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für Gesundheitsförderung - Kongress Armut und Gesundheit

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In diesem Info_Dienst<br />

Rückblick 3<br />

Qualität <strong>und</strong> Wirksamkeit 5<br />

Ges<strong>und</strong>heitspolitik 8<br />

Kinderges<strong>und</strong>heit 10<br />

Altern <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit 15<br />

Migration <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit 18<br />

Arbeitslosigkeit 22<br />

Patienteninteressen 23<br />

Termine/Veranstaltungen 27<br />

Publikationen 28<br />

Impressum 28<br />

Editorial<br />

Sehr geehrte Damen <strong>und</strong> Herren,<br />

liebe Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen,<br />

<strong>für</strong> uns alle unfassbar ist der viel zu frühe<br />

Tod unserer langjährigen Geschäftsführerin,<br />

Kollegin <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>in Carola Gold. Fast seit<br />

den Anfängen von Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />

bis zu ihrem letzten Lebensabschnitt<br />

hat sie sich mit Leidenschaft <strong>für</strong> die<br />

Belange ges<strong>und</strong>heitlicher Chancengleichheit<br />

in Berlin, Brandenburg <strong>und</strong> b<strong>und</strong>esweit<br />

eingesetzt. Mit ihrer einzigartigen Persönlichkeit,<br />

ihrem Mut <strong>und</strong> ihrer Kraft hat sie es<br />

<strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />

Zeitschrift von Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />

12. Jahrgang • 1. Ausgabe 2012<br />

Schwerpunkt zum 17. <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit 2012<br />

immer geschafft, Themen in der soziallagenbezogenen<br />

<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> zu setzen,<br />

Menschen zu bewegen <strong>und</strong> zu berühren.<br />

Ihr Lachen, das man auch aus einer großen<br />

Menschenmenge immer heraushören<br />

konnte, bleibt vielen unvergessen.<br />

Seit sie 2006 die Geschäftsführung von Ges<strong>und</strong>heit<br />

Berlin-Brandenburg übernahm,<br />

war Carola Gold der Motor, der die Arbeitsgemeinschaft<br />

<strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />

sehr erfolgreich weiterentwickelt hat. Der<br />

Aufbau der Fachstelle <strong>für</strong> Prävention <strong>und</strong><br />

<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> im Land Berlin, die<br />

Erweiterung der Arbeitsgemeinschaft auf<br />

das Land Brandenburg <strong>und</strong> die Geschäftsstellen-Funktion<br />

<strong>für</strong> den b<strong>und</strong>esweiten Kooperationsverb<strong>und</strong><br />

„<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />

bei sozial Benachteiligten“ sind nur einige<br />

Beispiele <strong>für</strong> die vielen Initiativen, Projekte<br />

<strong>und</strong> nachhaltig wirkenden Maßnahmen, die<br />

sie oft initiiert <strong>und</strong> immer entscheidend vorangetrieben<br />

hat. Ihr ist es gelungen, Ges<strong>und</strong>heit<br />

Berlin-Brandenburg regional <strong>und</strong><br />

b<strong>und</strong>esweit fest zu verankern – unbeirrt gegen<br />

manche Widerstände <strong>und</strong> mit großer<br />

Weitsicht. Mit ihrer überzeugenden Art hat<br />

sie viele Diskussionen geprägt <strong>und</strong> neue<br />

Perspektiven aufgezeigt. Für uns Mitarbeite-<br />

1<br />

rinnen <strong>und</strong> Mitarbeiter war sie Vorbild <strong>und</strong><br />

Mentorin, Richtung weisend <strong>und</strong> auch immer<br />

an uns als Menschen interessiert.<br />

„Leute, wir hatten eine tolle Zeit zusammen“,<br />

war einer ihrer letzten Sätze, als einige<br />

Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen Gelegenheit<br />

hatten, sich kurz vor ihrem Tod von ihr zu<br />

verabschieden.<br />

Ihr letztes halbes Jahr nach der Krebsdiagnose<br />

ist sie so angegangen, wie wir <strong>und</strong> viele<br />

Andere sie kannten: mit voller Wucht, klar<br />

<strong>und</strong> würdevoll. Kein Klagen, keine Verzagtheit<br />

– sie hat das Leben <strong>und</strong> auch ihren nahenden<br />

Tod wirklich angenommen. Die vielen<br />

Besuche, Blumen, Briefe, Karten <strong>und</strong> Anrufe,<br />

der große Zuspruch <strong>und</strong> die Anerkennung,<br />

die sie in den letzten Monaten noch<br />

einmal intensiv erfahren durfte, haben sie<br />

sehr glücklich gemacht. Carola Gold ist am<br />

27. April friedlich <strong>und</strong> im Beisein von Familie<br />

<strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>en <strong>für</strong> immer eingeschlafen.<br />

Sie wird uns allen sehr, sehr fehlen. Wir haben<br />

ihr unendlich viel zu verdanken. Sie<br />

bleibt in unseren Herzen.<br />

Andrea Möllmann, stellvertretend <strong>für</strong> die<br />

Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen bei Ges<strong>und</strong>heit<br />

Berlin-Brandenburg<br />

12


2<br />

Ges<strong>und</strong>heit<br />

Berlin-Brandenburg –<br />

ges<strong>und</strong>heitliche<br />

Chancengleichheit<br />

weiter voranbringen<br />

Carola Gold hat Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />

vertreten <strong>und</strong> verkörpert. Viele Projekte<br />

<strong>und</strong> Initiativen <strong>für</strong> mehr ges<strong>und</strong>heitliche Chancengleichheit<br />

hat sie in den vergangenen Jahren<br />

sowohl regional <strong>und</strong> als auch b<strong>und</strong>esweit<br />

vorangebracht <strong>und</strong> maßgeblich geprägt. Carola<br />

Gold hinterlässt eine schmerzhafte Lücke<br />

<strong>und</strong> wir stehen nun vor der großen Herausforderung,<br />

ihren Weg fortzusetzen.<br />

Über die vergangenen Jahre ist der Verein Ges<strong>und</strong>heit<br />

Berlin-Brandenburg kontinuierlich<br />

gewachsen. Viele neue Projekte <strong>und</strong> Initiativen<br />

sind hinzugekommen <strong>und</strong> schon vor einiger<br />

Zeit hat sich heraus gestellt, dass die Aufgaben<br />

der Geschäftsführung nicht allein von einer<br />

Person getragen werden können. Auf Wunsch<br />

von Carola Gold hat der Vorstand von Ges<strong>und</strong>heit<br />

Berlin-Brandenburg deshalb bereits im<br />

Januar 2012 beschlossen, dass der Verein künftig<br />

durch zwei Geschäftsführer vertreten werden<br />

soll. Stefan Pospiech übernahm daraufhin<br />

die Geschäftsführung <strong>für</strong> alle Berliner Aktivitäten,<br />

Carola Gold blieb <strong>für</strong> die brandenburger<br />

<strong>und</strong> b<strong>und</strong>esweiten Projekte zuständig.<br />

Seit dem Beginn der Krankheit von Carola Gold<br />

hat Stefan Pospiech die vollständige Geschäftsführung<br />

in enger Absprache mit Carola<br />

Gold übernommen. Er wird diese Aufgabe auch<br />

in Zukunft weiter führen.<br />

Der Vorstand <strong>und</strong> alle Mitarbeiterinnen <strong>und</strong><br />

Mitarbeiter von Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />

freuen sich, dass Stefan Pospiech seine<br />

fachliche Kompetenz <strong>und</strong> langjährige Erfahrung<br />

im Verein in die Geschäftsführung einbringt.<br />

Stefan Pospiech ist seit 2004 Mitarbeiter der<br />

Geschäftsstelle von Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />

<strong>und</strong> hat in dieser Zeit verschiedene<br />

Projekte bearbeitet, betreut <strong>und</strong> verantwortet.<br />

Derzeit leitet er u.a. die Fachstelle <strong>für</strong> Prävention<br />

<strong>und</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> im Land Berlin<br />

sowie das Zentrum <strong>für</strong> Bewegungsförderung<br />

Berlin.<br />

Bündnis Ges<strong>und</strong><br />

Älter werden im Land<br />

Brandenburg<br />

gegründet<br />

Das Bündnis Ges<strong>und</strong> Älter werden im Land<br />

Brandenburg wurde am 16. März 2012 als Ges<strong>und</strong>heitszieleprozess<br />

in Potsdam eröffnet.<br />

Ges<strong>und</strong>heitsministerin Anita Tack, Vorsitzende<br />

des Bündnisses, rief dazu auf, die vorherrschenden<br />

Altersbilder in der Gesellschaft zu<br />

hinterfragen <strong>und</strong> empfahl ein ressourcenorientiertes<br />

Verständnis im zukünftigen Bündnis. Es<br />

gilt, Ressourcen zu bündeln, Bewährtes zu<br />

identifizieren <strong>und</strong> unter dem Dach des Bündnisses<br />

gemeinsam am Thema zu arbeiten.<br />

Im Vorfeld der Gründung erarbeiteten Bündnispartner<br />

<strong>und</strong> das Landesges<strong>und</strong>heitsministerium<br />

eine gemeinsame Erklärung. 23 Bündnispartner<br />

stellten sich in der Auftaktveranstaltung<br />

hinter die gemeinsame Erklärung <strong>und</strong> bekräftigten<br />

ihren Willen zur aktiven Mitarbeit.<br />

Die Grußworte <strong>und</strong> Fachbeiträge der Auftaktveranstaltung<br />

sowie weitere Materialien stehen<br />

jetzt auf der Webseite des Ministeriums<br />

<strong>für</strong> Umwelt, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Verbraucher-<br />

schutz des Landes Brandenburg www.mugv.<br />

brandenburg.de zur Verfügung.<br />

Ressortübergreifend folgt das Bündnis den seniorenpolitischen<br />

Leitlinien der Landesregierung<br />

<strong>für</strong> ein aktives Altern <strong>und</strong> ist selbst Teil<br />

des seniorenpolitischen Maßnahmenpakets im<br />

Land Brandenburg. Auf Initiative <strong>und</strong> unter Moderation<br />

des <strong>für</strong> Ges<strong>und</strong>heit zuständigen Mitglieds<br />

der Landesregierung kommen wesentliche<br />

Akteure des Handlungsfeldes Ges<strong>und</strong>heit,<br />

Soziales <strong>und</strong> Alter zusammen, um sich <strong>für</strong> ein<br />

ges<strong>und</strong>es Älterwerden im Land stark zu machen.<br />

Unterstützt wird der Ges<strong>und</strong>heitszieleprozess<br />

durch die Fachstelle Ges<strong>und</strong>heitsziele<br />

im Land Brandenburg, welche sich in Trägerschaft<br />

von Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg befindet.<br />

Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />

In diesem Info_Dienst<br />

Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3<br />

17. <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit . . . . . . . 3<br />

Interview mit Prof. Dr. Rolf Rosenbrock . . . . . 4<br />

Partizipation <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit . . . . . . . . . . . . . 5<br />

Qualität <strong>und</strong> Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 5<br />

Wege in die Regelversorgung . . . . . . . . . . . . . 5<br />

Verstetigung von Ges<strong>und</strong>heitsinterventionen<br />

im Stadtteil . . . . . . . . . . . . . . . 6<br />

Doppelter Standard <strong>für</strong> Prävention <strong>und</strong><br />

<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong>? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />

Ges<strong>und</strong>heitspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .8<br />

Das Ende der Projektitis! . . . . . . . . . . . . . . . . . 8<br />

Weltges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Aufstand . . . . . . . . . . . . 9<br />

Kinderges<strong>und</strong>heit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10<br />

Ges<strong>und</strong> aufwachsen <strong>für</strong> alle! . . . . . . . . . . . . . 10<br />

Familiäre <strong>Armut</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12<br />

Interview mit Prof. Dr. Reinhart Wolff . . . . . 13<br />

Väter in den Frühen Hilfen . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />

Altern <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15<br />

Alt, arm, abgehängt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15<br />

Nachbarschaftliche Hilfe – ein Weg zu<br />

Lebensqualität im Alter? . . . . . . . . . . . . . . . . 16<br />

Interview mit Michael Bellwinkel . . . . . . . . . 17<br />

Migration <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit . . . . . . . . . . . . . . . 18<br />

Prävention bei Menschen mit<br />

Migrationshintergr<strong>und</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18<br />

<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> durch interkulturelle<br />

Frauen- <strong>und</strong> Männergruppen . . . . . . . . . . . . 19<br />

Interkulturelle Kompetenz <strong>und</strong> Öffnung im<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20<br />

Ges<strong>und</strong>heitsbildung <strong>und</strong> -förderung<br />

bei Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21<br />

Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .22<br />

Gemeinsam handeln:<br />

Empfehlungen <strong>für</strong> die Praxis . . . . . . . . . . . . . 22<br />

Patienteninteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .23<br />

Stigmatisierung als Barriere <strong>für</strong><br />

erfolgreiche HIV-Prävention . . . . . . . . . . . . . 23<br />

Neutralität <strong>und</strong> Unabhängigheit? . . . . . . . . . 24<br />

Benachteiligung im Ges<strong>und</strong>heitssystem . . . 25<br />

Termine /Veranstaltungen . . . . . . . . . . . . . . 27<br />

Publikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .28<br />

Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .28


Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12 Rückblick<br />

Rückblick<br />

17 . <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit 2012 / Interview<br />

mit Prof . Dr . Rolf Rosenbrock/ Forschungsgruppe<br />

Public Health feiert Abschied<br />

Austausch, Strategien <strong>und</strong> innovative Projekte<br />

Der 17 . <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit 2012 in Berlin<br />

Besucher/innen informieren sich auf dem Markt der Möglichkeiten<br />

Die junge Frau, die sich an einem Infostand auf<br />

dem Markt der Möglichkeiten über ein neues<br />

Projekt informiert, eine Gruppe Referent/innen,<br />

die im Anschluss an ihren Workshop noch<br />

anregend ins Gespräch vertieft ist oder der<br />

Moderator, der sich – in seine Unterlagen versunken<br />

– auf die folgende Podiumsdiskussion<br />

vorbereitet: Dies sind nur einige von zahlreichen<br />

Eindrücken vom 17. <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heit, der am 9. <strong>und</strong> 10. März 2012 in der<br />

Technischen Universität Berlin (TU) unter dem<br />

Motto „Prävention wirkt!“ stattgef<strong>und</strong>en hat.<br />

Mehr als 2 .200 Teilnehmende vor Ort<br />

Organisiert von Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />

<strong>und</strong> dem Zentrum Technik <strong>und</strong> Gesellschaft<br />

(ZTG) an der TU Berlin hat der 17. <strong>Kongress</strong><br />

<strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit auch dank des<br />

Engagements zahlreicher weiterer Partner <strong>und</strong><br />

Förderer wie der B<strong>und</strong>eszentrale <strong>für</strong> ges<strong>und</strong>heitliche<br />

Aufklärung (BZgA) in diesem Jahr<br />

mehr als 2.200 Teilnehmende nach Berlin ge-<br />

lockt. Neben altbekannten Gesichtern haben<br />

sich zum 17. <strong>Kongress</strong> auch viele Interessierte<br />

in der TU zusammengef<strong>und</strong>en, die zum ersten<br />

Mal dabei waren.<br />

Auch wenn Vieles vertraut schien, war doch in<br />

diesem Jahr Einiges anders: Ein neuer Termin,<br />

ein anderer Ort – aber auch Veränderungen im<br />

Programm. Neben der neuen Gestaltung des<br />

Programmheftes fanden sich auch neue Veranstaltungsformate<br />

<strong>und</strong> -themen auf dem diesjährigen<br />

<strong>Kongress</strong> wieder.<br />

„Im Gespräch . . .“ bleiben<br />

An welchem Ort <strong>und</strong> zu welcher Jahreszeit auch<br />

immer diskutiert wird, das Thema „<strong>Armut</strong> <strong>und</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heit“ bleibt brandaktuell. In der Eröffnung<br />

zeigte Prof. Dr. Margaret Whitehead von<br />

der Universität Liverpool aus internationaler<br />

Perspektive auf, dass Prävention, die rein auf<br />

Aufklärung <strong>und</strong> Bildung fokussiert ist, Gefahr<br />

läuft, sozial Benachteiligte nicht zu erreichen.<br />

Umgekehrt seien jedoch auch Strate gien, die<br />

sich rein auf benachteiligte Gruppen fokussieren,<br />

nicht effektiv. Whitehead forderte daher<br />

universal angelegte Strategien, die gleichzeitig<br />

auch einen großen Einfluss auf ärmere Menschen<br />

haben. Innerhalb dieser umfassenden<br />

Strategien würde auch die Effizienz der jeweiligen<br />

Einzelmaßnahme steigen.<br />

In den darauf folgenden Symposien <strong>und</strong> Workshops<br />

wurden Strategien diskutiert, die eine<br />

wirksame Prävention <strong>für</strong> mehr ges<strong>und</strong>heitliche<br />

Chancengerechtigkeit ermöglichen: So wurde<br />

beispielsweise das Projekt Eltern-AG vorgestellt,<br />

das mit seinem niedrigschwelligen Ansatz<br />

sehr erfolgreich Eltern in schwierigen Lebenslagen<br />

erreicht, <strong>und</strong> in einem anderen Forum<br />

die Delmenhorster Präventionsbausteine,<br />

die vernetzte Frühe Hilfen in Schwangerschaft<br />

<strong>und</strong> den ersten Lebensjahren ermöglichen. Insbesondere<br />

die Panels „Im Gespräch…“ boten<br />

dem Publikum die Möglichkeit, in engem Kontakt<br />

mit renommierten Expert/innen wie etwa<br />

Prof. Dr. Ilona Kickbusch zentrale Fragen zu<br />

Partizipation, Kinderarmut <strong>und</strong> globaler Steuerung<br />

der Ges<strong>und</strong>heit vertieft zu diskutieren.<br />

Patentrezepte aus der Schublade sind<br />

keine Lösung<br />

In den Workshops wurde deutlich, dass scheinbare<br />

Patentrezepte <strong>und</strong> fertige Programme aus<br />

der Schublade nicht immer ohne Weiteres in<br />

der Praxis wirksam werden können. So wurde<br />

in einem Workshop beschrieben, dass die erfolgreiche<br />

Umsetzung des Setting-Ansatzes in<br />

Kitas im Sinne einer partizipativ gestalteten<br />

Organisationsentwicklung neben ausreichend<br />

Zeit sowohl der Unterstützung des Trägers <strong>und</strong><br />

der Kitaleitung bedarf als auch einer externen<br />

Begleitung, die jedoch immer an die innere Logik<br />

der Kita anknüpfen muss. Auch im kommunalen<br />

Bereich müssen beim Schnittstellen-Management<br />

die Interessen der sehr unterschiedlichen<br />

Akteure vereint werden. Komplexe Systeme<br />

<strong>und</strong> Interventionen seien in Kommunen<br />

nicht realistisch, stattdessen ginge es um den<br />

Aufbau von Netzwerken <strong>und</strong> Kooperationen.<br />

Betont wurde auch, dass es trotz einer gestiegenen<br />

kommunalen Sensibilität <strong>für</strong> das Thema<br />

immer auch ‚Treiber’ vor Ort braucht, die den<br />

Prozess voranbringen <strong>und</strong> nachhaltig tragen.<br />

Der <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit leistet jedes<br />

Jahr aufs Neue seinen Beitrag: Strategien<br />

<strong>und</strong> Ansätze der Prävention <strong>und</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />

werden gebündelt, Vertreter/innen<br />

unterschiedlicher Institutionen erhalten Anregungen<br />

<strong>für</strong> ihre Arbeit <strong>und</strong> knüpfen Kontakte,<br />

die wiederrum neue Projekte ins Leben rufen.<br />

Wir freuen uns, diese Arbeit auf dem 18. <strong>Kongress</strong><br />

<strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit im Frühjahr 2013<br />

in Berlin fortzusetzen.<br />

Marianne P<strong>und</strong>t <strong>und</strong> Stefan Weigand,<br />

Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />

3


4<br />

Rückblick<br />

„Stärker <strong>und</strong> dynamischer als das<br />

World Health Summit“<br />

Prof . Dr . Rolf Rosenbrock über den 17 . <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> zukünftige Herausforderungen an die soziallagenbezogene<br />

<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />

Rolf Rosenbrock auf dem 17. <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong><br />

<strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

Info_Dienst: Der diesjährige <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong><br />

<strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit hat viel Neues mit sich<br />

gebracht: Er fand zum ersten Mal nicht im Rathaus<br />

Schöneberg, sondern in der Technischen<br />

Universität statt, wurde vom traditionellen<br />

ersten Dezemberwochenende in den März verlegt<br />

<strong>und</strong> auch neue Veranstaltungsformate<br />

(z.B. „Im Gespräch…“) sind hinzugekommen.<br />

Welche Eindrücke haben Sie vom 17. <strong>Kongress</strong><br />

<strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit mitgenommen?<br />

Rosenbrock: Auffallend war zunächst, dass der<br />

17. <strong>Kongress</strong> A+G größer war als die 16 vorangehenden.<br />

Es ist selten, dass eine Veranstaltung<br />

über einen so langen Zeitraum kontinuierlich<br />

wächst. Der <strong>Kongress</strong> ist seit langem die<br />

größte regelmäßig stattfindende Public Health-<br />

Veranstaltung in Deutschland. Das ist zunächst<br />

einmal ein großer Erfolg, der umso schwerer<br />

wiegt, als er unter den Bedingungen der Orts-<br />

<strong>und</strong> Terminveränderung stattfand. Dies zeigt,<br />

wie groß das Interesse <strong>und</strong> das Potential ist.<br />

In den neuen Räumlichkeiten der TU gibt es<br />

genügend Platz, um in der Zukunft problemlos<br />

eine größere Zahl an Teilnehmenden aufzunehmen.<br />

Eine Möglichkeit der Verbesserung<br />

besteht darin, auch an der TU einen zentralen<br />

Ort <strong>für</strong> informelle Treffen <strong>und</strong> Austausch zu<br />

schaffen, die immer ein wichtiger Bestandteil<br />

des <strong>Kongress</strong>es waren.<br />

Das Programm war orientiert am Thema „Prävention<br />

wirkt!“, dabei aber nicht zu eng<br />

gefasst, sodass nicht nur Fragen der Entwicklung<br />

<strong>und</strong> Messung von Qualität, sondern alle<br />

wesentlichen Aspekte zur Sprache kommen<br />

konnten. Und auch die neuen Veranstaltungsformate<br />

lassen sich gut weiter ausbauen.<br />

Ich fand <strong>und</strong> finde die Mischung der Teilnehmenden<br />

des <strong>Kongress</strong>es einmalig <strong>und</strong> gleichbleibend<br />

gut. Dies ist die einzige Veranstaltung,<br />

wo Lehrende, Lernende, Praktiker/innen<br />

<strong>und</strong> Entscheidungsträger/innen, Konzeptmacher/innen<br />

<strong>und</strong> Konzeptanwender/innen sich<br />

über zwei Tage hinweg im Rahmen des <strong>Kongress</strong>es<br />

immer wieder treffen. Das schafft keine<br />

andere Veranstaltung. Dies ist vor allem vor<br />

dem Hintergr<strong>und</strong> wichtig, dass die Kapazitäten<br />

im wissenschaftlichen Bereich von Public<br />

Health derzeit akut bedroht sind, <strong>und</strong> es somit<br />

nötig ist, die vor uns liegende Durststrecke<br />

institutionalisierter Forschung zu überbrücken.<br />

Der <strong>Kongress</strong> gibt in diesem Zusammenhang<br />

ein hervorragendes Signal, weil er zeigt, dass<br />

diese Veranstaltungsform, die letztlich grassroot<br />

ist <strong>und</strong> auf vielen dezentralen Vorbereitungsgruppen<br />

beruht, stärker <strong>und</strong> dynamischer<br />

ist als hochgestochene Veranstaltungen<br />

wie z. B. das „World Health Summit“.<br />

Info_Dienst: „Prävention wirkt“ war das Motto<br />

des diesjährigen <strong>Kongress</strong>es – in der Theorie<br />

evident, aber wie sieht es in der Praxis aus? Wo<br />

wirkt Prävention unter den derzeitigen gesellschaftlichen<br />

Rahmenbedingungen bereits <strong>und</strong><br />

was fehlt noch, um Prävention flächendeckend<br />

<strong>und</strong> nachhaltig zu gestalten?<br />

Rosenbrock: Wenn es um soziale Innovationen<br />

geht – nicht-medizinische Primärprävention<br />

<strong>und</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> sind nach wie vor<br />

eine entwicklungsbedürftige soziale Innovation<br />

– muss man zwei Ebenen unterscheiden:<br />

Einmal, ob die Konzepte <strong>und</strong> Instrumente<br />

geeignet sind, die angestrebten Ziele zu erreichen<br />

<strong>und</strong> zum Anderen, ob diese Konzepte <strong>und</strong><br />

Instrumente in der gegebenen politischen,<br />

institutionellen <strong>und</strong> finanziellen Situation<br />

Chancen haben, realisiert zu werden. Der <strong>Kongress</strong><br />

hat auf beiden Ebenen diskutiert.<br />

Viele, inzwischen bekannte Leuchtturm-Beispiele<br />

zeigen die überlegene Wirksamkeit von<br />

<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> <strong>und</strong> Prävention. Auf<br />

dieser ersten Ebene besteht die Herausforde-<br />

Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />

rung <strong>für</strong> uns darin, unsere eigenen – <strong>und</strong> eben<br />

nicht der Medizin nacheifernden oder diese<br />

nachahmenden – Ansätze von Wirksamkeitsbestimmung<br />

<strong>und</strong> Qualitätssicherung zu entwickeln.<br />

Die viel größeren Hindernisse liegen<br />

allerdings auf der zweiten Ebene – in den politischen<br />

<strong>und</strong> finanziellen Bedingungen der<br />

Durchführung <strong>und</strong> Verallgemeinerung unserer<br />

Ansätze, vor allem im Bereich nachhaltiger, an<br />

den Soziallagen ansetzender Prävention <strong>und</strong><br />

<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong>. Es unterscheidet den<br />

<strong>Kongress</strong> höchst angenehm von anderen Veranstaltungen,<br />

diese beiden Ebenen zu unterscheiden<br />

<strong>und</strong> auf beide einzugehen.<br />

Info_Dienst: Blicken wir auf den kommenden<br />

<strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit: Welche Perspektiven<br />

<strong>und</strong> Diskussionen wünschen Sie sich<br />

<strong>für</strong> den <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit im 18.<br />

Jahr seines Bestehens?<br />

Rosenbrock: Eine verstärkte Kooperation des<br />

<strong>Kongress</strong>es mit den Fachgesellschaften (Deutsche<br />

Gesellschaft <strong>für</strong> Public Health, Deutsche<br />

Gesellschaft <strong>für</strong> Sozialmedizin <strong>und</strong> Prävention,<br />

Deutsche Gesellschaft <strong>für</strong> Epidemiologie etc.)<br />

wäre <strong>für</strong> beide Seiten gewinnbringend. Man<br />

sollte aber auch noch mehr an die Ärzt/innen<br />

im öffentlichen Ges<strong>und</strong>heitsdienst denken, die<br />

ein Schattendasein fristen, jedoch ebenfalls<br />

sehr vernünftige <strong>und</strong> vorwärtstreibende Ideen<br />

<strong>und</strong> Konzepte einbringen können.<br />

Im kommenden Jahr wird der <strong>Kongress</strong> mündig.<br />

Vielleicht ist in diesem Zusammenhang<br />

der Vorschlag aus der Schlussveranstaltung –<br />

nämlich „health in all policies“ – diskutierenswert.<br />

Das mag auf den ersten Blick schwierig<br />

wirken, weil es von den Aktivitäten an der<br />

Basis abzulenken scheint, deren Erörterung<br />

den Kern des <strong>Kongress</strong>es ausmachen. Aber ich<br />

glaube, dass Überlegungen, in welchen Politikfeldern<br />

<strong>und</strong> in welchen politischen Strategien<br />

überall positive wie negative Ges<strong>und</strong>heitswirkungen<br />

verborgen sind, helfen können, die<br />

realen Möglichkeiten <strong>und</strong> Grenzen, die man<br />

beispielsweise im Bereich der auf Lebenslagen<br />

bezogenen <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> hat, besser<br />

einzuschätzen. Um sich damit vielleicht auch<br />

ein wenig von einer Verantwortung zu entlasten,<br />

die man im Projekt selbst nicht tragen<br />

kann, die aber umso deutlicher politisch artikuliert<br />

werden muss.<br />

Info_Dienst: Vielen Dank <strong>für</strong> das Gespräch.<br />

Die Fragen stellten Stefan Weigand<br />

<strong>und</strong> Marion Amler.


Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12 Rückblick / Qualität <strong>und</strong> Wirksamkeit<br />

Partizipation <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

Forschungsgruppe Public Health am Wissenschaftszentrum Berlin<br />

<strong>für</strong> Sozialforschung feiert Abschied<br />

R<strong>und</strong> 100 Gäste folgten am 22. <strong>und</strong> 23. März<br />

2012 der Einladung der Forschungsgruppe Public<br />

Health ins Wissenschaftszentrum Berlin<br />

<strong>für</strong> Sozialforschung (WZB). Es war zugleich ein<br />

Abschied, denn die Forschungsgruppe wird im<br />

Mai 2012 nach 25 Jahren ihre Arbeit beenden.<br />

Ziel der Veranstaltung war es, Raum zu bieten<br />

<strong>für</strong> inspirierende <strong>und</strong> kontroverse Diskussionen<br />

zum Thema Partizipation <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

– mit 12 Einzelvorträgen <strong>und</strong> zwei Podiumsgesprächen.<br />

Oskar Negt (Universität Hannover) legte in einem<br />

ersten Vortrag dar, dass Demokratie <strong>und</strong><br />

Partizipation <strong>für</strong> die Kohäsion der Gesellschaft,<br />

<strong>für</strong> das Wohlbefinden <strong>und</strong> die Ges<strong>und</strong>heit ihrer<br />

Mitglieder von gr<strong>und</strong>legender Bedeutung sind.<br />

Hier war bei allen Gästen schnell Konsens herzustellen.<br />

Aber schon die Ausführungen von<br />

Michael Vester (Universität Hannover) verwiesen<br />

auf ein viel diskutiertes Problem: Nicht nur<br />

die Ges<strong>und</strong>heitschancen sind sozial ungleich<br />

verteilt, sondern auch die Voraussetzungen<br />

<strong>und</strong> Chancen <strong>für</strong> Partizipation.<br />

Hella von Unger (WZB) aber zeigte, dass eine<br />

partizipative Ges<strong>und</strong>heitsforschung durchaus<br />

ein erfolgreiches Instrument ist, dieses „Partizipationsdilemma“<br />

aufzulösen, so ihre Erfahrungen<br />

im Rahmen des dreijährigen WZB-Projekts<br />

„Partizipation <strong>und</strong> Kooperation in der<br />

HIV-Prävention mit Migrant/innen“ (PaKoMi).<br />

„Es ist mehr Partizipation möglich, als viele <strong>für</strong><br />

denkbar halten“, so die Sozialwissenschaftlerin<br />

abschließend. Michael T. Wright (Katholische<br />

Hochschule Berlin) plädierte deshalb <strong>für</strong><br />

eine verstärkte Partizipation insbesondere von<br />

sozial Benachteiligten in der Public Health-<br />

Forschung, um ihnen eine angemessene Entscheidungsmacht<br />

zu erlauben, so ihre Entwicklung<br />

zu fördern <strong>und</strong> ihre ges<strong>und</strong>heitsförderlichen<br />

Ressourcen zu stärken.<br />

Auch wenn andere Vorträge zu praxisrelevanten<br />

Forschungen offenbarten, dass Entscheidungsteilhabe<br />

<strong>und</strong> Gestaltungsspielräume <strong>für</strong><br />

Betroffene – ob Patient/innen, sozial Benachteiligte<br />

oder Arbeitnehmer/innen – immer wieder<br />

auf Grenzen <strong>und</strong> Widersprüche stoßen, gab<br />

es im Plenum keinen Zweifel daran, dass gegenwärtig<br />

eher zu wenig als zu viel Partizipation<br />

vorhanden ist. Ilona Kickbusch (Kickbusch<br />

Health Consult) stellte fest , dass in den letzten<br />

20 Jahren Forderungen nach mehr Teilhabe,<br />

Autonomie <strong>und</strong> Selbstbestimmung im Ges<strong>und</strong>heitsbereich<br />

zunehmend entsprochen worden<br />

sei, dass die fortbestehende sozial bedingte<br />

Ungleichheit von Ges<strong>und</strong>heitschancen aber<br />

auf eine Kluft zwischen Anspruch <strong>und</strong> Wirklichkeit<br />

verweise. Es sei nötig, den Partizipationsgedanken<br />

in einen Zusammenhang mit modernen<br />

Ges<strong>und</strong>heitskonzepten zu stellen <strong>und</strong> Partizipationsmöglichkeiten<br />

auszubauen.<br />

Klar wurde auf jeden Fall: Das Partizipationsthema<br />

hält <strong>für</strong> die Public Health-Forschung<br />

noch viele interessante Fragestellungen bereit.<br />

Rolf Rosenbrock spannte in seinem Abschiedsgruß<br />

noch einmal den großen Bogen: „Direkte<br />

Entscheidungsteilhabe der Betroffenen ist sowohl<br />

in der Prävention <strong>und</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />

als auch in der Krankenversorgung, Pflege<br />

<strong>und</strong> Rehabilitation eine wichtige Voraussetzung<br />

<strong>für</strong> mehr Ges<strong>und</strong>heit. Das ist einer der<br />

Querschnittsbef<strong>und</strong>e aus mehr als drei Jahr-<br />

zehnten Ges<strong>und</strong>heitsforschung am WZB, der<br />

auf der Konferenz eindrucksvoll illustriert wurde.“<br />

Seine Be<strong>für</strong>chtung <strong>für</strong> die Zukunft allerdings:<br />

„Da auch die anderen Orte sozialwissenschaftlicher<br />

Ges<strong>und</strong>heitsforschung in Berlin<br />

– also v. a. die FU <strong>und</strong> die Charité – derzeit<br />

keine Entwicklungsperspektive haben, steht zu<br />

be<strong>für</strong>chten, dass die in konservativen Zeiten<br />

stets dominante Tendenz, Ges<strong>und</strong>heit auf medizinische<br />

Aspekte zu reduzieren, weiter voranschreitet.“<br />

Verena Mörath<br />

Verena Mörath arbeitet seit 1994 als Ethnologin<br />

<strong>und</strong> freie Journalistin in Berlin. Ihre Themen<br />

sind u.a. Arbeit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit, Soziales <strong>und</strong><br />

Sozialwirtschaft, Bildung, Migration <strong>und</strong> Inklusion.<br />

Für die Arbeitsgruppe Public Health hat<br />

sie 2005 eine wissenschaftliche Analyse der<br />

Trimm-Dich-Aktionen des Deutschen Sportb<strong>und</strong>es<br />

zur Bewegungsförderung erstellt.<br />

info@buero-moerath.de<br />

Qualität <strong>und</strong> Wirksamkeit<br />

Wege in die Regelversorgung / Verstetigung von<br />

Ges<strong>und</strong>heitsinterventionen / Doppelter Standard <strong>für</strong><br />

Prävention <strong>und</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong>?<br />

Wege in die Regelversorgung<br />

Das Präventionsprojekt „Kanu – Gemeinsam weiterkommen“<br />

Mit dem Projekt „Kanu – Gemeinsam weiterkommen“<br />

wird ein modulares Konzept zur Prävention<br />

von psychischen Störungen bei Kindern<br />

<strong>und</strong> Jugendlichen psychisch erkrankter<br />

Eltern entwickelt, im klinischen Setting der regional<br />

psychiatrischen Versorgung in Bielefeld<br />

implementiert <strong>und</strong> hinsichtlich seiner zu erwartenden<br />

Effekte evaluiert.<br />

Aktuelle Studien zeigen, dass bei etwa 22 Prozent<br />

der Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen Hinweise auf<br />

psychische Auffälligkeiten vorliegen (u.a. Ravens-Sieberer<br />

et al. 2007). Die Lebenszeitprävalenz<br />

von psychischen Erkrankungen steigt<br />

enorm, wenn ein Elternteil an einer seelischen<br />

Störung leidet. Kinder, deren Eltern unter einer<br />

psychischen Erkrankung leiden, stellen zudem<br />

keine Randgruppe dar. Wissenschaftliche<br />

Hochrechnungen (u.a. Lenz 2005; Wittchen &<br />

Jacobi 2005) gehen davon aus, dass etwa drei<br />

Millionen Kinder mit einem psychisch erkrankten<br />

Elternteil aufwachsen. Neben der genetischen<br />

Disposition spielen vor allem psychosoziale<br />

Risiken eine Rolle, die bestimmend dazu<br />

beitragen, inwieweit ein ges<strong>und</strong>es Aufwachsen<br />

ermöglicht wird. Entscheidend ist also, inwieweit<br />

diese hochvulnerable Gruppe gestärkt<br />

werden kann, um das Risiko einer eigenen Erkrankung<br />

zu reduzieren.<br />

Das Kanu-Projekt hat zum Ziel, die kindlichen<br />

Entwicklungsrisiken zu reduzieren <strong>und</strong> die familiären<br />

Ressourcen zu verbessern. Das Projekt,<br />

gefördert vom B<strong>und</strong>esministerium <strong>für</strong> Bil-<br />

5


6<br />

Qualität <strong>und</strong> Wirksamkeit<br />

dung <strong>und</strong> Forschung (BMBF) (10/2008-<br />

6/2012), wird gemeinsam von der Fakultät <strong>für</strong><br />

Bildungswissenschaften an der Universität<br />

Duisburg-Essen <strong>und</strong> der Klinik <strong>für</strong> Psychiatrie<br />

<strong>und</strong> Psychotherapie Bethel durchgeführt.<br />

Insgesamt besteht das Präventionsangebot<br />

aus fünf Bausteinen. Neben Eltern-, Kind- <strong>und</strong><br />

Familiengesprächen (1), die mit allen teilnehmenden<br />

Familien stattfinden, werden zeitgleich<br />

das Kanu-Gruppenangebot <strong>für</strong> Kinder<br />

<strong>und</strong> Jugendliche (2) sowie das Kanu-Elterntraining<br />

(3) durchgeführt. Im Fokus steht hier neben<br />

der Stärkung der kindlichen Resilienz auch<br />

die Stärkung der elterlichen Erziehungskompetenz.<br />

Im Rahmen des vierten Bausteins, den<br />

Patenschaften, wird den Kindern bei Bedarf eine<br />

erwachsene Patin zur Seite gestellt. Das<br />

Modul Vernetzung <strong>und</strong> Qualifizierung (5) war<br />

von Beginn an Bestandteil des Projektes. Unter<br />

anderem wurden Expertenworkshops mit dem<br />

Ziel, Möglichkeiten einer Regelfinanzierung zu<br />

diskutieren <strong>und</strong> Expert/innen der unterschiedlichen<br />

Fachbereiche an einen Tisch zu holen,<br />

organisiert.<br />

Unterschiedliche Versorgungsdilemmata sind<br />

hier von Bedeutung. Die Gruppe, die am meisten<br />

Hilfen benötigt, da eine Häufung von Risiken<br />

<strong>und</strong> Belastungen zu erkennen ist, wird<br />

durch die bisherigen Versorgungsarrangements<br />

nicht erreicht. Dieses „Präventionsdilemma“<br />

zeigt sich vor allem in Form von<br />

Schnittstellenproblematiken auf allen Ebenen<br />

der Versorgung. Weder zwischen der Erwachsenenpsychiatrie<br />

<strong>und</strong> der Kinder- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie<br />

noch zwischen der Erwachsenenpsychiatrie<br />

<strong>und</strong> die Jugendhilfe besteht ein<br />

ausreichendes Maß der institutionellen Kooperation.<br />

Die spezifischen Klient/inneninteressen<br />

stehen hier mitunter sogar gegeneinander<br />

(die Erwachsenenpsychiatrie vertritt die<br />

Eltern als Klienten, die Jugendhilfe verlang Kinderschutz<br />

etc.). Oft reagieren betroffene Eltern<br />

mit Angst (etwa vor dem Entzug des Sorgerechtes<br />

<strong>für</strong> die Kinder etc.). Aber auch die Fachkräfte<br />

sind verunsichert, in der Erwachsenenpsychiatrie<br />

werden die Lebenslagen der Kinder<br />

häufig nicht einmal erwähnt. Das Paradoxe dabei<br />

ist die Tatsache, dass immer wieder von<br />

„familienorientierten Angeboten“ gesprochen<br />

wird, in der Prävention mit psychisch erkrankten<br />

Eltern diese aber nicht stattfinden.<br />

Das Projekt Kanu versucht hier, Brücken zu<br />

bauen. Schnittstellenarbeit findet in den Bereichen<br />

Versorgung, Vernetzung <strong>und</strong> Qualifizierung<br />

statt. Hierzu gehören Verwertungsworkshops,<br />

Praktiker/innen-Tagungen aber auch<br />

praxisnahe Publikationen (u.a. Bauer et al.<br />

2012). Ebenso wichtig ist es, erst die Leistungserbringer<br />

<strong>und</strong> danach die Leistungsträger<br />

an einen Tisch zu holen. Ein weiterer wichtiger<br />

Bestandteil ist die Lobby-<strong>und</strong> Öffentlichkeitsarbeit.<br />

Hier hat das Projekt den Vorteil,<br />

zur richtigen Zeit initiiert worden zu sein – Kanu<br />

hat den „Zeitgeist-Vorteil“. Zum einen<br />

Verstetigung von Ges<strong>und</strong>heitsinterventionen<br />

im Stadtteil<br />

Wie funktioniert das?<br />

Nachhaltigkeit ist ein zentrales Qualitätsmerkmal<br />

von <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong>. Durch Nachhaltigkeit<br />

können Angebote gesichert <strong>und</strong> gewünschte<br />

Effekte in Richtung eines ges<strong>und</strong>heitsbewussten<br />

Handelns gesteigert werden.<br />

Im Folgenden sollen – anhand von zwei durch<br />

das B<strong>und</strong>esministerium <strong>für</strong> Bildung <strong>und</strong> Forschung<br />

(BMBF) geförderten stadtteilbezogenen<br />

Projekten zur <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> (GO –<br />

Ges<strong>und</strong> im Osten; AGNES – Gemeinsam aktiv<br />

im Alter) – Strategien beschrieben werden, mit<br />

denen die Nachhaltigkeit von Ges<strong>und</strong>heitsinterventionen<br />

<strong>für</strong> sozial Benachteiligte im Leipziger<br />

Osten verbessert werden kann.<br />

Aufbau von Kooperationen<br />

Für den Aufbau von Kooperationen wurde der<br />

Ansatz verfolgt, an vorhandene Strukturen im<br />

Stadtteil anzuknüpfen, da Angebote in bekannten<br />

Einrichtungen <strong>und</strong> Institutionen im Stadt-<br />

teil von den Zielgruppen eher akzeptiert werden<br />

als Veranstaltungen neuer Akteure.<br />

Für die Verwirklichung der Projektideen spielte<br />

das Quartiersmanagement eine zentrale Rolle.<br />

Durch den intensiven Kontakt zum Quartiersmanager<br />

gelang es, zunächst einen Überblick<br />

über bereits aktive Stadtteilakteure <strong>und</strong> vorhandene<br />

Angebote zu gewinnen. Anschließend<br />

wurde zusammen mit dem Quartiersmanager<br />

eine gemeinsame Strategie entwickelt, um ges<strong>und</strong>heitsfördernde<br />

Partnerschaften aufzubauen.<br />

Zu Beginn wurden Bedarfserhebungen bei<br />

den Stadtteilakteuren durchgeführt. In Form<br />

von leitfadengestützten Interviews wurden<br />

konzeptionelle Details der bestehenden Angebote,<br />

deren Nutzung bzw. Nicht-Nutzung erhoben<br />

<strong>und</strong> der Bedarf an weiteren Maßnahmen<br />

<strong>für</strong> die Zielgruppe erfasst. In einem zweiten<br />

Schritt wurden aus diesen Ergebnissen in Kooperation<br />

mit den Akteuren gemeinsame Ange-<br />

Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />

„darf“ aktuell über psychische Erkrankungen<br />

gesprochen werden, zum anderen ist ein<br />

BMBF-Förderschwerpunkt die Präventionsforschung.<br />

Hinzu kommt aber auch intensive<br />

Pressearbeit, die Herausgabe eines Kanu-Präventionsmanuals<br />

<strong>und</strong> auch das Bewerben um<br />

Auszeichnungen. So erhielt Kanu im vergangenen<br />

Jahr den Ges<strong>und</strong>heitspreis NRW.<br />

Wesentliche Weichenstellung <strong>für</strong> den Weg in<br />

die Regelversorgung ist jedoch die Finanzierung:<br />

Begründet häufig als Mischfinanzierung<br />

(GKV, Kommunen, Jugendhilfe, etc.) durch die<br />

gesetzlichen Gr<strong>und</strong>lagen im SGB V (§§27/39;<br />

§38; §§24/41; §20), aber vor allem im SGB VIII<br />

(§§8/22/27ff). Hinzu kommt die Wirkung wissenschaftlicher<br />

Evaluation auf Kostenträger<br />

<strong>und</strong> politische Entscheidungsträger.<br />

Zusammenfassend kann festgehalten werden,<br />

dass ein solches Vorhaben auf eine Start- <strong>und</strong><br />

Sockelfinanzierung (z.B. Förderschwerpunkt<br />

des BMBF) angewiesen ist. Die kontinuierliche<br />

Öffentlichkeitsarbeit <strong>und</strong> die hartnäckige Diskussion<br />

über Zielgruppenspezifität im Bereich<br />

psychotherapeutischer Versorgung muss über<br />

die Projektlaufzeit weitergetragen werden.<br />

Ullrich Bauer <strong>und</strong> Katrin Linthorst,<br />

Universität Duisburg-Essen<br />

Weiterführende Informationen zu der Literatur<br />

können über die Autor/innen bezogen werden.<br />

ullrich.bauer@uni-due.de,<br />

Katrin.linthorst@uni-due.de<br />

bote entwickelt. In einem letzten Schritt wurden<br />

eigene neue Angebote durch die Projekte<br />

entwickelt <strong>und</strong> erprobt, um Angebotslücken zu<br />

schließen.<br />

Netzwerkarbeit im Stadtteil<br />

Die Bildung ges<strong>und</strong>heitsbezogener Netzwerke<br />

ermöglicht eine Kooperation verschiedener Akteure<br />

<strong>und</strong> dient der Entwicklung gemeinsamer<br />

Ges<strong>und</strong>heitsziele, Maßnahmen sowie der Bildung<br />

nachhaltiger Strukturen.<br />

Am Beispiel des Projekts „AGNES“ zeigten die<br />

Ergebnisse der Bedarfserhebung bei den Seniorenakteuren,<br />

dass Informationsdefizite bestehen,<br />

ein Erfahrungsaustausch mit anderen Akteuren<br />

fehlt <strong>und</strong> Qualifikationen notwendig<br />

sind. Deshalb wurde das Netzwerk „Seniorenarbeit<br />

im Leipziger Osten“ gegründet. Ziel des<br />

Netzwerks war es, Transparenz herzustellen,<br />

Problemlagen zu diskutieren, Kompetenzen zu<br />

vermitteln <strong>und</strong> Kooperationen aufzubauen.<br />

Im Rahmen einer Befragung wurde nach zwei<br />

Jahren die Zufriedenheit mit den Vernetzungstreffen<br />

untersucht. Die Ergebnisse zeigten,<br />

dass die Mehrheit der Akteure von den Vernetzungstreffen<br />

profitierte <strong>und</strong> positive Effekte <strong>für</strong><br />

die Arbeit der Akteure daraus entstanden sind.


Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12 Qualität <strong>und</strong> Wirksamkeit<br />

Zusammenarbeit mit der Kommune<br />

Die Kommune hat <strong>für</strong> die ges<strong>und</strong>heitsfördernde<br />

Stadtteilentwicklung eine Schlüsselfunktion.<br />

<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> im Stadtteil berührt<br />

viele Bereiche der Stadtpolitik <strong>und</strong> ist ein Querschnittsthema<br />

<strong>für</strong> die Stadtverwaltung.<br />

Als Auftakt <strong>für</strong> stadtteilbezogene Aktivitäten<br />

haben die Projekte gemeinsam mit dem Ges<strong>und</strong>heitsamt,<br />

dem Quartiersmanagement <strong>und</strong><br />

dem Amt <strong>für</strong> Stadterneuerung <strong>und</strong> Wohnungsbauförderung<br />

ein Bürgerforum „Ges<strong>und</strong>heit im<br />

Leipziger Osten“ gestaltet. Dort wurden die Ergebnisse<br />

der Ges<strong>und</strong>heitsberichterstattung<br />

des Stadtteils <strong>und</strong> der Bedarfserhebung bei<br />

den Stadtteilakteuren vorgestellt. Das Bürgerforum<br />

war ein echter Wendepunkt in der Zusammenarbeit<br />

mit der Kommune: Es ist gelungen,<br />

die Stadtverwaltung, Stadtteilakteure <strong>und</strong><br />

Bewohner/innen <strong>für</strong> eine weitere Zusammen-<br />

Auftrag: Ges<strong>und</strong>heit fördern, Kosten sparen<br />

Doppelter Standard <strong>für</strong> Prävention <strong>und</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong>?<br />

Das Wirtschaftlichkeitsgebot im SGB V er -<br />

streckt sich auch auf Prävention <strong>und</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />

im Bereich der GKV. Demnach<br />

müssen entsprechende Maßnahmen „ausreichend,<br />

zweckmäßig <strong>und</strong> wirtschaftlich sein“<br />

<strong>und</strong> „dürfen das Maß des Notwendigen nicht<br />

überschreiten“. In der Praxis könnte man aber<br />

den Eindruck gewinnen, dass gerade dieses<br />

„wirtschaftlich“ <strong>für</strong> präventive <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitsfördernde<br />

Maßnahmen anders ausgelegt<br />

wird als <strong>für</strong> kurative Interventionen. Letztere<br />

müssen mindestens effektiv, höchstens aber<br />

kosteneffektiv sein: Zusätzliche Ausgaben sind<br />

gerechtfertigt, sofern ihnen ein als angemessen<br />

erachteter Ges<strong>und</strong>heitsgewinn, z.B. in<br />

Form von qualitätsadjustierten Lebensjahren,<br />

gegenübersteht. Damit sich eine präventive<br />

oder ges<strong>und</strong>heitsfördernde Maßnahme durchsetzen<br />

kann, scheint der Anspruch aber höher<br />

zu liegen: Aufwendungen in der Gegenwart<br />

sollen vollständig durch vermiedene Kosten in<br />

der Zukunft aufgewogen werden, damit wird<br />

gefordert, dass die Maßnahme nicht nur effektiv<br />

<strong>und</strong> kosteneffektiv, sondern auch kostensparend<br />

ist. Kenkel (2000) bezeichnet diesen<br />

unterschiedlichen Maßstab als „double standard“,<br />

der die implizite Bewertung von miteinander<br />

konkurrierenden Alternativen aus den<br />

Bereichen Prävention <strong>und</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />

einerseits <strong>und</strong> Therapie andererseits<br />

prägt.<br />

Für einen solchen doppelten Standard spricht<br />

der Investitionscharakter präventiver <strong>und</strong><br />

ges<strong>und</strong>heitsfördernder Maßnahmen. Anders<br />

als z.B. notfallmedizinische Maßnahmen ist ihr<br />

Umfang steuerbar, denn während sich die Vor-<br />

arbeit zu motivieren. Im Anschluss an das Bürgerforum<br />

wurden in Kooperation mit dem<br />

Quartiersmanagement <strong>und</strong> dem Leipziger Ges<strong>und</strong>heitsamt<br />

drei Ges<strong>und</strong>heitswerkstätten<br />

durchgeführt <strong>und</strong> ein Netzwerk „Ges<strong>und</strong>heit<br />

im Leipziger Osten“ gegründet.<br />

Der Leipziger Osten ist ein Fördergebiet des<br />

Programms „Soziale Stadt“, <strong>für</strong> welches ein<br />

integriertes Stadtteilentwicklungskonzept erarbeitet<br />

<strong>und</strong> umgesetzt wird. Wenn das Stadtteilentwicklungskonzept<br />

im Dezember 2012<br />

vom Leipziger Stadtrat bestätigt wird, werden<br />

die formulierten Ges<strong>und</strong>heitsziele <strong>und</strong> Maßnahmen<br />

verbindlich festgelegt <strong>und</strong> von der<br />

Kommune mitgetragen.<br />

Die Steuerung <strong>und</strong> Koordinierung dieses ges<strong>und</strong>heitsförderndenStadtteilentwicklungsprozesses<br />

ist eine komplexe Aufgabe. Hier<br />

mündet hervorragende Zusammenarbeit mit<br />

haltung einer Stroke Unit am aktuellen Bedarf<br />

orientieren muss, ist eine Herz-Kreislauf-Prävention<br />

auch dann noch nutzenstiftend, wenn<br />

sie erst im nächsten Jahr durchgeführt wird. Da<br />

Maßnahmen der primären Prävention <strong>und</strong> der<br />

<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> vorwiegend Personen<br />

ohne Krankheitssymptomen zugute kommen,<br />

ist der Schaden durch den Verzicht auf die<br />

sofortige Durchführung weniger sichtbar.<br />

Angesichts eines knappen Budgets können die<br />

Wirkt Prävention?<br />

der Stadt Leipzig, der AOK Plus <strong>und</strong> der HTWK<br />

Leipzig in ein neues gemeinsames Modellprojekt<br />

„Koordinierungsstelle Ges<strong>und</strong>heit“, welches<br />

die bisher aufgebauten Strukturen sichern<br />

<strong>und</strong> weiterentwickeln kann.<br />

Kooperationen mit Stadtteilakteuren, Netzwerkarbeit<br />

im Stadtteil <strong>und</strong> eine enge Zusammenarbeit<br />

mit der Kommune waren in den Forschungsprojekten<br />

„GO“ <strong>und</strong> „AGNES“ erfolgreiche<br />

Faktoren <strong>für</strong> die Verstetigung. Für zeitlich<br />

begrenzte Projekte sollte deshalb die<br />

nachhaltige Sicherung von Ges<strong>und</strong>heitsinterventionen<br />

von Anfang an zu den Zielstellungen<br />

gehören <strong>und</strong> bereits bei der Projektkonzeption<br />

mitgedacht werden.<br />

Carmen Kluge, Janka Große<br />

<strong>und</strong> Gesine Grande, Hochschule <strong>für</strong> Technik,<br />

Wirtschaft <strong>und</strong> Kultur Leipzig (HTWK)<br />

Kosten in zukünftige Planungszeiträume verschoben<br />

werden, bei kurativen Maßnahmen<br />

wäre das mit deutlich sichtbareren Ges<strong>und</strong>heitseffekten<br />

verb<strong>und</strong>en, der politische <strong>und</strong><br />

öffentliche Widerstand wäre größer. Dagegen<br />

spricht aber, dass der doppelte Standard zu<br />

geringerer Effizienz im Einsatz der verfügbaren<br />

Mittel führt: Durch die zeitliche Verschiebung<br />

des Präventionsvorhaben aus Kostengründen<br />

werden nicht mehr die Maßnahmen mit dem<br />

besten Verhältnis von Kosten zu Effekt durchgeführt,<br />

ggf. unterbleiben sogar Interventionen,<br />

die mittel- <strong>und</strong> langfristig kostensparend<br />

sind <strong>und</strong> so im Budget Spielraum schaffen<br />

könnten.<br />

Aufgr<strong>und</strong> der Vielfalt von Präventions- <strong>und</strong><br />

<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong>smaßnahmen ist ein<br />

Die Online-Diskussion auf www .ges<strong>und</strong>heitliche-chancengleichheit .de<br />

„Prävention wirkt!“ lautete das Motto des 17. <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit. Online wurde<br />

auf der Internet-Plattform „<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> bei sozial Benachteiligten“ nachgefragt:<br />

Wirkt Prävention? 21 Beiträge zeichneten ein vielschichtiges Bild, auf das hier ein paar Schlaglichter<br />

geworfen werden:<br />

n „Prävention“ als Verhütung von Erkrankungen greift zu kurz <strong>und</strong> ist zu defensiv. Die Zielsetzung<br />

der <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong>, „den Menschen realistische Verwirklichungsoptionen <strong>und</strong><br />

ges<strong>und</strong>e Le benschancen“ (Klaus Plümer) zu eröffnen, weitet diese Zielperspektive.<br />

n Thematisch eng gefasste Interventionen mit gut nachweisbaren, aber kurzfristigen Wirkungen<br />

finden leichter Finanzgeber als Angebote, die langfristig <strong>und</strong> auf Nachhaltigkeit<br />

angelegt sind. Hier besteht methodisch <strong>und</strong> politisch Aufklärungsbedarf (vgl. obiger Beitrag<br />

von Tina Salomon).<br />

n Welche Interventionen wirken? Hier muss genau hingeschaut werden, denn immer noch<br />

werden Konzepte am Bedarf der Gruppen vorbei entwickelt <strong>und</strong> umgesetzt, die eigentlich<br />

erreicht werden sollen.<br />

n <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> kann nicht die strukturellen Probleme beheben, die zu ungleichen<br />

Ges<strong>und</strong>heitschancen führen. Sie ist nur – aber immerhin! – in der Lage, punktuell zu kompensieren<br />

<strong>und</strong> da<strong>für</strong> zu sensibilisieren, Ges<strong>und</strong>heit auch zum Thema in scheinbar ges<strong>und</strong>heitsfernen<br />

Handlungsfeldern zu machen.<br />

Alle Beiträge können nachgelesen werden auf www.ges<strong>und</strong>heitliche-chancengleichheit.de/<br />

?id=discussion3 Holger Kilian, Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />

7


8<br />

Qualität <strong>und</strong> Wirksamkeit / Ges<strong>und</strong>heitspolitik<br />

systematischer Überblick über die gesamte<br />

verfügbare Evidenz nicht mehr möglich, es gibt<br />

aber einzelne Reviews, aus denen kostensparende<br />

<strong>und</strong> hoch kosteneffektive Maßnahmen<br />

hervorgehen. Maciosek et al. (2006) nennen<br />

mit der ASS-Prophylaxe bei erhöhtem Risiko<br />

<strong>für</strong> kardiovaskuläre Ereignisse, Impfungen im<br />

Kindesalter <strong>und</strong> Unterstützung bei der Nikotinentwöhnung<br />

drei hoch effektive <strong>und</strong> kostensparende<br />

Interventionen. Allein die Masern-<br />

Mumps-Röteln-Impfung in zwei Dosen kann<br />

bei einer Geburtskohorte von 3,8 Mio. Kindern<br />

die Krankheitskosten um 7,6 Mrd. US-Dollar<br />

reduzieren (Hinman et al., 2004). Daneben gibt<br />

es Interventionen, die zwar nicht als kostensparend<br />

klassifiziert werden können, aber<br />

hoch kosteneffektiv sind. Maciosek et al.<br />

(2006) nennen hier verschiedene Screenings,<br />

u.a. auch ein Screening auf Alkohol-Missbrauch,<br />

verb<strong>und</strong>en mit einer Beratung zur Entwöhnung.<br />

Kostensparende <strong>und</strong> hoch kosteneffektive<br />

Maßnahmen haben durch ihre Fürsprecher<br />

gute Implementationschancen in der regelmäßigen<br />

Versorgung. Schwieriger ist es <strong>für</strong> Interventionen,<br />

die zwar kosteneffektiv sind, bei<br />

denen die Kosten pro Effekteinheit aber „im<br />

üblichen Rahmen“ liegen, bei denen keine Evidenz<br />

zur Kosteneffektivität vorliegt oder<br />

methodische Schwächen dazu führen, dass der<br />

Nutzen nicht gänzlich erfasst wird. Schwappach<br />

et al. (2007) verweisen darauf, dass es im<br />

Vergleich zur klinischen Prävention weniger<br />

Evidenz zu ges<strong>und</strong>heitsfördernden Maßnahmen<br />

gibt, so dass diese im Verdacht stehen,<br />

das Kriterium „value for money“ nicht zu erfüllen.<br />

Maciosek et al. nennen Beratung zur<br />

Unfallvermeidung bei Kleinkindern als Beispiel<br />

<strong>für</strong> eine kosteneffektive Intervention im Grenzbereich:<br />

Die Kosten <strong>für</strong> gewonnene qualitätsadjustierte<br />

Lebensjahre entsprechen den<br />

Kosten, die von Entscheidungsträgern in der<br />

Regel als akzeptabel angesehen werden, die<br />

Maßnahme fällt aber – ggf. auch aufgr<strong>und</strong><br />

nicht vollständig erfasster sozialer Effekte –<br />

nicht als hoch kosteneffektiv auf, wodurch ihre<br />

Chance auf Implementation schwindet.<br />

Am Ende bleibt festzuhalten, dass der doppelte<br />

Standard nur durch eine doppelte Bringschuld<br />

überw<strong>und</strong>en werden kann: Auf der<br />

einen Seite stehen die Entscheidungsträger in<br />

der Pflicht, kostensparende <strong>und</strong> kosteneffektive<br />

Interventionen umzusetzen, was auch die<br />

Bereitstellung der finanziellen Mittel beinhaltet.<br />

Auf der anderen Seite müssen aber die<br />

Lücken in der Evidenz mit Studien zur Kosteneffektivität<br />

von Prävention <strong>und</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />

gefüllt werden, denn nur so können<br />

Fehlallokationen von knappen Ressourcen, die<br />

einem Verzicht auf Ges<strong>und</strong>heitsgewinn gleichkommen,<br />

vermieden werden.<br />

Tina Salomon, Universität Bremen<br />

Informationen zur verwendeten Literatur können<br />

über die Autorin bezogen werden.<br />

Ges<strong>und</strong>heitspolitik<br />

Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />

Das Ende der Projektitis! / Weltges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong><br />

Aufstand<br />

Das Ende der Projektitis!<br />

Ressortübergreifende Zusammenarbeit in den Handlungsfeldern<br />

„Ges<strong>und</strong>e Ernährung“ <strong>und</strong> „Mehr Bewegung“:<br />

Die interministerielle Arbeitsgruppe (IMAG) „NRW IN FORM“<br />

Die Folgen von Bewegungsmangel <strong>und</strong> unausgewogener<br />

Ernährung sind vielfach dokumentiert<br />

<strong>und</strong> ein Handlungsbedarf in Bereichen von<br />

<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong>, Prävention <strong>und</strong> Versorgungsstrukturen<br />

ist dadurch begründet. Da die<br />

Förderung von mehr Bewegung <strong>und</strong> von ges<strong>und</strong>er<br />

Ernährung die Arbeit <strong>und</strong> Ziele mehrerer<br />

Ministerien betreffen <strong>und</strong> die Themen als<br />

Querschnittaufgabe anzusehen sind, kooperieren<br />

in Nordrhein-Westfalen sechs Ministerien<br />

<strong>und</strong> die Staatskanzlei seit Jahren eng in Bereichen,<br />

die diese Handlungsfelder berühren.<br />

Interministerielle Arbeitsgruppen gibt es b<strong>und</strong>esweit<br />

zu unterschiedlichen Themen. Wichtiger<br />

Meilenstein <strong>für</strong> eine auf Nachhaltigkeit<br />

ausgerichtete Arbeit der IMAG „NRW IN FORM“<br />

war ein Kabinettsbeschluss 2010, der die Arbeit<br />

der IMAG ausdrücklich legitimiert <strong>und</strong> verstärkte<br />

Bemühungen einfordert, um Prinzipien<br />

von ges<strong>und</strong>er Ernährung <strong>und</strong> mehr Bewegung<br />

stärker im Bewusstsein der Bevölkerung zu<br />

verankern.<br />

Mit der IMAG wurde eine funktionstüchtige Arbeitsstruktur<br />

geschaffen. Mitglieder sind Fachebenen<br />

der Ministerien. Zwischen ihnen wechselt<br />

jährlich die Federführung <strong>für</strong> die IMAG-Leitung.<br />

Die Einrichtung einer Geschäftsstelle im<br />

Landeszentrum <strong>für</strong> Ges<strong>und</strong>heit sichert organisatorische<br />

Abläufe, Kommunikation <strong>und</strong> Öffentlichkeitsarbeit.<br />

Das „Zentrum <strong>für</strong> Bewegungsförderung“<br />

<strong>und</strong> die „Vernetzungsstelle<br />

Schulverpflegung“ in Nordrhein-Westfalen unterstützen<br />

die Arbeit der IMAG. Als Kooperationspartner<br />

konnten Krankenkassen <strong>und</strong> die<br />

Unfallkasse NRW in ihrer Rolle als Trägerorganisationen<br />

des „Landesprogramms Bildung<br />

<strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit“ gewonnen werden.<br />

In der IMAG „NRW IN FORM“ wird nicht nur<br />

über Vernetzung gesprochen, sondern auch<br />

vernetzt gearbeitet. Zunächst wurden von der<br />

IMAG alle vorhandenen Aktivitäten der Landesregierung<br />

in den Bereichen Bewegung <strong>und</strong> Ernährung<br />

zusammengetragen <strong>und</strong> in einer stetig<br />

aktualisierten <strong>und</strong> öffentlich zugänglichen<br />

Übersicht zusammengestellt. Dadurch wird einerseits<br />

Transparenz hergestellt, andererseits<br />

bieten die dort beschriebenen Maßnahmen<br />

Orientierung hinsichtlich Bedarf <strong>und</strong> Angebot<br />

<strong>für</strong> alle an der Thematik Interessierten. Anschließend<br />

wurde ein einheitliches Förderverfahren<br />

mit klar formulierten Kriterien vereinbart.<br />

Die beteiligten Ministerien stellen mindestens<br />

je 20.000 Euro p.a. <strong>für</strong> die Förderung<br />

von kommunalen Projekten zur Verfügung. Die<br />

IMAG „NRW IN FORM“ übernimmt die Schirmherrschaft<br />

von besonders herausragenden Projekten<br />

<strong>und</strong> Veranstaltungen <strong>und</strong> repräsentiert<br />

dadurch die Beteiligung der Landesregierung.<br />

Die Arbeit <strong>und</strong> die Zielsetzungen der IMAG werden<br />

proaktiv kommuniziert. Da<strong>für</strong> wurden unterschiedliche<br />

Medien (Flyer mit Kernbotschaften,<br />

Lesezeichen mit Adressangaben <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsbotschaften)<br />

entwickelt, die zusammen<br />

mit dem „Gemüse-Fahrrad“ bei entsprechenden<br />

Veranstaltungen eingesetzt werden.<br />

Besonders wichtig <strong>für</strong> die erfolgreiche Umsetzung<br />

der IMAG-Strategie ist der Dialog zwischen<br />

der Ebene der Ministerien <strong>und</strong> der vor<br />

Ort handelnden Akteure. Zu diesem Zweck<br />

wurde ein neues Veranstaltungsformat konzipiert.<br />

Die Federführung <strong>für</strong> die Durchführung<br />

dieser regionalen Fachkonferenzen „NRW Bewegt<br />

IN FORM“ hat das Ministerium <strong>für</strong> Familie,<br />

Kinder, Jugend, Kultur <strong>und</strong> Sport (MFKJKS)<br />

in Nordrhein-Westfalen übernommen: Jeweils


Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12 Ges<strong>und</strong>heitspolitik<br />

im Frühjahr <strong>und</strong> im Herbst werden mit wechselnden<br />

Schwerpunktthemen Veranstaltungen<br />

an verschiedenen Standorten angeboten. Wesentlicher<br />

Bestandteil des Veranstaltungskonzeptes<br />

ist, neben der Vermittlung von fachlichen<br />

Informationen durch ausgewiesene Expert/innen,<br />

konkrete Möglichkeiten <strong>für</strong> den<br />

Auf- <strong>und</strong> Ausbau von Vernetzungsstrukturen<br />

aufzuzeigen <strong>und</strong> Raum <strong>für</strong> den direkten Austausch<br />

der Teilnehmer/innen zu schaffen.<br />

Fazit zur bisherigen Arbeit der IMAG: Gemeinsam<br />

abgestimmte <strong>und</strong> vernetzte Aktivitäten<br />

erhöhen die Chance, das Bewusstsein in der<br />

Bevölkerung <strong>für</strong> die Vorteile von ges<strong>und</strong>er Ernährung<br />

<strong>und</strong> mehr Bewegung zu fördern. Die<br />

Unterstützung zielgerichteter, passgenauer<br />

<strong>und</strong> vernetzter Maßnahmen zur Verbesserung<br />

des Lebensstils durch ausgewogene Ernährung<br />

<strong>und</strong> mehr Bewegung in Kindertageseinrichtungen,<br />

Schulen, Stadtteilen <strong>und</strong> Sportorganisationen<br />

stehen im Vordergr<strong>und</strong> der Förderung<br />

durch die IMAG. Profiteure sind neben<br />

den „Endabnehmern“ auch die Multiplikatoren<br />

<strong>und</strong> „Motoren“ auf der örtlichen Ebene. Durch<br />

den fortgesetzten Dialog werden immer neue<br />

Möglichkeiten <strong>und</strong> Chancen zur Umsetzung<br />

von Zielen der Ernährungsbildung, Bewegungs-<br />

<strong>und</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> dargestellt<br />

<strong>und</strong> angebahnt.<br />

Die vielzitierte <strong>und</strong> mehr oder weniger abstrakte<br />

„Metaebene“ wird verlassen <strong>und</strong> es werden<br />

neben konkret formulierten, praktikablen<br />

Handlungsempfehlungen <strong>und</strong> Hilfestellungen<br />

öffentlichkeitswirksame Gelegenheiten <strong>für</strong> den<br />

aktiven Austausch zwischen den Macher/innen<br />

der lokalen Ebene angeboten.<br />

Gerwin-Lutz Reinink, Ministerium <strong>für</strong> Schule<br />

<strong>und</strong> Weiterbildung des Landes Nordrhein-<br />

Westfalen <strong>und</strong> Monika Nellen, Landeszentrum<br />

Ges<strong>und</strong>heit Nordrhein-Westfalen<br />

Weltges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Aufstand<br />

Die Panels von medico international<br />

auf dem 17 . <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

Remco van der Pas (Niederlande) <strong>und</strong> Mike<br />

Rowson (Großbritannien) stellen das People‘s<br />

Health Movement vor<br />

Das Motto des 17. <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

– Prävention wirkt! – müsste im Herkunftsland<br />

des Sozialmediziners Rudolf Virchow<br />

Realität oder wenigstens unbestrittene<br />

Erkenntnis sein. Doch die Ges<strong>und</strong>heitsförder/<br />

innen, die sich jedes Jahr bei dem von Ges<strong>und</strong>heit<br />

Berlin-Brandenburg organisierten <strong>Kongress</strong><br />

<strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit treffen, stehen<br />

immer wieder unter Druck, die Wirksamkeit<br />

von Prävention zu beweisen. Mit der Ges<strong>und</strong>heit<br />

scheint es so zu sein wie mit dem Klima.<br />

Man kennt Ursachen <strong>und</strong> Folgen von Krisen,<br />

man kennt Abhilfemöglichkeiten, aber es fehlt<br />

die Bereitschaft zum Politikwechsel. Und so<br />

wird jede angeblich wissenschaftliche Studie,<br />

die den Klimawandel bestreitet, benutzt, um<br />

die Diskussion neu zu entfachen <strong>und</strong> Handlungen<br />

zurückzustellen.<br />

Auf den Panels der sozialmedizinischen Hilfs-<br />

<strong>und</strong> Menschenrechtsorganisation medico international<br />

„Globale Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> soziale<br />

Gerechtigkeit“, die ebenfalls jährlich während<br />

des <strong>Kongress</strong>es stattfinden, kamen einige der<br />

sich daraus ergebenden Fragen zur Sprache.<br />

Der britische Ges<strong>und</strong>heitswissenschaftler <strong>und</strong><br />

Aktivist des People‘s Health Movement Mike<br />

Rowson <strong>und</strong> der belgische Arzt <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsaktivist<br />

Remco van der Pas stellten die<br />

Arbeit des People‘s Health Movement vor. Bei<br />

seiner Gründung im Jahr 2000 ging es eben<br />

darum, kritisches politisches Ges<strong>und</strong>heitswis-<br />

sen zu bewahren <strong>und</strong> in die neuen globalisierten<br />

Kontexte zu übersetzen. Van der Pas berichtete,<br />

dass die Ges<strong>und</strong>heitsaktivist/innen<br />

bei der Gründung des PHM vor allen Dingen die<br />

Frage stellten: Wie kann der menschenrechtliche<br />

Ansatz, der mit der Alma-Ata-Deklaration<br />

von 1978 <strong>und</strong> seiner Losung „Ges<strong>und</strong>heit <strong>für</strong><br />

alle“ eigentlich die Agenda der Weltges<strong>und</strong>heitsorganisation<br />

(WHO) sein sollte, unter den<br />

Bedingungen der Globalisierung neu gedacht<br />

<strong>und</strong> verwirklicht werden? Vor dem jungen Publikum<br />

dieses Panels machten beide Referenten<br />

deutlich, dass die weltweite Ges<strong>und</strong>heitskrise<br />

heute eine „Krise der globalen Ungleichheit“<br />

ist. Die Ungleichheit sei, so Mike Rowson, global<br />

größer als die Ungleichheit in den einzelnen<br />

Ländern. Hier spiegelt sich bei aller zunehmenden<br />

Ungleichheit auch in den priviligierteren<br />

Ländern das <strong>Armut</strong>sgefälle des Nord-Süd-<br />

Konflikts, aber auch die Herausforderung, dass<br />

die Ges<strong>und</strong>heitskrise gerade <strong>für</strong> die Ärmsten<br />

der Welt nur durch globale Umverteilung zu<br />

bewältigen ist, wider.<br />

Die Krise der globalen Ungleichheit <strong>und</strong> ihre<br />

Folgen <strong>für</strong> globale Ges<strong>und</strong>heit zeigt sich in der<br />

WHO, so Mike Rowson, der sich dabei auf Daten<br />

aus dem von medico mitfinanzierten Global<br />

Health Watch 2011 stützte. War die WHO vor 20<br />

Jahren noch die dominierende Instanz <strong>für</strong> globale<br />

Ges<strong>und</strong>heit mit einem entsprechenden<br />

Budget, das von den Mitgliedsstaaten gesichert<br />

wurde, so verfügt heute ein privater Akteur<br />

wie die Gates-Stiftung über ein höheres<br />

Jahresbudget als die suprastaatliche Instanz.<br />

Hinzu komme, dass die WHO mittlerweile abhängig<br />

sei von freiwilligen Finanzierungen<br />

durch private <strong>und</strong> öffentliche Geber, die meist<br />

projektgeb<strong>und</strong>en ausgezahlt würden.<br />

Es ist gelungen, mit der Vernetzung kritischer<br />

Ges<strong>und</strong>heitsaktivist/innen, zum Beispiel im<br />

People‘s Health Movement, den menschenrechtlichen<br />

Ansatz in der Ges<strong>und</strong>heit als Ziel<br />

globaler Ges<strong>und</strong>heitspolitik zu verteidigen.<br />

Doch die Herausforderungen in der globalen<br />

Ges<strong>und</strong>heitspolitik sind durch die Vielzahl an<br />

öffentlichen <strong>und</strong> privaten Akteuren sowie der<br />

unübersichtlichen Interessenslage der einzelnen<br />

auch höchst kompliziert geworden. So<br />

schloss Mike Rowson seinen Beitrag mit der<br />

Frage, wer denn der Adressat der Ges<strong>und</strong>heitsbewegung<br />

sein müsste.<br />

Die WHO sei auf jeden Fall der Ort, der weltdemokratisch<br />

am ehesten legitimiert sei. Darüber<br />

9


10<br />

Ges<strong>und</strong>heitspolitik / Kinderges<strong>und</strong>heit<br />

waren sich die Beteiligten des Panels „Partizipation<br />

<strong>und</strong> Governance“ einig. Umso stärker<br />

sind allerdings die Versuche, die Bedeutung<br />

der gewählten Regierungen zu schmälern <strong>und</strong><br />

den Philanthrokapitalismus, verkörpert durch<br />

Bill Gates sowie private Akteure, aufzuwerten.<br />

Alle würden, so Thomas Gebauer, medico-Geschäftsführer,<br />

als „Stakeholder gleichrangig<br />

behandelt“. Diese Sprache in der Debatte um<br />

die WHO-Reform aber ist verdächtig: Stakeholder,<br />

Input – Output, Effizienz, Business-Modell<br />

– alles betriebswirtschaftliche Vokabeln, die<br />

verwendet werden, als seien sie schon Common<br />

Sense. Sie veränderten aber die institutionelle<br />

Kultur auf Dauer nachhaltig, so Gebauer.<br />

Die Ges<strong>und</strong>heitswissenschaftlerin Prof. Dr. Ilona<br />

Kickbusch äußerte sich pointiert: Der vielgepriesene<br />

Multilateralismus der WHO, sei<br />

„vor allen Dingen ein Marktmultilateralismus“.<br />

Sie forderte Rechenschaftslegung <strong>und</strong> Transparenz,<br />

um die unterschiedlichen Akteure zur<br />

Offenlegung ihrer Interessen zu zwingen. Der<br />

Konflikt lautet: öffentliche Interessen, in deren<br />

Mittelpunkt die Realisierung des verbrieften<br />

Rechts auf Ges<strong>und</strong>heit stehen, versus private<br />

<strong>und</strong> gewinnorientierte Interessen. Es geht also<br />

nicht nur um eine Demokratisierung der WHO,<br />

sondern auch um ihre Repolitisierung. „Ohne<br />

Öffentlichkeit wird das nicht gehen“, so Gebauer.<br />

Diese herzustellen ist auf globaler Ebene<br />

aber eine große Herausforderung.<br />

Wie das in geradezu ungeahnter <strong>und</strong> radikaler<br />

Weise vonstatten gehen kann, berichtete Dr.<br />

Alaa Shukralla aus Ägypten. Der seit Jahren<br />

politisch aktive Kinderarzt erläuterte in seinem<br />

analytischen Beitrag die Stationen der ägyptischen<br />

Revolution <strong>und</strong> ihre Vorgeschichte, bei<br />

der jahrelange Ges<strong>und</strong>heitskämpfe eine große<br />

Rolle spielten. Aber niemand konnte die Macht<br />

des Tahrir-Platzes vorhersehen. „Diese Erfahrung“,<br />

so Shukralla, „kann uns keiner nehmen.<br />

Die Ereignisse in Ägypten sind ein Beweis <strong>für</strong><br />

das völlige Scheitern des globalen Neoliberalismus“.<br />

Dieser machte sich in Ägypten durch<br />

die Verschlechterung des Bildungs- <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />

sowie einer wachsenden<br />

Korruption in der Polizei bemerkbar. Am Ende<br />

dieser Entwicklung stand der Aufstand. Wenn<br />

der richtige Moment, die öffentliche Bewegung<br />

<strong>und</strong> die Institution, die Träger der Veränderung<br />

sein könnte, zusammenkommen, dann hat das<br />

Recht auf Ges<strong>und</strong>heit auch global seine Chance.<br />

An dieser – noch – utopischen Schnittstelle<br />

kamen die drei medico-Panels zusammen. Erreicht<br />

ist sie nicht, aber gedacht werden muss<br />

sie.<br />

Auf unserer Webseite www.medico.de finden<br />

Sie Audio-Mitschnitte der Veranstaltungen.<br />

Katja Maurer, medico international<br />

Kinderges<strong>und</strong>heit<br />

Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />

Satellitentagung „Ges<strong>und</strong> aufwachsen <strong>für</strong> alle!“ /<br />

Familiäre <strong>Armut</strong> /Interview mit<br />

Prof . Dr . Reinhart Wolff / Väter in den Frühen Hilfen<br />

„Wir können es uns nicht leisten,<br />

nicht in das ges<strong>und</strong>e Aufwachsen aller Kinder<br />

zu investieren“<br />

Satellitentagung „Ges<strong>und</strong> aufwachsen <strong>für</strong> alle!“<br />

„Wir stehen am Ende, wir stehen mittendrin<br />

<strong>und</strong> irgendwie auch am Anfang“ – treffender<br />

hätte Rainer Schubert, Sozialreferent der Stadt<br />

Braunschweig, die Rahmenbedingungen <strong>für</strong><br />

ein ges<strong>und</strong>es Aufwachsen der Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen<br />

in Deutschland nicht fassen können.<br />

Denn noch immer sind Kinder <strong>und</strong> Jugendliche<br />

aus sozial benachteiligten Familien einem<br />

höheren ges<strong>und</strong>heitlichen Risiko ausgesetzt.<br />

Der nun von der B<strong>und</strong>eszentrale <strong>für</strong> ges<strong>und</strong>heitliche<br />

Aufklärung initiierte Partnerprozess<br />

„Ges<strong>und</strong> aufwachsen <strong>für</strong> alle!“, welcher die<br />

Förderung der Ges<strong>und</strong>heit bei Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen<br />

durch kommunale Zusammenarbeit<br />

zum Ziel hat, setzt hier an. Er involviert<br />

Kommunen mit den unterschiedlichsten Erfahrungen,<br />

Herangehensweisen <strong>und</strong> Strategien<br />

zum ges<strong>und</strong>en Aufwachsen <strong>und</strong> bringt sie in<br />

einen gemeinsamen Lernprozess. Denn einige<br />

der Kommunen stehen bei der Entwicklung von<br />

Präventionsketten noch am Anfang, während<br />

andere bereits vielfältige Unterstützungsangebote<br />

<strong>für</strong> Familien, Kinder <strong>und</strong> Jugendliche in<br />

schwieriger sozialer Lage vorweisen.<br />

Gemeinsame Lernprozesse <strong>für</strong> ein<br />

ges<strong>und</strong>es Aufwachsen<br />

Die Satellitenveranstaltung „Ges<strong>und</strong> aufwachsen<br />

<strong>für</strong> alle!“ zum 17. <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

widmete sich diesem kommunalen<br />

Partnerprozess sowie weiteren integrierten<br />

Handlungsansätzen, die in vielfältigen Workshops<br />

vorgestellt <strong>und</strong> diskutiert wurden.<br />

Stefan Pospiech, Geschäftsführer von Ges<strong>und</strong>heit<br />

Berlin-Brandenburg, hob bereits in seiner<br />

Begrüßung hervor, dass ein solches Vorhaben<br />

Raum <strong>und</strong> Zeit sowie viel Geduld benötige. Nur<br />

dann können nachhaltige Lernprozesse initiiert<br />

werden <strong>und</strong> fruchtbare Ergebnisse sowie Erkenntnisse<br />

hervorbringen. Die Veranstaltung<br />

am 8. März griff diesen Gedanken auf <strong>und</strong> bot<br />

den unterschiedlichsten Akteuren aus dem Ges<strong>und</strong>heitssektor,<br />

der Kommune, der Wissenschaft<br />

<strong>und</strong> der Praxis in den Räumlichkeiten<br />

der Technischen Universität Berlin eine Plattform,<br />

sich auszutauschen <strong>und</strong> die gemeinsame<br />

Agenda „Ges<strong>und</strong> aufwachsen <strong>für</strong> alle!“ voranzutreiben.


Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12 Kinderges<strong>und</strong>heit<br />

Dr. Frank Lehmann von der B<strong>und</strong>eszentrale <strong>für</strong><br />

ges<strong>und</strong>heitliche Aufklärung erläuterte zum<br />

Einstieg das Vorhaben <strong>und</strong> die Entwicklung<br />

des Partnerprozesses „Ges<strong>und</strong> aufwachsen <strong>für</strong><br />

alle!“ im gemeinsamen Kooperationsverb<strong>und</strong><br />

„<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> bei sozial Benachteiligten“.<br />

Die Handlungsempfehlungen „Ges<strong>und</strong>heitschancen<br />

von sozial benachteiligten<br />

Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen nachhaltig verbessern!“<br />

bieten hier<strong>für</strong> die inhaltliche Gr<strong>und</strong>lage.<br />

Der Partnerprozess führt nun solche Kommunen<br />

zusammen, die sich auf den Weg gemacht<br />

haben, kommunale Präventionsketten zur Förderung<br />

der Ges<strong>und</strong>heit von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen<br />

aufzubauen. Sie verfolgen gemeinsam<br />

das Ziel, Unterstützungsangebote in ihren<br />

Kommunen bedarfsgerecht <strong>und</strong> ressortübergreifend<br />

aufeinander abzustimmen.<br />

Präventionskette im Aufbau:<br />

Braunschweig<br />

In der Veranstaltung wurde deutlich, dass das<br />

Vorhaben einer gemeinschaftlichen Zusammenarbeit<br />

von allen relevanten Akteuren <strong>für</strong><br />

ein ges<strong>und</strong>es Aufwachsen aller Kinder einen<br />

immerwährenden Prozess darstellt. Dass ein<br />

solcher Prozess keinen Anfang <strong>und</strong> kein Ende<br />

haben kann, verdeutlichte auch Rainer Schubert<br />

in seinem Vortrag. Anschaulich beschrieb<br />

er, wie in der Stadt Braunschweig eine systematische<br />

Zusammenarbeit zur Verbesserung<br />

der Ges<strong>und</strong>heitschancen von sozial benachteiligten<br />

Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen entwickelt<br />

wurde. Anlass <strong>für</strong> den Aufbau eines Präventionsnetzwerkes<br />

war ein Zeitungsartikel aus<br />

dem Jahr 2007 mit der Überschrift: „Kindern ist<br />

die Mahlzeit im Schulzentrum Braunschweig-<br />

Volkmarode zu teuer“. Angefangen von der<br />

Frage der Zuständigkeit, einer Datenlagenerhebung,<br />

über ein Zehn-Schritte-Programm,<br />

den Aufbau eines Präventionsnetzwerkes <strong>und</strong><br />

den dazu gehörigen Beirat bis hin zu konkreten<br />

Projektentwicklungen wurde das Thema Prävention<br />

<strong>für</strong> Kinder <strong>und</strong> Familien systematisch<br />

<strong>und</strong> zusammen mit allen sozialen Akteuren der<br />

Stadt forciert. Langfristige Kooperationen wurden<br />

gestärkt: „Ganz Braunschweig sollte sich<br />

mit dem Thema auseinandersetzen“, so Schubert.<br />

Dieser Weg war selbstverständlich auch<br />

mit Hürden versehen. Diese konnten beispielsweise<br />

mit Hilfe einer externen Moderation <strong>und</strong><br />

einer ständig kritischen Selbstreflexion überw<strong>und</strong>en<br />

werden. Leitlinien wurden entwickelt<br />

<strong>und</strong> in die breite Diskussion gebracht. In diesem<br />

Jahr erfolgte dann die Übergabe der Handlungsempfehlungen<br />

zur <strong>Armut</strong>sprävention an<br />

den Oberbürgermeister.<br />

Zentrale Gr<strong>und</strong>sätze der Braunschweiger Aktivitäten<br />

sind:<br />

n Alle Kinder im Blick zu haben, also möglichst<br />

keine Spezialangebote <strong>für</strong> bestimmte<br />

Gruppen zu schaffen,<br />

n sich an den Bedürfnissen der Betroffenen<br />

zu orientieren,<br />

n das Hauptaugenmerk auf den Strukturaufbau<br />

statt auf spezielle, neue Maßnahmen<br />

zu legen <strong>und</strong><br />

n ein begleitendes Präventionsnetzwerk aufzubauen<br />

mit dem dazugehörigen Beirat unter<br />

der Geschäftsführung der Stadt.<br />

Neun Kernsätze der<br />

Braunschweiger Leitlinien<br />

Präambel: Jedes Kind ist herzlich willkommen,<br />

jedes Kind ist wichtig.<br />

1. Mütter <strong>und</strong> Väter erhalten bei Bedarf Unterstützung<br />

<strong>und</strong> Hilfe bei der Erziehung<br />

ihrer Kinder.<br />

2. Jedes Kind hat ein Recht auf Sicherung<br />

seiner angemessenen materiellen Lebensgr<strong>und</strong>lage.<br />

3. Jedes Kind hat ein Recht auf Sicherung<br />

seiner Gr<strong>und</strong>bedürfnisse nach Ges<strong>und</strong>heit,<br />

Bewegung, Ernährung, Sicherheit<br />

<strong>und</strong> Geborgenheit.<br />

4. Jedem Kind ist gesellschaftliche <strong>und</strong> soziale<br />

Teilhabe zu ermöglichen.<br />

5. Jedem Kind einen erfolgreichen Bildungsweg<br />

sichern von Anfang an.<br />

6. Für jede Mutter <strong>und</strong> jeden Vater ist eine<br />

existenzsichernde Erwerbstätigkeit von<br />

zentraler Bedeutung.<br />

7. Jugendliche aktiv ins Erwerbsleben begleiten.<br />

8. Kinder, Jugendliche <strong>und</strong> deren Eltern<br />

sind zu beteiligen.<br />

9. Das Netzwerk zur Prävention von Kinder-<br />

<strong>und</strong> Familienarmut <strong>und</strong> zur Linderung<br />

der Folgen ist zu intensivieren <strong>und</strong> weiterzuentwickeln.<br />

Zum Abschluss der Präsentation fasste Herr<br />

Schubert die ganz gr<strong>und</strong>sätzlichen Aspekte zusammen,<br />

ohne die eine systematische Zusammenarbeit<br />

nicht funktionieren kann: der Respekt<br />

voreinander, Verständnis <strong>für</strong>einander,<br />

ganz viel Offenheit, Hilfe <strong>und</strong> Unterstützung<br />

von außen sowie ein großes diplomatisches<br />

Geschick der zentral handelnden Personen.<br />

Wirksamkeit von kommunalen<br />

Gesamtkonzepten: Dormagen<br />

Auch Heinz Hilgers, ehemaliger Bürgermeister<br />

der Stadt Dormagen, machte in seinem Vortrag<br />

anschaulich deutlich, wie erfolgreich ein partnerschaftlicher<br />

Austausch sein kann. Kinderarmut<br />

besteht weiterhin als ein immer noch<br />

dringliches <strong>und</strong> strukturelles Problem, welches<br />

negative Auswirkungen auf Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong><br />

