journal - Tumorzentrum Erfurt eV
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stimmt, ob es das Andere der Welt, der andere Mensch<br />
oder das ganz Andere Gottes ist – in der Praxis zumeist eine<br />
Mischung aus alledem.<br />
3. Nach Kant haben nur Sachen einen Wert (Preis), der<br />
Mensch hingegen Würde (die unverstehbare Selbstzweckhaftigkeit).<br />
Das kluge Grundgesetz lehrt uns nun, was<br />
man in der Praxis mit Würde tun kann: man hat sie zuerst<br />
zu achten und erst danach zu schützen. Würde man die<br />
Reihenfolge umdrehen, käme wieder Aneignung heraus.<br />
Das hat selbst das englische Sozialministerium begriffen,<br />
indem es den Bewohnern von Altepflegeheimen einerseits<br />
das Recht auf Schutz und Sicherheit zuerkannt hat; weil<br />
aber ein Leben, das immer nur geschützt wird, kein menschenwürdiges<br />
Leben sei, hat das Ministerium ihnen auch<br />
noch – komplementär – auch noch das „Recht auf Risiko“<br />
zugesprochen.<br />
4. Um die Verstehensbegeisterung der Psychiatriereformbewegung<br />
(ähnlich wie heute in der Palliativbewegung)<br />
zu balancieren, haben wir 1978 in unserem „Irren ist<br />
menschlich“ die Beziehung als eine „Begegnung von Gegnern“<br />
dargestellt, womit wir die Härte der Andersheit des<br />
Anderen zu ihrem Recht verhelfen wollten: die vorgängige<br />
wechselseitige Anerkennung der unterschiedlichen Interessen<br />
beider Beziehungspartner läuft im Kern auf ein<br />
Verstehens-Verbot hinaus. Denn Menschen sind nicht wie<br />
Sachen gezielt, zielgerichtet anzugehen, sondern immer<br />
nur indirekt auf Umwegen (Umgang). Und Verstehen geht<br />
etymologisch auf die Handwerkersprache zurück: „Ich verstehe<br />
mich auf dich.“ Ich als Profi habe also nicht den Anderen<br />
besser zu verstehen, sondern mich selbst auf den<br />
Anderen; es geht also um das naturwissenschaftlich nur<br />
schwer darstellbare philosophische Reflexionsvermögen.<br />
Der Erfinder der Systemtheorie, Gregory Bateson, hat dies<br />
in den zauberhaften Satz gekleidet: „Der Kontext ist immer<br />
wichtiger als der Text“.<br />
Und jetzt versuchen wir, die bisherigen Überlegungen auf<br />
die Lebensphase des Sterbens zu übertragen, zumindest<br />
so lange der Tod nicht auf Knopfdruck vom „Kunden“ bestellt<br />
wird (, wie das ja im gerade verabschiedeten Patientenverfügungsgesetz<br />
möglich ist):<br />
Wir verfügen heute immerhin über ein empirisch evidenzbasiertes<br />
Wissen, nämlich, dass gegenüber früheren Zeiten<br />
heute zunehmend fast alle Menschen in den eigenen<br />
vier Wänden und im Gespräch mit den ihnen Nächsten<br />
sterben wollen. Auf diesen letzten und dann ja wohl auch<br />
vornehmsten Wunsch fast aller Bürger, der in den Patientenverfügungsformularen<br />
kaum berücksichtigt ist, reagieren<br />
verständlicherweise Staat und Gesellschaft nur zögerlich.<br />
Die erste Reaktion auf diese Wunschänderung<br />
stammt dann auch von der bürgerschaftlichen Basis in<br />
Form der Hospizbewegung, während wir Profis erst jetzt<br />
mit der Palliativbewegung nachrüsten.<br />
Aber was wollen Sterbende subjektiv wirklich, wo sie oft<br />
an ihr eigenes Wollen nicht mehr herankommen; da kann<br />
es kaum Evidenz geben, und da scheitert die Empathie<br />
meist schon früh.<br />
JOURNAL 01/2009<br />
