />
Landarbeiter verknüpft mit <strong>eine</strong>r dezentralen Siedlungsstruktur, dort zwar auch<br />
Großgrundbesitzer, daneben aber freie Bauern (vom Großbauern bis zum<br />
Kleinbauern) und Tagelöhner. 10 Wenn der englische Weg Element des dortigen<br />
Übergangs zum modernen Industriekapitalismus war, dann müssen die deutschen<br />
Reformen, deren Ansätze im späten 18. Jahrhundert zu suchen sind, nicht nur in der<br />
Selbstwahrnehmung der Zeitgenossen, sondern auch in der nachträglichen Bedeutung<br />
als Reformen <strong>eine</strong>r agrarischen Gesellschaft gewertet werden, die nicht im Übergang<br />
zur Industrialisierung begriffen war (und sie teilweise sogar bewusst ablehnte). Die<br />
scheinbare Modernität der Landwirtschaft, wie sie in bisherigen Forschungen immer<br />
wieder betont wird, gerät dann tatsächlich zu <strong>eine</strong>m Paradoxon. Entstanden für und in<br />
<strong>eine</strong>r agrarischen Gesellschaft schufen die Reformen 50 Jahren später die<br />
Voraussetzungen für erhebliche Produktivitätssteigerungen in <strong>eine</strong>r industriellen<br />
Gesellschaft. Gleichzeitig entwickelte der agrarische Sektor <strong>eine</strong> ausgeprägte<br />
Ablehnung der modernen industriellen Gesellschaft, welche in auffälligem<br />
Widerspruch zu den Vorteilen stand, die gerade er dieser Gesellschaft zu verdanken<br />
hatte. Ist es vielleicht diese Ansynchronität zwischen Reformprozess selbst und<br />
späterer Industrialisierung, die sowohl die Widerständigkeit des agrarischen Sektors im<br />
Kaiserreich und der Weimarer Republik als auch die Probleme nach 1945 mit erklären<br />
können? Zwar wurde der Zusammenhang zwischen Industrialisierung und Reformen<br />
schon lange diskutiert, aber dabei im Sinne <strong>eine</strong>s in sich stringenten Reformprozesses,<br />
ohne dass die Unterschiede hinsichtlich Intention und Wirkung ausreichend<br />
berücksichtigt wurden.<br />
Angesichts <strong>eine</strong>s in Deutschland seit 1950 massiv einsetzenden und bis heute<br />
anhaltenden Strukturwandels der Landwirtschaft mit umfassenden sozialen,<br />
ökonomischen und ökologischen Auswirkungen stellt sich erneut die Frage, in welchem<br />
Kontext die Agrarreformen gesehen werden müssen und welche Schlussfolgerungen<br />
sich daraus ergeben, dass sie k<strong>eine</strong> industrielle Landwirtschaft beabsichtigten.<br />
Schließlich gibt es <strong>eine</strong> dritte Phase, die bislang eher unterschlagen wurde. 11 Die<br />
bisherigen Darstellungen zugrunde liegende Annahme, die Reformen seien mit der<br />
Verkündung von Gesetzen abgeschlossen gewesen, ist irrig, und gleich aus mehreren<br />
Gründen. So gab es in Deutschland, bzw. in Niedersachsen durchaus Regionen, in<br />
denen der politische Prozess sich bis über das Jahr 1850 hinaus erstreckte. 12<br />
Andererseits genügte es nicht, die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen zu<br />
erlassen, sondern entscheidend war die konkrete Umsetzung, d.h. Ablösungen mußten<br />
durchgeführt, das Land vermessen, bewertet und neu umgelegt werden. Die zwischen<br />
1830 und 1850 eingerichteten Behörden begannen erst seit den 1850er Jahren in<br />
stärkerem Maße zu arbeiten, so dass ein großer Teil der Reformen erst nach 1850<br />
10 Zur englischen Entwicklung siehe den guten Überblick bei MINGAY (2000).<br />
11 Siehe aber ACHILLES (1993), S. xx.<br />
12 In Schaumburg-Lippe und der ab 1866 zu Preußen gehörenden Grafschaft Schaumburg;<br />
in beiden Gebieten brachte erst die preußische Zeit <strong>eine</strong>n Abschluss der Reformtätigkeit<br />
(SCHNEIDER (1995b), S. XX).<br />
115
ealisiert wurde. Insofern könnte man von <strong>eine</strong>r administrativen Phase sprechen.<br />
Nichts wäre aber unrealistischer als die Annahme, dass diese Phase nur durch die<br />
Umsetzung vorher erlassener Regelungen gekennzeichnet war.<br />
Mit der Industrialisierung wirkte ein neues Element zunehmend auf den ländlichen<br />
Raum ein und führte zusammen mit den Reformen zu weitreichenden ökonomischen<br />
und sozialen Veränderungen. Dabei ist besonders bemerkenswert, in welcher Weise<br />
sich die in der vor- bzw. frühindustriellen Phase entwickelten Reformkonzepte unter<br />
den veränderten Bedingungen <strong>eine</strong>r industriellen Gesellschaft auswirkten. Die<br />
Wechselbeziehungen zwischen Industrialisierung und Landwirtschaft waren nicht<br />
einseitig, denn die Landwirtschaft profitierte nicht nur von den neuen Absatz- und<br />
Produktionsmöglichkeiten, sondern sie förderte durch ihre Nachfrage nach Maschinen<br />
und Gerät ihrerseits den Industrialisierungsprozeß. Gleichwohl stellte die<br />
Industrialisierung spätestens seit den 1890er Jahren die bisherige soziale wie<br />
ökonomische Rolle der Landwirtschaft in der Gesellschaft infrage. Der nicht zuletzt<br />
durch die Agrarreformen erleichterte Aufschwung der Jahre 1850 bis 1880 erhielt <strong>eine</strong>n<br />
entscheidenden Schlag, auf den die Interessenvertreter insbesondere aus<br />
Ostdeutschland mit <strong>eine</strong>r radikalen Politik reagierten.<br />
Die Untersuchung und Darstellung der Agrarreformen als Prozess bietet die Chance,<br />
das historische Geschehen differenzierter und offener wahrzunehmen. Es gab, das ist<br />
die Grundannahme dieser Darstellung, weder von Anfang an ein Ziel, welches durch<br />
beharrliche Reformarbeit letztlich verwirklicht wurde, noch <strong>eine</strong> absolute Offenheit der<br />
Entwicklung. Vielmehr waren die Reformen eingebettet in grundlegende<br />
gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, sie lassen sich in mehrere Phasen unterteilen,<br />
sie wiesen innerhalb dieser Phasen regionale Unterschiede auf und sie hatten ein im<br />
internationalen Vergleich typisches Profil, das sie wiederum von anderen europäischen<br />
Reformwegen trotz vieler Übereinstimmungen unterschied.<br />
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