Bildung der Kinder hat, die es nicht zu verharmlosen<br />

gilt. „Für ein Aufwachsen von Kindern<br />

<strong>und</strong> die Lebens- <strong>und</strong> Zukunftschancen<br />

von Kindern ist es ganz entscheidend, dass sie<br />

ges<strong>und</strong> sind <strong>und</strong> dass sie Bildungschancen<br />

haben. Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Bildung sind elementare<br />

Voraussetzungen“, so Hilgers. Genau diese<br />

Voraussetzungen wurden in Dormagen verbessert<br />

<strong>und</strong> hier<strong>für</strong> ein Netzwerk <strong>für</strong> Prävention<br />

aufgebaut. Denn wie die Forschung des Nobelpreisträgers<br />

<strong>für</strong> Wirtschaft, James Heckman,<br />

„Life Cycle Skill Formation“ (2007) eindrucksvoll<br />

belegt: „Prävention rechnet sich, wenn<br />

man so früh wie möglich anfängt“. In Dormagen<br />

wurde das Präventionsprojekt sogar in<br />

Zeiten eines Nothaushaltes mit zusätzlichen<br />

Investitionen auf den Weg gebracht. Hilgers<br />

argumentierte: „Wir sind so arm, wir können<br />

uns nicht leisten, das nicht zu machen.“<br />

Mit dem Netzwerk Frühe Förderung konnte in<br />

Dormagen – orientiert an den Bedürfnissen der<br />

Menschen – eine Präventionskette gestaltet<br />

<strong>und</strong> im Laufe der Jahre weiterentwickelt werden.<br />

So gibt es kein einziges Kind in Dormagen,<br />

welches im Alter von drei Jahren nicht den<br />

Kindergarten besucht. Die Erziehungspartnerschaft<br />

von Schule <strong>und</strong> Elternhaus wird zudem<br />

praktisch initiiert, in dem Lehrer/innen kurz<br />

nach dem Beginn des ersten Schuljahres Hausbesuche<br />

machen, was sowohl von den Lehrer/<br />

innen als auch von den Familien gerne angenommen<br />

wird.<br />

Neben der Hilfe zur Selbsthilfe <strong>und</strong> der Einbindung<br />

der Eltern kommt es laut Hilgers entscheidend<br />

darauf an, welche Philosophie ein<br />

solches Projekt hat <strong>und</strong> lebt. Der Wertschätzung<br />

kommt hier eine besondere Bedeutung<br />

zu – denn ohne diese können Menschen nicht<br />

erreicht <strong>und</strong> unterstützt werden. Hilgers gab<br />

auch zu verstehen, dass der wertschätzende<br />

Umgang miteinander eine hochprofessionelle<br />

Anforderung darstellt, welche immer wieder<br />

neu erarbeitet werden muss.<br />

In der Eröffnungsveranstaltung wurde nicht<br />

nur das Anliegen des Partnerprozesses „Ges<strong>und</strong><br />

aufwachsen <strong>für</strong> alle!“, sondern auch die<br />

vielfältigen Möglichkeiten, Herausforderungen<br />

<strong>und</strong> Chancen, die diese Plattform mit sich<br />

bringt, deutlich. Es konnte gezeigt werden, wie<br />

befruchtend der praktische <strong>und</strong> inhaltliche<br />

Austausch sein kann. Neben den wertvollen<br />

Anregungen <strong>für</strong> die Praxis stärkten die Beispiele<br />

aus Braunschweig <strong>und</strong> Dormagen vor allem<br />

die Entschlossenheit <strong>und</strong> die Motivation, den<br />

Aufbau von Präventionsketten weiter voranzubringen<br />

<strong>und</strong> aus Empfehlungen Aktivitäten<br />

werden zu lassen.<br />

Stefan Bräunling <strong>und</strong> Niels Löchel,<br />

Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />

Informationen r<strong>und</strong> um den Partnerprozess finden<br />

Sie auf der Website<br />

www.ges<strong>und</strong>heitliche-chancengleichheit.de.<br />

11


12<br />

Kinderges<strong>und</strong>heit<br />

Folgen familiärer <strong>Armut</strong><br />

<strong>und</strong> die Notwendigkeit gesellschaftlicher Rahmenbedingungen<br />

Will man die familiäre <strong>Armut</strong> in den Blick nehmen,<br />

lässt sich dies nicht ohne die sozioökonomische<br />

Situation der Eltern tun. 2009 waren<br />

laut Statistischem B<strong>und</strong>esamt r<strong>und</strong> 15,6 Prozent<br />

der Menschen in Deutschland armutsgefährdet.<br />

Wachsen Kinder in <strong>Armut</strong> auf bzw. leben Kinder<br />

in <strong>Armut</strong>, hat dies jedoch erhebliche Auswirkungen<br />

auf ihre Entwicklung: Diverse Studien<br />

verweisen auf multiple Folgen hinsichtlich<br />

der verschiedenen Lebenslagen. Diese stehen<br />

häufig in Wechselwirkung zueinander <strong>und</strong> lassen<br />

sich daher nicht getrennt betrachten. Bezogen<br />

auf die materielle Dimension lassen<br />

sich Einsparungen in der Ernährung im Hinblick<br />

auf die Qualität zugunsten der Quantität von<br />

Lebensmitteln ausmachen. Dabei ist es keine<br />

Seltenheit, dass Kinder auf dem Weg zur Schule<br />

die elterliche Wohnung ohne ein Frühstück<br />

verlassen. Eltern mit geringem Einkommen<br />

nehmen Einsparungen an der Bekleidung zuforderst<br />

bei sich selbst vor. Sie greifen hier<strong>für</strong><br />

häufig auf getragene Kleidung aus Kleiderkammern<br />

<strong>und</strong> Tauschbörsen oder auf Sonderangebote<br />

bei Billigdiscountern zurück. Bezüglich<br />

der Wohnverhältnisse müssen Kinder aus finanziell<br />

schwachen Familien Einschränkungen<br />

in der Lage, Größe <strong>und</strong> Ausstattung des Wohnraums<br />

erleben. Aus Gründen der Sparsamkeit<br />

werden zum Teil einige Zimmer nicht beheizt.<br />

Neben den erwähnten Ausgleichsmöglichkeiten<br />

sind diese Familien auf die finanzielle Unterstützung<br />

durch Angehörige angewiesen, um<br />

Versorgungsengpässe auszugleichen.<br />

Die genannten materiellen Einschränkungen<br />

haben teilweise ges<strong>und</strong>heitliche Auswirkungen<br />

. So ist bei Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen aus<br />

armen Familien eine höhere Anfälligkeit <strong>für</strong><br />

chronische Krankheiten, Adipositas, Zahnkrankheiten<br />

<strong>und</strong> psychosomatische Erkrankungen<br />

zu beobachten als bei Gleichaltrigen<br />

aus nichtarmen Familien. Vorsorgeangebote<br />

<strong>und</strong> Früherkennungsuntersuchungen werden<br />

deutlich seltener genutzt, sodass sich in der<br />

Folge ein schlechterer Ges<strong>und</strong>heitszustand diagnostizieren<br />

lässt. Zudem lässt sich feststellen,<br />

dass diese Kinder in der Regel nicht an<br />

Frühförderungen oder entwicklungsunterstützenden<br />

Therapien teilnehmen. Häufig kommt<br />

zu einer unausgewogenen Ernährung ein Mangel<br />

an Bewegung hinzu.<br />

Die soziale Dimension bezieht sich auf das familiäre<br />

Zusammenleben, den Aufbau <strong>und</strong> die<br />

Ausgestaltung von sozialen Kontakten sowie<br />

die Entwicklung der Selbst- <strong>und</strong> Handlungs-<br />

kompetenzen von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen.<br />

Das familiäre Zusammenleben ist von einer<br />

hohen Autonomie der Heranwachsenden <strong>und</strong><br />

wenigen Ritualen – wie das morgendliche Wecken<br />

oder regelmäßige, gemeinsame Mahlzeiten<br />

– geprägt. Soziale Kontakte können häufig<br />

nicht gepflegt werden, da sie mit finanziellen<br />

Aufwendungen verb<strong>und</strong>en sind. Folglich treten<br />

diese Familien den sozialen Rückzug an. Für<br />

die Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen ergibt sich aus<br />

den fehlenden sozialen Bindungen ein geringes<br />

Selbstbewusstsein, welches schlussendlich<br />

auch Auswirkungen auf die Resilienz der<br />

Heranwachsenden hat. Um sich nicht in die<br />

Auseinandersetzung mit den eigenen Wünschen<br />

<strong>und</strong> Möglichkeiten begeben zu müssen,<br />

suchen sie sich einen Fre<strong>und</strong>eskreis, der ihnen<br />

in ihrer Situation gleichgestellt ist.<br />

Unter der kulturellen Dimension ist neben der<br />

schulischen <strong>und</strong> außerschulischen Bildung<br />

auch das Erlernen kultureller Kompetenzen zu<br />

verstehen. Ist das Bildungsniveau der Eltern<br />

nur gering <strong>und</strong> die finanzielle Belastung stark<br />

ausgeprägt, so ist ein Besuch einer weiterführenden<br />

Schule durch das Kind eher unwahrscheinlich.<br />

Ressourcen der Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen,<br />

die <strong>für</strong> den Bildungsprozess benötigt<br />

werden, stehen aufgr<strong>und</strong> der Auseinandersetzung<br />

mit der familiären <strong>Armut</strong>ssituation nicht<br />

zur Verfügung. Somit ist ein schulisches Scheitern<br />

bzw. Schulverweigerung eine häufige Folge<br />

der materiellen Mangellage. Sind kostenlo-<br />

Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />

se außerschulische Angebote aufgr<strong>und</strong> fehlender<br />

Infrastruktur nicht vorhanden, verbringen<br />

diese Heranwachsenden ihre Freizeit häufiger<br />

vor dem Fernseher oder auf den Straßen bzw.<br />

Plätzen in ihrem Wohngebiet. Da in den meisten<br />

Haushalten kein PC vorhanden ist, wird der<br />

Umgang mit den neuen Medien <strong>für</strong> diese Kinder<br />

<strong>und</strong> Jugendlichen erschwert.<br />

Folglich ist es <strong>für</strong> diese Familien <strong>und</strong> Kinder<br />

in besonderem Maße erforderlich, gesetzliche<br />

<strong>und</strong> gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu<br />

schaffen, die ihnen eine Überwindung der <strong>Armut</strong>ssituation<br />

ermöglicht. Dies muss von allen<br />

gesellschaftlichen <strong>und</strong> politischen Akteuren<br />

von B<strong>und</strong>, Ländern <strong>und</strong> Kommunen in den<br />

Blick genommen <strong>und</strong> umgesetzt werden. An<br />

erster Stelle muss dabei die Verbesserung der<br />

materiellen Lage von Familien im unteren Einkommensbereich<br />

stehen, bspw. durch die Einführung<br />

eines gesetzlichen Mindestlohns. Der<br />

Ausbau der lokalen Infrastruktur sowie des sozialen<br />

Wohnungsbaus, der kostenlose Zugang<br />

zum Ges<strong>und</strong>heitssystem <strong>und</strong> die Erweiterung<br />

des Betreuungsangebotes <strong>für</strong> Kinder <strong>und</strong> Jugendliche<br />

muss flächendeckend umgesetzt<br />

werden. Von <strong>Armut</strong> betroffene Familien müssen<br />

unterstützt werden, um diese Angebote<br />

mit ihren Kindern wahrzunehmen <strong>und</strong> um Entlastung<br />

im Alltag zu erfahren. Darüber hinaus<br />

sind kommunale Ansätze einer <strong>Armut</strong>spräventionskette<br />

von der Geburt bis zum erfolgreichen<br />

Berufseinstieg flächendeckend auszubauen.<br />

Nur so kann <strong>für</strong> die Zukunft sichergestellt<br />

werden, dass in Deutschland kein Kind<br />

zurückgelassen wird.<br />

Carola Schmidt, Nationale <strong>Armut</strong>skonferenz


Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12 Kinderges<strong>und</strong>heit<br />

„Flexible Netzwerke schaffen“<br />

Prof . Dr . Reinhart Wolff, Kronberger Kreis <strong>für</strong> Dialogische<br />

Qualitätsentwicklung e .V . über Familien in <strong>Armut</strong> <strong>und</strong><br />

Herausforderungen an Hilfesysteme<br />

Info_Dienst: Herr Wolff, Sie haben im Rahmen<br />

Ihres Beitrages die Teilnehmenden danach gefragt,<br />

ob sie arme Familien kennen, Kontakt zu<br />

ihnen haben oder gar mit ihnen befre<strong>und</strong>et<br />

sind. Was waren Ihre Absichten dahinter?<br />

Scheuen wir insgeheim den Kontakt zu armen<br />

Familien?<br />

Wolff: Menschen, die am Rande der Gesellschaft<br />

leben, die arm sind, haben wenig Kontakt<br />

zu anderen Menschen. Sie sind isoliert.<br />

Unterstützung von Fre<strong>und</strong>en erfahren sie nur<br />

gelegentlich. Oft fehlen Unterstützer, die verlässlich<br />

an ihrer Seite sind, völlig. Der Begründer<br />

der französischen Anti-<strong>Armut</strong>sbewegung<br />

„Vierte Welt“, Père Joseph Wresinski, hat immer<br />

wieder darauf hingewiesen: „Um sich<br />

selbst als Persönlichkeit hervorzubringen, ein<br />

Herz <strong>und</strong> einen Verstand zu erschaffen, sind<br />

andere Menschen nötig. Und wir sind nicht zu<br />

diesen Anderen geworden; <strong>und</strong> weil wir nicht<br />

zu Brüdern geworden sind, ist der Arme zu einem<br />

Einsamen, einem Solitaire, geworden. Mit<br />

diesem Wort ‚Solitaire“, habe ich euch alles<br />

gesagt.“ 1<br />

Wer in der Sozialen Arbeit, in der Kinder- <strong>und</strong><br />

Jugendhilfe armen Familien helfen will, muss<br />

soziale Schranken durchbrechen <strong>und</strong> ihnen begegnen,<br />

muss sie kennenlernen <strong>und</strong> mit ihnen<br />

Bündnisse schließen. Sonst gelingt weder Unterstützung<br />

noch Veränderung. Aber die professionellen<br />

Helfer/innen kommen häufig aus<br />

anderen Schichten oder sind gerade aus den<br />

unteren Schichten aufgestiegen. Sie neigen<br />

dazu – nicht selten aus Unsicherheit <strong>und</strong> Angst<br />

–, sich abzugrenzen <strong>und</strong> darum bleiben ihnen<br />

die Menschen aus benachteiligten <strong>und</strong> ausgegrenzten<br />

Bevölkerungsschichten fremd. Um<br />

tatsächlich helfen zu können, muss man die<br />

Armen kennen <strong>und</strong> schätzen lernen, muss man<br />

sich anrühren lassen von ihrer Menschlichkeit,<br />

ihrer Kreativität <strong>und</strong> ihrem Lebensmut, ganz<br />

gleich, wie groß ihr aktuelles Elend <strong>und</strong> ihre<br />

bittere Not sind. Die Erfahrung einer Begegnung<br />

im Dialog, bei der man einander wahrnehmen<br />

<strong>und</strong> kennenlernen kann <strong>und</strong> herausfinden<br />

kann, was arme Familien wünschen <strong>und</strong><br />

brauchen, ist die Basis gelebter Solidarität.<br />

Info_Dienst: Sie gehen davon aus, dass es den<br />

Hilfesystemen in Deutschland oft schwer fällt<br />

bzw. nicht gelingt, eine Brücke zu armen Familien<br />

zu bauen. Woran liegt das Ihrer Meinung<br />

nach?<br />

Wolff: Auch soziale Hilfesysteme sind eingeb<strong>und</strong>en<br />

in gesellschaftliche <strong>und</strong> politische<br />

Machtsysteme, die sie stützen. Das gilt auch<br />

<strong>für</strong> den modernen demokratischen Wohlfahrtsstaat.<br />

Mit seiner Krise, die mit der Krise der<br />

Normalarbeitsverhältnisse <strong>und</strong> dem Umbruch<br />

in den familialen Lebensverhältnissen einhergeht,<br />

d.h. seinem Rück- <strong>und</strong> Abbau im Zuge<br />

des ‚neuen Geistes des Kapitalismus’, kommt<br />

es regelrecht zu einer Wiederkehr harter Klassenverhältnisse.<br />

Und dann sind Ausgleich <strong>und</strong><br />

Umverteilung der Ressourcen <strong>und</strong> eine solide<br />

Verankerung in integrativen Beziehungsnetzwerken<br />

2 nicht mehr angesagt. „Wenn es einen<br />

Teil der Bevölkerung gibt, der erstens nicht<br />

beschäftigt werden kann <strong>und</strong> <strong>für</strong> den zweitens<br />

die Versorgungsressourcen knapp werden,<br />

dann sind diejenigen, die in Lohn <strong>und</strong> Brot stehen,<br />

schnell bereit, diese Menschen <strong>für</strong> entbehrlich<br />

zu halten.“ 3<br />

Leider lassen sich darum auch soziale Fachkräfte<br />

immer wieder zu willfährigen Agenten<br />

einer solchen Ausgrenzung <strong>und</strong> eines gesellschaftlichen<br />

Containments von Randschichten<br />

machen <strong>und</strong> dann setzen sie auf Beobachtung<br />

<strong>und</strong> kontrollierende Behandlung von außen,<br />

ohne die Familien in Konflikten <strong>und</strong> Not zu erreichen.<br />

Identifikation mit den Privilegierten<br />

<strong>und</strong> ein schwaches Engagement <strong>für</strong> Menschenrechte<br />

<strong>und</strong> soziale Gerechtigkeit tragen dazu<br />

bei. Dass arme Familien ihrerseits aber auch<br />

den Kontakt zu hilfreichen Helfer/innen abblocken<br />

oder abbrechen, aufgr<strong>und</strong> schlechter Erfahrungen<br />

mit den Institutionen <strong>und</strong> Professionellen<br />

einen offenen Austausch <strong>und</strong> produktive<br />

Arbeitsbeziehungen abwehren oder lieber<br />

die Flucht ergreifen, anstatt sich auf Hilfe einzulassen,<br />

spielt freilich auch eine Rolle. Aber<br />

wenn Widerstand <strong>und</strong> Abwehr nicht als Interaktionsmuster<br />

hintergründiger Konfliktdynamik<br />

erkannt <strong>und</strong> durchgearbeitet werden kann,<br />

kann die materielle, die kulturelle, die soziale<br />

<strong>und</strong> seelische Kluft nicht überbrückt werden,<br />

können die Fachkräfte <strong>und</strong> arme Familien nicht<br />

zueinander finden, um einen Prozess ‚transformativer<br />

Transaktionen’ 4 zu gestalten.<br />

Info_Dienst: Was braucht es aus Ihrer Sicht,<br />

um Familien in großer <strong>Armut</strong> zu unterstützen?<br />

Welche Empfehlungen geben Sie den Unterstützungssystemen?<br />

Wolff: Die sozialen, ges<strong>und</strong>heitlichen <strong>und</strong> Unterstützungs-<br />

<strong>und</strong> Bildungssysteme (von der<br />

Gemeinwesenarbeit, der Arbeitsförderung <strong>und</strong><br />

Wohnhilfe, den Hilfen r<strong>und</strong> um die Geburt, den<br />

Frühen Hilfen <strong>für</strong> junge Familien, Eltern <strong>und</strong><br />

Kinder, der Kindertageserziehung, der Elternbildung,<br />

der Erziehungs- <strong>und</strong> Familienberatung<br />

<strong>und</strong> -therapie <strong>und</strong> der kinder- <strong>und</strong> jugendmedizinischen<br />

<strong>und</strong> sozialpsychiatrischen Hilfen bis<br />

hin zur sozialpädagogischen Beratung, der<br />

Gruppen- <strong>und</strong> Jugendarbeit <strong>und</strong> zu den Hilfen<br />

zur Erziehung) müssen zu miteinander verb<strong>und</strong>enen<br />

Orten der anti-oppressiven Begegnung<br />

werden, zu Orten, die Schutz gewähren <strong>und</strong> die<br />

Entwicklung <strong>und</strong> Lernen ermöglichen. Die frühe<br />

Settlement-Bewegung hat uns schon früh<br />

gezeigt, wie ein solcher Hilfeverb<strong>und</strong> aussehen<br />

kann. Wir müssen deswegen die im Zuge hochgradiger<br />

Arbeitsteiligkeit entstandene Versäulung<br />

des professionellen Unterstützungssystems<br />

wieder rückgängig machen <strong>und</strong> flexible<br />

Netzwerke schaffen, die Leitideen, Haltungen,<br />

Programme <strong>und</strong> Methoden dialogisch-demokratischer<br />

Praxis stark machen, um den Menschen<br />

nachhaltig Handlungschancen <strong>und</strong> Kompetenzerweiterung<br />

zu ermöglichen, die zu wenig<br />

oder keine Teilhabechancen haben. Programmatisch<br />

gehören dazu: (1) Gemeinwesenarbeit<br />

zur Stärkung solidarischer Nachbarschaft<br />

auf Gegenseitigkeit (2) Förderung <strong>und</strong><br />

Vermittlung von Erwerbsarbeit <strong>und</strong> von unternehmerischer<br />

Selbständigkeit (3) Unterstützung<br />

<strong>und</strong> Verbesserung der Haus- <strong>und</strong> Gartenarbeit<br />

(4) ges<strong>und</strong>heitliche, soziale <strong>und</strong> pädagogische<br />

Versorgung, Betreuung, Hilfe <strong>und</strong><br />

Schutz („care“) (5) Bildungs- <strong>und</strong> Erziehungsarbeit<br />

innerhalb <strong>und</strong> außerhalb der Familie (6)<br />

Jugend- <strong>und</strong> soziale Kulturarbeit (7) psychologische,<br />

therapeutische <strong>und</strong> sozialpsychiatrische<br />

Arbeit.<br />

Wenn wir so programmatisch ansetzen, uns<br />

mehrseitig vernetzen <strong>und</strong> in unseren Einrichtungen<br />

<strong>und</strong> Organisationen aus Fehlern <strong>und</strong><br />

Erfolgen lernen, können die Unterstützungssysteme<br />

zu lernenden Organisationen werden.<br />

Info_Dienst: Vielen Dank <strong>für</strong> das Gespräch.<br />

Die Fragen stellte Annett Schmok.<br />

1 Übersetzung Reinhart Wolff; vgl. Rosenfeld, Jona M./ Tardieu,<br />

Bruno (1998): Artisans de démocratie. Paris, S.11.<br />

2 vgl. auch Castel, Robert/ Dörre, Klaus (Hg.) (2009): Prekarität,<br />

Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn<br />

des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts. Frankfurt/NewYork: Campus<br />

3 Budde, Heinz/ Willisch, Andreas (2008): Die Debatte über<br />

die ‚Überflüssigen’. In: Dieselben (Hg.): Exklusion: Frankfurt<br />

a. M.: Suhrkamp. S. 26<br />

4 Jona M. Rosenfeld<br />

13


14<br />

Kinderges<strong>und</strong>heit<br />

Väter in den Frühen Hilfen<br />

Herausforderungen <strong>und</strong> Chancen<br />

Väter sind bezüglich Pflege, Erziehung <strong>und</strong><br />

Umgang mit Säuglingen ebenso kompetent<br />

wie Mütter. Sie nehmen allerdings häufig eine<br />

stärker physisch stimulierende <strong>und</strong> die Eigenständigkeit<br />

fördernde Rolle ein, während Mütter<br />

ein eher vorsichtiges Verhalten zeigen. Die<br />

Vater-Kind-Bindung hat eine wichtige eigenständige<br />

Bedeutung <strong>für</strong> die Entwicklung des<br />

Kindes. Verschiedene Studien haben gezeigt,<br />

dass die Abwesenheit des Vaters mit negativen<br />

Auswirkungen, zum Beispiel in der psychosozialen<br />

Anpassung, einhergehen kann. Daher<br />

sollte ein Einbezug von Vätern in alle Angebote<br />

<strong>für</strong> Familien, insbesondere in die sensible Palette<br />

der Interventionen im Rahmen der Frühen<br />

Hilfen, angestrebt werden.<br />

Herausforderungen<br />

Eine zentrale Herausforderung dabei ist die<br />

Berücksichtigung des Geschlechtsrollenstereotyps,<br />

dass „Mann“ keine Probleme hat oder<br />

zumindest selbstständig in der Lage ist, sie zu<br />

lösen. Hier sollten die Helferinnen soweit möglich<br />

den Impuls des Vaters zum eigenständigen<br />

Lösen von Problemen unterstützen. Die Vaterschaft<br />

beinhaltet auch die Übernahme unterschiedlicher<br />

sozialer Rollen, insbesondere in<br />

der Entwicklung von der Paar- zur Elternbeziehung.<br />

Dieser Rollenwechsel zum Vater hat<br />

dann besonders gute Chancen zu gelingen,<br />

wenn die übernommenen Rollenbilder mit den<br />

wahrgenommenen Anforderungen in Einklang<br />

zu bringen <strong>und</strong> überdies realistisch umzusetzen<br />

sind. Darüber hinaus gibt es organisatorische<br />

Herausforderungen <strong>für</strong> den Einbezug von<br />

Vätern. Da die Aufnahme in die Projekte zumeist<br />

über die Mütter erfolgt, führt dies häufig<br />

auch zu einem stärkeren Engagement dieser.<br />

Die aufsuchenden Fachkräfte sind zudem so<br />

gut wie immer Frauen <strong>und</strong> können daher häufig<br />

leichter einen Zugang zu Frauen als zu Männern<br />

finden.<br />

Chancen<br />

Wichtige Voraussetzungen <strong>für</strong> einen gelingenden<br />

Einbezug von Vätern sind eine positive<br />

Gr<strong>und</strong>einstellung den Vätern gegenüber sowie<br />

ein allgemeines Verständnis da<strong>für</strong>, dass die<br />

Berücksichtigung der Perspektive von Kind,<br />

Mutter <strong>und</strong> Vater besondere Chancen bietet.<br />

Die Fachkräfte sollten eine wertschätzende<br />

Gr<strong>und</strong>haltung gegenüber den Vätern einnehmen,<br />

die zunächst einmal unabhängig von akuten<br />

Herausforderungen ist. Die reale Situation<br />

<strong>und</strong> tatsächliche Bemühungen der Väter sollten<br />

wahrgenommen werden, ohne ihnen ein<br />

Idealbild des perfekten Vaters entgegen zu<br />

halten. Gr<strong>und</strong>sätzlich ist die Einnahme einer<br />

salutogenetischen Perspektive, die Stärken<br />

<strong>und</strong> Ressourcen der Familie in den Mittelpunkt<br />

rückt, sehr förderlich. Ein solcher Zugang ermöglicht<br />

ein <strong>für</strong> den Selbstwert des Vaters gefahrloses<br />

Akzeptieren der Frühen Hilfen, da<br />

diese keine Bedrohung darstellen.<br />

Väter im Präventionsprojekt<br />

„Keiner fällt durchs Netz“ (KfdN)<br />

Der im Projekt „Keiner fällt durchs Netz“ (KfdN)<br />

vorhandene Schwerpunkt des gleichberechtigten<br />

Einbezugs von Vätern führte zu den folgenden<br />

Aspekten:<br />

n Einbezug aller Väter durch alle aufsuchenden<br />

Fachkräfte (Familienhebammen <strong>und</strong><br />

Kinderkrankenschwestern)<br />

n Aufnahme von Daten der Mütter <strong>und</strong> Väter<br />

in die Ergebnisevaluation <strong>und</strong> Begleitforschung<br />

n Aufnahme der Sensibilisierung <strong>für</strong> die Belange<br />

der Väter in die Ausbildungscurricula<br />

zur Familienhebamme sowie in die regelmäßigen<br />

Fortbildungen <strong>und</strong> 14-tägigen Supervisionen<br />

Nach vier Projektjahren kann ein gemischtes<br />

Resümee gezogen werden. So waren in knapp<br />

28 Prozent aller Hausbesuche die Väter anwesend,<br />

allerdings lebten etwa 54 Prozent der Eltern<br />

im Projekt zusammen. Hier haben wir es<br />

mit einer auffallenden Diskrepanz zu tun.<br />

Mit den Vätern im Hausbesuchsprogramm<br />

wurde eine Umfrage zu Bedarfen nach spezifischen<br />

Angeboten durchgeführt. Etwa 47 Prozent<br />

der Männer hielten ein spezifisches Angebot<br />

<strong>für</strong> sinnvoll, wobei die Mehrheit sich <strong>für</strong> eine<br />

fortlaufende Vätergruppe entscheiden würde.<br />

Bei der anschließenden Frage, ob man persönlich<br />

teilnehmen würde, antworteten allerdings<br />

nur noch (oder immerhin?) 38 Prozent<br />

mit „ja“.<br />

Darüber hinaus geben unsystematische Rückmeldungen<br />

aus dem Projekt sowohl negative<br />

als auch positive Erfahrungen wieder. So meldeten<br />

Väter „belehrendes“ Verhalten der Fachkräfte.<br />

Familienhebammen berichteten über<br />

große Schwierigkeiten der Kontaktaufnahme<br />

mit einigen Vätern.<br />

Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />

Aber auch positive Einzelberichte von gelungener,<br />

teils origineller Kontaktaufnahme zu Vätern<br />

finden sich unter den Rückmeldungen. So<br />

berichtete etwa eine Familienhebamme, dass<br />

ihre Vorliebe <strong>für</strong> große H<strong>und</strong>e einen skeptischen<br />

