für Gesundheitsförderung - Kongress Armut und Gesundheit
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In diesem Info_Dienst<br />
Rückblick 3<br />
Qualität <strong>und</strong> Wirksamkeit 5<br />
Ges<strong>und</strong>heitspolitik 8<br />
Kinderges<strong>und</strong>heit 10<br />
Altern <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit 15<br />
Migration <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit 18<br />
Arbeitslosigkeit 22<br />
Patienteninteressen 23<br />
Termine/Veranstaltungen 27<br />
Publikationen 28<br />
Impressum 28<br />
Editorial<br />
Sehr geehrte Damen <strong>und</strong> Herren,<br />
liebe Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen,<br />
<strong>für</strong> uns alle unfassbar ist der viel zu frühe<br />
Tod unserer langjährigen Geschäftsführerin,<br />
Kollegin <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>in Carola Gold. Fast seit<br />
den Anfängen von Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />
bis zu ihrem letzten Lebensabschnitt<br />
hat sie sich mit Leidenschaft <strong>für</strong> die<br />
Belange ges<strong>und</strong>heitlicher Chancengleichheit<br />
in Berlin, Brandenburg <strong>und</strong> b<strong>und</strong>esweit<br />
eingesetzt. Mit ihrer einzigartigen Persönlichkeit,<br />
ihrem Mut <strong>und</strong> ihrer Kraft hat sie es<br />
<strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />
Zeitschrift von Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />
12. Jahrgang • 1. Ausgabe 2012<br />
Schwerpunkt zum 17. <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit 2012<br />
immer geschafft, Themen in der soziallagenbezogenen<br />
<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> zu setzen,<br />
Menschen zu bewegen <strong>und</strong> zu berühren.<br />
Ihr Lachen, das man auch aus einer großen<br />
Menschenmenge immer heraushören<br />
konnte, bleibt vielen unvergessen.<br />
Seit sie 2006 die Geschäftsführung von Ges<strong>und</strong>heit<br />
Berlin-Brandenburg übernahm,<br />
war Carola Gold der Motor, der die Arbeitsgemeinschaft<br />
<strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />
sehr erfolgreich weiterentwickelt hat. Der<br />
Aufbau der Fachstelle <strong>für</strong> Prävention <strong>und</strong><br />
<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> im Land Berlin, die<br />
Erweiterung der Arbeitsgemeinschaft auf<br />
das Land Brandenburg <strong>und</strong> die Geschäftsstellen-Funktion<br />
<strong>für</strong> den b<strong>und</strong>esweiten Kooperationsverb<strong>und</strong><br />
„<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />
bei sozial Benachteiligten“ sind nur einige<br />
Beispiele <strong>für</strong> die vielen Initiativen, Projekte<br />
<strong>und</strong> nachhaltig wirkenden Maßnahmen, die<br />
sie oft initiiert <strong>und</strong> immer entscheidend vorangetrieben<br />
hat. Ihr ist es gelungen, Ges<strong>und</strong>heit<br />
Berlin-Brandenburg regional <strong>und</strong><br />
b<strong>und</strong>esweit fest zu verankern – unbeirrt gegen<br />
manche Widerstände <strong>und</strong> mit großer<br />
Weitsicht. Mit ihrer überzeugenden Art hat<br />
sie viele Diskussionen geprägt <strong>und</strong> neue<br />
Perspektiven aufgezeigt. Für uns Mitarbeite-<br />
1<br />
rinnen <strong>und</strong> Mitarbeiter war sie Vorbild <strong>und</strong><br />
Mentorin, Richtung weisend <strong>und</strong> auch immer<br />
an uns als Menschen interessiert.<br />
„Leute, wir hatten eine tolle Zeit zusammen“,<br />
war einer ihrer letzten Sätze, als einige<br />
Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen Gelegenheit<br />
hatten, sich kurz vor ihrem Tod von ihr zu<br />
verabschieden.<br />
Ihr letztes halbes Jahr nach der Krebsdiagnose<br />
ist sie so angegangen, wie wir <strong>und</strong> viele<br />
Andere sie kannten: mit voller Wucht, klar<br />
<strong>und</strong> würdevoll. Kein Klagen, keine Verzagtheit<br />
– sie hat das Leben <strong>und</strong> auch ihren nahenden<br />
Tod wirklich angenommen. Die vielen<br />
Besuche, Blumen, Briefe, Karten <strong>und</strong> Anrufe,<br />
der große Zuspruch <strong>und</strong> die Anerkennung,<br />
die sie in den letzten Monaten noch<br />
einmal intensiv erfahren durfte, haben sie<br />
sehr glücklich gemacht. Carola Gold ist am<br />
27. April friedlich <strong>und</strong> im Beisein von Familie<br />
<strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>en <strong>für</strong> immer eingeschlafen.<br />
Sie wird uns allen sehr, sehr fehlen. Wir haben<br />
ihr unendlich viel zu verdanken. Sie<br />
bleibt in unseren Herzen.<br />
Andrea Möllmann, stellvertretend <strong>für</strong> die<br />
Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen bei Ges<strong>und</strong>heit<br />
Berlin-Brandenburg<br />
12
2<br />
Ges<strong>und</strong>heit<br />
Berlin-Brandenburg –<br />
ges<strong>und</strong>heitliche<br />
Chancengleichheit<br />
weiter voranbringen<br />
Carola Gold hat Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />
vertreten <strong>und</strong> verkörpert. Viele Projekte<br />
<strong>und</strong> Initiativen <strong>für</strong> mehr ges<strong>und</strong>heitliche Chancengleichheit<br />
hat sie in den vergangenen Jahren<br />
sowohl regional <strong>und</strong> als auch b<strong>und</strong>esweit<br />
vorangebracht <strong>und</strong> maßgeblich geprägt. Carola<br />
Gold hinterlässt eine schmerzhafte Lücke<br />
<strong>und</strong> wir stehen nun vor der großen Herausforderung,<br />
ihren Weg fortzusetzen.<br />
Über die vergangenen Jahre ist der Verein Ges<strong>und</strong>heit<br />
Berlin-Brandenburg kontinuierlich<br />
gewachsen. Viele neue Projekte <strong>und</strong> Initiativen<br />
sind hinzugekommen <strong>und</strong> schon vor einiger<br />
Zeit hat sich heraus gestellt, dass die Aufgaben<br />
der Geschäftsführung nicht allein von einer<br />
Person getragen werden können. Auf Wunsch<br />
von Carola Gold hat der Vorstand von Ges<strong>und</strong>heit<br />
Berlin-Brandenburg deshalb bereits im<br />
Januar 2012 beschlossen, dass der Verein künftig<br />
durch zwei Geschäftsführer vertreten werden<br />
soll. Stefan Pospiech übernahm daraufhin<br />
die Geschäftsführung <strong>für</strong> alle Berliner Aktivitäten,<br />
Carola Gold blieb <strong>für</strong> die brandenburger<br />
<strong>und</strong> b<strong>und</strong>esweiten Projekte zuständig.<br />
Seit dem Beginn der Krankheit von Carola Gold<br />
hat Stefan Pospiech die vollständige Geschäftsführung<br />
in enger Absprache mit Carola<br />
Gold übernommen. Er wird diese Aufgabe auch<br />
in Zukunft weiter führen.<br />
Der Vorstand <strong>und</strong> alle Mitarbeiterinnen <strong>und</strong><br />
Mitarbeiter von Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />
freuen sich, dass Stefan Pospiech seine<br />
fachliche Kompetenz <strong>und</strong> langjährige Erfahrung<br />
im Verein in die Geschäftsführung einbringt.<br />
Stefan Pospiech ist seit 2004 Mitarbeiter der<br />
Geschäftsstelle von Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />
<strong>und</strong> hat in dieser Zeit verschiedene<br />
Projekte bearbeitet, betreut <strong>und</strong> verantwortet.<br />
Derzeit leitet er u.a. die Fachstelle <strong>für</strong> Prävention<br />
<strong>und</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> im Land Berlin<br />
sowie das Zentrum <strong>für</strong> Bewegungsförderung<br />
Berlin.<br />
Bündnis Ges<strong>und</strong><br />
Älter werden im Land<br />
Brandenburg<br />
gegründet<br />
Das Bündnis Ges<strong>und</strong> Älter werden im Land<br />
Brandenburg wurde am 16. März 2012 als Ges<strong>und</strong>heitszieleprozess<br />
in Potsdam eröffnet.<br />
Ges<strong>und</strong>heitsministerin Anita Tack, Vorsitzende<br />
des Bündnisses, rief dazu auf, die vorherrschenden<br />
Altersbilder in der Gesellschaft zu<br />
hinterfragen <strong>und</strong> empfahl ein ressourcenorientiertes<br />
Verständnis im zukünftigen Bündnis. Es<br />
gilt, Ressourcen zu bündeln, Bewährtes zu<br />
identifizieren <strong>und</strong> unter dem Dach des Bündnisses<br />
gemeinsam am Thema zu arbeiten.<br />
Im Vorfeld der Gründung erarbeiteten Bündnispartner<br />
<strong>und</strong> das Landesges<strong>und</strong>heitsministerium<br />
eine gemeinsame Erklärung. 23 Bündnispartner<br />
stellten sich in der Auftaktveranstaltung<br />
hinter die gemeinsame Erklärung <strong>und</strong> bekräftigten<br />
ihren Willen zur aktiven Mitarbeit.<br />
Die Grußworte <strong>und</strong> Fachbeiträge der Auftaktveranstaltung<br />
sowie weitere Materialien stehen<br />
jetzt auf der Webseite des Ministeriums<br />
<strong>für</strong> Umwelt, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Verbraucher-<br />
schutz des Landes Brandenburg www.mugv.<br />
brandenburg.de zur Verfügung.<br />
Ressortübergreifend folgt das Bündnis den seniorenpolitischen<br />
Leitlinien der Landesregierung<br />
<strong>für</strong> ein aktives Altern <strong>und</strong> ist selbst Teil<br />
des seniorenpolitischen Maßnahmenpakets im<br />
Land Brandenburg. Auf Initiative <strong>und</strong> unter Moderation<br />
des <strong>für</strong> Ges<strong>und</strong>heit zuständigen Mitglieds<br />
der Landesregierung kommen wesentliche<br />
Akteure des Handlungsfeldes Ges<strong>und</strong>heit,<br />
Soziales <strong>und</strong> Alter zusammen, um sich <strong>für</strong> ein<br />
ges<strong>und</strong>es Älterwerden im Land stark zu machen.<br />
Unterstützt wird der Ges<strong>und</strong>heitszieleprozess<br />
durch die Fachstelle Ges<strong>und</strong>heitsziele<br />
im Land Brandenburg, welche sich in Trägerschaft<br />
von Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg befindet.<br />
Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />
In diesem Info_Dienst<br />
Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3<br />
17. <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit . . . . . . . 3<br />
Interview mit Prof. Dr. Rolf Rosenbrock . . . . . 4<br />
Partizipation <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit . . . . . . . . . . . . . 5<br />
Qualität <strong>und</strong> Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 5<br />
Wege in die Regelversorgung . . . . . . . . . . . . . 5<br />
Verstetigung von Ges<strong>und</strong>heitsinterventionen<br />
im Stadtteil . . . . . . . . . . . . . . . 6<br />
Doppelter Standard <strong>für</strong> Prävention <strong>und</strong><br />
<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong>? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />
Ges<strong>und</strong>heitspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .8<br />
Das Ende der Projektitis! . . . . . . . . . . . . . . . . . 8<br />
Weltges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Aufstand . . . . . . . . . . . . 9<br />
Kinderges<strong>und</strong>heit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10<br />
Ges<strong>und</strong> aufwachsen <strong>für</strong> alle! . . . . . . . . . . . . . 10<br />
Familiäre <strong>Armut</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12<br />
Interview mit Prof. Dr. Reinhart Wolff . . . . . 13<br />
Väter in den Frühen Hilfen . . . . . . . . . . . . . . . 14<br />
Altern <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15<br />
Alt, arm, abgehängt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15<br />
Nachbarschaftliche Hilfe – ein Weg zu<br />
Lebensqualität im Alter? . . . . . . . . . . . . . . . . 16<br />
Interview mit Michael Bellwinkel . . . . . . . . . 17<br />
Migration <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit . . . . . . . . . . . . . . . 18<br />
Prävention bei Menschen mit<br />
Migrationshintergr<strong>und</strong> . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18<br />
<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> durch interkulturelle<br />
Frauen- <strong>und</strong> Männergruppen . . . . . . . . . . . . 19<br />
Interkulturelle Kompetenz <strong>und</strong> Öffnung im<br />
Ges<strong>und</strong>heitswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20<br />
Ges<strong>und</strong>heitsbildung <strong>und</strong> -förderung<br />
bei Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21<br />
Arbeitslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .22<br />
Gemeinsam handeln:<br />
Empfehlungen <strong>für</strong> die Praxis . . . . . . . . . . . . . 22<br />
Patienteninteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .23<br />
Stigmatisierung als Barriere <strong>für</strong><br />
erfolgreiche HIV-Prävention . . . . . . . . . . . . . 23<br />
Neutralität <strong>und</strong> Unabhängigheit? . . . . . . . . . 24<br />
Benachteiligung im Ges<strong>und</strong>heitssystem . . . 25<br />
Termine /Veranstaltungen . . . . . . . . . . . . . . 27<br />
Publikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .28<br />
Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .28
Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12 Rückblick<br />
Rückblick<br />
17 . <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit 2012 / Interview<br />
mit Prof . Dr . Rolf Rosenbrock/ Forschungsgruppe<br />
Public Health feiert Abschied<br />
Austausch, Strategien <strong>und</strong> innovative Projekte<br />
Der 17 . <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit 2012 in Berlin<br />
Besucher/innen informieren sich auf dem Markt der Möglichkeiten<br />
Die junge Frau, die sich an einem Infostand auf<br />
dem Markt der Möglichkeiten über ein neues<br />
Projekt informiert, eine Gruppe Referent/innen,<br />
die im Anschluss an ihren Workshop noch<br />
anregend ins Gespräch vertieft ist oder der<br />