Aus vielen Berichten der Hospizler ergibt sich einige Plausibilität<br />
dafür, dass mir als einem Sterbenden die mir früher<br />
wichtige Verfügung über mein Leben weniger wichtig<br />
ist, in einer Phase, in der mir die Verfügung über mein<br />
Leben zwischen den Fingern zerrinnt. Mehr schon interessiert<br />
mich meine „Bedeutung für Andere“, auch über<br />
den Tod hinaus, weshalb ich vielleicht nicht mehr den<br />
plötzlichen Tod wünsche und ich auch einen gewissen<br />
Grad an Schmerzen eher in Kauf nehme, wenn es mir um<br />
die Zeit des bewussten Abschiednehmens geht. Vielleicht<br />
kann ich mich auch eines gewissen Kicherns nicht erwehren<br />
angesichts des Aufwandes, der um mein Sterben herum<br />
gemacht wird, bis mir die Einsicht kommt, dass auch<br />
das ja eher etwas ist, das nicht ich, sondern die Anderen<br />
brauchen, also ebenfalls mit der „Bedeutung für Andere“<br />
zu tun hat.<br />
So schreibt der Philosoph Hans-Georg Gadamer, der mit<br />
seinen fast 100 Jahren lange Zeit hatte, sich im Sterben<br />
subjektiv evident zu sehen (in „Über die Verborgenheit der<br />
Gesundheit“, Frankfurt 1996): „Der Sterbende, der mit<br />
sich selbst schon abgeschlossen hat, durchschaut das Vorwandhafte<br />
aller Dinge um ihn her mit ungetrübter Klarheit<br />
… mit einem fast mitleidigen Blick verfolgt der Sterbende<br />
die falschen Anstrengungen der Lebenden, ihm<br />
sein Sterbenmüssen zu verbergen. So viel mehr ist er<br />
schon mit sich einig.“ – Bloß niemand weiß, ob wir je so<br />
viele, jedes Mal einmalige subjektive Sterbesichten verallgemeinern<br />
und auch nur Sterbe-Typen daraus bilden<br />
könnten; und besonders evidenzbasiert wäre das dann<br />
immer noch nicht.<br />
Sollte man die Sterbephase auch als eine Krise auffassen<br />
können, dann könnten hier vielleicht auch die Regeln für<br />
den Umgang mit Krisen Anwendung finden. Ich stelle ihnen<br />
abschließend zwei solcher Regeln zu Diskussion.<br />
Einmal geht es um den Beginn einer palliativen Arzt-Patient-Angehörigen-Beziehung.<br />
Statt mit dem immer Verbotenen,<br />
weil einen Menschen objektivierenden „Ich verstehe<br />
dich“, habe ich anzufangen, indem ich dem Sterbenden<br />
meine stets widersprüchliche Situation mit Worten<br />
und noch mehr mit meiner auch averbalen<br />
Grundhaltung (in welchem Fortbildungsmodul kommt<br />
das vor?) verständlich zu machen – etwa so:<br />
„Ich sage dir jetzt zwar etwas (gebe dir zum Beispiel eine<br />
Empfehlung), denn weil ich der Experte bin, hast du das<br />
Recht darauf. Aber das wird wahrscheinlich falsch sein,<br />
schon weil es ja zunächst nur von mir kommt. Daher bin<br />
ich von dir darin abhängig, dass du mir glauben kannst,<br />
mich angstfrei korrigieren zu können (wie drücken Sie das<br />
in Ihrer Grundhaltung aus?); denn nur über diesen Umweg,<br />
wo ich mich eben nicht empathisch in den Anderen,<br />
sondern reflexiv in mich selbst hineinversetze, kann aus<br />
unserer Beziehung eine vertrauensgetragene Kooperation<br />
werden, zu der beide Seiten Unterschiedliches, aber gleichermaßen<br />
Wichtiges beitragen. Eine solche kooperative<br />
Annäherung an die jeweilige Wahrheit baut sich also aus<br />
korrigierten Irrtümern auf.<br />
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