Vater <strong>und</strong> H<strong>und</strong>ebesitzer verblüffte <strong>und</strong><br />

<strong>für</strong> sie einnahm, so dass nach einigen Besuchen<br />

auch zunehmend intensiv die Rolle als<br />

Vater thematisiert werden konnte. Als weitere<br />

gut geeignete „Türöffner“ erwiesen sich Themen<br />

der beruflichen Situation des Vaters.<br />

Abschließend ist festzuhalten, dass der unternommene<br />

Versuch des absolut gleichberechtigten<br />

Einbezugs der Väter wesentlich schwieriger<br />

umzusetzen ist als vorher erwartet. Es<br />

dürfte sinnvoll <strong>und</strong> zielführend sein, die Spezifika<br />

väterlichen Erlebens <strong>und</strong> Handelns deutlicher<br />

in die Weiter- <strong>und</strong> Fortbildungen der Fachkräfte<br />

zu integrieren. Schließlich stellt der Einbezug<br />

männlichen Personals eine Option dar,<br />

die möglichst umgehend umgesetzt werden<br />

sollte.<br />

Perspektivisch stellt sich die Frage, durch welche<br />

konkreten Anpassungen <strong>und</strong> Justierungen<br />

sich die Abstimmung zwischen den Anforderungen<br />

seitens der Väter <strong>und</strong> den Strukturen<br />

der Anbieterseite (Jugendhilfe <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsvorsorge)<br />

verbessern lässt.<br />

Andreas Eickhorst <strong>und</strong> Stefanie Peykarjou,<br />

Institut <strong>für</strong> Psychosomatische Kooperationsforschung<br />

<strong>und</strong> Familientherapie,<br />

Universitätsklinikum Heidelberg


Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12 Altern <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

Altern <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

Arm, alt, abgehängt / Nachbarschaftliche Hilfe –<br />

ein Weg zu Lebensqualität im Alter? / Interview mit<br />

Michael Bellwinkel, BKK B<strong>und</strong>esverband<br />

Arm, alt, abgehängt?<br />

Die Situation von älteren Menschen im ländlichen Raum<br />

„Ich musste viel arbeiten, schon mit 12 Jahren,<br />

also wenn ich so denke, ich musste wie eine<br />

Erwachsene arbeiten. Ich habe eigentlich mein<br />

ganzes Leben nur gearbeitet, habe viel gearbeitet<br />

<strong>und</strong> konnte auch doll arbeiten. Aber das<br />

geht nicht mehr. Der Rücken ist kaputt. Das<br />

macht nun mein Sohn, aber ist ja auch alles<br />

nichts mehr. Lohnt sich alles auch nicht mehr<br />

recht.“<br />

Anna, 78 Jahre, verwitwet, schildert, was viele<br />

ältere Menschen, die mit wenig Geld auskommen<br />

müssen, in ländlichen Gebieten erleben.<br />

Gemeinsam mit ihrem Sohn lebt sie auf einem<br />

Bauernhof, der seit mehreren Generationen im<br />

Familienbesitz ist. Es ist der letzte landwirtschaftliche<br />

Betrieb in ihrem ‚250-Seelendorf’.<br />

Ihr unverheirateter Sohn wird auch der letzte<br />

sein, der den Betrieb bewirtschaftet. Es rentiert<br />

sich nicht mehr. Geldsorgen <strong>und</strong> der Abschied<br />

von der eigenen Hofstätte stellen eine seelische<br />

Belastung dar.<br />

Die Studie „<strong>Armut</strong> in ländlichen Räumen“ 1 des<br />

Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen<br />

Kirche Deutschlands befragte Menschen,<br />

deren Lebenssituation ähnlich geprägt<br />

ist von<br />

n ges<strong>und</strong>heitlichen Einschränkungen,<br />

n einem strukturellen Wandel des dörflichen<br />

Lebens <strong>und</strong><br />

n zunehmender Vereinsamung der<br />

Menschen.<br />

Wenn dies auch vordergründig plakativ subjektiv<br />

anmutet, decken sich jedoch diese Ergebnisse<br />

mit einer Studie über <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ausgrenzung<br />

in ländlichen Gebieten der europäischen<br />

Kommission 2008. Dort wurden mehrere<br />

Problemfelder benannt, so auch:<br />

1 . Abgelegenheit<br />

Wo ist die nächste Einkaufsmöglichkeit? Post?<br />

Arzt? Wann fährt ein Bus? Was kostet die Fahrkarte?<br />

Die Infrastruktur ist häufig mangelhaft.<br />

2 . Demographie<br />

Die jungen Menschen wandern ab. So rechnet<br />

das B<strong>und</strong>esinstitut <strong>für</strong> Bau-, Stadt- <strong>und</strong> Raumforschung<br />

damit, dass 2025 die ländlich geprägten<br />

bzw. peripher gelegenen Gemeinden<br />

die stärksten Bevölkerungsverluste <strong>und</strong> die im<br />

Durchschnitt ältesten Bewohner/innen haben<br />

werden.<br />

Auch in den Interviews, die mit Menschen aller<br />

Altersgruppen, welche am Existenzminimum<br />

leben, geführt wurden, machte es den Anschein,<br />

dass bestimmte Menschen, Dörfer <strong>und</strong><br />

Regionen von den Zentren abgehängt werden<br />

<strong>und</strong> den Anschluss an gesellschaftliche Entwicklungen<br />

verpassen. Bisher gibt es wenige<br />

Konzepte <strong>für</strong> den sowohl diakonisch-kirchengemeindlichen<br />

als auch „säkularen“ Bereich,<br />

die die spezifischen Herausforderungen, wie<br />

zum Beispiel große Entfernungen <strong>und</strong> Überalterung,<br />

berücksichtigen.<br />

Die Ergebnisse der Befragung von Menschen in<br />

fünf niedersächsischen Landkreisen mit geringerer<br />

Bevölkerungsdichte <strong>und</strong> Pro-Kopf-Einkommen<br />

unter dem Landesdurchschnitt können<br />

in folgenden Kernaussagen zusammengefasst<br />

werden:<br />

Arme wollen nicht als Arme<br />

identifiziert werden<br />

Menschen, die von <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ausgrenzung<br />

betroffen sind, tun unendlich viel da<strong>für</strong>, um ihren<br />

Mangel zu verbergen: gegenüber der Nachbarschaft,<br />

aber auch gegenüber der eigenen<br />

Familie. Die versteckte <strong>und</strong> verschämte <strong>Armut</strong><br />

ist in ländlichen Räumen größer als in der<br />

Stadt. In Städten wird ein Sozialhilfeanspruch<br />

eher realisiert als in kleinen Gemeinden. 2<br />

Die soziale Kontrolle in der dörflichen<br />

Struktur wird als belastend erlebt –<br />

Arme fühlen sich ausgeschlossen aus der<br />

„Dorfgemeinschaft“ .<br />

Die soziale Dichte, das „Jeder kennt Jeden“,<br />

wird von vielen Dorfbewohner/innen durchaus<br />

positiv bewertet. Man kennt sich von Feiern,<br />

aus dem Verein, der Kirche. Für die, die sich<br />

zugehörig fühlen, sind das große Vorteile des<br />

Lebens auf dem Land.<br />

Für diejenigen, die jedoch nicht mithalten können,<br />

<strong>für</strong> die der Vereinsbeitrag zu teuer ist,<br />

oder die nichts zur Kaffeetafel beisteuern können,<br />

ist das anders: Es ist gerade die Nähe im<br />

1 Winkler, Marlis; Nähe, die beschämt. <strong>Armut</strong> auf dem Lande;<br />

Lit-Verlag 2010.<br />

2 Irene Becker <strong>und</strong> Richard Hauser, Dunkelziffer der <strong>Armut</strong>,<br />

Ausmaß <strong>und</strong> Ursachen der Nicht-Inanspruchnahme zustehender<br />

Sozialhilfeleistungen, Berlin 2005<br />

15


16<br />

Altern <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

Dorf, die als belastend erlebt wird. Es ist kaum<br />

möglich, Notlagen im Dorf geheim zu halten.<br />

Und weil sie versuchen, sich <strong>und</strong> ihren Mangel<br />

verborgen zu halten, leben Menschen in <strong>Armut</strong>ssituationen<br />

oft vereinzelt. Über <strong>Armut</strong><br />

wird nicht gesprochen. „Man kennt sich“, aber<br />

die Erfahrungen der Befragten zeigen, dass<br />

genau dies die gegenseitige Unterstützung<br />

verhindert. Wer kein Auto hat, keine Tupperware-Tortenbox,<br />

fühlt sich der Dorfgemeinschaft<br />

in der Regel nicht zugehörig, sondern empfindet<br />

<strong>und</strong> erlebt immer wieder Ausgrenzung<br />

durch andere – <strong>und</strong> zieht sich oft aktiv zurück.<br />

Aufgr<strong>und</strong> verschiedener Kränkungserfahrungen<br />

<strong>und</strong> Entmutigungen reagieren die Betroffenen<br />

sensibel auf Störungen im zwischenmenschlichen<br />

Kontakt. Je mehr sich diese Erfahrungen<br />

<strong>und</strong> ihr eigener Rückzug ausprägen<br />

<strong>und</strong> verfestigen, desto schwieriger wird es,<br />

aufeinander zuzugehen.<br />

Arme erleben in der ländlichen Struktur<br />

auch Freiheiten<br />

Neben der sozialen Kontrolle <strong>und</strong> dem Ausgrenzungserleben<br />

bietet das Leben auf dem<br />

Land jedoch durchaus Positives: Die Lebenszu-<br />

Nachbarschaftliche Hilfe –<br />

ein Weg zu Lebensqualität im Alter?<br />

sammenhänge sind übersichtlicher. Das allgemeine<br />

Konsumverhalten ist bescheidener, Mieten<br />

niedriger. Häufig ein weiterer Pluspunkt:<br />

das Haus mit Garten. Die Weite <strong>und</strong> Ruhe der<br />

Natur wird oft mit einem Gefühl von Freiheit<br />

verb<strong>und</strong>en.<br />

Mobilität ist ein Schlüssel zur Teilhabe<br />

Diese Freiheit hat ihren Preis. Die Befragten<br />

berichten von Mobilitätsproblemen bei Arztbesuchen,<br />

insbesondere zu Fachärzten oder zum<br />

Krankenhaus. Gerade ältere Menschen sind<br />

auf Unterstützung der Nachbarn oder der Familie<br />

angewiesen. Die Lebensqualität hängt <strong>für</strong><br />

viele Landbewohner/innen von einem Auto ab.<br />

Von der Kirche erwarten ältere<br />

Menschen in <strong>Armut</strong> ‚Beziehungsangebote’<br />

Bei den älteren Menschen ist deutlich: Die Kirche-im-Dorf<br />

ist ein wichtiger Bezugspunkt. Sowohl<br />

der Besuch des Pastors/der Pastorin als<br />

auch der Senior/innennachmittag gehören zu<br />

den ‚Höhepunkten’ des Alltags. Eine vertraute<br />

Beziehungsebene sowie die Präsenz des Pastors/der<br />

Pastorin im dörflichen Geschehen ist<br />

wichtig. Dies stellt jedoch die kirchlichen<br />

Herausforderungen an das Konzept des „dritten Sozialraums“<br />

Der demografische Wandel schafft menschheitsgeschichtlich<br />

neue soziale Herausforderungen,<br />

die die Grenzen von Familie, Staat <strong>und</strong><br />

Markt bei der Bewältigung neuer Bedarfe offenk<strong>und</strong>ig<br />

werden lassen. Ebenso kann von einer<br />

gesellschaftlichen Entwicklung ausgegangen<br />

werden, in der sich einerseits ein anhaltender<br />

Trend zu Individualisierung <strong>und</strong> Singularisierung<br />

abzeichnet, andererseits lässt sich<br />

eine kollektive Sehnsucht nach mehr sozialem<br />

Zusammenhalt <strong>und</strong> lebensbegleitenden Strukturen<br />

konstatieren.<br />

In diese Gemengelage setzt Klaus Dörner seine<br />

Vision des „dritten Sozialraums“ als tragendes<br />

Element der Sorge <strong>und</strong> Teilhabesicherung <strong>für</strong><br />

ältere Menschen (Dörner, K. 2007: Leben <strong>und</strong><br />

sterben wo ich hingehöre – Dritter Sozialraum<br />

<strong>und</strong> neues Hilfesystem. Paranus Verlag). Das<br />

individuelle Bedürfnis nach Sinnhaftigkeit <strong>und</strong><br />

Bedeutsamkeit <strong>für</strong> andere bezeichnet Dörner<br />

als die zentrale Triebfeder <strong>für</strong> nachbarschaftliches<br />

Engagement. In seinem Ansatz soll die<br />

Hilfeorientierung „nahe an den Menschen“<br />

sein. Institutionen <strong>und</strong> professionelle Helfer<br />

wären demnach nicht die geeigneten Orte <strong>und</strong><br />

Akteure, älteren Menschen ein gutes Leben<br />

<strong>und</strong> Sterben in ihrer vertrauten Umgebung zu<br />

ermöglichen. Zukünftig soll Nachbarschaftshilfe<br />

der Garant sein, individuelle Bedürfnisse<br />

hilfeabhängiger Menschen wahrzunehmen<br />

<strong>und</strong> bei der Gestaltung eines selbstbestimmten<br />

Lebens zu unterstützen. Die spannende<br />

Frage stellt sich, wie dieses Hilfekonzept realisiert<br />

<strong>und</strong> welche Zielgruppen damit erreicht<br />

werden können. Zum einen richtet es sich an<br />

Menschen, die offen sind, sich von Nach-<br />

Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />

Strukturen im ländlichen Raum, die aufgr<strong>und</strong><br />

der Gemeindeglieder-Zahlen verstärkt zusammengelegt<br />

werden, vor Herausforderungen<br />

<strong>und</strong> legt den Schwerpunkt auf die ehrenamtliche<br />

Arbeit, die jedoch aufgr<strong>und</strong> der geringen<br />

Bevölkerungsdichte problematisch ist. Auch<br />

die Entfernungen sind ein Problem. In einigen<br />

Gemeinden gibt es nun einen „Kirchenbulli“,<br />

der zu den jeweiligen Gemeindeveranstaltungen<br />

fährt. Auch die Besuchsdienstkreisarbeit<br />

weitet sich aus, wo früher nur die Geburtstagskinder<br />

besucht wurden, findet nun häufiger<br />

auch ein Besuch ‚zwischendurch’ statt.<br />

Anna Küster<br />

Anna Küster ist Pastorin im Kirchenkreis Hittfeld<br />

in Niedersachsen. Sie war Mitarbeiterin<br />

der im Jahr 2009 durchgeführten Studie „<strong>Armut</strong><br />

in ländlichen Räumen“ des Sozialwissenschaftlichen<br />

Instituts der Evangelischen Kirche<br />

in Deutschland.<br />

annakuester@web.de<br />

bar/innen unterstützen zu lassen, zum anderen<br />

an solche, die ihre Hilfsbereitschaft im unmittelbaren<br />

Wohnumfeld einsetzen wollen. Dör ner<br />

geht dabei von hohen Selbsthilfepotentialen in<br />

allen gesellschaftlichen Milieus aus <strong>und</strong> bezeichnet<br />

Nachbarschaftlichkeit als verlernte<br />

Kompetenz eines solidarischen Zusammenlebens,<br />

das der modernen individualisierten Gesellschaft<br />

abhanden gekommen zu sein scheint<br />

<strong>und</strong> wieder neu entdeckt werden müsse.<br />

Wie belastbar ist nachbarschaftliche Hilfe?<br />

Dass das Zusammenleben in Deutschland sehr<br />

unterschiedlich segregiert ist, belegen steigende<br />

Zahlen von Einpersonenhaushalten, aber<br />

auch zahlreiche Nachbarschaftsinitiativen <strong>und</strong><br />

funktionierende Hausgemeinschaften. Entscheidender<br />

ist aber die Frage, wie belastbar<br />

nachbarschaftliche Hilfe gr<strong>und</strong>sätzlich ist <strong>und</strong><br />

ob sie den zukünftigen Anforderungen an Sorge,<br />

Hilfe <strong>und</strong> Integration gerecht werden kann.<br />

Zu klären ist auch, wer die eigentlichen Erbringer/innen<br />

dieser Aufgaben sein sollen. Hier ist<br />

Dörners Adressierung eindeutig <strong>und</strong> wenig kritisch:<br />

In erster Linie sind es Frauen <strong>und</strong> in zweiter<br />

rüstige Rentner/innen. Damit wird deutlich,<br />

dass das Engagement an konkrete Bedingungen<br />

geknüpft ist, das die Engagierten in Form<br />

von zeitlichen <strong>und</strong> finanziellen Kapazitäten<br />

mitbringen müssen. Beides scheint bei genauerem<br />

Hinsehen als gesellschaftliche Ressource<br />

aufgr<strong>und</strong> verlängerter Lebensarbeitszeiten<br />

<strong>und</strong> sinkender Altersrenten, insbesondere bei


Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12 Altern <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

Frauen, rückläufig zu sein. Diese Entwicklung<br />

lässt erwarten, dass sich das Potential an<br />

Nachbarschaftshilfe zukünftig eher verringern<br />

als steigern lassen wird.<br />

Wie lassen sich Selbsthilfepotentiale<br />

aktivieren?<br />

Aus der nationalen Engagementforschung ist<br />

bekannt, dass die maßgeblichen Engagementträger<br />

aus der deutschen, weißen Mittelschicht<br />

kommen <strong>und</strong> ein hohes Maß an Selbsthilfepotentialen<br />

mitbringen. Wie aber kann dieses<br />

Potential in heterogenen Wohnquartieren aktiviert<br />

werden, in denen es keine gewachsenen<br />

Selbsthilfestrukturen gibt? Hier bleibt Dörners<br />

Konzept sehr vage. Zu den bekannten Herstellungsbedingungen<br />

von guter Nachbarschaft<br />

zählen Initiator/innen, ggf. auch professionelle<br />

Türöffner sowie niedrigschwellige Gemeinschaftsangebote.<br />

Insbesondere in Quartieren,<br />

in denen wenig Selbsthilfepotential zur Verfügung<br />

steht, ist professionelle Hilfe zum Aufbau<br />

eines nachbarschaftlichen Hilfesystems notwendig.<br />

Dabei geht es um Empowerment der<br />

Bewohner/innen, Kooperation von Engagierten<br />

<strong>und</strong> Profis auf Augenhöhe, eine frühzeitige<br />

Wahrnehmung von Überforderung der Engagierten<br />

sowie um das Ermöglichen nachbarschaftlicher<br />

Lernerfahrungen. Als nachhaltige<br />

Perspektive gilt die strukturelle Förderung von<br />

Nachbarschaften, zum Beispiel durch Anerkennung<br />

nachbarschaftlicher Hilfe als Pflegezeit<br />

nach SGB XI oder Anreiz- <strong>und</strong> Beteiligungsstrukturen<br />

zur positiven Identifikation mit dem<br />

Quartier. Aber auch ökonomische Modelle zur<br />

Minderung von (Alters-) <strong>Armut</strong> durch Monetari-<br />

Pflegende Angehörige von Demenzkranken<br />

unterstützen<br />

Interview mit Michael Bellwinkel, BKK B<strong>und</strong>esverband<br />

Der BKK B<strong>und</strong>esverband<br />

<strong>und</strong> der Kooperationsverb<strong>und</strong>„<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />

bei sozial<br />

Benachteiligten“<br />

haben den Preis „Vorbildliche<br />

Praxis 2012:<br />

Nicht erkrankt <strong>und</strong><br />

doch betroffen – Unterstützungsangebote<br />

<strong>für</strong> Angehörige von Demenzkranken“<br />

ausgeschrieben. Die B<strong>und</strong>eszentrale<br />

<strong>für</strong> ges<strong>und</strong>heitliche Aufklärung (BZgA)<br />

begleitete den Wettbewerb im Rahmen ihrer<br />

Schwerpunktsetzung „Ges<strong>und</strong> <strong>und</strong> aktiv älter<br />

werden“.<br />

Am 8. März 2012 – am Vorabend des 17. <strong>Kongress</strong><br />

„<strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit“ – wurden die<br />

Preisträger bekannt gegeben. Diese erhielten<br />

jeweils ein Preisgeld in Höhe von 1.000 Euro.<br />

Der Info_Dienst sprach mit Michael Bellwinkel<br />

über die diesjährigen Preisträger <strong>und</strong> das Engagement<br />

des BKK B<strong>und</strong>esverbandes <strong>für</strong> das<br />

Themenfeld „<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> bei Älteren“.<br />

Info_Dienst: Der BKK B<strong>und</strong>esverband hat auch<br />

in diesem Jahr den Wettbewerb „Vor bildliche<br />

Praxis“ durchgeführt. Im Mittelpunkt standen<br />

Unter stüt zungs angebote <strong>für</strong> Angehörige von<br />

Menschen mit Demenz. Warum haben Sie sich<br />

gerade <strong>für</strong> diese Zielgruppe entschieden?<br />

Bellwinkel: Der BKK B<strong>und</strong>esverband hat am<br />

22. September 2011 den 10. BKK Selbsthilfetag<br />

unter das Motto „Nicht erkrankt <strong>und</strong> doch betroffen<br />

– Angehörige in der Selbsthilfe“ gestellt<br />

<strong>und</strong> damit eine enorme Resonanz ausgelöst.<br />

Das war <strong>für</strong> uns der Anlass, nachdem wir den<br />

Selbsthilfe-Aspekt bei dieser Veranstaltung intensiv<br />

diskutiert hatten, uns auch mit den präventiven<br />

Ansätzen zu diesem Thema auseinander<br />

zu setzen.<br />

Wir gehen davon aus, dass diese Zielgruppe in<br />

jeder Hinsicht bisher zu wenig Aufmerksamkeit<br />

bekommen hat. Das hat sicherlich auch damit<br />

zu tun, dass Angehörige insbesondere von Dementen<br />

zeitlich derart geb<strong>und</strong>en sind, dass sie<br />

tatsächlich kaum die Zeit haben, sich in Selbsthilfegruppen<br />

mit Gleichbetroffenen zu organisieren<br />

<strong>und</strong> auf sich aufmerksam zu machen.<br />

Das schließt ein, dass sie auch <strong>für</strong> sich selbst,<br />

<strong>für</strong> ihr Wohlbefinden <strong>und</strong> den Erhalt der eigenen<br />

Ges<strong>und</strong>heit zu wenig tun. Deshalb sind<br />

Angebote in der Prävention wichtig, die diese<br />

besondere Situation berücksichtigen <strong>und</strong> darauf<br />

eingehen. Durch den Wettbewerb ist es<br />

gelungen, eine Vielzahl sehr gelungener Praxisbeispiele<br />

aufzuspüren.<br />

sierung der Nachbarschaftshilfe müssen in Betracht<br />

gezogen werden.<br />

Im Fazit stellt sich das neue Hilfesystem des<br />

„dritten Sozialraums“ als ein bedingungsreiches<br />

Konzept dar. Es lebt vom Engagement<br />

<strong>und</strong> der Überzeugung der Beteiligten, braucht<br />

fördernde Strukturen (ideell <strong>und</strong> materiell) <strong>und</strong><br />

hat vielfältige Potentiale, die aktiviert <strong>und</strong> gefördert<br />

werden müssen. Fest steht aber auch,<br />

dass es kein Allheilmittel gegen die soziale<br />

Herausforderung einer alternden Gesellschaft<br />

sein kann, welches Menschen bis zum Lebensende<br />

ein selbstbestimmtes Leben in den eigenen<br />

vier Wänden sichert.<br />

Barbara Weigl, Wissenschaftszentrum Berlin<br />

<strong>für</strong> Sozialforschung (WZB)<br />

Info_Dienst: In diesem Jahr haben sich insgesamt<br />

129 Projekte aus dem gesamten B<strong>und</strong>esgebiet<br />

am Wettbewerb beteiligt. Dies ist deutlich<br />

mehr als in den Vorjahren. Welchen Beitrag<br />

kann der Wettbewerb „Vorbildliche Praxis“<br />

<strong>für</strong> die <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong>slandschaft<br />

leisten?<br />

Bellwinkel: Wettbewerbe wie die vom BKK<br />

B<strong>und</strong>esverband in diesem Jahr zum sechsten<br />

Mal ausgelobte „Auszeichnung <strong>für</strong> vorbildliche<br />

<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong>“ bieten die Möglichkeit,<br />

eine größere Öffentlichkeit auf Themen<br />

aufmerksam zu machen, die bislang noch zu<br />

wenig beachtet wurden, <strong>und</strong> sie dadurch nach<br />

vorne zu bringen. Mein Eindruck ist, dass wir<br />

mit den Wettbewerbsthemen 2010 „Ges<strong>und</strong> im<br />

Alter – Selbstbestimmt wohnen <strong>und</strong> aktiv bleiben“<br />

<strong>und</strong> 2009 „<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> bei sozial<br />

benachteiligten älteren Menschen“ dazu<br />

beigetragen haben, dass die <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />

bei älteren Menschen deutlich stärker<br />

in den Fokus der unterschiedlichsten Akteure<br />

gerückt ist. D.h. mit der Auswahl der Wettbe-<br />

Praxishilfe „Ges<strong>und</strong> im Alter – Selbstbestimmt<br />

wohnen <strong>und</strong> aktiv bleiben“ des BKK<br />

B<strong>und</strong>esverbandes erschienen<br />

Um die guten Praxisbeispiele, die sich am<br />

Wettbewerb des BKK B<strong>und</strong>esverbandes<br />

zum Thema „Vorbildliche Praxis 2010: Ges<strong>und</strong><br />

im Alter – selbstbestimmt wohnen <strong>und</strong><br />

aktiv bleiben“ beteiligt haben, in die Fläche<br />

zu bringen, ist nun die Praxishilfe „Ges<strong>und</strong><br />

im Alter“ des BKK B<strong>und</strong>esverbandes neu erschienen.<br />

Die hier vorgestellten Angebote<br />

engagieren sich <strong>für</strong> ein erfolgreiches <strong>und</strong><br />

bedarfsgerechtes Wohnen im Alter. Das Heft<br />

können Sie unter www.bkk.de/tns/service/<br />

infomaterial/suche bestellen.<br />

17


18<br />

Altern <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit / Migration <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

werbs-Themen können wir ganz konkrete Impulse<br />

setzen, auf Defizite hinweisen <strong>und</strong> zugleich<br />

anhand der eingereichten Praxisbeispiele<br />

ganz viele praktische Lösungen anbieten,<br />

die von Interessierten leicht aufgegriffen werden<br />

können. Um diesen Prozess der Verbreitung<br />

guter Praxis zu befördern, hat der BKK<br />

B<strong>und</strong>esverband die wichtigsten Beiträge des<br />

letzten Wettbewerbs in der Praxishilfe „Ges<strong>und</strong><br />

im Alter – Selbstbestimmt wohnen <strong>und</strong><br />

aktiv bleiben“ zusammengestellt.<br />

Info_Dienst: Insgesamt wurden drei Projekte<br />

im Rahmen des Wettbewerbs „Vorbildliche<br />

Praxis 2012“ ausgezeichnet. Wie unterstützen<br />

die diesjährigen Preisträger die pflegenden Angehörigen<br />

bei ihrer schwierigen <strong>und</strong> kräftezehrenden<br />

Aufgabe?<br />

Bellwinkel: Angesichts der 129 Einsendungen<br />

ist uns in diesem Jahr die Auswahl der drei<br />

Preisträger nicht leicht gefallen. Das Auswahlverfahren<br />

hat gezeigt, dass es einen gewissen<br />

State-of-the-art an Unterstützungsangeboten<br />

gibt. Die Preisträger stehen somit immer auch<br />

stellvertretend <strong>für</strong> eine Vielzahl guter Praxisbeispiele.<br />

Das Angebot NADiA aus Köln macht<br />

ganz klar den Präventionsgedanken sichtbar.<br />

Das Projekt hat zum Ziel, mit einem Bewegungsprogramm<br />

die körperliche Leistungsfähigkeit<br />

zu erhalten <strong>und</strong> die Alltagskompetenzen<br />

zu verbessern. Die Angehörigenberatung<br />

e.V. in Nürnberg besteht bereits seit 25 Jahren.<br />

Ihre vielfältigen, innovativen Angebote, wie Angehörigengruppen<br />

<strong>und</strong> -kurse, Beratungs- <strong>und</strong><br />

Betreuungsangebote, Bewegung <strong>und</strong> Sport <strong>für</strong><br />

sowohl <strong>für</strong> Menschen mit Demenz als auch <strong>für</strong><br />

deren Angehörige, haben sich in der Stadt etabliert.<br />

Der Seniorentreff „Jute Stuw“ in Mettmann<br />

ist besonders <strong>für</strong> an Demenz erkrankte<br />

Menschen <strong>und</strong> deren Angehörige konzipiert<br />

<strong>und</strong> dient dem Aufbau <strong>und</strong> Erhalt sozialer Beziehungen<br />

sowie der Steigerung der Lebensqualität.<br />

Besonders vorbildhaft ist die Betonung<br />

des bürgerschaftlichen Engagements.<br />

Die drei Preisträger-Projekte machen deutlich,<br />

was es braucht, um pflegende Angehörige zu<br />

unterstützen, nämlich: Aufbau von nachhaltigen<br />

Strukturen, niedrigschwelliges Vorgehen,<br />

Hilfe zur Selbsthilfe <strong>und</strong> Stärkung des bürgerschaftlichen<br />

Engagements.<br />

Info_Dienst: Vielen Dank <strong>für</strong> das Gespräch!<br />

Die Fragen stellte Marco Ziesemer.<br />

Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />

Gewinner Vorbildliche Praxis 2012<br />

n Angehörigenberatung e.V. – Beratungsstelle <strong>und</strong> Fachkoordination (Angehörigenberatung<br />

e.V.), Nürnberg<br />

weitere Informationen: www.angehoerigenberatung-nbg.de<br />

n NADiA – Neue Aktionsräume <strong>für</strong> Menschen mit Demenz <strong>und</strong> ihre Angehörigen (Institut <strong>für</strong><br />