Moderator, der sich – in seine Unterlagen versunken<br />
– auf die folgende Podiumsdiskussion<br />
vorbereitet: Dies sind nur einige von zahlreichen<br />
Eindrücken vom 17. <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong><br />
Ges<strong>und</strong>heit, der am 9. <strong>und</strong> 10. März 2012 in der<br />
Technischen Universität Berlin (TU) unter dem<br />
Motto „Prävention wirkt!“ stattgef<strong>und</strong>en hat.<br />
Mehr als 2 .200 Teilnehmende vor Ort<br />
Organisiert von Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />
<strong>und</strong> dem Zentrum Technik <strong>und</strong> Gesellschaft<br />
(ZTG) an der TU Berlin hat der 17. <strong>Kongress</strong><br />
<strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit auch dank des<br />
Engagements zahlreicher weiterer Partner <strong>und</strong><br />
Förderer wie der B<strong>und</strong>eszentrale <strong>für</strong> ges<strong>und</strong>heitliche<br />
Aufklärung (BZgA) in diesem Jahr<br />
mehr als 2.200 Teilnehmende nach Berlin ge-<br />
lockt. Neben altbekannten Gesichtern haben<br />
sich zum 17. <strong>Kongress</strong> auch viele Interessierte<br />
in der TU zusammengef<strong>und</strong>en, die zum ersten<br />
Mal dabei waren.<br />
Auch wenn Vieles vertraut schien, war doch in<br />
diesem Jahr Einiges anders: Ein neuer Termin,<br />
ein anderer Ort – aber auch Veränderungen im<br />
Programm. Neben der neuen Gestaltung des<br />
Programmheftes fanden sich auch neue Veranstaltungsformate<br />
<strong>und</strong> -themen auf dem diesjährigen<br />
<strong>Kongress</strong> wieder.<br />
„Im Gespräch . . .“ bleiben<br />
An welchem Ort <strong>und</strong> zu welcher Jahreszeit auch<br />
immer diskutiert wird, das Thema „<strong>Armut</strong> <strong>und</strong><br />
Ges<strong>und</strong>heit“ bleibt brandaktuell. In der Eröffnung<br />
zeigte Prof. Dr. Margaret Whitehead von<br />
der Universität Liverpool aus internationaler<br />
Perspektive auf, dass Prävention, die rein auf<br />
Aufklärung <strong>und</strong> Bildung fokussiert ist, Gefahr<br />
läuft, sozial Benachteiligte nicht zu erreichen.<br />
Umgekehrt seien jedoch auch Strate gien, die<br />
sich rein auf benachteiligte Gruppen fokussieren,<br />
nicht effektiv. Whitehead forderte daher<br />
universal angelegte Strategien, die gleichzeitig<br />
auch einen großen Einfluss auf ärmere Menschen<br />
haben. Innerhalb dieser umfassenden<br />
Strategien würde auch die Effizienz der jeweiligen<br />
Einzelmaßnahme steigen.<br />
In den darauf folgenden Symposien <strong>und</strong> Workshops<br />
wurden Strategien diskutiert, die eine<br />
wirksame Prävention <strong>für</strong> mehr ges<strong>und</strong>heitliche<br />
Chancengerechtigkeit ermöglichen: So wurde<br />
beispielsweise das Projekt Eltern-AG vorgestellt,<br />
das mit seinem niedrigschwelligen Ansatz<br />
sehr erfolgreich Eltern in schwierigen Lebenslagen<br />
erreicht, <strong>und</strong> in einem anderen Forum<br />
die Delmenhorster Präventionsbausteine,<br />
die vernetzte Frühe Hilfen in Schwangerschaft<br />
<strong>und</strong> den ersten Lebensjahren ermöglichen. Insbesondere<br />
die Panels „Im Gespräch…“ boten<br />
dem Publikum die Möglichkeit, in engem Kontakt<br />
mit renommierten Expert/innen wie etwa<br />
Prof. Dr. Ilona Kickbusch zentrale Fragen zu<br />
Partizipation, Kinderarmut <strong>und</strong> globaler Steuerung<br />
der Ges<strong>und</strong>heit vertieft zu diskutieren.<br />
Patentrezepte aus der Schublade sind<br />
keine Lösung<br />
In den Workshops wurde deutlich, dass scheinbare<br />
Patentrezepte <strong>und</strong> fertige Programme aus<br />
der Schublade nicht immer ohne Weiteres in<br />
der Praxis wirksam werden können. So wurde<br />
in einem Workshop beschrieben, dass die erfolgreiche<br />
Umsetzung des Setting-Ansatzes in<br />
Kitas im Sinne einer partizipativ gestalteten<br />
Organisationsentwicklung neben ausreichend<br />
Zeit sowohl der Unterstützung des Trägers <strong>und</strong><br />
der Kitaleitung bedarf als auch einer externen<br />
Begleitung, die jedoch immer an die innere Logik<br />
der Kita anknüpfen muss. Auch im kommunalen<br />
Bereich müssen beim Schnittstellen-Management<br />
die Interessen der sehr unterschiedlichen<br />
Akteure vereint werden. Komplexe Systeme<br />
<strong>und</strong> Interventionen seien in Kommunen<br />
nicht realistisch, stattdessen ginge es um den<br />
Aufbau von Netzwerken <strong>und</strong> Kooperationen.<br />
Betont wurde auch, dass es trotz einer gestiegenen<br />
kommunalen Sensibilität <strong>für</strong> das Thema<br />
immer auch ‚Treiber’ vor Ort braucht, die den<br />
Prozess voranbringen <strong>und</strong> nachhaltig tragen.<br />
Der <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit leistet jedes<br />
Jahr aufs Neue seinen Beitrag: Strategien<br />
<strong>und</strong> Ansätze der Prävention <strong>und</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />
werden gebündelt, Vertreter/innen<br />
unterschiedlicher Institutionen erhalten Anregungen<br />
<strong>für</strong> ihre Arbeit <strong>und</strong> knüpfen Kontakte,<br />
die wiederrum neue Projekte ins Leben rufen.<br />
Wir freuen uns, diese Arbeit auf dem 18. <strong>Kongress</strong><br />
<strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit im Frühjahr 2013<br />
in Berlin fortzusetzen.<br />
Marianne P<strong>und</strong>t <strong>und</strong> Stefan Weigand,<br />
Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />
3
4<br />
Rückblick<br />
„Stärker <strong>und</strong> dynamischer als das<br />
World Health Summit“<br />
Prof . Dr . Rolf Rosenbrock über den 17 . <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong><br />
Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> zukünftige Herausforderungen an die soziallagenbezogene<br />
<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />
Rolf Rosenbrock auf dem 17. <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong><br />
<strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
Info_Dienst: Der diesjährige <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong><br />
<strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit hat viel Neues mit sich<br />
gebracht: Er fand zum ersten Mal nicht im Rathaus<br />
Schöneberg, sondern in der Technischen<br />
Universität statt, wurde vom traditionellen<br />
ersten Dezemberwochenende in den März verlegt<br />
<strong>und</strong> auch neue Veranstaltungsformate<br />
(z.B. „Im Gespräch…“) sind hinzugekommen.<br />
Welche Eindrücke haben Sie vom 17. <strong>Kongress</strong><br />
<strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit mitgenommen?<br />
Rosenbrock: Auffallend war zunächst, dass der<br />
17. <strong>Kongress</strong> A+G größer war als die 16 vorangehenden.<br />
Es ist selten, dass eine Veranstaltung<br />
über einen so langen Zeitraum kontinuierlich<br />
wächst. Der <strong>Kongress</strong> ist seit langem die<br />
größte regelmäßig stattfindende Public Health-<br />
Veranstaltung in Deutschland. Das ist zunächst<br />
einmal ein großer Erfolg, der umso schwerer<br />
wiegt, als er unter den Bedingungen der Orts-<br />
<strong>und</strong> Terminveränderung stattfand. Dies zeigt,<br />
wie groß das Interesse <strong>und</strong> das Potential ist.<br />
In den neuen Räumlichkeiten der TU gibt es<br />
genügend Platz, um in der Zukunft problemlos<br />
eine größere Zahl an Teilnehmenden aufzunehmen.<br />
Eine Möglichkeit der Verbesserung<br />
besteht darin, auch an der TU einen zentralen<br />
Ort <strong>für</strong> informelle Treffen <strong>und</strong> Austausch zu<br />
schaffen, die immer ein wichtiger Bestandteil<br />
des <strong>Kongress</strong>es waren.<br />
Das Programm war orientiert am Thema „Prävention<br />
wirkt!“, dabei aber nicht zu eng<br />
gefasst, sodass nicht nur Fragen der Entwicklung<br />
<strong>und</strong> Messung von Qualität, sondern alle<br />
wesentlichen Aspekte zur Sprache kommen<br />
konnten. Und auch die neuen Veranstaltungsformate<br />
lassen sich gut weiter ausbauen.<br />
Ich fand <strong>und</strong> finde die Mischung der Teilnehmenden<br />
des <strong>Kongress</strong>es einmalig <strong>und</strong> gleichbleibend<br />
gut. Dies ist die einzige Veranstaltung,<br />
wo Lehrende, Lernende, Praktiker/innen<br />
<strong>und</strong> Entscheidungsträger/innen, Konzeptmacher/innen<br />
<strong>und</strong> Konzeptanwender/innen sich<br />
über zwei Tage hinweg im Rahmen des <strong>Kongress</strong>es<br />
immer wieder treffen. Das schafft keine<br />
andere Veranstaltung. Dies ist vor allem vor<br />
dem Hintergr<strong>und</strong> wichtig, dass die Kapazitäten<br />
im wissenschaftlichen Bereich von Public<br />
Health derzeit akut bedroht sind, <strong>und</strong> es somit<br />
nötig ist, die vor uns liegende Durststrecke<br />
institutionalisierter Forschung zu überbrücken.<br />
Der <strong>Kongress</strong> gibt in diesem Zusammenhang<br />
ein hervorragendes Signal, weil er zeigt, dass<br />
diese Veranstaltungsform, die letztlich grassroot<br />
ist <strong>und</strong> auf vielen dezentralen Vorbereitungsgruppen<br />
beruht, stärker <strong>und</strong> dynamischer<br />
ist als hochgestochene Veranstaltungen<br />
wie z. B. das „World Health Summit“.<br />
Info_Dienst: „Prävention wirkt“ war das Motto<br />
des diesjährigen <strong>Kongress</strong>es – in der Theorie<br />
evident, aber wie sieht es in der Praxis aus? Wo<br />
wirkt Prävention unter den derzeitigen gesellschaftlichen<br />
Rahmenbedingungen bereits <strong>und</strong><br />
was fehlt noch, um Prävention flächendeckend<br />
<strong>und</strong> nachhaltig zu gestalten?<br />
Rosenbrock: Wenn es um soziale Innovationen<br />
geht – nicht-medizinische Primärprävention<br />
<strong>und</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> sind nach wie vor<br />
eine entwicklungsbedürftige soziale Innovation<br />
– muss man zwei Ebenen unterscheiden:<br />
Einmal, ob die Konzepte <strong>und</strong> Instrumente<br />
geeignet sind, die angestrebten Ziele zu erreichen<br />
<strong>und</strong> zum Anderen, ob diese Konzepte <strong>und</strong><br />
Instrumente in der gegebenen politischen,<br />
institutionellen <strong>und</strong> finanziellen Situation<br />
Chancen haben, realisiert zu werden. Der <strong>Kongress</strong><br />
hat auf beiden Ebenen diskutiert.<br />
Viele, inzwischen bekannte Leuchtturm-Beispiele<br />
zeigen die überlegene Wirksamkeit von<br />
<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> <strong>und</strong> Prävention. Auf<br />
dieser ersten Ebene besteht die Herausforde-<br />
Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />
rung <strong>für</strong> uns darin, unsere eigenen – <strong>und</strong> eben<br />
nicht der Medizin nacheifernden oder diese<br />
nachahmenden – Ansätze von Wirksamkeitsbestimmung<br />
<strong>und</strong> Qualitätssicherung zu entwickeln.<br />
Die viel größeren Hindernisse liegen<br />
allerdings auf der zweiten Ebene – in den politischen<br />
<strong>und</strong> finanziellen Bedingungen der<br />
Durchführung <strong>und</strong> Verallgemeinerung unserer<br />
Ansätze, vor allem im Bereich nachhaltiger, an<br />
den Soziallagen ansetzender Prävention <strong>und</strong><br />
<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong>. Es unterscheidet den<br />
<strong>Kongress</strong> höchst angenehm von anderen Veranstaltungen,<br />
diese beiden Ebenen zu unterscheiden<br />
<strong>und</strong> auf beide einzugehen.<br />
Info_Dienst: Blicken wir auf den kommenden<br />
<strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit: Welche Perspektiven<br />
<strong>und</strong> Diskussionen wünschen Sie sich<br />
<strong>für</strong> den <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit im 18.<br />
Jahr seines Bestehens?<br />
Rosenbrock: Eine verstärkte Kooperation des<br />
<strong>Kongress</strong>es mit den Fachgesellschaften (Deutsche<br />
Gesellschaft <strong>für</strong> Public Health, Deutsche<br />
Gesellschaft <strong>für</strong> Sozialmedizin <strong>und</strong> Prävention,<br />
Deutsche Gesellschaft <strong>für</strong> Epidemiologie etc.)<br />
wäre <strong>für</strong> beide Seiten gewinnbringend. Man<br />
sollte aber auch noch mehr an die Ärzt/innen<br />
im öffentlichen Ges<strong>und</strong>heitsdienst denken, die<br />
ein Schattendasein fristen, jedoch ebenfalls<br />
sehr vernünftige <strong>und</strong> vorwärtstreibende Ideen<br />
<strong>und</strong> Konzepte einbringen können.<br />
Im kommenden Jahr wird der <strong>Kongress</strong> mündig.<br />
Vielleicht ist in diesem Zusammenhang<br />
der Vorschlag aus der Schlussveranstaltung –<br />
nämlich „health in all policies“ – diskutierenswert.<br />
Das mag auf den ersten Blick schwierig<br />
wirken, weil es von den Aktivitäten an der<br />
Basis abzulenken scheint, deren Erörterung<br />
den Kern des <strong>Kongress</strong>es ausmachen. Aber ich<br />
glaube, dass Überlegungen, in welchen Politikfeldern<br />
<strong>und</strong> in welchen politischen Strategien<br />
überall positive wie negative Ges<strong>und</strong>heitswirkungen<br />
verborgen sind, helfen können, die<br />
realen Möglichkeiten <strong>und</strong> Grenzen, die man<br />
beispielsweise im Bereich der auf Lebenslagen<br />
bezogenen <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> hat, besser<br />
einzuschätzen. Um sich damit vielleicht auch<br />
ein wenig von einer Verantwortung zu entlasten,<br />
die man im Projekt selbst nicht tragen<br />
kann, die aber umso deutlicher politisch artikuliert<br />
werden muss.<br />
Info_Dienst: Vielen Dank <strong>für</strong> das Gespräch.<br />
Die Fragen stellten Stefan Weigand<br />
<strong>und</strong> Marion Amler.
Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12 Rückblick / Qualität <strong>und</strong> Wirksamkeit<br />
Partizipation <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
Forschungsgruppe Public Health am Wissenschaftszentrum Berlin<br />
<strong>für</strong> Sozialforschung feiert Abschied<br />
R<strong>und</strong> 100 Gäste folgten am 22. <strong>und</strong> 23. März<br />
2012 der Einladung der Forschungsgruppe Public<br />
Health ins Wissenschaftszentrum Berlin<br />
<strong>für</strong> Sozialforschung (WZB). Es war zugleich ein<br />
Abschied, denn die Forschungsgruppe wird im<br />
Mai 2012 nach 25 Jahren ihre Arbeit beenden.<br />
Ziel der Veranstaltung war es, Raum zu bieten<br />
<strong>für</strong> inspirierende <strong>und</strong> kontroverse Diskussionen<br />
zum Thema Partizipation <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
– mit 12 Einzelvorträgen <strong>und</strong> zwei Podiumsgesprächen.<br />
Oskar Negt (Universität Hannover) legte in einem<br />
ersten Vortrag dar, dass Demokratie <strong>und</strong><br />
Partizipation <strong>für</strong> die Kohäsion der Gesellschaft,<br />
<strong>für</strong> das Wohlbefinden <strong>und</strong> die Ges<strong>und</strong>heit ihrer<br />
Mitglieder von gr<strong>und</strong>legender Bedeutung sind.<br />
Hier war bei allen Gästen schnell Konsens herzustellen.<br />
Aber schon die Ausführungen von<br />
Michael Vester (Universität Hannover) verwiesen<br />
auf ein viel diskutiertes Problem: Nicht nur<br />
die Ges<strong>und</strong>heitschancen sind sozial ungleich<br />
verteilt, sondern auch die Voraussetzungen<br />
<strong>und</strong> Chancen <strong>für</strong> Partizipation.<br />
Hella von Unger (WZB) aber zeigte, dass eine<br />
partizipative Ges<strong>und</strong>heitsforschung durchaus<br />
ein erfolgreiches Instrument ist, dieses „Partizipationsdilemma“<br />
aufzulösen, so ihre Erfahrungen<br />
im Rahmen des dreijährigen WZB-Projekts<br />
„Partizipation <strong>und</strong> Kooperation in der<br />
HIV-Prävention mit Migrant/innen“ (PaKoMi).<br />
„Es ist mehr Partizipation möglich, als viele <strong>für</strong><br />
denkbar halten“, so die Sozialwissenschaftlerin<br />
abschließend. Michael T. Wright (Katholische<br />
Hochschule Berlin) plädierte deshalb <strong>für</strong><br />
eine verstärkte Partizipation insbesondere von<br />
sozial Benachteiligten in der Public Health-<br />
Forschung, um ihnen eine angemessene Entscheidungsmacht<br />
zu erlauben, so ihre Entwicklung<br />
zu fördern <strong>und</strong> ihre ges<strong>und</strong>heitsförderlichen<br />
Ressourcen zu stärken.<br />
Auch wenn andere Vorträge zu praxisrelevanten<br />
Forschungen offenbarten, dass Entscheidungsteilhabe<br />
<strong>und</strong> Gestaltungsspielräume <strong>für</strong><br />
Betroffene – ob Patient/innen, sozial Benachteiligte<br />
oder Arbeitnehmer/innen – immer wieder<br />
auf Grenzen <strong>und</strong> Widersprüche stoßen, gab<br />
es im Plenum keinen Zweifel daran, dass gegenwärtig<br />
eher zu wenig als zu viel Partizipation<br />
vorhanden ist. Ilona Kickbusch (Kickbusch<br />
Health Consult) stellte fest , dass in den letzten<br />
20 Jahren Forderungen nach mehr Teilhabe,<br />
Autonomie <strong>und</strong> Selbstbestimmung im Ges<strong>und</strong>heitsbereich<br />
zunehmend entsprochen worden<br />
sei, dass die fortbestehende sozial bedingte<br />
Ungleichheit von Ges<strong>und</strong>heitschancen aber<br />
auf eine Kluft zwischen Anspruch <strong>und</strong> Wirklichkeit<br />
verweise. Es sei nötig, den Partizipationsgedanken<br />
in einen Zusammenhang mit modernen<br />
Ges<strong>und</strong>heitskonzepten zu stellen <strong>und</strong> Partizipationsmöglichkeiten<br />
auszubauen.<br />
Klar wurde auf jeden Fall: Das Partizipationsthema<br />
hält <strong>für</strong> die Public Health-Forschung<br />
noch viele interessante Fragestellungen bereit.<br />
Rolf Rosenbrock spannte in seinem Abschiedsgruß<br />
noch einmal den großen Bogen: „Direkte<br />
Entscheidungsteilhabe der Betroffenen ist sowohl<br />
in der Prävention <strong>und</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />
als auch in der Krankenversorgung, Pflege<br />
<strong>und</strong> Rehabilitation eine wichtige Voraussetzung<br />
<strong>für</strong> mehr Ges<strong>und</strong>heit. Das ist einer der<br />
Querschnittsbef<strong>und</strong>e aus mehr als drei Jahr-<br />
zehnten Ges<strong>und</strong>heitsforschung am WZB, der<br />
auf der Konferenz eindrucksvoll illustriert wurde.“<br />
Seine Be<strong>für</strong>chtung <strong>für</strong> die Zukunft allerdings:<br />
„Da auch die anderen Orte sozialwissenschaftlicher<br />
Ges<strong>und</strong>heitsforschung in Berlin<br />
– also v. a. die FU <strong>und</strong> die Charité – derzeit<br />
keine Entwicklungsperspektive haben, steht zu<br />
be<strong>für</strong>chten, dass die in konservativen Zeiten<br />
stets dominante Tendenz, Ges<strong>und</strong>heit auf medizinische<br />
Aspekte zu reduzieren, weiter voranschreitet.“<br />
Verena Mörath<br />
Verena Mörath arbeitet seit 1994 als Ethnologin<br />
<strong>und</strong> freie Journalistin in Berlin. Ihre Themen<br />
sind u.a. Arbeit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit, Soziales <strong>und</strong><br />
Sozialwirtschaft, Bildung, Migration <strong>und</strong> Inklusion.<br />
Für die Arbeitsgruppe Public Health hat<br />
sie 2005 eine wissenschaftliche Analyse der<br />
Trimm-Dich-Aktionen des Deutschen Sportb<strong>und</strong>es<br />
zur Bewegungsförderung erstellt.<br />
info@buero-moerath.de<br />
Qualität <strong>und</strong> Wirksamkeit<br />
Wege in die Regelversorgung / Verstetigung von<br />
Ges<strong>und</strong>heitsinterventionen / Doppelter Standard <strong>für</strong><br />
Prävention <strong>und</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong>?<br />
Wege in die Regelversorgung<br />
Das Präventionsprojekt „Kanu – Gemeinsam weiterkommen“<br />
Mit dem Projekt „Kanu – Gemeinsam weiterkommen“<br />
wird ein modulares Konzept zur Prävention<br />
von psychischen Störungen bei Kindern<br />
<strong>und</strong> Jugendlichen psychisch erkrankter<br />
Eltern entwickelt, im klinischen Setting der regional<br />
psychiatrischen Versorgung in Bielefeld<br />
implementiert <strong>und</strong> hinsichtlich seiner zu erwartenden<br />
Effekte evaluiert.<br />
Aktuelle Studien zeigen, dass bei etwa 22 Prozent<br />
der Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen Hinweise auf<br />
psychische Auffälligkeiten vorliegen (u.a. Ravens-Sieberer<br />
et al. 2007). Die Lebenszeitprävalenz<br />
von psychischen Erkrankungen steigt<br />
enorm, wenn ein Elternteil an einer seelischen<br />
Störung leidet. Kinder, deren Eltern unter einer<br />
psychischen Erkrankung leiden, stellen zudem<br />
keine Randgruppe dar. Wissenschaftliche<br />
Hochrechnungen (u.a. Lenz 2005; Wittchen &<br />
Jacobi 2005) gehen davon aus, dass etwa drei<br />
Millionen Kinder mit einem psychisch erkrankten<br />
Elternteil aufwachsen. Neben der genetischen<br />
Disposition spielen vor allem psychosoziale<br />
Risiken eine Rolle, die bestimmend dazu<br />
beitragen, inwieweit ein ges<strong>und</strong>es Aufwachsen<br />
ermöglicht wird. Entscheidend ist also, inwieweit<br />
diese hochvulnerable Gruppe gestärkt<br />
werden kann, um das Risiko einer eigenen Erkrankung<br />
zu reduzieren.<br />
Das Kanu-Projekt hat zum Ziel, die kindlichen<br />
Entwicklungsrisiken zu reduzieren <strong>und</strong> die familiären<br />
Ressourcen zu verbessern. Das Projekt,<br />
gefördert vom B<strong>und</strong>esministerium <strong>für</strong> Bil-<br />
5
6<br />
Qualität <strong>und</strong> Wirksamkeit<br />
dung <strong>und</strong> Forschung (BMBF) (10/2008-<br />
6/2012), wird gemeinsam von der Fakultät <strong>für</strong><br />
Bildungswissenschaften an der Universität<br />
Duisburg-Essen <strong>und</strong> der Klinik <strong>für</strong> Psychiatrie<br />
<strong>und</strong> Psychotherapie Bethel durchgeführt.<br />
Insgesamt besteht das Präventionsangebot<br />
aus fünf Bausteinen. Neben Eltern-, Kind- <strong>und</strong><br />
Familiengesprächen (1), die mit allen teilnehmenden<br />
Familien stattfinden, werden zeitgleich<br />
das Kanu-Gruppenangebot <strong>für</strong> Kinder<br />
<strong>und</strong> Jugendliche (2) sowie das Kanu-Elterntraining<br />
(3) durchgeführt. Im Fokus steht hier neben<br />
der Stärkung der kindlichen Resilienz auch<br />
die Stärkung der elterlichen Erziehungskompetenz.<br />
Im Rahmen des vierten Bausteins, den<br />
Patenschaften, wird den Kindern bei Bedarf eine<br />
erwachsene Patin zur Seite gestellt. Das<br />
Modul Vernetzung <strong>und</strong> Qualifizierung (5) war<br />
von Beginn an Bestandteil des Projektes. Unter<br />
anderem wurden Expertenworkshops mit dem<br />
Ziel, Möglichkeiten einer Regelfinanzierung zu<br />
diskutieren <strong>und</strong> Expert/innen der unterschiedlichen<br />
Fachbereiche an einen Tisch zu holen,<br />
organisiert.<br />
Unterschiedliche Versorgungsdilemmata sind<br />
hier von Bedeutung. Die Gruppe, die am meisten<br />
Hilfen benötigt, da eine Häufung von Risiken<br />
<strong>und</strong> Belastungen zu erkennen ist, wird<br />
durch die bisherigen Versorgungsarrangements<br />
nicht erreicht. Dieses „Präventionsdilemma“<br />
zeigt sich vor allem in Form von<br />
Schnittstellenproblematiken auf allen Ebenen<br />
der Versorgung. Weder zwischen der Erwachsenenpsychiatrie<br />
<strong>und</strong> der Kinder- <strong>und</strong> Jugendpsychiatrie<br />
noch zwischen der Erwachsenenpsychiatrie<br />
<strong>und</strong> die Jugendhilfe besteht ein<br />
ausreichendes Maß der institutionellen Kooperation.<br />
Die spezifischen Klient/inneninteressen<br />
stehen hier mitunter sogar gegeneinander<br />
(die Erwachsenenpsychiatrie vertritt die<br />
Eltern als Klienten, die Jugendhilfe verlang Kinderschutz<br />
etc.). Oft reagieren betroffene Eltern<br />
mit Angst (etwa vor dem Entzug des Sorgerechtes<br />
<strong>für</strong> die Kinder etc.). Aber auch die Fachkräfte<br />
sind verunsichert, in der Erwachsenenpsychiatrie<br />
werden die Lebenslagen der Kinder<br />
häufig nicht einmal erwähnt. Das Paradoxe dabei<br />
ist die Tatsache, dass immer wieder von<br />
„familienorientierten Angeboten“ gesprochen<br />
wird, in der Prävention mit psychisch erkrankten<br />
Eltern diese aber nicht stattfinden.<br />
Das Projekt Kanu versucht hier, Brücken zu<br />
bauen. Schnittstellenarbeit findet in den Bereichen<br />
Versorgung, Vernetzung <strong>und</strong> Qualifizierung<br />
statt. Hierzu gehören Verwertungsworkshops,<br />
Praktiker/innen-Tagungen aber auch<br />
praxisnahe Publikationen (u.a. Bauer et al.<br />
2012). Ebenso wichtig ist es, erst die Leistungserbringer<br />
<strong>und</strong> danach die Leistungsträger<br />
an einen Tisch zu holen. Ein weiterer wichtiger<br />
Bestandteil ist die Lobby-<strong>und</strong> Öffentlichkeitsarbeit.<br />
Hier hat das Projekt den Vorteil,<br />
zur richtigen Zeit initiiert worden zu sein – Kanu<br />
hat den „Zeitgeist-Vorteil“. Zum einen<br />
Verstetigung von Ges<strong>und</strong>heitsinterventionen<br />
im Stadtteil<br />
Wie funktioniert das?<br />
Nachhaltigkeit ist ein zentrales Qualitätsmerkmal<br />
von <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong>. Durch Nachhaltigkeit<br />
können Angebote gesichert <strong>und</strong> gewünschte<br />
Effekte in Richtung eines ges<strong>und</strong>heitsbewussten<br />
Handelns gesteigert werden.<br />
Im Folgenden sollen – anhand von zwei durch<br />
das B<strong>und</strong>esministerium <strong>für</strong> Bildung <strong>und</strong> Forschung<br />
(BMBF) geförderten stadtteilbezogenen<br />
Projekten zur <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> (GO –<br />
Ges<strong>und</strong> im Osten; AGNES – Gemeinsam aktiv<br />
im Alter) – Strategien beschrieben werden, mit<br />
denen die Nachhaltigkeit von Ges<strong>und</strong>heitsinterventionen<br />
<strong>für</strong> sozial Benachteiligte im Leipziger<br />
Osten verbessert werden kann.<br />
Aufbau von Kooperationen<br />
Für den Aufbau von Kooperationen wurde der<br />
Ansatz verfolgt, an vorhandene Strukturen im<br />
Stadtteil anzuknüpfen, da Angebote in bekannten<br />
Einrichtungen <strong>und</strong> Institutionen im Stadt-<br />
teil von den Zielgruppen eher akzeptiert werden<br />
als Veranstaltungen neuer Akteure.<br />
Für die Verwirklichung der Projektideen spielte<br />
das Quartiersmanagement eine zentrale Rolle.<br />
Durch den intensiven Kontakt zum Quartiersmanager<br />
gelang es, zunächst einen Überblick<br />
über bereits aktive Stadtteilakteure <strong>und</strong> vorhandene<br />
Angebote zu gewinnen. Anschließend<br />
wurde zusammen mit dem Quartiersmanager<br />
eine gemeinsame Strategie entwickelt, um ges<strong>und</strong>heitsfördernde<br />
Partnerschaften aufzubauen.<br />
Zu Beginn wurden Bedarfserhebungen bei<br />
den Stadtteilakteuren durchgeführt. In Form<br />
von leitfadengestützten Interviews wurden<br />
konzeptionelle Details der bestehenden Angebote,<br />
deren Nutzung bzw. Nicht-Nutzung erhoben<br />
<strong>und</strong> der Bedarf an weiteren Maßnahmen<br />
<strong>für</strong> die Zielgruppe erfasst. In einem zweiten<br />
Schritt wurden aus diesen Ergebnissen in Kooperation<br />
mit den Akteuren gemeinsame Ange-<br />
Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />
„darf“ aktuell über psychische Erkrankungen<br />
gesprochen werden, zum anderen ist ein<br />
BMBF-Förderschwerpunkt die Präventionsforschung.<br />
Hinzu kommt aber auch intensive<br />
Pressearbeit, die Herausgabe eines Kanu-Präventionsmanuals<br />
<strong>und</strong> auch das Bewerben um<br />
Auszeichnungen. So erhielt Kanu im vergangenen<br />
Jahr den Ges<strong>und</strong>heitspreis NRW.<br />
Wesentliche Weichenstellung <strong>für</strong> den Weg in<br />
die Regelversorgung ist jedoch die Finanzierung:<br />
Begründet häufig als Mischfinanzierung<br />
(GKV, Kommunen, Jugendhilfe, etc.) durch die<br />
gesetzlichen Gr<strong>und</strong>lagen im SGB V (§§27/39;<br />
§38; §§24/41; §20), aber vor allem im SGB VIII<br />
(§§8/22/27ff). Hinzu kommt die Wirkung wissenschaftlicher<br />
Evaluation auf Kostenträger<br />
<strong>und</strong> politische Entscheidungsträger.<br />
Zusammenfassend kann festgehalten werden,<br />
dass ein solches Vorhaben auf eine Start- <strong>und</strong><br />
Sockelfinanzierung (z.B. Förderschwerpunkt<br />
des BMBF) angewiesen ist. Die kontinuierliche<br />
Öffentlichkeitsarbeit <strong>und</strong> die hartnäckige Diskussion<br />
über Zielgruppenspezifität im Bereich<br />
psychotherapeutischer Versorgung muss über<br />
die Projektlaufzeit weitergetragen werden.<br />
Ullrich Bauer <strong>und</strong> Katrin Linthorst,<br />
Universität Duisburg-Essen<br />
Weiterführende Informationen zu der Literatur<br />
können über die Autor/innen bezogen werden.<br />
ullrich.bauer@uni-due.de,<br />
Katrin.linthorst@uni-due.de<br />
bote entwickelt. In einem letzten Schritt wurden<br />
eigene neue Angebote durch die Projekte<br />
entwickelt <strong>und</strong> erprobt, um Angebotslücken zu<br />
schließen.<br />
Netzwerkarbeit im Stadtteil<br />
Die Bildung ges<strong>und</strong>heitsbezogener Netzwerke<br />
ermöglicht eine Kooperation verschiedener Akteure<br />
<strong>und</strong> dient der Entwicklung gemeinsamer<br />
Ges<strong>und</strong>heitsziele, Maßnahmen sowie der Bildung<br />
nachhaltiger Strukturen.<br />
Am Beispiel des Projekts „AGNES“ zeigten die<br />
Ergebnisse der Bedarfserhebung bei den Seniorenakteuren,<br />
dass Informationsdefizite bestehen,<br />
ein Erfahrungsaustausch mit anderen Akteuren<br />
fehlt <strong>und</strong> Qualifikationen notwendig<br />
sind. Deshalb wurde das Netzwerk „Seniorenarbeit<br />
im Leipziger Osten“ gegründet. Ziel des<br />
Netzwerks war es, Transparenz herzustellen,<br />
Problemlagen zu diskutieren, Kompetenzen zu<br />
vermitteln <strong>und</strong> Kooperationen aufzubauen.<br />
Im Rahmen einer Befragung wurde nach zwei<br />
Jahren die Zufriedenheit mit den Vernetzungstreffen<br />
untersucht. Die Ergebnisse zeigten,<br />
dass die Mehrheit der Akteure von den Vernetzungstreffen<br />
profitierte <strong>und</strong> positive Effekte <strong>für</strong><br />
die Arbeit der Akteure daraus entstanden sind.
Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12 Qualität <strong>und</strong> Wirksamkeit<br />
Zusammenarbeit mit der Kommune<br />
Die Kommune hat <strong>für</strong> die ges<strong>und</strong>heitsfördernde<br />
Stadtteilentwicklung eine Schlüsselfunktion.<br />
<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> im Stadtteil berührt<br />
viele Bereiche der Stadtpolitik <strong>und</strong> ist ein Querschnittsthema<br />
<strong>für</strong> die Stadtverwaltung.<br />
Als Auftakt <strong>für</strong> stadtteilbezogene Aktivitäten<br />
haben die Projekte gemeinsam mit dem Ges<strong>und</strong>heitsamt,<br />
dem Quartiersmanagement <strong>und</strong><br />
dem Amt <strong>für</strong> Stadterneuerung <strong>und</strong> Wohnungsbauförderung<br />
ein Bürgerforum „Ges<strong>und</strong>heit im<br />
Leipziger Osten“ gestaltet. Dort wurden die Ergebnisse<br />
der Ges<strong>und</strong>heitsberichterstattung<br />
des Stadtteils <strong>und</strong> der Bedarfserhebung bei<br />
den Stadtteilakteuren vorgestellt. Das Bürgerforum<br />
war ein echter Wendepunkt in der Zusammenarbeit<br />
mit der Kommune: Es ist gelungen,<br />
die Stadtverwaltung, Stadtteilakteure <strong>und</strong><br />
Bewohner/innen <strong>für</strong> eine weitere Zusammen-<br />
Auftrag: Ges<strong>und</strong>heit fördern, Kosten sparen<br />
Doppelter Standard <strong>für</strong> Prävention <strong>und</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong>?<br />
Das Wirtschaftlichkeitsgebot im SGB V er -<br />
streckt sich auch auf Prävention <strong>und</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />
im Bereich der GKV. Demnach<br />
müssen entsprechende Maßnahmen „ausreichend,<br />
zweckmäßig <strong>und</strong> wirtschaftlich sein“<br />
<strong>und</strong> „dürfen das Maß des Notwendigen nicht<br />
überschreiten“. In der Praxis könnte man aber<br />
den Eindruck gewinnen, dass gerade dieses<br />
„wirtschaftlich“ <strong>für</strong> präventive <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitsfördernde<br />
Maßnahmen anders ausgelegt<br />
wird als <strong>für</strong> kurative Interventionen. Letztere<br />
müssen mindestens effektiv, höchstens aber<br />
kosteneffektiv sein: Zusätzliche Ausgaben sind<br />
gerechtfertigt, sofern ihnen ein als angemessen<br />
erachteter Ges<strong>und</strong>heitsgewinn, z.B. in<br />
Form von qualitätsadjustierten Lebensjahren,<br />
gegenübersteht. Damit sich eine präventive<br />
oder ges<strong>und</strong>heitsfördernde Maßnahme durchsetzen<br />
kann, scheint der Anspruch aber höher<br />
zu liegen: Aufwendungen in der Gegenwart<br />
sollen vollständig durch vermiedene Kosten in<br />
der Zukunft aufgewogen werden, damit wird<br />
gefordert, dass die Maßnahme nicht nur effektiv<br />
<strong>und</strong> kosteneffektiv, sondern auch kostensparend<br />
ist. Kenkel (2000) bezeichnet diesen<br />
unterschiedlichen Maßstab als „double standard“,<br />
der die implizite Bewertung von miteinander<br />
konkurrierenden Alternativen aus den<br />
Bereichen Prävention <strong>und</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />
einerseits <strong>und</strong> Therapie andererseits<br />
prägt.<br />
Für einen solchen doppelten Standard spricht<br />
der Investitionscharakter präventiver <strong>und</strong><br />
ges<strong>und</strong>heitsfördernder Maßnahmen. Anders<br />
als z.B. notfallmedizinische Maßnahmen ist ihr<br />
Umfang steuerbar, denn während sich die Vor-<br />
arbeit zu motivieren. Im Anschluss an das Bürgerforum<br />
wurden in Kooperation mit dem<br />
Quartiersmanagement <strong>und</strong> dem Leipziger Ges<strong>und</strong>heitsamt<br />
drei Ges<strong>und</strong>heitswerkstätten<br />
durchgeführt <strong>und</strong> ein Netzwerk „Ges<strong>und</strong>heit<br />
im Leipziger Osten“ gegründet.<br />
Der Leipziger Osten ist ein Fördergebiet des<br />
Programms „Soziale Stadt“, <strong>für</strong> welches ein<br />
integriertes Stadtteilentwicklungskonzept erarbeitet<br />
<strong>und</strong> umgesetzt wird. Wenn das Stadtteilentwicklungskonzept<br />
im Dezember 2012<br />
vom Leipziger Stadtrat bestätigt wird, werden<br />
die formulierten Ges<strong>und</strong>heitsziele <strong>und</strong> Maßnahmen<br />
verbindlich festgelegt <strong>und</strong> von der<br />
Kommune mitgetragen.<br />
Die Steuerung <strong>und</strong> Koordinierung dieses ges<strong>und</strong>heitsförderndenStadtteilentwicklungsprozesses<br />
ist eine komplexe Aufgabe. Hier<br />
mündet hervorragende Zusammenarbeit mit<br />
haltung einer Stroke Unit am aktuellen Bedarf<br />
orientieren muss, ist eine Herz-Kreislauf-Prävention<br />
auch dann noch nutzenstiftend, wenn<br />
sie erst im nächsten Jahr durchgeführt wird. Da<br />
Maßnahmen der primären Prävention <strong>und</strong> der<br />
<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> vorwiegend Personen<br />
ohne Krankheitssymptomen zugute kommen,<br />
ist der Schaden durch den Verzicht auf die<br />
sofortige Durchführung weniger sichtbar.<br />
Angesichts eines knappen Budgets können die<br />
Wirkt Prävention?<br />
der Stadt Leipzig, der AOK Plus <strong>und</strong> der HTWK<br />
Leipzig in ein neues gemeinsames Modellprojekt<br />
„Koordinierungsstelle Ges<strong>und</strong>heit“, welches<br />
die bisher aufgebauten Strukturen sichern<br />
<strong>und</strong> weiterentwickeln kann.<br />
Kooperationen mit Stadtteilakteuren, Netzwerkarbeit<br />
im Stadtteil <strong>und</strong> eine enge Zusammenarbeit<br />
mit der Kommune waren in den Forschungsprojekten<br />
„GO“ <strong>und</strong> „AGNES“ erfolgreiche<br />
Faktoren <strong>für</strong> die Verstetigung. Für zeitlich<br />
begrenzte Projekte sollte deshalb die<br />
nachhaltige Sicherung von Ges<strong>und</strong>heitsinterventionen<br />
von Anfang an zu den Zielstellungen<br />
gehören <strong>und</strong> bereits bei der Projektkonzeption<br />
mitgedacht werden.<br />
Carmen Kluge, Janka Große<br />
<strong>und</strong> Gesine Grande, Hochschule <strong>für</strong> Technik,<br />