Bewegungs- <strong>und</strong> Sportgerontologie der Deutschen Sporthochschule Köln), Köln<br />

weitere Informationen: www.nadia-projekt.de<br />

n Seniorentreff „Jute Stuw“ – Unterstüt zungs angebote <strong>für</strong> Demenzkranke <strong>und</strong> ihre Angehörigen<br />

(Alzheimer Gesellschaft Düsseldorf & Kreis Mettmann e.V.), Mettmann<br />

weitere Informationen: www.alzheimer-duesseldorf-mettmann.de<br />

Migration <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

Prävention bei Menschen mit Migrationshintergr<strong>und</strong> /<br />

<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> durch interkulturelle Frauen-<br />

<strong>und</strong> Männergruppen / Interkulturelle Kompetenz <strong>und</strong><br />

Öffnung im Ges<strong>und</strong>heitswesen / Ges<strong>und</strong>heitsbildung<br />

<strong>und</strong> -förderung bei Kindern<br />

Prävention bei Menschen mit<br />

Migrationshintergr<strong>und</strong><br />

Aktueller Forschungsstand <strong>und</strong> zukünftige Herausforderungen<br />

Menschen mit Migrationshintergr<strong>und</strong>, die<br />

selbst migriert sind, haben zur Zeit der Einreise<br />

oft einen besseren Ges<strong>und</strong>heitszustand als<br />

gleichaltrige Menschen im Herkunftsland. Dieser<br />

verschlechtert sich aber mit zunehmender<br />

Aufenthaltsdauer (Razum 2006). Besonders<br />

Arbeitsmigrant/innen waren <strong>und</strong> sind hohen<br />

ges<strong>und</strong>heitsgefährdenden Belastungen bei<br />

der Arbeit ausgesetzt (Razum et al. 2008). Hinzu<br />

kommen ein im Durchschnitt niedrigerer sozialer<br />

Status <strong>und</strong> teilweise Probleme mit der<br />

deutschen Sprache. Chronische Krankheiten<br />

wie Diabetes <strong>und</strong> Schlaganfall sowie psychische<br />

Erkrankungen treten bei Menschen mit<br />

Migrationshintergr<strong>und</strong> durchschnittlich häufiger<br />

<strong>und</strong> in jüngeren Altersjahren auf als in der<br />

Mehrheitsbevölkerung (Razum et al. 2008, Icks<br />

et al. 2010). Gleichzeitig nehmen Menschen<br />

mit Migrationshintergr<strong>und</strong> präventive Versorgungsangebote<br />

seltener wahr. Das trägt zu<br />

höheren Erwerbsminderungsquoten <strong>und</strong> einer<br />

niedrigeren Lebens- <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitszufriedenheit<br />

bei (Razum et al. 2008, Brzoska et al.<br />

2010).<br />

Präventionsmaßnahmen sind ein wichtiger Teil<br />

der ges<strong>und</strong>heitlichen Versorgung. Hierunter<br />

fallen nicht nur die Vermeidung von Erkrankungen<br />

<strong>und</strong> ihre Früherkennung (Primär- <strong>und</strong> Sek<strong>und</strong>ärprävention),<br />

sondern auch die rehabilitative<br />

Versorgung (Tertiärprävention). In<br />

Deutschland werden viele regionale präventionsbezogene<br />

Projekte <strong>für</strong> Menschen mit Migrationshintergr<strong>und</strong><br />

durchgeführt. Häufig geht<br />

es um Beratungs- oder Gruppenangebote <strong>und</strong><br />

Schulungen in der Muttersprache, in denen<br />

migrationsspezifische Besonderheiten berücksichtigt<br />

werden. Auf der Webseite des Kooperationsverb<strong>und</strong>es<br />

„<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> bei<br />

sozial Benachteiligten“ sind verschiedene Präventionsangebote<br />

<strong>und</strong> Projekte dargestellt, die<br />

dem Anspruch von Best- oder Good Practice-<br />

Angeboten gerecht werden wollen


Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12 Migration <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

(www.ges<strong>und</strong>heitliche-chancengleichheit.de).<br />

Eine wichtige Voraussetzung <strong>für</strong> Best- <strong>und</strong> Good<br />

Practice-Angebote ist jedoch die Durchführung<br />

einer Ergebnisevaluation, welche die Effektivität<br />

sowie die Nachhaltigkeit eines Angebots <strong>für</strong> die<br />

jeweilige Zielgruppe ermittelt. Eine solche Evaluation<br />

fehlt in den meisten Fällen (Glodny et al.<br />

2009). Studien deuten darauf hin, dass beispielsweise<br />

Angebote der Tertiärprävention<br />

(Rehabilitation) oft nicht ausreichend migrationssensibel<br />

gestaltet sind (Brzoska et al. 2010).<br />

Die Betonung liegt hierbei auf der Migrationssensibilität,<br />

nicht der -spezifität. Migrationsspezifische<br />

Angebote bergen immer die Gefahr einer<br />

gesellschaftlichen Schließung gegenüber<br />

der Bevölkerungsgruppe von Menschen mit Migrationshintergr<strong>und</strong>,<br />

wodurch mögliche positive<br />

ges<strong>und</strong>heitliche Ergebnisse langfristig durch<br />

eine Einschränkung gesellschaftlicher Partizipationsmöglichkeiten<br />

verhindert werden. Zur langfristigen<br />

<strong>und</strong> nachhaltigen Verbesserung der<br />

Ges<strong>und</strong>heit von Menschen mit Migrationshintergr<strong>und</strong><br />

ist ein Umdenken erforderlich, auch im<br />

Bereich der Prävention. Der Migrationshintergr<strong>und</strong><br />

von Menschen sollte nicht länger als<br />

Merkmal von Fremdheit <strong>und</strong> Andersartigkeit<br />

wahrgenommen werden, sondern als ein Diversitätsmerkmal<br />

von vielen, das – wie auch die<br />

Merkmale Geschlecht, Alter <strong>und</strong> sozialer Status<br />

– mit unterschiedlichen Bedürfnissen <strong>und</strong> Bedarfen<br />

einhergeht <strong>und</strong> Teil unserer vielfältigen<br />

Gesellschaft ist.<br />

Ein ganzheitlicher Ansatz, der dieses Umdenken<br />

<strong>und</strong> den Umgang mit Vielfalt in der Gesellschaft<br />

unterstützt, ist Diversity Management. Es ermöglicht,<br />

die Verschiedenheit von individuellen<br />

Bedürfnissen <strong>und</strong> Bedarfen zu berücksichtigen,<br />

die durch Kultur <strong>und</strong> Migration, aber auch durch<br />

andere Diversitätsmerkmale wie Alter, Geschlecht<br />

<strong>und</strong> Bildung entstehen. Das Individuum<br />

wird hierbei als Ganzes wahrgenommen <strong>und</strong><br />

einzelne Diversitätsmerkmale nicht in den Vordergr<strong>und</strong><br />

gerückt. Dies stellt einen wichtigen<br />

Schritt zu einer wirksamen Prävention sowie zu<br />

einer bedarfs- <strong>und</strong> bedürfnisgerechteren Versorgung<br />

in allen ges<strong>und</strong>heitlichen Bereichen<br />

dar – nicht nur <strong>für</strong> Menschen mit Migrationshintergr<strong>und</strong>,<br />

sondern <strong>für</strong> alle Nutzer/innen des Ges<strong>und</strong>heitsversorgungssystems<br />

(Geiger 2006).<br />

Maßnahmen des Diversity Managements auf<br />

struktureller <strong>und</strong> organisatorischer Ebene sollten<br />

dabei Hand in Hand mit der Einbindungen<br />

von Potenzialen <strong>und</strong> Ressourcen gehen. Bei<br />

vielen Menschen mit Migrationshintergr<strong>und</strong><br />

sind dies etwa eine ausgeprägte familiäre <strong>und</strong><br />

nachbarschaftliche Unterstützung. Auch die Entwicklung<br />

<strong>und</strong> Aktivierung von außerfamiliären<br />

sozialen Netzwerken (z.B. Selbst hilfeor ganisationen)<br />

kann bei der Ges<strong>und</strong>erhaltung helfen<br />

<strong>und</strong> die Teilhabe an ges<strong>und</strong>heitlicher Versorgung<br />

sicherstellen (Yilmaz et al. 2009).<br />

Einblicke in die Praxis:<br />

<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> durch interkulturelle<br />

Frauen- <strong>und</strong> Männergruppen<br />

Der Verein Aufbruch Neukölln e .V . stellt sich vor<br />

In Berlin leben Menschen aus 189 verschiedenen<br />

Nationen mit 161 unterschiedlichen Sprachen.<br />

Über 25 Prozent der Bewohner/innen<br />

Berlins haben eine Zuwanderungshistorie. Bei<br />

den unter 16-Jährigen liegt dieser Anteil mittlerweile<br />

bei über 43 Prozent. Die Scheidungsraten<br />

besonders in den Familien mit Zuwanderungsgeschichte<br />

sind sehr hoch <strong>und</strong> steigen<br />

weiter.<br />

Belastungen durch Flucht <strong>und</strong> Migration<br />

Mütter <strong>und</strong> Frauen sind durch Flucht <strong>und</strong> Migration<br />

besonders hohen psychischen <strong>und</strong><br />

physischen Belastungen ausgesetzt. Sie tragen<br />

die Verantwortung <strong>für</strong> ihre Kinder <strong>und</strong> die<br />

Familie in einer Umgebung, in der sie von ihren<br />

familiären, sozialen <strong>und</strong> kulturellen Wurzeln<br />

abgeschnitten sind. Sie leben nicht selten isoliert<br />

oder „gettoisiert“ unter meist kargen wirtschaftlichen<br />

Verhältnissen. Viele Frauen haben<br />

über Jahre hinweg keinen Kontakt zur einheimischen<br />

Bevölkerung. Die Gründe da<strong>für</strong> sind<br />

fehlende Sprachkenntnisse, fehlendes Selbstbewusstsein,<br />

patriarchalische Familienstrukturen<br />

<strong>und</strong> keine eigenen finanziellen Mittel. Viele<br />

dieser Frauen leiden unter massiven psychosomatischen<br />

Störungen <strong>und</strong> brauchen dringend<br />

therapeutische Behandlungen durch Fachkräfte<br />

aus dem Kulturkreis des jeweiligen Herkunftslandes.<br />

Die Wartezeiten <strong>für</strong> eine angemessene<br />

Behandlung liegen jedoch bei etwa<br />

drei bis vier Jahren, da nicht ausreichend Fach-<br />

Ausblick<br />

Der Abbau von Barrieren im Zugang zu präventiven<br />

Angeboten ist von großer Bedeutung, um<br />

Menschen mit Migrationshintergr<strong>und</strong> bei der<br />

Ges<strong>und</strong>erhaltung besser unterstützen zu können.<br />

Hierzu müssen innovative Lösungsansätze<br />

entwickelt, umgesetzt <strong>und</strong> evaluiert werden.<br />

Wesentlich ist dabei die migrationssensible Gestaltung<br />

<strong>und</strong> Berücksichtigung von Diversität.<br />

Die Gruppe von Menschen mit Migrationshintergr<strong>und</strong><br />

ist in vielerlei Hinsicht heterogen. Die individuellen<br />

<strong>und</strong> kulturellen Werte sowie die Bedürfnisse<br />

des Einzelnen müssen als wichtige<br />

Merkmale in der Gestaltung von präventiven<br />

Angeboten verankert werden. Dabei sollten<br />

aber möglichst Angebote geschaffen werden,<br />

die sich nicht exklusiv an einzelne Untergruppen<br />

der Bevölkerung richten. Ein Diversity-Ansatz<br />

kann im Idealfall nicht nur Menschen mit Migrationshintergr<strong>und</strong>,<br />

sondern alle Nutzer/innen<br />

präventiver Angebote ansprechen. Auch präventive<br />

Maßnahmen im Rahmen des Diversity Managements<br />

müssen dabei auf ihre Wirksamkeit<br />

<strong>und</strong> Nachhaltigkeit hin evaluiert werden.<br />

Informationen zu der verwendeten Literatur<br />

können über die Autoren bezogen werden.<br />

Kontakt: patrick.brzoska@uni-bielefeld.de<br />

Yüce Yilmaz-Aslan, Patrick Brzoska<br />

<strong>und</strong> Oliver Razum,<br />

Universität Bielefeld<br />

kräfte in diesem Gebiet vorhanden sind. Aus<br />

diesem Gr<strong>und</strong> bietet der Verein Aufbruch Neukölln<br />

e.V. seit 2007 Mütter- <strong>und</strong> Frauengruppen<br />

<strong>für</strong> Migrantinnen an.<br />

Doch auch Väter <strong>und</strong> Männer mit Zuwanderungsgeschichte<br />

brauchen Unterstützung <strong>und</strong><br />

Hilfe. Häufig kommen sie mit einer Trennungs-<br />

<strong>und</strong> Scheidungssituation nicht zurecht. Vor allem<br />

Väter <strong>und</strong> Männer, die durch die Heirat in<br />

ihren Heimatländern nach Deutschland gekommen<br />

sind <strong>und</strong> hier keine typische Väter-<br />

<strong>und</strong> Männerrolle übernehmen können, weil sie<br />

nicht die Versorger <strong>und</strong> Ernährer ihrer Familien<br />

sind, finden sich mit ihrer neuen Rolle in<br />

Deutschland oftmals nicht zurecht. Sie sind<br />

keine Vorbilder <strong>für</strong> ihre Frauen <strong>und</strong> Kinder.<br />

Dieser Zustand führt in den Familien <strong>und</strong> in den<br />

Bildungseinrichtungen wie Schule oder Kita zu<br />

unlösbaren Problemen. Die betroffenen Männer<br />

haben keine Möglichkeiten, über ihre Probleme<br />

zu sprechen <strong>und</strong> diese zu verarbeiten. Als<br />

Lösung kommen <strong>für</strong> sie entweder Männercafés<br />

oder Moscheen in Frage, die <strong>für</strong> den Integrationsprozess<br />

<strong>und</strong> das interkulturelle Zusammenleben<br />

in Berlin jedoch nicht förderlich sind.<br />

Viele dieser Väter <strong>und</strong> Männer sind häufig<br />

nicht mehr in der Lage oder bereit, <strong>für</strong> die Erzie-<br />

19


20<br />

Migration <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

hung <strong>und</strong> Bildung ihrer Kinder <strong>und</strong> eine funktionierende<br />

Familienstruktur Verantwortung zu<br />

übernehmen. Als Ergebnis wachsen ihre Kinder<br />

zunehmend in einer vaterlosen <strong>und</strong> orientierungslosen<br />

Gesellschaft auf.<br />

Verbesserung der Lebenssituation<br />

Daher war es dringend notwendig, <strong>für</strong> diese<br />

Menschen entsprechende Angebote zu entwickeln<br />

<strong>und</strong> umzusetzen. Obwohl die Kontaktaufnahme<br />

zu den Männern <strong>und</strong> Frauen in ihrer<br />

Landessprache erfolgte, waren große Anstrengungen<br />

<strong>und</strong> Überzeugungsarbeit nötig, um sie<br />

zu regelmäßigen Treffen zu bewegen <strong>und</strong> ihr<br />

Vertrauen zu gewinnen.<br />

Die Gruppen begannen sehr klein. Die Anzahl<br />

stieg jedoch von Woche zu Woche rasch an,<br />

<strong>und</strong> schon nach kurzer Zeit nahmen etwa 80<br />

Männer <strong>und</strong> 110 Frauen unser Angebot wahr.<br />

Heute existieren insgesamt drei Vätergruppen<br />

<strong>und</strong> fünf Frauengruppen unterschiedlicher Herkunftskulturen.<br />

Für die Gruppen wurde keinerlei<br />

Werbung gemacht. Die Teilnehmer/innen<br />

erfuhren von diesem Angebot ausschließlich<br />

durch M<strong>und</strong>propaganda. Die Teilnahme ist<br />

freiwillig <strong>und</strong> kostenlos.<br />

Damit die Sichtweise des anderen Geschlechtes<br />

bei den Gesprächen in den Männergruppen<br />

ausreichend Berücksichtigung findet, werden<br />

die Gruppen jeweils von einem Mann <strong>und</strong> einer<br />

Frau mit pädagogischer Ausbildung aus dem<br />

entsprechenden Kulturkreis geleitet. Die Teilnehmer/innen<br />

aller Gruppen treffen sich regelmäßig<br />

einmal in der Woche <strong>für</strong> zwei bis drei<br />

St<strong>und</strong>en.<br />

Insbesondere die ganz lebensnahen <strong>und</strong> seelischen<br />

Anliegen der Teilnehmer/innen werden<br />

in den Gesprächsr<strong>und</strong>en erörtert. Gemeinsam<br />

<strong>und</strong> unter fachlicher Anleitung wird nach Lösungsmöglichkeiten<br />

gesucht, die aktuelle Lebenssituation<br />

zu verbessern. Dabei stehen die<br />

individuellen Voraussetzungen der Teilnehmer/innen<br />

im Mittelpunkt. Sie werden dort abgeholt,<br />

wo sie sich befinden <strong>und</strong> dann gezielt<br />

unterstützt. Expert/innen werden bei Bedarf zu<br />

bestimmten Themen hinzugezogen.<br />

„Vergangenheit bewältigen, Vertrauen<br />

aufbauen, Verlässlichkeit herstellen <strong>und</strong><br />

Verantwortung übernehmen“<br />

lautet das Motto der Gruppenarbeit. Durch Gespräche<br />

lassen die Teilnehmer/innen ihre Seelen<br />

sprechen. Durch praktische Übungen, den<br />

Diskussionsprozess <strong>und</strong> die Öffnung der Teilnehmer/innen<br />

entsteht in den Gruppen ein<br />

Gemeinschaftsgefühl <strong>und</strong> der Anfang einer<br />

Netzwerkstruktur, die auch in zukünftigen Lebenssituationen<br />

praktische Hilfe zur Selbsthilfe<br />

<strong>und</strong> Zuspruch untereinander bietet.<br />

Interkulturelle Kompetenz <strong>und</strong> Öffnung im<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

Theoretische Konzepte <strong>und</strong> praktische Ansätze<br />

Aus der Praxis <strong>und</strong> Wissenschaft gehen immer<br />

wieder Meldungen von ungenügender Teilhabe<br />

der in diesem Land lebenden Menschen mit<br />

Migrationshintergr<strong>und</strong> hervor. Das Wissen dieser<br />

Menschen über medizinische <strong>und</strong> soziale<br />

Hilfsangebote ist oft unzureichend. Als Ergebnis<br />

bleiben viele Möglichkeiten der sozialen<br />

<strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitlichen Versorgung ungenutzt.<br />

Fehlende Partizipationsmöglichkeiten haben<br />

sehr häufig Fehl- <strong>und</strong> Unterversorgung zu Folge.<br />

Dies lässt sich im Besonderen auch in der<br />

<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> <strong>und</strong> Prävention beobachten.<br />

Interkulturelle Öffnung <strong>und</strong> Kompetenzen im<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen können einen großen Beitrag<br />

zur gleichberechtigten Teilhabe von Menschen<br />

mit Migrationshintergr<strong>und</strong> leisten. Der<br />

17. <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit hat Akteure<br />

aus Wissenschaft <strong>und</strong> Praxis zusammengebracht,<br />

um gemeinsam gr<strong>und</strong>legende theoreti-<br />

sche Konzepte <strong>und</strong> praktische Ansätze aber<br />

auch zu bewältigende Herausforderungen zu<br />

diskutieren.<br />

Dr. Kristine Krause von Max-Planck-Institut in<br />

Göttingen präsentierte zentrale Ergebnisse der<br />

AG Migration der Deutschen Gesellschaft <strong>für</strong><br />

Völkerk<strong>und</strong>e in Bremen initiierten Workshops<br />

„Interkulturelle Kompetenzen im Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

– Notwendigkeit oder Luxus?“. Anlass<br />

<strong>für</strong> den Workshop war die steigende Nachfrage<br />

nach interkultureller Kompetenz im Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

<strong>und</strong> die bisherige Zurückhaltung<br />

der Ethnologie, sich in ihrer Kompetenz als<br />

„Kulturexpertin“ in diesen Diskussionen einzubringen.<br />

Die Dringlichkeit im Ges<strong>und</strong>heitswesen,<br />

<strong>für</strong> ethno-kulturelle <strong>und</strong> sozio-kulturelle<br />

Vielfalt zu sensibilisieren, war ein wichtiger<br />

Aspekt des Workshops. Dabei ging es u. a. um<br />

die Frage, welche Form der interkulturellen<br />

Kompetenz als kulturspezifisches Hintergr<strong>und</strong>-<br />

Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />

Multiplikatorenarbeit in Kita, Schule<br />

<strong>und</strong> Familie<br />

Durch die große Bereitschaft der Teilnehmer/<br />

innen, ehrenamtlich die Kita-, Schul- <strong>und</strong> Familienarbeit<br />

zu unterstützen, entwickelte sich eine<br />

gezielte Schulung einzelner Teilnehmer/innen<br />

hin zu Multiplikator/innen. Diese sind nun<br />

aktiv in Kitas, Schulen <strong>und</strong> Familien tätig <strong>und</strong><br />

leisten dort mit ihrer besonderen interkulturellen<br />

Kompetenz <strong>und</strong> der Sprache ihres Herkunftslandes<br />

wertvolle Brückenarbeit.<br />

Besonders wirkungsvoll ist dieses Engagement<br />

in Schulen <strong>und</strong> Kitas, da hier Kinder <strong>und</strong><br />

Jugendliche Erziehung <strong>und</strong> Bildung erfahren.<br />

Hier werden die Weichen <strong>für</strong> sie <strong>und</strong> <strong>für</strong> das<br />

zukünftige Zusammenleben zwischen den unterschiedlichen<br />

Bevölkerungsgruppen in Berlin<br />

gestellt.<br />

Einzigartig an dieser interkulturellen Gruppenarbeit<br />

des Vereins Aufbruch Neukölln e.V. ist<br />

die Verknüpfung von Lebenshilfen mit der Förderung<br />

des Integrationsprozesses, der Bildung<br />

von Kindern <strong>und</strong> Erwachsenen <strong>und</strong> der Organisation<br />

ehrenamtlichen Engagements.<br />

Weitere Informationen über die Projektarbeit<br />

des Vereins finden Sie unter<br />

www.aufbruch-neukoelln.de.<br />

Kazim Erdogan, Aufbruch Neukölln e.V.<br />

wissen oder zu vermittelnde zentrale Metakompetenz<br />

im Umgang mit Diversität überhaupt<br />

benötigt wird.<br />

Unter dem Titel „Transkulturalität – Die Antwort<br />

auf Diversität“ stellten Prof. Dr. Knut Tielking<br />

<strong>und</strong> Henning Fietz von der Hochschule<br />

Emden/Leer am Beispiel des B<strong>und</strong>esmodellprojektes<br />

„Transkulturelle Versorgung von<br />

Suchtkranken“ (transVer) das Konzept der<br />

Transkulturalität vor. Hierbei wird Diversität<br />

als Ressource verstanden <strong>und</strong> transkulturelle<br />

Kompetenzen können den Zugang zu der vielfältigen<br />

Klientel im Präventionsbereich erleichtern.<br />

Die wachsende Vielfalt in der Gesellschaft<br />

bringt Ressourcen <strong>und</strong> Risiken <strong>für</strong> das Zusammenleben<br />

mit sich <strong>und</strong> stellt eine besondere<br />

Herausforderung <strong>für</strong> die kultursensible Arbeit<br />

dar. Das Zuschreiben fester kultureller Merkmale<br />

kann Unterschiede erzeugen <strong>und</strong> wahrnehmbar<br />

machen, die vorher in dieser Bedeutung<br />

nicht unbedingt vorhanden waren.<br />

Nach Wolfgang Gulis vom Zentrum <strong>für</strong> Kulturwissenschaften<br />

in Graz haben Exklusion <strong>und</strong><br />

Barrieren organisationelle <strong>und</strong> strukturelle Ursachen.<br />

Dadurch bleiben die Zugangsmöglichkeiten<br />

<strong>und</strong> die Beteiligung unterentwickelt <strong>und</strong><br />

eine adäquate Versorgung von Migrant/innen<br />

wird verhindert. In seinem Vortrag „Interkulturelle<br />

Öffnung als Qualitätskriterium in der Ge-


Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12 Migration <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

s<strong>und</strong>heitsförderung“ stellte Gulis dar, dass die<br />

zahlreichen Projekte der letzten Jahrzehnte an<br />

den eigentlichen Lösungen vorbei gehen, weil<br />

die bestehende Strukturen unangetastet <strong>und</strong><br />

die Verantwortung von Politik <strong>und</strong> Führung in<br />

Organisationen häufig unbeachtet bleibt.<br />

Durch Festlegung von Kriterien bei der Planung,<br />

Umsetzung <strong>und</strong> Evaluation können interkulturelle<br />

Öffnungsprozesse systematisch in<br />

die Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Präventionsarbeit einfließen.<br />

Daher ist eine umfassende strukturelle<br />

Sicht auf die Zusammenhänge von Exklusion<br />

<strong>und</strong> Diskriminierung notwendig.<br />

Als ein Beispiel aus der Praxis stellte Havva<br />

Arik von der Unabhängigen Patientenberatung<br />

Deutschland (UPD) ihre Arbeit vor. Für eigenverantwortliches<br />

Handeln <strong>und</strong> Empowerment<br />

von Migrant/innen sind verständliche Informa-<br />

tionen, Beratungsgespräche <strong>und</strong> darüber hinausgehend<br />

vielfach individuelle Unterstützung<br />

erforderlich. Die UPD hatte bereits in einer Modellphase<br />

(2000-2010) mit unterschiedlichen<br />

Angeboten <strong>für</strong> Ratsuchende mit Migrationshintergr<strong>und</strong><br />

Erfahrungen gesammelt. Aufbauend<br />

auf den Erfahrungen bietet die UPD jetzt ein<br />

spezielles Angebot <strong>für</strong> russisch- <strong>und</strong> türkischsprechende<br />

Ratsuchende. Durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit<br />

<strong>und</strong> eine Bandbreite von<br />

Methoden, wie z.B. Beratung in Muttersprache,<br />

aufsuchende Gruppenberatung, face-toface<br />

Beratung <strong>und</strong> ein b<strong>und</strong>esweites kostenloses<br />

Beratungstelefon in türkischer <strong>und</strong> russischer<br />

Sprache, versucht die UPD diesen Anforderungen<br />

gerecht zu werden. Darüber hinaus<br />

werden Patienteninformationen, Internetinformationen<br />

in Türkisch <strong>und</strong> Russisch sowie ein<br />

Ges<strong>und</strong>heitsbildung <strong>und</strong> -förderung<br />

bei Kindern mit Migrationshintergr<strong>und</strong><br />

Entwicklung von Ges<strong>und</strong>heitsvorstellungen <strong>und</strong> -theorien<br />

im Kontext von Kindergarten <strong>und</strong> Familie<br />

Ges<strong>und</strong>heitsrelevantes Verhalten stellt einen<br />

Bestandteil des Lebensstils dar, der sich über<br />

Lernen, Gewohnheitsbildung <strong>und</strong> Prozesse des<br />

sozialen Vergleichs ausbildet. Je früher Kinder<br />

ein ges<strong>und</strong>heitsförderliches Verhalten lernen<br />

<strong>und</strong> einüben, desto wirksamer werden sie in<br />

ihrer ges<strong>und</strong>heitsbezogenen Entwicklung gefördert<br />

(Zimmer 2009).<br />

Das vom Niedersächsischen Institut <strong>für</strong> frühkindliche<br />

Bildung <strong>und</strong> Entwicklung geförderte<br />

Forschungsprojekt „Ges<strong>und</strong>heitsbildung <strong>und</strong><br />