Wirtschaft <strong>und</strong> Kultur Leipzig (HTWK)<br />
Kosten in zukünftige Planungszeiträume verschoben<br />
werden, bei kurativen Maßnahmen<br />
wäre das mit deutlich sichtbareren Ges<strong>und</strong>heitseffekten<br />
verb<strong>und</strong>en, der politische <strong>und</strong><br />
öffentliche Widerstand wäre größer. Dagegen<br />
spricht aber, dass der doppelte Standard zu<br />
geringerer Effizienz im Einsatz der verfügbaren<br />
Mittel führt: Durch die zeitliche Verschiebung<br />
des Präventionsvorhaben aus Kostengründen<br />
werden nicht mehr die Maßnahmen mit dem<br />
besten Verhältnis von Kosten zu Effekt durchgeführt,<br />
ggf. unterbleiben sogar Interventionen,<br />
die mittel- <strong>und</strong> langfristig kostensparend<br />
sind <strong>und</strong> so im Budget Spielraum schaffen<br />
könnten.<br />
Aufgr<strong>und</strong> der Vielfalt von Präventions- <strong>und</strong><br />
<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong>smaßnahmen ist ein<br />
Die Online-Diskussion auf www .ges<strong>und</strong>heitliche-chancengleichheit .de<br />
„Prävention wirkt!“ lautete das Motto des 17. <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit. Online wurde<br />
auf der Internet-Plattform „<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> bei sozial Benachteiligten“ nachgefragt:<br />
Wirkt Prävention? 21 Beiträge zeichneten ein vielschichtiges Bild, auf das hier ein paar Schlaglichter<br />
geworfen werden:<br />
n „Prävention“ als Verhütung von Erkrankungen greift zu kurz <strong>und</strong> ist zu defensiv. Die Zielsetzung<br />
der <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong>, „den Menschen realistische Verwirklichungsoptionen <strong>und</strong><br />
ges<strong>und</strong>e Le benschancen“ (Klaus Plümer) zu eröffnen, weitet diese Zielperspektive.<br />
n Thematisch eng gefasste Interventionen mit gut nachweisbaren, aber kurzfristigen Wirkungen<br />
finden leichter Finanzgeber als Angebote, die langfristig <strong>und</strong> auf Nachhaltigkeit<br />
angelegt sind. Hier besteht methodisch <strong>und</strong> politisch Aufklärungsbedarf (vgl. obiger Beitrag<br />
von Tina Salomon).<br />
n Welche Interventionen wirken? Hier muss genau hingeschaut werden, denn immer noch<br />
werden Konzepte am Bedarf der Gruppen vorbei entwickelt <strong>und</strong> umgesetzt, die eigentlich<br />
erreicht werden sollen.<br />
n <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> kann nicht die strukturellen Probleme beheben, die zu ungleichen<br />
Ges<strong>und</strong>heitschancen führen. Sie ist nur – aber immerhin! – in der Lage, punktuell zu kompensieren<br />
<strong>und</strong> da<strong>für</strong> zu sensibilisieren, Ges<strong>und</strong>heit auch zum Thema in scheinbar ges<strong>und</strong>heitsfernen<br />
Handlungsfeldern zu machen.<br />
Alle Beiträge können nachgelesen werden auf www.ges<strong>und</strong>heitliche-chancengleichheit.de/<br />
?id=discussion3 Holger Kilian, Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />
7
8<br />
Qualität <strong>und</strong> Wirksamkeit / Ges<strong>und</strong>heitspolitik<br />
systematischer Überblick über die gesamte<br />
verfügbare Evidenz nicht mehr möglich, es gibt<br />
aber einzelne Reviews, aus denen kostensparende<br />
<strong>und</strong> hoch kosteneffektive Maßnahmen<br />
hervorgehen. Maciosek et al. (2006) nennen<br />
mit der ASS-Prophylaxe bei erhöhtem Risiko<br />
<strong>für</strong> kardiovaskuläre Ereignisse, Impfungen im<br />
Kindesalter <strong>und</strong> Unterstützung bei der Nikotinentwöhnung<br />
drei hoch effektive <strong>und</strong> kostensparende<br />
Interventionen. Allein die Masern-<br />
Mumps-Röteln-Impfung in zwei Dosen kann<br />
bei einer Geburtskohorte von 3,8 Mio. Kindern<br />
die Krankheitskosten um 7,6 Mrd. US-Dollar<br />
reduzieren (Hinman et al., 2004). Daneben gibt<br />
es Interventionen, die zwar nicht als kostensparend<br />
klassifiziert werden können, aber<br />
hoch kosteneffektiv sind. Maciosek et al.<br />
(2006) nennen hier verschiedene Screenings,<br />
u.a. auch ein Screening auf Alkohol-Missbrauch,<br />
verb<strong>und</strong>en mit einer Beratung zur Entwöhnung.<br />
Kostensparende <strong>und</strong> hoch kosteneffektive<br />
Maßnahmen haben durch ihre Fürsprecher<br />
gute Implementationschancen in der regelmäßigen<br />
Versorgung. Schwieriger ist es <strong>für</strong> Interventionen,<br />
die zwar kosteneffektiv sind, bei<br />
denen die Kosten pro Effekteinheit aber „im<br />
üblichen Rahmen“ liegen, bei denen keine Evidenz<br />
zur Kosteneffektivität vorliegt oder<br />
methodische Schwächen dazu führen, dass der<br />
Nutzen nicht gänzlich erfasst wird. Schwappach<br />
et al. (2007) verweisen darauf, dass es im<br />
Vergleich zur klinischen Prävention weniger<br />
Evidenz zu ges<strong>und</strong>heitsfördernden Maßnahmen<br />
gibt, so dass diese im Verdacht stehen,<br />
das Kriterium „value for money“ nicht zu erfüllen.<br />
Maciosek et al. nennen Beratung zur<br />
Unfallvermeidung bei Kleinkindern als Beispiel<br />
<strong>für</strong> eine kosteneffektive Intervention im Grenzbereich:<br />
Die Kosten <strong>für</strong> gewonnene qualitätsadjustierte<br />
Lebensjahre entsprechen den<br />
Kosten, die von Entscheidungsträgern in der<br />
Regel als akzeptabel angesehen werden, die<br />
Maßnahme fällt aber – ggf. auch aufgr<strong>und</strong><br />
nicht vollständig erfasster sozialer Effekte –<br />
nicht als hoch kosteneffektiv auf, wodurch ihre<br />
Chance auf Implementation schwindet.<br />
Am Ende bleibt festzuhalten, dass der doppelte<br />
Standard nur durch eine doppelte Bringschuld<br />
überw<strong>und</strong>en werden kann: Auf der<br />
einen Seite stehen die Entscheidungsträger in<br />
der Pflicht, kostensparende <strong>und</strong> kosteneffektive<br />
Interventionen umzusetzen, was auch die<br />
Bereitstellung der finanziellen Mittel beinhaltet.<br />
Auf der anderen Seite müssen aber die<br />
Lücken in der Evidenz mit Studien zur Kosteneffektivität<br />
von Prävention <strong>und</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />
gefüllt werden, denn nur so können<br />
Fehlallokationen von knappen Ressourcen, die<br />
einem Verzicht auf Ges<strong>und</strong>heitsgewinn gleichkommen,<br />
vermieden werden.<br />
Tina Salomon, Universität Bremen<br />
Informationen zur verwendeten Literatur können<br />
über die Autorin bezogen werden.<br />
Ges<strong>und</strong>heitspolitik<br />
Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />
Das Ende der Projektitis! / Weltges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong><br />
Aufstand<br />
Das Ende der Projektitis!<br />
Ressortübergreifende Zusammenarbeit in den Handlungsfeldern<br />
„Ges<strong>und</strong>e Ernährung“ <strong>und</strong> „Mehr Bewegung“:<br />
Die interministerielle Arbeitsgruppe (IMAG) „NRW IN FORM“<br />
Die Folgen von Bewegungsmangel <strong>und</strong> unausgewogener<br />
Ernährung sind vielfach dokumentiert<br />
<strong>und</strong> ein Handlungsbedarf in Bereichen von<br />
<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong>, Prävention <strong>und</strong> Versorgungsstrukturen<br />
ist dadurch begründet. Da die<br />
Förderung von mehr Bewegung <strong>und</strong> von ges<strong>und</strong>er<br />
Ernährung die Arbeit <strong>und</strong> Ziele mehrerer<br />
Ministerien betreffen <strong>und</strong> die Themen als<br />
Querschnittaufgabe anzusehen sind, kooperieren<br />
in Nordrhein-Westfalen sechs Ministerien<br />
<strong>und</strong> die Staatskanzlei seit Jahren eng in Bereichen,<br />
die diese Handlungsfelder berühren.<br />
Interministerielle Arbeitsgruppen gibt es b<strong>und</strong>esweit<br />
zu unterschiedlichen Themen. Wichtiger<br />
Meilenstein <strong>für</strong> eine auf Nachhaltigkeit<br />
ausgerichtete Arbeit der IMAG „NRW IN FORM“<br />
war ein Kabinettsbeschluss 2010, der die Arbeit<br />
der IMAG ausdrücklich legitimiert <strong>und</strong> verstärkte<br />
Bemühungen einfordert, um Prinzipien<br />
von ges<strong>und</strong>er Ernährung <strong>und</strong> mehr Bewegung<br />
stärker im Bewusstsein der Bevölkerung zu<br />
verankern.<br />
Mit der IMAG wurde eine funktionstüchtige Arbeitsstruktur<br />
geschaffen. Mitglieder sind Fachebenen<br />
der Ministerien. Zwischen ihnen wechselt<br />
jährlich die Federführung <strong>für</strong> die IMAG-Leitung.<br />
Die Einrichtung einer Geschäftsstelle im<br />
Landeszentrum <strong>für</strong> Ges<strong>und</strong>heit sichert organisatorische<br />
Abläufe, Kommunikation <strong>und</strong> Öffentlichkeitsarbeit.<br />
Das „Zentrum <strong>für</strong> Bewegungsförderung“<br />
<strong>und</strong> die „Vernetzungsstelle<br />
Schulverpflegung“ in Nordrhein-Westfalen unterstützen<br />
die Arbeit der IMAG. Als Kooperationspartner<br />
konnten Krankenkassen <strong>und</strong> die<br />
Unfallkasse NRW in ihrer Rolle als Trägerorganisationen<br />
des „Landesprogramms Bildung<br />
<strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit“ gewonnen werden.<br />
In der IMAG „NRW IN FORM“ wird nicht nur<br />
über Vernetzung gesprochen, sondern auch<br />
vernetzt gearbeitet. Zunächst wurden von der<br />
IMAG alle vorhandenen Aktivitäten der Landesregierung<br />
in den Bereichen Bewegung <strong>und</strong> Ernährung<br />
zusammengetragen <strong>und</strong> in einer stetig<br />
aktualisierten <strong>und</strong> öffentlich zugänglichen<br />
Übersicht zusammengestellt. Dadurch wird einerseits<br />
Transparenz hergestellt, andererseits<br />
bieten die dort beschriebenen Maßnahmen<br />
Orientierung hinsichtlich Bedarf <strong>und</strong> Angebot<br />
<strong>für</strong> alle an der Thematik Interessierten. Anschließend<br />
wurde ein einheitliches Förderverfahren<br />
mit klar formulierten Kriterien vereinbart.<br />
Die beteiligten Ministerien stellen mindestens<br />
je 20.000 Euro p.a. <strong>für</strong> die Förderung<br />
von kommunalen Projekten zur Verfügung. Die<br />
IMAG „NRW IN FORM“ übernimmt die Schirmherrschaft<br />
von besonders herausragenden Projekten<br />
<strong>und</strong> Veranstaltungen <strong>und</strong> repräsentiert<br />
dadurch die Beteiligung der Landesregierung.<br />
Die Arbeit <strong>und</strong> die Zielsetzungen der IMAG werden<br />
proaktiv kommuniziert. Da<strong>für</strong> wurden unterschiedliche<br />
Medien (Flyer mit Kernbotschaften,<br />
Lesezeichen mit Adressangaben <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsbotschaften)<br />
entwickelt, die zusammen<br />
mit dem „Gemüse-Fahrrad“ bei entsprechenden<br />
Veranstaltungen eingesetzt werden.<br />
Besonders wichtig <strong>für</strong> die erfolgreiche Umsetzung<br />
der IMAG-Strategie ist der Dialog zwischen<br />
der Ebene der Ministerien <strong>und</strong> der vor<br />
Ort handelnden Akteure. Zu diesem Zweck<br />
wurde ein neues Veranstaltungsformat konzipiert.<br />
Die Federführung <strong>für</strong> die Durchführung<br />
dieser regionalen Fachkonferenzen „NRW Bewegt<br />
IN FORM“ hat das Ministerium <strong>für</strong> Familie,<br />
Kinder, Jugend, Kultur <strong>und</strong> Sport (MFKJKS)<br />
in Nordrhein-Westfalen übernommen: Jeweils
Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12 Ges<strong>und</strong>heitspolitik<br />
im Frühjahr <strong>und</strong> im Herbst werden mit wechselnden<br />
Schwerpunktthemen Veranstaltungen<br />
an verschiedenen Standorten angeboten. Wesentlicher<br />
Bestandteil des Veranstaltungskonzeptes<br />
ist, neben der Vermittlung von fachlichen<br />
Informationen durch ausgewiesene Expert/innen,<br />
konkrete Möglichkeiten <strong>für</strong> den<br />
Auf- <strong>und</strong> Ausbau von Vernetzungsstrukturen<br />
aufzuzeigen <strong>und</strong> Raum <strong>für</strong> den direkten Austausch<br />
der Teilnehmer/innen zu schaffen.<br />
Fazit zur bisherigen Arbeit der IMAG: Gemeinsam<br />
abgestimmte <strong>und</strong> vernetzte Aktivitäten<br />
erhöhen die Chance, das Bewusstsein in der<br />
Bevölkerung <strong>für</strong> die Vorteile von ges<strong>und</strong>er Ernährung<br />
<strong>und</strong> mehr Bewegung zu fördern. Die<br />
Unterstützung zielgerichteter, passgenauer<br />
<strong>und</strong> vernetzter Maßnahmen zur Verbesserung<br />
des Lebensstils durch ausgewogene Ernährung<br />
<strong>und</strong> mehr Bewegung in Kindertageseinrichtungen,<br />
Schulen, Stadtteilen <strong>und</strong> Sportorganisationen<br />
stehen im Vordergr<strong>und</strong> der Förderung<br />
durch die IMAG. Profiteure sind neben<br />
den „Endabnehmern“ auch die Multiplikatoren<br />
<strong>und</strong> „Motoren“ auf der örtlichen Ebene. Durch<br />
den fortgesetzten Dialog werden immer neue<br />
Möglichkeiten <strong>und</strong> Chancen zur Umsetzung<br />
von Zielen der Ernährungsbildung, Bewegungs-<br />
<strong>und</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> dargestellt<br />
<strong>und</strong> angebahnt.<br />
Die vielzitierte <strong>und</strong> mehr oder weniger abstrakte<br />
„Metaebene“ wird verlassen <strong>und</strong> es werden<br />
neben konkret formulierten, praktikablen<br />
Handlungsempfehlungen <strong>und</strong> Hilfestellungen<br />
öffentlichkeitswirksame Gelegenheiten <strong>für</strong> den<br />
aktiven Austausch zwischen den Macher/innen<br />
der lokalen Ebene angeboten.<br />
Gerwin-Lutz Reinink, Ministerium <strong>für</strong> Schule<br />
<strong>und</strong> Weiterbildung des Landes Nordrhein-<br />
Westfalen <strong>und</strong> Monika Nellen, Landeszentrum<br />
Ges<strong>und</strong>heit Nordrhein-Westfalen<br />
Weltges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Aufstand<br />
Die Panels von medico international<br />
auf dem 17 . <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
Remco van der Pas (Niederlande) <strong>und</strong> Mike<br />
Rowson (Großbritannien) stellen das People‘s<br />
Health Movement vor<br />
Das Motto des 17. <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
– Prävention wirkt! – müsste im Herkunftsland<br />
des Sozialmediziners Rudolf Virchow<br />
Realität oder wenigstens unbestrittene<br />
Erkenntnis sein. Doch die Ges<strong>und</strong>heitsförder/<br />
innen, die sich jedes Jahr bei dem von Ges<strong>und</strong>heit<br />
Berlin-Brandenburg organisierten <strong>Kongress</strong><br />
<strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit treffen, stehen<br />
immer wieder unter Druck, die Wirksamkeit<br />
von Prävention zu beweisen. Mit der Ges<strong>und</strong>heit<br />
scheint es so zu sein wie mit dem Klima.<br />
Man kennt Ursachen <strong>und</strong> Folgen von Krisen,<br />
man kennt Abhilfemöglichkeiten, aber es fehlt<br />
die Bereitschaft zum Politikwechsel. Und so<br />
wird jede angeblich wissenschaftliche Studie,<br />
die den Klimawandel bestreitet, benutzt, um<br />
die Diskussion neu zu entfachen <strong>und</strong> Handlungen<br />
zurückzustellen.<br />
Auf den Panels der sozialmedizinischen Hilfs-<br />
<strong>und</strong> Menschenrechtsorganisation medico international<br />
„Globale Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> soziale<br />
Gerechtigkeit“, die ebenfalls jährlich während<br />
des <strong>Kongress</strong>es stattfinden, kamen einige der<br />
sich daraus ergebenden Fragen zur Sprache.<br />
Der britische Ges<strong>und</strong>heitswissenschaftler <strong>und</strong><br />
Aktivist des People‘s Health Movement Mike<br />
Rowson <strong>und</strong> der belgische Arzt <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsaktivist<br />
Remco van der Pas stellten die<br />
Arbeit des People‘s Health Movement vor. Bei<br />
seiner Gründung im Jahr 2000 ging es eben<br />
darum, kritisches politisches Ges<strong>und</strong>heitswis-<br />
sen zu bewahren <strong>und</strong> in die neuen globalisierten<br />
Kontexte zu übersetzen. Van der Pas berichtete,<br />
dass die Ges<strong>und</strong>heitsaktivist/innen<br />
bei der Gründung des PHM vor allen Dingen die<br />
Frage stellten: Wie kann der menschenrechtliche<br />
Ansatz, der mit der Alma-Ata-Deklaration<br />
von 1978 <strong>und</strong> seiner Losung „Ges<strong>und</strong>heit <strong>für</strong><br />
alle“ eigentlich die Agenda der Weltges<strong>und</strong>heitsorganisation<br />
(WHO) sein sollte, unter den<br />
Bedingungen der Globalisierung neu gedacht<br />
<strong>und</strong> verwirklicht werden? Vor dem jungen Publikum<br />
dieses Panels machten beide Referenten<br />
deutlich, dass die weltweite Ges<strong>und</strong>heitskrise<br />
heute eine „Krise der globalen Ungleichheit“<br />
ist. Die Ungleichheit sei, so Mike Rowson, global<br />
größer als die Ungleichheit in den einzelnen<br />
Ländern. Hier spiegelt sich bei aller zunehmenden<br />
Ungleichheit auch in den priviligierteren<br />
Ländern das <strong>Armut</strong>sgefälle des Nord-Süd-<br />
Konflikts, aber auch die Herausforderung, dass<br />
die Ges<strong>und</strong>heitskrise gerade <strong>für</strong> die Ärmsten<br />
der Welt nur durch globale Umverteilung zu<br />
bewältigen ist, wider.<br />
Die Krise der globalen Ungleichheit <strong>und</strong> ihre<br />
Folgen <strong>für</strong> globale Ges<strong>und</strong>heit zeigt sich in der<br />
WHO, so Mike Rowson, der sich dabei auf Daten<br />
aus dem von medico mitfinanzierten Global<br />
Health Watch 2011 stützte. War die WHO vor 20<br />
Jahren noch die dominierende Instanz <strong>für</strong> globale<br />
Ges<strong>und</strong>heit mit einem entsprechenden<br />
Budget, das von den Mitgliedsstaaten gesichert<br />
wurde, so verfügt heute ein privater Akteur<br />
wie die Gates-Stiftung über ein höheres<br />
Jahresbudget als die suprastaatliche Instanz.<br />
Hinzu komme, dass die WHO mittlerweile abhängig<br />
sei von freiwilligen Finanzierungen<br />
durch private <strong>und</strong> öffentliche Geber, die meist<br />
projektgeb<strong>und</strong>en ausgezahlt würden.<br />
Es ist gelungen, mit der Vernetzung kritischer<br />
Ges<strong>und</strong>heitsaktivist/innen, zum Beispiel im<br />
People‘s Health Movement, den menschenrechtlichen<br />
Ansatz in der Ges<strong>und</strong>heit als Ziel<br />
globaler Ges<strong>und</strong>heitspolitik zu verteidigen.<br />
Doch die Herausforderungen in der globalen<br />
Ges<strong>und</strong>heitspolitik sind durch die Vielzahl an<br />
öffentlichen <strong>und</strong> privaten Akteuren sowie der<br />
unübersichtlichen Interessenslage der einzelnen<br />
auch höchst kompliziert geworden. So<br />
schloss Mike Rowson seinen Beitrag mit der<br />
Frage, wer denn der Adressat der Ges<strong>und</strong>heitsbewegung<br />
sein müsste.<br />
Die WHO sei auf jeden Fall der Ort, der weltdemokratisch<br />
am ehesten legitimiert sei. Darüber<br />
9
10<br />
Ges<strong>und</strong>heitspolitik / Kinderges<strong>und</strong>heit<br />
waren sich die Beteiligten des Panels „Partizipation<br />
<strong>und</strong> Governance“ einig. Umso stärker<br />
sind allerdings die Versuche, die Bedeutung<br />
der gewählten Regierungen zu schmälern <strong>und</strong><br />
den Philanthrokapitalismus, verkörpert durch<br />
Bill Gates sowie private Akteure, aufzuwerten.<br />
Alle würden, so Thomas Gebauer, medico-Geschäftsführer,<br />
als „Stakeholder gleichrangig<br />
behandelt“. Diese Sprache in der Debatte um<br />
die WHO-Reform aber ist verdächtig: Stakeholder,<br />
Input – Output, Effizienz, Business-Modell<br />
– alles betriebswirtschaftliche Vokabeln, die<br />
verwendet werden, als seien sie schon Common<br />
Sense. Sie veränderten aber die institutionelle<br />
Kultur auf Dauer nachhaltig, so Gebauer.<br />
Die Ges<strong>und</strong>heitswissenschaftlerin Prof. Dr. Ilona<br />
Kickbusch äußerte sich pointiert: Der vielgepriesene<br />
Multilateralismus der WHO, sei<br />
„vor allen Dingen ein Marktmultilateralismus“.<br />
Sie forderte Rechenschaftslegung <strong>und</strong> Transparenz,<br />
um die unterschiedlichen Akteure zur<br />
Offenlegung ihrer Interessen zu zwingen. Der<br />
Konflikt lautet: öffentliche Interessen, in deren<br />
Mittelpunkt die Realisierung des verbrieften<br />
Rechts auf Ges<strong>und</strong>heit stehen, versus private<br />
<strong>und</strong> gewinnorientierte Interessen. Es geht also<br />
nicht nur um eine Demokratisierung der WHO,<br />
sondern auch um ihre Repolitisierung. „Ohne<br />
Öffentlichkeit wird das nicht gehen“, so Gebauer.<br />
Diese herzustellen ist auf globaler Ebene<br />
aber eine große Herausforderung.<br />
Wie das in geradezu ungeahnter <strong>und</strong> radikaler<br />
Weise vonstatten gehen kann, berichtete Dr.<br />
Alaa Shukralla aus Ägypten. Der seit Jahren<br />
politisch aktive Kinderarzt erläuterte in seinem<br />
analytischen Beitrag die Stationen der ägyptischen<br />
Revolution <strong>und</strong> ihre Vorgeschichte, bei<br />
der jahrelange Ges<strong>und</strong>heitskämpfe eine große<br />
Rolle spielten. Aber niemand konnte die Macht<br />
des Tahrir-Platzes vorhersehen. „Diese Erfahrung“,<br />
so Shukralla, „kann uns keiner nehmen.<br />
Die Ereignisse in Ägypten sind ein Beweis <strong>für</strong><br />
das völlige Scheitern des globalen Neoliberalismus“.<br />
Dieser machte sich in Ägypten durch<br />
die Verschlechterung des Bildungs- <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitswesens<br />
sowie einer wachsenden<br />
Korruption in der Polizei bemerkbar. Am Ende<br />
dieser Entwicklung stand der Aufstand. Wenn<br />
der richtige Moment, die öffentliche Bewegung<br />
<strong>und</strong> die Institution, die Träger der Veränderung<br />
sein könnte, zusammenkommen, dann hat das<br />
Recht auf Ges<strong>und</strong>heit auch global seine Chance.<br />
An dieser – noch – utopischen Schnittstelle<br />
kamen die drei medico-Panels zusammen. Erreicht<br />
ist sie nicht, aber gedacht werden muss<br />
sie.<br />
Auf unserer Webseite www.medico.de finden<br />
Sie Audio-Mitschnitte der Veranstaltungen.<br />
Katja Maurer, medico international<br />
Kinderges<strong>und</strong>heit<br />
Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />
Satellitentagung „Ges<strong>und</strong> aufwachsen <strong>für</strong> alle!“ /<br />
Familiäre <strong>Armut</strong> /Interview mit<br />
Prof . Dr . Reinhart Wolff / Väter in den Frühen Hilfen<br />
„Wir können es uns nicht leisten,<br />
nicht in das ges<strong>und</strong>e Aufwachsen aller Kinder<br />
zu investieren“<br />