-förderung im Elementarbereich“ evaluiert die<br />

ges<strong>und</strong>heitspädagogischen Konzepte in Kindergärten<br />

(Schwerpunkt Ernährung <strong>und</strong> Bewegung)<br />

sowie deren Umsetzung im Alltag. In der<br />

vertiefenden Projektphase werden die Ges<strong>und</strong>heitsvorstellungen<br />

<strong>und</strong> -konzepte von sozial<br />

benachteiligten Kindern mit <strong>und</strong> ohne Migrationshintergr<strong>und</strong><br />

analysiert. Auf Basis der Ergebnisse<br />

einer Bestandserhebung zu den ges<strong>und</strong>heitspädagogischen<br />

Konzepten der Kindergärten<br />

im Großraum Hannover (Vollerhebung:<br />

N=557, Responserate: 47 Prozent) wurden<br />

sieben Kindergärten – vier Kindergärten<br />

mit differenziertem <strong>und</strong> drei Kindergärten mit<br />

gering ausgeprägtem Ges<strong>und</strong>heitskonzept –<br />

<strong>für</strong> vertiefende Untersuchungen ausgewählt.<br />

Mit 21 Kindern (davon acht Kinder mit türkischer<br />

Herkunft <strong>und</strong> 13 Kinder ohne Migrationshintergr<strong>und</strong>)<br />

im Alter von fünf bis sechs Jahren<br />

wurden symbolische Puppeninterviews geführt.<br />

Den Kindern wurden offene, altersge-<br />

rechte Fragen gestellt <strong>und</strong> sie wurden gebeten,<br />

Bilder von Lebensmitteln in ges<strong>und</strong> <strong>und</strong> unges<strong>und</strong><br />

zu sortieren <strong>und</strong> ihre Entscheidung zu<br />

begründen. Um die Ergebnisse in die Kontexte<br />

von Familie <strong>und</strong> Kita einordnen zu können,<br />

wurden Eltern <strong>und</strong> Erzieher/innen mittels episodischer<br />

Interviews befragt.<br />

Studienergebnisse<br />

Die Kinder hatten teilweise Schwierigkeiten,<br />

die Zuordnung der Lebensmittel zu begründen.<br />

Lebensmittel, die zu den Geschmacksvorlieben<br />

der Kinder gehören, werden von ihnen oft als<br />

ges<strong>und</strong> bezeichnet. Kinder mit Migrationshintergr<strong>und</strong><br />

stellten häufig einen Zusammenhang<br />

zwischen dem Konsum von unges<strong>und</strong>en Lebensmitteln<br />

(z.B. Süßigkeiten) <strong>und</strong> Zahnproblematiken<br />

her. Sie geben zudem plastische Erklärungen:<br />

So begründen sie anhand der Farbe<br />

oder Konsistenz der Lebensmittel, dass diese<br />

ges<strong>und</strong> oder unges<strong>und</strong> sind. Beim Vergleich<br />

Kompetenzstelle <strong>für</strong> interkulturelle Öffnung<br />

<strong>und</strong> Qualifizierung angeboten.<br />

Im Anschluss an die Präsentationen wurde unter<br />

Moderation von Prof. Dr. Barbara John von<br />

der Berliner Senatsverwaltung <strong>für</strong> Bildung, Jugend<br />

<strong>und</strong> Wissenschaft <strong>und</strong> Dr. Magdalena<br />

Stülb vom Freiburger Institut <strong>für</strong> Migration,<br />

Kultur <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit diskutiert. Schwerpunkte<br />

waren u.a. die Frage nach den praktischen<br />

Ansätzen, um Migrant/innen adäquat im<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen zu versorgen <strong>und</strong> welche<br />

Form von interkultureller Kompetenz hier<strong>für</strong><br />

erforderlich ist.<br />

Havva Arik, Kompetenzstelle<br />

<strong>für</strong> Interkulturelle Öffnung, Unabhängige<br />

Patientenberatung Deutschland – UPD<br />

der Aussagen der Kinder wird deutlich, dass<br />

die Begründungen der Kinder ohne Migrationshintergr<strong>und</strong><br />

differenzierter sind als die Begründungen<br />

der Kinder mit Migrationshintergr<strong>und</strong>.<br />

So gingen sie bei den Erklärungen stärker auf<br />

die Bestandteile einzelner Lebensmittel <strong>und</strong><br />

deren ges<strong>und</strong>heitsbezogenen Auswirkungen<br />

ein (z.B. Obst, Zucker, Fett, Milch). Auf die Frage,<br />

warum manche Menschen „dick“ bzw.<br />

„dünn“ sind, benennen die meisten Kinder den<br />

Zusammenhang zwischen Ernährung <strong>und</strong> dem<br />

Körpergewicht. Kinder ohne Migrationshintergr<strong>und</strong><br />

differenzieren ihre Aussagen stärker<br />

aus, indem sie einzelne Lebensmittelbestandteile<br />

benennen, die zu Übergewicht führen. Im<br />

Hinblick auf die Frage, welche Maßnahmen<br />

man treffen kann, um ges<strong>und</strong> zu bleiben, betonen<br />

Kinder mit Migrationshintergr<strong>und</strong> häufig<br />

den Arztbesuch <strong>und</strong> die Einnahme von Medikamenten<br />

sowie das Tragen angemessener Kleidung<br />

(im Winter). Kinder ohne Migrationshintergr<strong>und</strong><br />

merken zudem an, dass ges<strong>und</strong>e Lebensmittel<br />

<strong>und</strong> ausreichendes Trinken gut <strong>für</strong><br />

die Ges<strong>und</strong>heit sind <strong>und</strong> sich unges<strong>und</strong>e Lebensmittel<br />

negativ auf die Ges<strong>und</strong>heit auswirken.<br />

Die Gründe <strong>für</strong> die Unterschiede in den Aussagen<br />

von Kindern mit <strong>und</strong> ohne Migrationshintergr<strong>und</strong><br />

können bisher nicht abschließend<br />

aufgezeigt werden. Zunächst ist zu bemerken,<br />

dass bis auf ein Kind alle Kinder mit Migrationshintergr<strong>und</strong><br />

Kindergärten mit einem gering<br />

ausgeprägten Ges<strong>und</strong>heitskonzept besuchen.<br />

Die differenzierten Antworten werden mehrheitlich<br />

von den Kindern aus Kindergärten mit<br />

einem sehr gut ausgearbeiteten Ges<strong>und</strong>heitskonzept<br />

gegeben, so dass die Unterschiede<br />

zwischen den Kindern nicht unmittelbar auf<br />

deren Migrationsstatus zurückgeführt werden<br />

können. Zudem können elternbezogene <strong>und</strong><br />

soziale Determinanten sowie die Verbalisie-<br />

21


22<br />

Migration <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit / Arbeitslosigkeit<br />

rungsfähigkeiten der Kinder eine wichtige Rolle<br />

spielen.<br />

Diskussionen auf dem<br />

17 . <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

Diskussionen mit den Workshop-Teilnehmer/<br />

innen ergaben im Konsens, dass bei den Erklärungen<br />

<strong>für</strong> die Unterschiede in den Ges<strong>und</strong>heitsvorstellungen<br />

<strong>und</strong> -gewohnheiten von<br />

Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen der Migrationsstatus<br />

nach aktuellen Erkenntnissen nur noch eine<br />

untergeordnete Rolle spielt <strong>und</strong> das Ausmaß<br />

der soziokulturellen Belastung einen<br />

deutlich stärkeren Einfluss ausübt.<br />

Die symbolischen Puppeninterviews belegen,<br />

dass bereits Vorschulkinder Vorstellungen<br />

über eine ges<strong>und</strong>e <strong>und</strong> unges<strong>und</strong>e Ernährung<br />

entwickelt haben <strong>und</strong> sich mit ges<strong>und</strong>heitsbezogenen<br />

Informationen auseinandersetzen<br />

können. Die Kinder verfügen dabei über ein<br />

umfangreiches, jedoch nicht immer verbalisiertes,<br />

begründbares Ges<strong>und</strong>heitswissen.<br />

Es scheint zudem noch kein Gesamtkonzept<br />

über Ges<strong>und</strong>heit zu bestehen. Die Kinder nennen<br />

häufig konkrete Verhaltensweisen wie<br />

„Medizin nehmen“ <strong>und</strong> „Obst <strong>und</strong> Gemüse essen“,<br />

die sich an den Verhaltensvorgaben von<br />

Erwachsenen orientieren.<br />

Ges<strong>und</strong>heitsbildung im Kindergarten kann insbesondere<br />

bei sozial benachteiligten Kindern<br />

einen wichtigen Beitrag zur Ausprägung eines<br />

ges<strong>und</strong>heitsrelevanten Lebensstils leisten. Um<br />

altersgerechte Programme entwickeln zu können,<br />

sollten die Determinanten, die die Ges<strong>und</strong>heitsvorstellungen<br />

der Kinder beeinflussen<br />

sowie das vorhandene Wissen <strong>und</strong> die<br />

Vorkenntnisse über Ges<strong>und</strong>heit berücksichtigt<br />

werden (Kolip 1998; Schmidt & Fröhling 1998).<br />

Weitere Information zum Forschungsprojekt<br />

unter:<br />

www.ges<strong>und</strong>heitsbildung.uni-hannover.de<br />

Elena Sterdt 1 , Roswitha Stöcker 2 ,<br />

Marie-Luise Dierks 1 , Michael Urban 3 ,<br />

Rolf Werning 2 , Ulla Walter 1<br />

Informationen zu der verwendeten Literatur<br />

können über die Autor/innen bezogen werden.<br />

Kontakt: sterdt.elena@mh-hannover.de<br />

1 Medizinische Hochschule Hannover, Institut <strong>für</strong> Epidemiologie,<br />

Sozialmedizin <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitssystemforschung,<br />

Hannover<br />

2 Leibniz Universität Hannover, Institut <strong>für</strong> Sonderpädagogik,<br />

Hannover<br />

3 Universität Bielefeld, Fakultät <strong>für</strong><br />

Erziehungswissenschaften<br />

Arbeitslosigkeit<br />

Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />

Kooperationsverb<strong>und</strong> „<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> bei<br />

sozial Benachteiligten“ veröffentlicht Empfehlungen<br />

<strong>für</strong> die Praxis<br />

Gemeinsam handeln: <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />

bei erwerbslosen Menschen<br />

Kooperationsverb<strong>und</strong> veröffentlicht Empfehlungen <strong>für</strong> die Praxis<br />

Arbeitslosigkeit stellt ein Ges<strong>und</strong>heitsrisiko<br />

dar <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitliche Einschränkungen erschweren<br />

den (Wieder-)Einstieg in den Arbeitsmarkt.<br />

Erwerbslose Menschen – seien es die<br />

jungen, unter 25-Jährigen, die Über-50-Jährigen,<br />

Männer, Frauen, Alleinerziehende, Migrant/innen<br />

– haben ein doppelt so hohes Risiko<br />

zu erkranken, wie Erwerbstätige! Nicht zuletzt<br />

<strong>für</strong> eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt<br />

ist es allerdings sehr entscheidend,<br />

dass man ges<strong>und</strong> ist. Für eine koordinierte Zusammenarbeit<br />

besteht dringender Bedarf, da<br />

wir es hier mit schwierigen sozialen Bedingungen<br />

zu tun haben: Gerade langzeitarbeitslose<br />

Menschen wissen um die Gefahr von Stigmatisierung<br />

<strong>und</strong> Diskriminierung, sie zeigen sich<br />

kaum selbstbewusst in der Öffentlichkeit. Sie<br />

sind zudem keine „Zielgruppe“, mit der sich<br />

Projektanbieter <strong>und</strong> Kostenträger der <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />

<strong>und</strong> Prävention gerne „schmücken“.<br />

Wir müssen festhalten, dass wir noch<br />

am Anfang stehen, herauszufinden, welche<br />

Maßnahmen passgenau <strong>und</strong> partizipativ die<br />

Ges<strong>und</strong>heit arbeitsloser Menschen fördern.<br />

Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, müssen<br />

sich alle verantwortlichen Akteure zusammen<br />

an einen Tisch setzen <strong>und</strong> ihre Maßnahmen<br />

aufeinander abstimmen. Als herausragendes<br />

Beispiel ist in diesem Zusammenhang die<br />

kürzlich veröffentlichte Kooperationsvereinbarung<br />

der B<strong>und</strong>esagentur <strong>für</strong> Arbeit <strong>und</strong> der Gesetzlichen<br />

Krankenversicherungen zum Thema<br />

Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit anzusehen.<br />

Ziel ist es, einen gemeinsamen Prozess anzustoßen,<br />

der Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Arbeitsmarktpolitik<br />

enger miteinander verzahnt, um so die Ges<strong>und</strong>heit<br />

von Arbeitslosen zu erhalten <strong>und</strong> zu<br />

fördern.<br />

Gemeinsam handeln<br />

Auch der beratende Arbeitskreis des Kooperationsverb<strong>und</strong>es<br />

„<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> bei<br />

sozial Benachteiligten“ begegnet dem Bedarf<br />

an koordinierter Zusammenarbeit <strong>und</strong> hat die<br />

Herausforderung angenommen, gemeinsam<br />

zu formulieren, welches die zentralen Qualitätserfordernisse<br />

<strong>für</strong> die Kooperation der Partner<br />

in der Kommune sind. Das Ergebnis ist das<br />

Eckpunktepapier „Gemeinsam handeln“, welches<br />

durch die B<strong>und</strong>eszentrale <strong>für</strong> ges<strong>und</strong>heitliche<br />

Aufklärung (BZgA) initiiert wurde <strong>und</strong><br />

durch Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg in Zusammenarbeit<br />

mit einer großen Anzahl von<br />

Expert/innen aus der Praxis ebenso wie aus<br />

der Wissenschaft, aus der B<strong>und</strong>esagentur <strong>für</strong><br />

Arbeit <strong>und</strong> der Gesetzlichen Krankenversicherung,<br />

aus den B<strong>und</strong>esministerien, dem Robert<br />

Koch-Institut, aus den Landesvereinigungen<br />

<strong>für</strong> Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> vielen weiteren zusammengestellt<br />

wurde.<br />

Gemeinsam konnten vielfältige Kenntnisse<br />

gebündelt werden, wie die ges<strong>und</strong>heitliche


Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12 Arbeitslosigkeit / Patienteninteressen<br />

Lage arbeitsloser Menschen verbessert werden<br />

kann. In sieben Eckpunkten werden die<br />

Erfahrungen aus Beispielen guter Praxis (Good<br />

Practice), verschiedenen Handlungsansätzen<br />

<strong>und</strong> aus laufenden Prozessen in den Ländern<br />

konzentriert zusammengefasst:<br />

1. Herausforderung gemeinsam angehen!<br />

Nur im Zusammenwirken aller relevanten<br />

Akteure im kommunalen Rahmen sind die<br />

durch Arbeitslosigkeit verursachten vielfältigen<br />

Problemlagen erfolgreich zu bewältigen.<br />

2. Strategien <strong>für</strong> Zielgruppen mit besonderen<br />

Bedarfslagen entwickeln! Die höchst unterschiedlichen<br />

Ressourcen, Risiken <strong>und</strong> Bewältigungsstrategien<br />

arbeitsloser Menschen<br />

müssen bei der Entwicklung von<br />

Maßnahmen berücksichtigt werden.<br />

3. Ges<strong>und</strong>heits- mit Beschäftigungsförderung<br />

verzahnen! Die Verknüpfung von ges<strong>und</strong>heitlicher<br />

Prävention mit Maßnahmen<br />

der Arbeitsförderung bietet einen erfolgreichen<br />

Zugang <strong>für</strong> Arbeitslose zur <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />

<strong>und</strong> ist weiter auszubauen.<br />

4. <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> in den Lebenswelten<br />

verankern! Um Rahmenbedingungen zu<br />

schaffen, die ges<strong>und</strong>e Lebensstile im Alltag<br />

ermöglichen <strong>und</strong> soziale Belastungen mildern,<br />

sind Veränderungen in den Lebenswelten<br />

<strong>und</strong> Angebote sozialer Unterstützung<br />

erforderlich.<br />

5. Übergänge gestalten! Bereits bei drohendem<br />

Arbeitsplatzverlust sollten unterstützende<br />

Angebote frühzeitig ansetzen, um so<br />

von Arbeitslosigkeit bedrohte Menschen<br />

bei der Gestaltung <strong>und</strong> Bewältigung ihrer<br />

Lebenssituation zu stärken<br />

6. So früh wie möglich aktiv werden! Frühzeitige<br />

Intervention durch Bildung <strong>und</strong> Stärkung<br />

der ges<strong>und</strong>heitlichen Ressourcen sowie<br />

der Lebenskompetenz sind Teil einer<br />

umfassenden präventiven Strategie gegen<br />

die negativen Folgen von Arbeitslosigkeit.<br />

7. Stärken fördern, Wertschätzung <strong>und</strong><br />

Transparenz sichern! In allen Lebenssituationen<br />

sind die Ressourcen <strong>und</strong> Fähigkeiten<br />

arbeitsloser Menschen zentral einzubeziehen.<br />

Ausgangspunkt <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />

bei Arbeitslosen ist eine vorurteilsfreie,<br />

unterstützende <strong>und</strong> respektvolle Begegnung.<br />

Nachhaltige Strategien entwickeln<br />

Damit bietet das Eckpunktepapier einen fachlichen<br />

Rahmen <strong>und</strong> Anregung zur Stärkung der<br />

<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> bei Arbeitslosen. Auch<br />

wenn es schon viele gelungene Beispiele gibt,<br />

beispielsweise die durch den Kooperationsverb<strong>und</strong><br />

identifizierten Good Practice-Beispiele,<br />

fehlt es doch fast allerorten noch an umfassenden,<br />

nachhaltigen Strategien. Alle verantwortlichen<br />

Akteure sind gefordert, gemeinsam ver-<br />

bindliche Strukturen auf den Weg zu bringen,<br />

Unterstützungsangebote bedarfsgerecht <strong>und</strong><br />

ressortübergreifend aufeinander abzustimmen<br />

<strong>und</strong> erfolgreiche Ansätze zu implementieren.<br />

Das Eckpunktepapier richtet sich an Akteure im<br />

Bereich der Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Arbeitsförderung<br />

wie Jobcenter, Krankenkassen, Beschäftigungs-<br />

<strong>und</strong> Qualifizierungsträger sowie an politische<br />

Entscheidungsträger, Betroffeneninitiativen,<br />

Beratungsstellen, Kammern, Wohlfahrtsverbände,<br />

freie Träger <strong>und</strong> an alle, die<br />

die ges<strong>und</strong>heitlichen Ressourcen arbeitsloser<br />

Menschen stärken <strong>und</strong> ihre Belastungen senken<br />

können.<br />

Pia Block <strong>und</strong> Stefan Bräunling,<br />

Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />

Patienteninteressen<br />

Das Eckpunktepapier „Gemeinsam handeln“<br />

kann über die Webseite des b<strong>und</strong>esweiten<br />

Kooperationsverb<strong>und</strong>es<br />

www.ges<strong>und</strong>heitliche-chancengleichheit.de<br />

als pdf-Datei heruntergeladen oder kostenlos<br />

in gedruckter Form bestellt werden.<br />

Weitere Informationen zur Kooperationsvereinbarung<br />

der B<strong>und</strong>esagentur <strong>für</strong> Arbeit <strong>und</strong><br />

der Gesetzlichen Krankenversicherung finden<br />

Sie in der gemeinsamen Presseerklärung<br />

„Damit Arbeitslosigkeit nicht krank<br />

macht“ vom 5. April 2012 unter<br />

www.gkv-spitzenverband.de. Hier kann auch<br />

die Vereinbarung selbst – mit Überlegungen<br />

zu konkreten Vorhaben – als PDF-Datei herunterladen<br />

werden.<br />

Stigmatisierung als Barriere <strong>für</strong> erfolgreiche<br />

HIV-Prävention / Neutralität <strong>und</strong> Unabhängigkeit? /<br />

Benachteiligung im Ges<strong>und</strong>heitssystem<br />

Stigmatisierung als Barriere <strong>für</strong> erfolgreiche<br />

HIV-Prävention<br />

17 . <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit zeigt gute Praxis <strong>und</strong><br />

zukünftige Herausforderungen<br />

Ges<strong>und</strong>heitsbezogene Stigmatisierung führt<br />

nicht nur zu massiven psychosozialen Belastungen<br />

der von spezifischen Krankheiten Betroffenen,<br />

sondern gilt auch als eine zentrale<br />

Barriere <strong>für</strong> eine wirksame Primär- <strong>und</strong> Sek<strong>und</strong>ärprävention.<br />

Das Ziel des Workshops „Stigmatisierung<br />

als Barriere <strong>für</strong> erfolgreiche Prävention:<br />

Das Beispiel HIV“ auf dem 17. <strong>Kongress</strong><br />

<strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit war es am Beispiel<br />

der HIV-Infektion diese negativen Konsequenzen<br />

von Stigma aufzuzeigen <strong>und</strong> Ansätze<br />

zur Entstigmatisierung von HIV darzustellen.<br />

In seinem einführenden Beitrag stellte Jochen<br />

Drewes (Freie Universität Berlin) theoretische<br />

Hintergründe zum Stigma-Konzept <strong>und</strong> empirische<br />

Daten zur Stigmatisierung HIV-Infizierter<br />

vor. Stigmatisierung wird in der Allgemeinbevölkerung<br />

genauso wie in den hauptsächlich<br />

von HIV betroffenen Gruppen berichtet. Stigma<br />

kann indirekt die Lebensqualität beeinträchtigen<br />

<strong>und</strong> zu einer beschleunigten Krankheitsprogression<br />

der Betroffenen führen. Dazu tragen<br />

späte HIV-Diagnosen, mangelnde Adhärenz,<br />

Stress <strong>und</strong> unangemessene Copingstrategien<br />

bei, die mit wahrgenommener Stigmatisierung<br />

in direktem Zusammenhang stehen.<br />

Für die Primärprävention stellt HIV-Stigma ein<br />

Problem dar, da Stigma bei vulnerablen Personen<br />

zu einer geringeren Testbereitschaft <strong>und</strong><br />

23


24<br />

Patienteninteressen<br />

einem schlechteren HIV-Schutzverhalten beiträgt.<br />

Gesamtgesellschaftlich behindert Stigma<br />

adäquate gesellschaftliche Reaktionen auf<br />

die HIV-Epidemie, wie sich zum Beispiel aktuell<br />

an der international zu beobachtenden Kriminalisierung<br />

der HIV-Transmission zeigt.<br />

In den folgenden Beiträgen wurden drei Initiativen<br />

vorgestellt, die im deutschen Feld besondere<br />

Beachtung verdienen. Sie verfolgen dabei<br />

alle das Ziel, HIV-bezogene Stigmatisierung<br />

<strong>und</strong> Diskriminierung abzubauen <strong>und</strong> nähern<br />

sich diesem auf ganz unterschiedliche Weisen.<br />

Allen drei Projekten ist die gr<strong>und</strong>legende Herangehensweise<br />

gemein, die Auseinandersetzung<br />

über HIV-bezogene Stigmatisierung nicht<br />

ohne Menschen mit HIV zu führen.<br />

Im Jahr 2005 initiierten verschiedene internationale<br />

HIV-Selbsthilfe-Netzwerke zusammen<br />

mit dem Programm der Vereinten Nationen zu<br />

HIV <strong>und</strong> Aids (UNAIDS) den PLHIV Stigma Index.<br />

Der Index verbindet Forschung zu HIV-bezogener<br />

Stigmatisierung mit der Förderung der<br />

Selbstorganisation von HIV-Positiven. Dies geschieht<br />

anhand des Ansatzes der Peer-Forschung.<br />

Das heißt: HIV-Positive werden ausgebildet,<br />

um die Daten zu erlebter Stigmatisierung<br />

im Rahmen von strukturierten Interviews<br />

selbst zu dokumentieren. Carolin Vierneisel<br />

(Deutsche AIDS-Hilfe) stellte das im August<br />

2011 unter dem Namen positive stimmen angelaufene<br />

Projekt vor, in dem mit Unterstützung<br />

der Deutschen AIDS-Hilfe der PLHIV Stigma Index<br />

auch in Deutschland realisiert wird. Die Ergebnisse,<br />

die <strong>für</strong> August 2012 erwartet werden,<br />

dienen der Interessenvertretung von Men-<br />

Neutralität <strong>und</strong> Unabhängigkeit?<br />

Expert/innen diskutierten Interessenkonflikte <strong>und</strong> Abhängigkeiten<br />

im Feld der ges<strong>und</strong>heitsbezogenen Selbsthilfe<br />

Heute pflegen nicht alle, aber viele Selbsthilfegruppen<br />

<strong>und</strong> -organisationen mehr oder weniger<br />

enge Verbindungen zur pharmazeutischen<br />

Industrie, zu Medizinprodukteherstellern <strong>und</strong>/<br />

oder zu anderen Wirtschaftsunternehmen. Vor<br />

dem Hintergr<strong>und</strong> chronischer Finanznöte in der<br />

Selbsthilfe sind die Versuchungen groß, die<br />

Kasse über Sponsoringmittel von Pharmaunternehmen<br />

<strong>und</strong> Medizinprodukteherstellern<br />

aufzubessern, um besonders gute Dienstleistungen<br />

anzubieten, Fachkongresse zu besuchen,<br />

den Internetauftritt der Organisation zu<br />

verbessern oder Schulungen <strong>für</strong> Gruppenleiter<br />

schen mit HIV <strong>und</strong> sollen zudem aufzeigen, an<br />

welchen Stellen die Selbstorganisation von<br />

HIV-Positiven weiter gefördert werden kann.<br />

Die Kampagne ICH WEISS WAS ICH TU der<br />

Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) ist die erste b<strong>und</strong>esweite<br />

Kampagne zur Prävention von HIV<br />

<strong>und</strong> anderen STIs, die sich ausschließlich an<br />

schwule, bisexuelle <strong>und</strong> andere Männer, die<br />

Sex mit Männern haben (MSM), richtet. Dr.<br />

Dirk Sander (Deutsche AIDS-Hilfe) zeigte, wie<br />

<strong>und</strong> warum diese Kampagne Strategien zur<br />

Entstigmatisierung HIV-positiver MSM einen<br />

zentralen Stellenwert einräumt. Die Kampagne<br />

setzt auf den Einsatz HIV-positiver Rollenmodelle,<br />

um damit einseitige Bilder vom Leben<br />

mit HIV zu korrigieren. Damit wendet sie sich<br />

explizit gegen Ansätze, die – vermeintlich im<br />

Dienste der Prävention – stigmatisierende Bilder<br />

<strong>und</strong> Berichte verwenden <strong>und</strong> festigen in<br />

der Annahme, Angst vor HIV könne präventive<br />

Effekte haben. Die Ergebnisse der Evaluation<br />

dieser Kampagne zeigen, dass die gewählten<br />

Strategien erfolgreich sind.<br />

Der Welt-Aids-Tag wurde 1988 von der Weltges<strong>und</strong>heitsorganisation<br />

(WHO) ins Leben gerufen.<br />

Die B<strong>und</strong>eszentrale <strong>für</strong> ges<strong>und</strong>heitliche<br />

Aufklärung (BZgA) nutzt diesen Tag seither, um<br />

über ihre Kampagnenarbeit <strong>für</strong> ein solidarisches<br />

Miteinander in der Gesellschaft zu werben.<br />

Michael Eckert (BZgA) stellte die aktuelle,<br />

nationale Kampagne Positiv zusammen leben.<br />

Aber sicher! vor, die erstmals mit der Porträtierung<br />

von realen Menschen mit HIV arbeitet, um<br />

damit die große Vielfalt des Lebens mit HIV<br />

aufzuzeigen. Diese Porträtierungen, die über<br />

zu finanzieren. Für David Klemperer von der<br />

Hochschule Regensburg steht außer Frage,<br />

dass mit der Kooperation von Selbsthilfe <strong>und</strong><br />

Industrie Risiken <strong>und</strong> Nebenwirkungen einhergehen,<br />

die die Unabhängigkeit der Selbsthilfe<br />

bedrohen, deren Ansehen <strong>und</strong> Akzeptanz schaden.<br />

Die Selbsthilfe solle sich stets bewusst<br />

sein, die Industrie würde nicht aus Selbstlosigkeit<br />

handeln, sondern bestimmte unternehmerische<br />

Ziele verfolgen.<br />

In dem Workshop „Neutralität <strong>und</strong> Unabhängigkeit?<br />

Interessenkonflikte <strong>und</strong> Abhängigkei-<br />

Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />

Großflächenplakate, Kino- <strong>und</strong> TV-Spots sowie<br />

eine starke Internetpräsenz an die Öffentlichkeit<br />

getragen werden, sollen Menschen anregen,<br />

sich mit dem Thema persönlich auseinanderzusetzen.<br />

Diese Auseinandersetzung soll<br />

letztendlich dazu beitragen, dass HIV-Positive<br />

weniger mit Ausgrenzung <strong>und</strong> Diskriminierung<br />

in der Mehrheitsgesellschaft konfrontiert werden<br />

<strong>und</strong> ein Klima der Solidarität entsteht.<br />

Auch 30 Jahre nach dem ersten Auftreten von<br />

HIV <strong>und</strong> Aids stellen Stigmatisierung <strong>und</strong> Diskriminierung<br />

immer noch große Einschränkungen<br />

sowohl <strong>für</strong> Menschen mit HIV als auch <strong>für</strong><br />

Präventionserfolge dar. Eine andauernde, aktualisierte<br />

Auseinandersetzung auf allen Ebenen<br />

ist daher unerlässlich. Deren Kern bilden<br />

neben weiterer wissenschaftlicher Auseinandersetzung<br />

vordringlich die Teilhabe <strong>und</strong> der<br />

Einbezug von Menschen mit HIV, in alle Entscheidungen,<br />

die sie betreffen – sei es in Politik,<br />

Prävention oder Forschung. Dieser Ansatz<br />

darf jedoch nicht allein auf den Umgang mit<br />

HIV beschränkt werden. Auch andere Erkrankungen<br />

werden mehr oder weniger stark stigmatisiert.<br />

Auch hier gilt es, unter Partizipation<br />

der Betroffenen angemessene Strategien zu<br />

entwickeln, um die Stigmatisierung abzubauen.<br />

Weiterführende Infos:<br />

www.positive-stimmen.de<br />

www.iwwit.de<br />

www.welt-aids-tag.de<br />

Jochen Drewes, Freie Universität Berlin <strong>und</strong><br />

Carolin Vierneisel, Deutsche AIDS-Hilfe<br />

ten im Feld der ges<strong>und</strong>heitsbezogenen Selbsthilfe“<br />

auf dem 17. <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

wurden verschiedene Motive deutlich,<br />

warum Pharmaunternehmen Selbsthilfeorganisationen<br />

<strong>und</strong> -gruppen sponsern:<br />

n In Deutschland sei das Image der pharmazeutischen<br />

Industrie seit Jahren auf „Wulff-<br />

Niveau“. Eine Unterstützung der Selbsthilfe<br />

trage zur Imageförderung bei ihren zentralen<br />

K<strong>und</strong>en, den chronisch Kranken <strong>und</strong><br />

behinderten Menschen bei, <strong>und</strong> sei zudem<br />

wesentlich preiswerter als millionenschwere<br />

Imagekampagnen der Industrieverbände.<br />

n Bislang dürfe <strong>für</strong> verschreibungspflichtige<br />

Arzneimittel nur in Fachkreisen geworben<br />

werden. Es liege daher nahe, sich seine<br />

„K<strong>und</strong>schaft“ über teilweise sehr subtile<br />

Strategien der Einflussnahme auf Selbsthil-


Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12 Patienteninteressen<br />

fegruppen <strong>und</strong> Patientenorganisationen zu<br />

akquirieren. Ziel sei das direkte Patienten-<br />

Marketing mit geringem Streuverlust <strong>und</strong><br />

das Prä-Marketing von Arzneimitteln, die<br />

noch nicht auf dem Markt seien.<br />

n Schließlich sei die Selbsthilfe durch die Einbindung<br />

in Beratungs- <strong>und</strong> Entscheidungsgremien<br />

des Ges<strong>und</strong>heitswesens zugleich<br />

als Adressat interessengeleiteter Lobbying-<br />

Strategien der Industrie interessanter geworden.<br />

Leitsätze im Umgang mit<br />

Pharmaunternehmen<br />

Die Vertreter/innen der Selbsthilfe sahen<br />

durchaus die Gefahren von Interessenkonflikten.<br />

Sie seien jedoch keineswegs die „Fußtruppen<br />

der Pharmaindustrie“. So hob Sirii Doka<br />

von der B<strong>und</strong>esarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe<br />

(BAG-Selbsthilfe) hervor, dass sich die Spitzenorganisationen<br />

der Selbsthilfe <strong>und</strong> die<br />

Selbsthilfeorganisationen zur Einhaltung von<br />

Leitsätzen der Zusammenarbeit mit Wirtschaftsunternehmen<br />

verpflichtet haben. Um<br />

diese in die Praxis umzusetzen, seien sogenannte<br />

Monitoring-Ausschüsse eingerichtet<br />

worden. Ziel sei es, Mitgliedsorganisationen<br />

bei der Umsetzung der Leitsätze zu beraten<br />

<strong>und</strong> Prüfbitten zu beantworten. Carl Catteleans<br />

vom Rheumaliga B<strong>und</strong>esverband schilderte<br />

wie seine Organisation in einem langen Diskussionsprozess<br />

das Thema aufgearbeitet habe.<br />

Heute würden <strong>für</strong> die Rheumaliga klare <strong>und</strong><br />

transparente Regelungen gelten.<br />

Dass dies nicht bei allen Organisationen der<br />

Fall ist, wurde anhand verschiedener aktueller<br />

Beispiele deutlich: Eine Selbsthilfeorganisation<br />

finanziere über 60 Prozent ihres Haushalts<br />

aus Pharmamitteln, gebe aber zugleich bei den<br />

Krankenkassen eine rechtsverbindliche Erklärung<br />

ab, dass sie neutral <strong>und</strong> unabhängig sei.<br />

Die B<strong>und</strong>esvereinigung pulmonale Hypertonie<br />

werbe seit Ende Februar 2012 mit den Logos<br />

verschiedener Pharmakonzerne auf großflächigen<br />

Plakaten in den Berliner U-Bahnen <strong>für</strong> ihre<br />

Sache. Der MDR habe jüngst aufgedeckt, dass<br />

in Hamburg ein Verleger den Deutschen Vitiligo<br />

Verein (sog. Weißfleckenerkrankung) „betreibe“<br />

<strong>und</strong> von den Krankenkassen Fördermittel<br />

erhalten habe – ohne dass Selbsthilfegruppen<br />

vorhanden seien. Angelika Zollmann von<br />

der Bremischen Zentralstelle <strong>für</strong> die Verwirklichung<br />

der Gleichberechtigung der Frau sowie<br />

die Medizinjournalistin Rosemarie Stein wiesen<br />

in diesem Zusammenhang auf die langjährige<br />

Diskussion der Einflussnahme der Indus-<br />

Benachteiligung im Ges<strong>und</strong>heitssystem<br />

Zuzahlungen <strong>und</strong> Eigenbeteiligungen belasten zunehmend auch<br />

den Mittelstand<br />

Belastungen durch Zuzahlungen <strong>und</strong> Eigenbeteiligungen,<br />

welche vermehrt auch den Mittelstand<br />

betreffen, <strong>und</strong> die „Entsolidarisierung“<br />

des Ges<strong>und</strong>heitssystems waren Themen des<br />

Workshops „Systemische Benachteiligung von<br />

<strong>Armut</strong> Betroffener im Ges<strong>und</strong>heitssystem“ auf<br />

dem 17. <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit.<br />

Dr. Uwe Denker stellte das Projekt „Praxis ohne<br />

Grenzen“ – Region Bad Segeberg e.V. vor.<br />

Seit Anfang 2010 werden in dieser medizinischen<br />

Praxis all diejenigen untersucht, beraten<br />

<strong>und</strong> behandelt, die „mittellos“ sind <strong>und</strong> sich<br />

Krankheit nicht leisten können, berichtete<br />

Denker. Mittlerweile beteiligen sich verschiedene<br />

Berufsgruppen ehrenamtlich an diesem<br />

Projekt. Sogenannte „Basisärzte“, Fachärzte,<br />

Physiotherapeuten, Apotheker <strong>und</strong> „Behördenlotsen“<br />

(Belos). Zuzahlungen, Ausweispapiere<br />

oder eine Krankenversichertenkarte wer-<br />

den nicht eingefordert bzw. erhoben. Denker<br />

berichtete auch über das sich ändernde Patientenspektrum:<br />

So suchten zahlreiche ehemals<br />

selbstständige <strong>und</strong> damit privat versicherte<br />

Menschen, die nach der Beendigung ihrer beruflichen<br />

Tätigkeit keinen Krankenversicherungsschutz<br />

mehr besitzen, gehäuft die „Praxis<br />

ohne Grenzen“ auf.<br />

Verena Lührs <strong>und</strong> Paul Wenzlaff vom Zentrum<br />

<strong>für</strong> Qualität <strong>und</strong> Management im Ges<strong>und</strong>heitswesen,<br />

einer Einrichtung der Ärztekammer Niedersachsen<br />

(Hannover), stellten die 10 Jahre<br />

Evaluation der „Aufsuchenden medizinischen<br />

Versorgung <strong>für</strong> Wohnungslose <strong>und</strong> von Wohnungslosigkeit<br />

bedrohte Menschen in Hannover“<br />

<strong>und</strong> deren Relevanz <strong>für</strong> die „<strong>Armut</strong>sbevölkerung“<br />

dar. In dem Projekt „Aufsuchende Ges<strong>und</strong>heits<strong>für</strong>sorge<br />

<strong>für</strong> Wohnungslose in Hannover“<br />

werden Menschen versorgt, die durch<br />

trie auf Brustkrebs-Patientinnenorganisationen<br />

hin.<br />

Offensichtlich bestehe erheblicher Handlungsbedarf,<br />

so das einhellige Urteil der Workshop-<br />

Besucher/innen. Um Interessenkonflikte zu<br />

vermeiden, seien Selbstverpflichtungserklärungen<br />

zwar (aller-)erste Schritte in die richtige<br />

Richtung, es bedürfe jedoch weitergehender<br />

Kriterien <strong>und</strong> Regelungen, wie Ursula<br />

Helms von der NAKOS betonte. Ihre Organisation<br />

werde gemeinsam mit der BARMER GEK<br />

ein Projekt starten <strong>und</strong> versuchen, solche Regelungen<br />

zu entwickeln. Die Selbsthilfe könne<br />

von der Initiative unbestechlicher Ärzt/innen –<br />

„Mein Essen zahl ich selbst (MEZIS)“ sehr lernen.<br />

Christoph Kranich von der Verbraucherzentrale<br />

Hamburg erinnerte in diesem Zusammenhang<br />

an eine alte Forderung von Selbsthilfe- <strong>und</strong><br />

Patientenorganisationen: Die pharmazeutische<br />

Industrie <strong>und</strong> die Medizinproduktehersteller<br />

sollen ihre Fördermittel in einen gemeinsamen<br />

Förderpool einzahlen, nur so könne<br />

das Problem wirksam angegangen werden.<br />

Diese Forderung stieß bei den Workshop-Teilnehmer/innen<br />

auf große Zustimmung.<br />

Rüdiger Meierjürgen, BARMER GEK<br />

individuelle oder gesellschaftliche Zugangsbarrieren<br />

die medizinischen Leistungen des<br />

Regelversorgungssystems nicht in Anspruch<br />

nehmen. Die Evaluation des Projektes zeigt,<br />

dass der Versorgungsbedarf steigt <strong>und</strong> neben<br />

den Wohnungslosen auch vermehrt Patient/<br />

innen aus anderen Bevölkerungsgruppen, zum<br />

Beispiel aus finanziell <strong>und</strong> sozial benachteiligten<br />

Gruppen, die Angebote des Projekts in Anspruch<br />

nehmen. Diese sogenannte „<strong>Armut</strong>sbevölkerung“<br />

kann den Zuzahlungen im Rahmen<br />

der medizinischen Regelversorgung offensichtlich<br />

nicht nachkommen <strong>und</strong> sucht als Alternative<br />

die Wohnungslosenversorgung auf.<br />

Werena Rosenke von der B<strong>und</strong>esarbeitsgemeinschaft<br />

Wohnungslosenhilfe e.V. (Bielefeld)<br />

referierte über die „Auswirkungen zunehmender<br />

Kostenbeteiligung <strong>und</strong> Eigenverantwortung<br />

auf die Ges<strong>und</strong>heitsversorgung wohnungsloser<br />

<strong>und</strong> armer Patient/innen“. Um die<br />

medizinische Versorgung wohnungsloser Männer<br />

<strong>und</strong> Frauen aufrecht zu erhalten, bemühen<br />

sich die medizinischen Projekte der Wohnungslosenhilfe<br />

seit Anfang 2004, die finanziellen<br />

Belastungen der Patient/innen (Praxisgebühr,<br />

Zuzahlungen, Kauf von OTC-Präparaten<br />

etc.) möglichst gering zu halten. Die stei-<br />

25


26<br />

Patienteninteressen<br />

gende Zahl armer Mitbürger/innen führt auch<br />

vermehrt Menschen ohne Erfahrung der Wohnungslosigkeit<br />

in diese Projekte – ausschließlich<br />

aufgr<strong>und</strong> ihrer wirtschaftlichen Bedürftigkeit.<br />

ALG II-Empfänger/innen <strong>und</strong> Empfänger/<br />

innen von Gr<strong>und</strong>sicherung sind ebenso betroffen<br />

wie auch ältere Menschen mit kleineren<br />

Renten <strong>und</strong> aufzahlender Gr<strong>und</strong>sicherung. Rosenke<br />

betonte, dass mit dem GKV-Finanzierungsgesetz<br />

(GKV-FinG) die Entsolidarisierung<br />

im Ges<strong>und</strong>heitswesen vorangetrieben werde.<br />

Aufgr<strong>und</strong> einer Vielzahl privat zu finanzierender<br />

Zusatzleistungen, Eigenbeteiligungen <strong>und</strong><br />

Zusatzbeiträge werde eine Partizipation am<br />

bestehenden Ges<strong>und</strong>heitsversorgungssystem<br />

massiv erschwert, teilweise unmöglich gemacht.<br />

In Kürze erhältlIch<br />

Die Dokumentation des<br />

17 . <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

ist ab Sommer 2012 <strong>für</strong> 5 Euro zzgl. Versand<br />

erhältlich <strong>und</strong> kann bereits jetzt vorbestellt<br />

werden.<br />

Bestelladresse:<br />

Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />

Friedrichstraße 231<br />

10969 Berlin<br />

Tel.: (030) 44 31 90 60<br />

Fax: (030) 44 31 90 63<br />

E-Mail: sekretariat@ges<strong>und</strong>heitbb.de<br />

Inge Döring vom Ges<strong>und</strong>heitsamt Kreis Heinsberg<br />

<strong>und</strong> Dr. Udo Puteanus vom Landesinstitut<br />

<strong>für</strong> Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Arbeit Nordrhein-Westfalen<br />

(LIGA.NRW, Düsseldorf) stellten eine Studie<br />

zum Thema „Medikamententafeln – eine<br />

sinnvolle <strong>und</strong> notwendige ergänzende Versorgungsinitiative!?“<br />

dar. Im Fokus des Referats<br />

standen die nicht rezeptpflichtigen Arzneimittel,<br />

die bis auf wenige Ausnahmen von den gesetzlich<br />

Versicherten selbst bezahlt werden<br />

müssen. Döring machte deutlich, dass sozial<br />

benachteiligte Menschen sich Arzneimittel im<br />

Rahmen der Selbstmedikation häufig nicht<br />

leisten könnten, auf Unterstützung angewiesen<br />

sind oder auf die Selbstmedikation verzichten.<br />

Inzwischen haben sich in Deutschland<br />

einige Medikamenten-Tafeln etabliert, die den<br />

Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />

bedürftigen Menschen Arzneimittel zu einem<br />

ermäßigten Preis anbieten. Als Sponsoren treten<br />

unterschiedliche Personen oder Institutionen<br />

auf. Es wurden verschiedene Arzneimittelgruppen,<br />

Möglichkeiten des vergünstigten Erwerbs<br />

<strong>und</strong> eine entsprechende Bedarfsanalyse<br />

<strong>für</strong> sozial benachteiligte Menschen dar gestellt.<br />

Ob Medikamenten-Tafeln eine sinnvolle Möglichkeit<br />

darstellen, diesen Versorgungsmangel<br />

zu schließen, wurde kritisch diskutiert.<br />

Unser derzeitiges Ges<strong>und</strong>heitsversorgungssystem<br />

ist sozial ungerecht. Zahlreiche Bevölkerungsgruppen<br />

können die bestehenden medizinischen<br />

Angebote nicht in Anspruch nehmen,<br />

da ihnen die finanziellen Ressourcen<br />

fehlen.<br />

Alle Referent/innen forderten dementsprechend<br />

auch eine Entlastung von <strong>Armut</strong> betroffener<br />

Menschen durch eine Streichung der Praxisgebühr,<br />

Befreiung von Zuzahlungen bei Medikamenten,<br />

Heil- <strong>und</strong> Hilfsmittel <strong>und</strong> keinerlei<br />

neue Zuzahlungsmodelle <strong>und</strong> Erhebung von<br />

Sonderbeiträgen. Zudem muss das medizinische<br />

Versorgungskonzept in Deutschland so<br />

gestaltet sein, dass eine Partizipation durch<br />

jeden Bürger <strong>und</strong> jede Bürgerin möglich ist.<br />

Subversorgungseinrichtungen müssen sich<br />

immer wieder kritisch reflektierend im Sinne<br />

einer zusätzlichen Ausgrenzungsproblematik<br />

in Frage stellen. Auch wenn dies zum Überleben<br />

vieler Menschen in Deutschland derzeit<br />

sinnvoll <strong>und</strong> notwendig ist, muss eine systemimmanente<br />

Regelversorgung angestrebt werden<br />

<strong>und</strong> letztendlich möglich sein.<br />

Gerhard Trabert, <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit in<br />

Deutschland e. V<br />

Wir laden Sie herzlich ein, sich an der kommende Ausgabe des<br />

Info_Dienst zu beteiligen. Bitte senden Sie Ihre Beiträge <strong>und</strong><br />

Anregungen bis zum 22 . Juni an redaktion@ges<strong>und</strong>heitbb.de.


Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12 Termine<br />

Termine<br />

Weitere Termine auch unter www .ges<strong>und</strong>heitbb .de<br />

<strong>und</strong><br />

www .ges<strong>und</strong>heitliche-chancengleichheit .de<br />

Kontakt <strong>für</strong> Veranstaltungen (falls nicht anders angegeben): Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg,<br />

Friedrichstraße 231, 10969 Berlin, Tel.: (030) 44 31 90 60; post@ges<strong>und</strong>heitbb.de<br />

Arbeitskreise von<br />

Ges<strong>und</strong>heit<br />

Berlin-Brandenburg<br />

Arbeitskreistreffen<br />

Arbeitskreis Betriebliche<br />

<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />

Di., 15. Mai 2012 von 15.00 bis 17.00 Uhr<br />

Veranstalter: Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />

Ort: Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg,<br />

Friedrichstr. 231, 10969 Berlin<br />

www.ges<strong>und</strong>heitbb.de<br />

Arbeitskreistreffen<br />

Arbeitskreis Migration <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

Mi., 23. Mai 2012 von 17.00 bis 19.30 Uhr<br />

Veranstalter: Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />

Ort: Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg,<br />

Friedrichstr. 231, 10969 Berlin<br />

www.ges<strong>und</strong>heitbb.de<br />

Arbeitskreistreffen<br />

Arbeitskreis Altern <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

Mo., 18. Juni 2012 von 15.00 bis 17.00 Uhr<br />

Veranstalter: Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />

Ort: Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg,<br />

Friedrichstr. 231, 10969 Berlin<br />

www.ges<strong>und</strong>heitbb.de<br />

Tagungen, organisiert<br />

oder mitorganisiert<br />

von Ges<strong>und</strong>heit<br />

Berlin-Brandenburg<br />

Fachtagung<br />

Generationen Hand in Hand<br />

Mo., 11. Juni 2012<br />

Veranstalter: Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />

in Kooperation mit dem Ministerium <strong>für</strong> Arbeit,<br />

Soziales, Frauen <strong>und</strong> Familie des Landes<br />

Brandenburg<br />

Ort: Kutschstallensemble (Lé Manege), Am<br />

Neuen Markt 9 a-b, 14467 Potsdam<br />

www.ges<strong>und</strong>heitbb.de<br />

Veranstaltungen in<br />

Berlin-Brandenburg<br />

Seminar<br />

Wie kann sie nur jeden Tag<br />

Schokocroissants . . .?<br />

Sa., 2. Juni <strong>und</strong> So., 3. Juni 2012<br />

Veranstalter: Verband der<br />

Oecotrophologen e.V.<br />

Ort: Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg,<br />

Friedrichstr. 231, 10969 Berlin<br />

www.vdoe.de/seminar_details2012.html?&no_<br />

cache<br />

Tagung<br />

Miteinander – Füreinander<br />

Mo., 4. Juni 2012 von 10.00 bis 16.30 Uhr<br />

Veranstalter: Deutsche Alzheimer Gesellschaft<br />

e. V. Selbsthilfe Demenz<br />

Ort: Hotel Aquino, Hannoversche Str. 5b,<br />

10115 Berlin<br />

www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Service/<br />

veranstaltungen,did=184362.html<br />

Fachtag<br />

Altenarbeit im Gemeinwesen . Demografisch<br />

geboten – politisch notwendig – verlässlich<br />

finanziert<br />

Di., 5. Juni 2012<br />

Veranstalter: Diakonie B<strong>und</strong>esverband<br />

Ort: Haus des Militärbischofs,<br />

Jebenstraße 3, 10623 Berlin<br />

www.diakonie.de/veranstaltungen-6748altenarbeit-im-gemeinwesen-9023.htm<br />

Veranstaltungen im<br />

B<strong>und</strong>esgebiet<br />

Ges<strong>und</strong>heitswoche<br />

19 . Sächsische Ges<strong>und</strong>heitswoche zum<br />

Europäischen Jahr <strong>für</strong> Aktives Altern <strong>und</strong><br />

Solidarität der Generationen<br />

Mo., 21. Mai 2012<br />

Veranstalter: Sächsische Landesvereinigung<br />

<strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> e. V. / Chemnitz<br />

Stadt der Moderne<br />

Ort: Chemnitz<br />

www.slfg.de<br />

Jahrestagung<br />

Lebensphase Alter gestalten – Ges<strong>und</strong> <strong>und</strong><br />

aktiv älter werden<br />

Di., 22. Mai <strong>und</strong> Mi., 23. Mai 2012<br />

Veranstalter: Kooperation <strong>für</strong> nachhaltige<br />

Präventionsforschung (KNP)<br />

Ort: Bonn<br />

www.knp-forschung.de<br />

Europäische Konferenz<br />

Gewalt gegen ältere pflegebedürftige<br />

Menschen erkennen <strong>und</strong> handeln: Chancen<br />

<strong>und</strong> Barrieren in der Praxis<br />

Mi., 31. Mai 2012<br />

Veranstalter: Hochschule Fulda /<br />

Präventionsrat der Stadt Fulda<br />

Ort: Fulda<br />

www.fh-fulda.de/index.php?id=10449#c37198<br />

Tagung<br />

Aktives ges<strong>und</strong>heitsförderliches Handeln –<br />

Überall <strong>und</strong> nirgends? Ständig <strong>und</strong> nie?<br />

Di., 26. Juni 2012<br />

Veranstalter: Landesvereinigung <strong>für</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Akademie <strong>für</strong> Sozialmedizin<br />

Niedersachsen e.V.<br />

Ort: Hannover<br />

www.ges<strong>und</strong>heit-nds.de/CMS/index.php/<br />

veranstaltungen/205-25-jahre-ottawa-charta<br />

<strong>Kongress</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heitliche Ungleichheit über den<br />

Lebenslauf<br />

Do., 30. August bis Sa., 1. September 2012<br />

Veranstalter: Deutsche Gesellschaft <strong>für</strong><br />

Medizinische Soziologie / European Society of<br />

Health and Medical Sociology<br />

Ort: Hannover<br />

www.eshms-dgms-2012.de<br />

<strong>Kongress</strong><br />

DGSMP Jahrestagung 2012<br />

„Wie viel Ökonomisierung verträgt ein<br />

solidarisches Ges<strong>und</strong>heitssystem?“<br />

Mi., 12. September bis Fr., 14. September 2012<br />

Veranstalter: Deutsche Gesellschaft <strong>für</strong><br />

Sozialmedizin <strong>und</strong> Prävention<br />

Ort: Essen<br />

www.dgsmp.de/index.php/jahrestagung/<br />

essen-2012<br />

27


28<br />

Publikationen<br />

Patienten auf der Suche<br />

Die Ges<strong>und</strong>heitswissenschaftlerin Anja Bargfrede<br />

untersucht in einer qualitativen Studie,<br />

wie sich Patienten innerhalb der Versorgungsstrukturen<br />

bewegen <strong>und</strong> wie sie die Suche<br />

nach adäquater medizinischer Hilfeleistung erleben.<br />

Am Beispiel von Patienten mit umweltbezogenen<br />

Ges<strong>und</strong>heitsstörungen kann der<br />

Leser nachvollziehen, was passiert, wenn keine<br />

standardisierten Versorgungsbahnen vorgegeben<br />

sind <strong>und</strong> sich Patienten mit ihren Beschwerden<br />

allein gelassen fühlen: Eine ineffiziente<br />

Versorgung verursacht einen immensen<br />

individuellen Leidensdruck <strong>und</strong> steigert das<br />

Risiko einer Chronifizierung von Erkrankungen.<br />

Damit wiederum gehen gesellschaftliche Kosten<br />

einher, die sich durch eine erhöhte Inanspruchnahme<br />

von Versorgungsleistungen aber<br />

auch durch vermehrten Arbeitsausfall bedingen.<br />

Die Autorin entwickelt ein Modell, das<br />

Kriterien wie Transparenz, dialogische Qualität<br />

<strong>und</strong> Eindeutigkeit in der Begegnung mit Patienten<br />

als entscheidend <strong>für</strong> eine gelungene Orientierung<br />

im Versorgungssystem identifiziert.<br />

Eine Klassifikation von möglichen Bewältigungs-<br />

<strong>und</strong> Reaktionsmustern seitens der Patienten<br />

kann darüber hinaus da<strong>für</strong> genutzt werden,<br />

um bedarfsbezogen psycho-soziale Unterstützung<br />

im Umgang mit den erlebten ges<strong>und</strong>heitlichen<br />

Beschwerden zu leisten. Bargfrede<br />

schlussfolgert einen klaren Bedarf an einer<br />

Anlaufstelle <strong>für</strong> Patienten mit selteneren<br />

Störungsbildern, um die Ausbildung von Versorgungskarrieren<br />

zu vermeiden. Interviews<br />

mit betroffenen Patienten, Experten seitens<br />

der Versorgungseinrichtungen sowie Versicherungsträgern<br />

münden in konkrete Vorschläge,<br />

wie eine solche Anlaufstelle institutionalisiert<br />

werden kann. Der Autorin gelingt mit ihrem<br />

Buch ein Brückenschlag zwischen Theorienbildung<br />

<strong>und</strong> praktischen Ansätzen, der von der<br />

Versorgungslandschaft unbedingt zur Kenntnis<br />

genommen werden sollte.<br />

Anja Bargfrede (2011). Patienten auf der Suche.<br />

Orientierungsarbeit im Ges<strong>und</strong>heitswesen.<br />

Wiesbaden: VS Verlag.<br />

Katrin Rothländer,<br />

rothlaender@psychologie.tu-dresden.de<br />

Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />

Impressum<br />

Herausgeber <strong>und</strong> Verleger:<br />

Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg,<br />

Arbeitsgemeinschaft<br />

<strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />

Friedrichstraße 231,<br />

10969 Berlin,<br />

Tel. 030-44 31 90-60,<br />

Fax 030-44 31 90-63<br />

E-Mail: post@ges<strong>und</strong>heitberlin.de,<br />

www.ges<strong>und</strong>heitberlin.de<br />

Redaktion:<br />

Redaktion: Stefan Pospiech (V.i.S.d.P.),<br />

Merle Wiegand<br />

Weitere Autor/innen:<br />

Marion Amler, Havva Arik, Ullrich Bauer,<br />

Michael Bellwinkel, Pia Block, Stefan Bräunling,<br />

Patrick Brzoska, Marie-Luise Dierks, Jochen Drewes,<br />

Andreas Eickhorst, Kazim Erdogan, Gesine Grande,<br />

Janka Große, Carmen Kluge, Anna Küster,<br />

Katrin Linthorst, Niels Löchel, Katja Maurer,<br />

Rüdiger Meierjürgen, Verena Mörath,<br />

Monika Nellen, Stefanie Peykarjou, Marianne P<strong>und</strong>t,<br />

Oliver Razum, Gerwin-Lutz Reinink; Tina Salomon,<br />

Carola Schmidt, Annett Schmok, Elena Sterdt,<br />

Roswitha Stöcker, Gerhard Trabert, Michael Urban,<br />

Carolin Vierneisel, Ulla Walter, Stefan Weigand,<br />

Barbara Weigl, Rolf Werning, Reinhart Wolff,<br />

Yüce Yilmaz-Aslan, Marco Ziesemer<br />

Redaktionsschluss: Ausgabe 2_2012 22. Juni 2012<br />

Auflage: 4.500<br />

Satz <strong>und</strong> Layout:<br />

Connye Wolff, www.connye.com<br />

Druck:<br />

Allprintmedia GmbH<br />

Blomberger Weg 6a, 13437 Berlin,<br />

www.allpint-media.de<br />

Copyright:<br />

Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg, Mai 2012<br />

E-Mail an: redaktion@ges<strong>und</strong>heitberlin.de<br />

ISSN 1614-5305<br />

Bildnachweise:<br />

Seite 3, 4 <strong>und</strong> 10: André Wagenzik;<br />

Seite 9: medico international;<br />

Seite 12: www.pixelio.de: adel<br />

Seite 14: Ernst Fesseler; Seite 15: www.pixelio.de:<br />

Jerzy Sawluk; Seite 16: www.fotolia.com:<br />

Hans-Dieter Holtz; Seite 17: Michael Bellwinkel;<br />

Seite 21: www.fotolia.com: Monkey Business;<br />

Seite 26: www.pixelio.de: CFALK

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