Satellitentagung „Ges<strong>und</strong> aufwachsen <strong>für</strong> alle!“<br />
„Wir stehen am Ende, wir stehen mittendrin<br />
<strong>und</strong> irgendwie auch am Anfang“ – treffender<br />
hätte Rainer Schubert, Sozialreferent der Stadt<br />
Braunschweig, die Rahmenbedingungen <strong>für</strong><br />
ein ges<strong>und</strong>es Aufwachsen der Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen<br />
in Deutschland nicht fassen können.<br />
Denn noch immer sind Kinder <strong>und</strong> Jugendliche<br />
aus sozial benachteiligten Familien einem<br />
höheren ges<strong>und</strong>heitlichen Risiko ausgesetzt.<br />
Der nun von der B<strong>und</strong>eszentrale <strong>für</strong> ges<strong>und</strong>heitliche<br />
Aufklärung initiierte Partnerprozess<br />
„Ges<strong>und</strong> aufwachsen <strong>für</strong> alle!“, welcher die<br />
Förderung der Ges<strong>und</strong>heit bei Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen<br />
durch kommunale Zusammenarbeit<br />
zum Ziel hat, setzt hier an. Er involviert<br />
Kommunen mit den unterschiedlichsten Erfahrungen,<br />
Herangehensweisen <strong>und</strong> Strategien<br />
zum ges<strong>und</strong>en Aufwachsen <strong>und</strong> bringt sie in<br />
einen gemeinsamen Lernprozess. Denn einige<br />
der Kommunen stehen bei der Entwicklung von<br />
Präventionsketten noch am Anfang, während<br />
andere bereits vielfältige Unterstützungsangebote<br />
<strong>für</strong> Familien, Kinder <strong>und</strong> Jugendliche in<br />
schwieriger sozialer Lage vorweisen.<br />
Gemeinsame Lernprozesse <strong>für</strong> ein<br />
ges<strong>und</strong>es Aufwachsen<br />
Die Satellitenveranstaltung „Ges<strong>und</strong> aufwachsen<br />
<strong>für</strong> alle!“ zum 17. <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
widmete sich diesem kommunalen<br />
Partnerprozess sowie weiteren integrierten<br />
Handlungsansätzen, die in vielfältigen Workshops<br />
vorgestellt <strong>und</strong> diskutiert wurden.<br />
Stefan Pospiech, Geschäftsführer von Ges<strong>und</strong>heit<br />
Berlin-Brandenburg, hob bereits in seiner<br />
Begrüßung hervor, dass ein solches Vorhaben<br />
Raum <strong>und</strong> Zeit sowie viel Geduld benötige. Nur<br />
dann können nachhaltige Lernprozesse initiiert<br />
werden <strong>und</strong> fruchtbare Ergebnisse sowie Erkenntnisse<br />
hervorbringen. Die Veranstaltung<br />
am 8. März griff diesen Gedanken auf <strong>und</strong> bot<br />
den unterschiedlichsten Akteuren aus dem Ges<strong>und</strong>heitssektor,<br />
der Kommune, der Wissenschaft<br />
<strong>und</strong> der Praxis in den Räumlichkeiten<br />
der Technischen Universität Berlin eine Plattform,<br />
sich auszutauschen <strong>und</strong> die gemeinsame<br />
Agenda „Ges<strong>und</strong> aufwachsen <strong>für</strong> alle!“ voranzutreiben.
Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12 Kinderges<strong>und</strong>heit<br />
Dr. Frank Lehmann von der B<strong>und</strong>eszentrale <strong>für</strong><br />
ges<strong>und</strong>heitliche Aufklärung erläuterte zum<br />
Einstieg das Vorhaben <strong>und</strong> die Entwicklung<br />
des Partnerprozesses „Ges<strong>und</strong> aufwachsen <strong>für</strong><br />
alle!“ im gemeinsamen Kooperationsverb<strong>und</strong><br />
„<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> bei sozial Benachteiligten“.<br />
Die Handlungsempfehlungen „Ges<strong>und</strong>heitschancen<br />
von sozial benachteiligten<br />
Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen nachhaltig verbessern!“<br />
bieten hier<strong>für</strong> die inhaltliche Gr<strong>und</strong>lage.<br />
Der Partnerprozess führt nun solche Kommunen<br />
zusammen, die sich auf den Weg gemacht<br />
haben, kommunale Präventionsketten zur Förderung<br />
der Ges<strong>und</strong>heit von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen<br />
aufzubauen. Sie verfolgen gemeinsam<br />
das Ziel, Unterstützungsangebote in ihren<br />
Kommunen bedarfsgerecht <strong>und</strong> ressortübergreifend<br />
aufeinander abzustimmen.<br />
Präventionskette im Aufbau:<br />
Braunschweig<br />
In der Veranstaltung wurde deutlich, dass das<br />
Vorhaben einer gemeinschaftlichen Zusammenarbeit<br />
von allen relevanten Akteuren <strong>für</strong><br />
ein ges<strong>und</strong>es Aufwachsen aller Kinder einen<br />
immerwährenden Prozess darstellt. Dass ein<br />
solcher Prozess keinen Anfang <strong>und</strong> kein Ende<br />
haben kann, verdeutlichte auch Rainer Schubert<br />
in seinem Vortrag. Anschaulich beschrieb<br />
er, wie in der Stadt Braunschweig eine systematische<br />
Zusammenarbeit zur Verbesserung<br />
der Ges<strong>und</strong>heitschancen von sozial benachteiligten<br />
Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen entwickelt<br />
wurde. Anlass <strong>für</strong> den Aufbau eines Präventionsnetzwerkes<br />
war ein Zeitungsartikel aus<br />
dem Jahr 2007 mit der Überschrift: „Kindern ist<br />
die Mahlzeit im Schulzentrum Braunschweig-<br />
Volkmarode zu teuer“. Angefangen von der<br />
Frage der Zuständigkeit, einer Datenlagenerhebung,<br />
über ein Zehn-Schritte-Programm,<br />
den Aufbau eines Präventionsnetzwerkes <strong>und</strong><br />
den dazu gehörigen Beirat bis hin zu konkreten<br />
Projektentwicklungen wurde das Thema Prävention<br />
<strong>für</strong> Kinder <strong>und</strong> Familien systematisch<br />
<strong>und</strong> zusammen mit allen sozialen Akteuren der<br />
Stadt forciert. Langfristige Kooperationen wurden<br />
gestärkt: „Ganz Braunschweig sollte sich<br />
mit dem Thema auseinandersetzen“, so Schubert.<br />
Dieser Weg war selbstverständlich auch<br />
mit Hürden versehen. Diese konnten beispielsweise<br />
mit Hilfe einer externen Moderation <strong>und</strong><br />
einer ständig kritischen Selbstreflexion überw<strong>und</strong>en<br />
werden. Leitlinien wurden entwickelt<br />
<strong>und</strong> in die breite Diskussion gebracht. In diesem<br />
Jahr erfolgte dann die Übergabe der Handlungsempfehlungen<br />
zur <strong>Armut</strong>sprävention an<br />
den Oberbürgermeister.<br />
Zentrale Gr<strong>und</strong>sätze der Braunschweiger Aktivitäten<br />
sind:<br />
n Alle Kinder im Blick zu haben, also möglichst<br />
keine Spezialangebote <strong>für</strong> bestimmte<br />
Gruppen zu schaffen,<br />
n sich an den Bedürfnissen der Betroffenen<br />
zu orientieren,<br />
n das Hauptaugenmerk auf den Strukturaufbau<br />
statt auf spezielle, neue Maßnahmen<br />
zu legen <strong>und</strong><br />
n ein begleitendes Präventionsnetzwerk aufzubauen<br />
mit dem dazugehörigen Beirat unter<br />
der Geschäftsführung der Stadt.<br />
Neun Kernsätze der<br />
Braunschweiger Leitlinien<br />
Präambel: Jedes Kind ist herzlich willkommen,<br />
jedes Kind ist wichtig.<br />
1. Mütter <strong>und</strong> Väter erhalten bei Bedarf Unterstützung<br />
<strong>und</strong> Hilfe bei der Erziehung<br />
ihrer Kinder.<br />
2. Jedes Kind hat ein Recht auf Sicherung<br />
seiner angemessenen materiellen Lebensgr<strong>und</strong>lage.<br />
3. Jedes Kind hat ein Recht auf Sicherung<br />
seiner Gr<strong>und</strong>bedürfnisse nach Ges<strong>und</strong>heit,<br />
Bewegung, Ernährung, Sicherheit<br />
<strong>und</strong> Geborgenheit.<br />
4. Jedem Kind ist gesellschaftliche <strong>und</strong> soziale<br />
Teilhabe zu ermöglichen.<br />
5. Jedem Kind einen erfolgreichen Bildungsweg<br />
sichern von Anfang an.<br />
6. Für jede Mutter <strong>und</strong> jeden Vater ist eine<br />
existenzsichernde Erwerbstätigkeit von<br />
zentraler Bedeutung.<br />
7. Jugendliche aktiv ins Erwerbsleben begleiten.<br />
8. Kinder, Jugendliche <strong>und</strong> deren Eltern<br />
sind zu beteiligen.<br />
9. Das Netzwerk zur Prävention von Kinder-<br />
<strong>und</strong> Familienarmut <strong>und</strong> zur Linderung<br />
der Folgen ist zu intensivieren <strong>und</strong> weiterzuentwickeln.<br />
Zum Abschluss der Präsentation fasste Herr<br />
Schubert die ganz gr<strong>und</strong>sätzlichen Aspekte zusammen,<br />
ohne die eine systematische Zusammenarbeit<br />
nicht funktionieren kann: der Respekt<br />
voreinander, Verständnis <strong>für</strong>einander,<br />
ganz viel Offenheit, Hilfe <strong>und</strong> Unterstützung<br />
von außen sowie ein großes diplomatisches<br />
Geschick der zentral handelnden Personen.<br />
Wirksamkeit von kommunalen<br />
Gesamtkonzepten: Dormagen<br />
Auch Heinz Hilgers, ehemaliger Bürgermeister<br />
der Stadt Dormagen, machte in seinem Vortrag<br />
anschaulich deutlich, wie erfolgreich ein partnerschaftlicher<br />
Austausch sein kann. Kinderarmut<br />
besteht weiterhin als ein immer noch<br />
dringliches <strong>und</strong> strukturelles Problem, welches<br />
negative Auswirkungen auf Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong><br />
Bildung der Kinder hat, die es nicht zu verharmlosen<br />
gilt. „Für ein Aufwachsen von Kindern<br />
<strong>und</strong> die Lebens- <strong>und</strong> Zukunftschancen<br />
von Kindern ist es ganz entscheidend, dass sie<br />
ges<strong>und</strong> sind <strong>und</strong> dass sie Bildungschancen<br />
haben. Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Bildung sind elementare<br />
Voraussetzungen“, so Hilgers. Genau diese<br />
Voraussetzungen wurden in Dormagen verbessert<br />
<strong>und</strong> hier<strong>für</strong> ein Netzwerk <strong>für</strong> Prävention<br />
aufgebaut. Denn wie die Forschung des Nobelpreisträgers<br />
<strong>für</strong> Wirtschaft, James Heckman,<br />
„Life Cycle Skill Formation“ (2007) eindrucksvoll<br />
belegt: „Prävention rechnet sich, wenn<br />
man so früh wie möglich anfängt“. In Dormagen<br />
wurde das Präventionsprojekt sogar in<br />
Zeiten eines Nothaushaltes mit zusätzlichen<br />
Investitionen auf den Weg gebracht. Hilgers<br />
argumentierte: „Wir sind so arm, wir können<br />
uns nicht leisten, das nicht zu machen.“<br />
Mit dem Netzwerk Frühe Förderung konnte in<br />
Dormagen – orientiert an den Bedürfnissen der<br />
Menschen – eine Präventionskette gestaltet<br />
<strong>und</strong> im Laufe der Jahre weiterentwickelt werden.<br />
So gibt es kein einziges Kind in Dormagen,<br />
welches im Alter von drei Jahren nicht den<br />
Kindergarten besucht. Die Erziehungspartnerschaft<br />
von Schule <strong>und</strong> Elternhaus wird zudem<br />
praktisch initiiert, in dem Lehrer/innen kurz<br />
nach dem Beginn des ersten Schuljahres Hausbesuche<br />
machen, was sowohl von den Lehrer/<br />
innen als auch von den Familien gerne angenommen<br />
wird.<br />
Neben der Hilfe zur Selbsthilfe <strong>und</strong> der Einbindung<br />
der Eltern kommt es laut Hilgers entscheidend<br />
darauf an, welche Philosophie ein<br />
solches Projekt hat <strong>und</strong> lebt. Der Wertschätzung<br />
kommt hier eine besondere Bedeutung<br />
zu – denn ohne diese können Menschen nicht<br />
erreicht <strong>und</strong> unterstützt werden. Hilgers gab<br />
auch zu verstehen, dass der wertschätzende<br />
Umgang miteinander eine hochprofessionelle<br />
Anforderung darstellt, welche immer wieder<br />
neu erarbeitet werden muss.<br />
In der Eröffnungsveranstaltung wurde nicht<br />
nur das Anliegen des Partnerprozesses „Ges<strong>und</strong><br />
aufwachsen <strong>für</strong> alle!“, sondern auch die<br />
vielfältigen Möglichkeiten, Herausforderungen<br />
<strong>und</strong> Chancen, die diese Plattform mit sich<br />
bringt, deutlich. Es konnte gezeigt werden, wie<br />
befruchtend der praktische <strong>und</strong> inhaltliche<br />
Austausch sein kann. Neben den wertvollen<br />
Anregungen <strong>für</strong> die Praxis stärkten die Beispiele<br />
aus Braunschweig <strong>und</strong> Dormagen vor allem<br />
die Entschlossenheit <strong>und</strong> die Motivation, den<br />
Aufbau von Präventionsketten weiter voranzubringen<br />
<strong>und</strong> aus Empfehlungen Aktivitäten<br />
werden zu lassen.<br />
Stefan Bräunling <strong>und</strong> Niels Löchel,<br />
Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />
Informationen r<strong>und</strong> um den Partnerprozess finden<br />
Sie auf der Website<br />
www.ges<strong>und</strong>heitliche-chancengleichheit.de.<br />
11
12<br />
Kinderges<strong>und</strong>heit<br />
Folgen familiärer <strong>Armut</strong><br />
<strong>und</strong> die Notwendigkeit gesellschaftlicher Rahmenbedingungen<br />
Will man die familiäre <strong>Armut</strong> in den Blick nehmen,<br />
lässt sich dies nicht ohne die sozioökonomische<br />
Situation der Eltern tun. 2009 waren<br />
laut Statistischem B<strong>und</strong>esamt r<strong>und</strong> 15,6 Prozent<br />
der Menschen in Deutschland armutsgefährdet.<br />
Wachsen Kinder in <strong>Armut</strong> auf bzw. leben Kinder<br />
in <strong>Armut</strong>, hat dies jedoch erhebliche Auswirkungen<br />
auf ihre Entwicklung: Diverse Studien<br />
verweisen auf multiple Folgen hinsichtlich<br />
der verschiedenen Lebenslagen. Diese stehen<br />
häufig in Wechselwirkung zueinander <strong>und</strong> lassen<br />
sich daher nicht getrennt betrachten. Bezogen<br />
auf die materielle Dimension lassen<br />
sich Einsparungen in der Ernährung im Hinblick<br />
auf die Qualität zugunsten der Quantität von<br />
Lebensmitteln ausmachen. Dabei ist es keine<br />
Seltenheit, dass Kinder auf dem Weg zur Schule<br />
die elterliche Wohnung ohne ein Frühstück<br />
verlassen. Eltern mit geringem Einkommen<br />
nehmen Einsparungen an der Bekleidung zuforderst<br />
bei sich selbst vor. Sie greifen hier<strong>für</strong><br />
häufig auf getragene Kleidung aus Kleiderkammern<br />
<strong>und</strong> Tauschbörsen oder auf Sonderangebote<br />
bei Billigdiscountern zurück. Bezüglich<br />
der Wohnverhältnisse müssen Kinder aus finanziell<br />
schwachen Familien Einschränkungen<br />
in der Lage, Größe <strong>und</strong> Ausstattung des Wohnraums<br />
erleben. Aus Gründen der Sparsamkeit<br />
werden zum Teil einige Zimmer nicht beheizt.<br />
Neben den erwähnten Ausgleichsmöglichkeiten<br />
sind diese Familien auf die finanzielle Unterstützung<br />
durch Angehörige angewiesen, um<br />
Versorgungsengpässe auszugleichen.<br />
Die genannten materiellen Einschränkungen<br />
haben teilweise ges<strong>und</strong>heitliche Auswirkungen<br />
. So ist bei Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen aus<br />
armen Familien eine höhere Anfälligkeit <strong>für</strong><br />
chronische Krankheiten, Adipositas, Zahnkrankheiten<br />
<strong>und</strong> psychosomatische Erkrankungen<br />
zu beobachten als bei Gleichaltrigen<br />
aus nichtarmen Familien. Vorsorgeangebote<br />
<strong>und</strong> Früherkennungsuntersuchungen werden<br />
deutlich seltener genutzt, sodass sich in der<br />
Folge ein schlechterer Ges<strong>und</strong>heitszustand diagnostizieren<br />
lässt. Zudem lässt sich feststellen,<br />
dass diese Kinder in der Regel nicht an<br />
Frühförderungen oder entwicklungsunterstützenden<br />
Therapien teilnehmen. Häufig kommt<br />
zu einer unausgewogenen Ernährung ein Mangel<br />
an Bewegung hinzu.<br />
Die soziale Dimension bezieht sich auf das familiäre<br />
Zusammenleben, den Aufbau <strong>und</strong> die<br />
Ausgestaltung von sozialen Kontakten sowie<br />
die Entwicklung der Selbst- <strong>und</strong> Handlungs-<br />
kompetenzen von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen.<br />
Das familiäre Zusammenleben ist von einer<br />
hohen Autonomie der Heranwachsenden <strong>und</strong><br />
wenigen Ritualen – wie das morgendliche Wecken<br />
oder regelmäßige, gemeinsame Mahlzeiten<br />
– geprägt. Soziale Kontakte können häufig<br />
nicht gepflegt werden, da sie mit finanziellen<br />
Aufwendungen verb<strong>und</strong>en sind. Folglich treten<br />
diese Familien den sozialen Rückzug an. Für<br />
die Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen ergibt sich aus<br />
den fehlenden sozialen Bindungen ein geringes<br />
Selbstbewusstsein, welches schlussendlich<br />
auch Auswirkungen auf die Resilienz der<br />
Heranwachsenden hat. Um sich nicht in die<br />
Auseinandersetzung mit den eigenen Wünschen<br />
<strong>und</strong> Möglichkeiten begeben zu müssen,<br />
suchen sie sich einen Fre<strong>und</strong>eskreis, der ihnen<br />
in ihrer Situation gleichgestellt ist.<br />
Unter der kulturellen Dimension ist neben der<br />
schulischen <strong>und</strong> außerschulischen Bildung<br />
auch das Erlernen kultureller Kompetenzen zu<br />
verstehen. Ist das Bildungsniveau der Eltern<br />
nur gering <strong>und</strong> die finanzielle Belastung stark<br />
ausgeprägt, so ist ein Besuch einer weiterführenden<br />
Schule durch das Kind eher unwahrscheinlich.<br />
Ressourcen der Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen,<br />
die <strong>für</strong> den Bildungsprozess benötigt<br />
werden, stehen aufgr<strong>und</strong> der Auseinandersetzung<br />
mit der familiären <strong>Armut</strong>ssituation nicht<br />
zur Verfügung. Somit ist ein schulisches Scheitern<br />
bzw. Schulverweigerung eine häufige Folge<br />
der materiellen Mangellage. Sind kostenlo-<br />
Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />
se außerschulische Angebote aufgr<strong>und</strong> fehlender<br />
Infrastruktur nicht vorhanden, verbringen<br />
diese Heranwachsenden ihre Freizeit häufiger<br />
vor dem Fernseher oder auf den Straßen bzw.<br />
Plätzen in ihrem Wohngebiet. Da in den meisten<br />
Haushalten kein PC vorhanden ist, wird der<br />
Umgang mit den neuen Medien <strong>für</strong> diese Kinder<br />
<strong>und</strong> Jugendlichen erschwert.<br />
Folglich ist es <strong>für</strong> diese Familien <strong>und</strong> Kinder<br />
in besonderem Maße erforderlich, gesetzliche<br />
<strong>und</strong> gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu<br />
schaffen, die ihnen eine Überwindung der <strong>Armut</strong>ssituation<br />
ermöglicht. Dies muss von allen<br />
gesellschaftlichen <strong>und</strong> politischen Akteuren<br />
von B<strong>und</strong>, Ländern <strong>und</strong> Kommunen in den<br />
Blick genommen <strong>und</strong> umgesetzt werden. An<br />
erster Stelle muss dabei die Verbesserung der<br />
materiellen Lage von Familien im unteren Einkommensbereich<br />
stehen, bspw. durch die Einführung<br />
eines gesetzlichen Mindestlohns. Der<br />
Ausbau der lokalen Infrastruktur sowie des sozialen<br />
Wohnungsbaus, der kostenlose Zugang<br />
zum Ges<strong>und</strong>heitssystem <strong>und</strong> die Erweiterung<br />
des Betreuungsangebotes <strong>für</strong> Kinder <strong>und</strong> Jugendliche<br />
muss flächendeckend umgesetzt<br />
werden. Von <strong>Armut</strong> betroffene Familien müssen<br />
unterstützt werden, um diese Angebote<br />
mit ihren Kindern wahrzunehmen <strong>und</strong> um Entlastung<br />
im Alltag zu erfahren. Darüber hinaus<br />
sind kommunale Ansätze einer <strong>Armut</strong>spräventionskette<br />
von der Geburt bis zum erfolgreichen<br />
Berufseinstieg flächendeckend auszubauen.<br />
Nur so kann <strong>für</strong> die Zukunft sichergestellt<br />
werden, dass in Deutschland kein Kind<br />
zurückgelassen wird.<br />
Carola Schmidt, Nationale <strong>Armut</strong>skonferenz
Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12 Kinderges<strong>und</strong>heit<br />
„Flexible Netzwerke schaffen“<br />
Prof . Dr . Reinhart Wolff, Kronberger Kreis <strong>für</strong> Dialogische<br />
Qualitätsentwicklung e .V . über Familien in <strong>Armut</strong> <strong>und</strong><br />
Herausforderungen an Hilfesysteme<br />
Info_Dienst: Herr Wolff, Sie haben im Rahmen<br />
Ihres Beitrages die Teilnehmenden danach gefragt,<br />
ob sie arme Familien kennen, Kontakt zu<br />
ihnen haben oder gar mit ihnen befre<strong>und</strong>et<br />
sind. Was waren Ihre Absichten dahinter?<br />
Scheuen wir insgeheim den Kontakt zu armen<br />
Familien?<br />
Wolff: Menschen, die am Rande der Gesellschaft<br />
leben, die arm sind, haben wenig Kontakt<br />
zu anderen Menschen. Sie sind isoliert.<br />
Unterstützung von Fre<strong>und</strong>en erfahren sie nur<br />
gelegentlich. Oft fehlen Unterstützer, die verlässlich<br />
an ihrer Seite sind, völlig. Der Begründer<br />
der französischen Anti-<strong>Armut</strong>sbewegung<br />
„Vierte Welt“, Père Joseph Wresinski, hat immer<br />
wieder darauf hingewiesen: „Um sich<br />
selbst als Persönlichkeit hervorzubringen, ein<br />
Herz <strong>und</strong> einen Verstand zu erschaffen, sind<br />
andere Menschen nötig. Und wir sind nicht zu<br />
diesen Anderen geworden; <strong>und</strong> weil wir nicht<br />
zu Brüdern geworden sind, ist der Arme zu einem<br />
Einsamen, einem Solitaire, geworden. Mit<br />
diesem Wort ‚Solitaire“, habe ich euch alles<br />
gesagt.“ 1<br />
Wer in der Sozialen Arbeit, in der Kinder- <strong>und</strong><br />
Jugendhilfe armen Familien helfen will, muss<br />
soziale Schranken durchbrechen <strong>und</strong> ihnen begegnen,<br />
muss sie kennenlernen <strong>und</strong> mit ihnen<br />
Bündnisse schließen. Sonst gelingt weder Unterstützung<br />
noch Veränderung. Aber die professionellen<br />
Helfer/innen kommen häufig aus<br />
anderen Schichten oder sind gerade aus den<br />
unteren Schichten aufgestiegen. Sie neigen<br />
dazu – nicht selten aus Unsicherheit <strong>und</strong> Angst<br />
–, sich abzugrenzen <strong>und</strong> darum bleiben ihnen<br />
die Menschen aus benachteiligten <strong>und</strong> ausgegrenzten<br />
Bevölkerungsschichten fremd. Um<br />
tatsächlich helfen zu können, muss man die<br />
Armen kennen <strong>und</strong> schätzen lernen, muss man<br />
sich anrühren lassen von ihrer Menschlichkeit,<br />
ihrer Kreativität <strong>und</strong> ihrem Lebensmut, ganz<br />
gleich, wie groß ihr aktuelles Elend <strong>und</strong> ihre<br />
bittere Not sind. Die Erfahrung einer Begegnung<br />
im Dialog, bei der man einander wahrnehmen<br />
<strong>und</strong> kennenlernen kann <strong>und</strong> herausfinden<br />
kann, was arme Familien wünschen <strong>und</strong><br />
brauchen, ist die Basis gelebter Solidarität.<br />
Info_Dienst: Sie gehen davon aus, dass es den<br />
Hilfesystemen in Deutschland oft schwer fällt<br />
bzw. nicht gelingt, eine Brücke zu armen Familien<br />
zu bauen. Woran liegt das Ihrer Meinung<br />
nach?<br />
Wolff: Auch soziale Hilfesysteme sind eingeb<strong>und</strong>en<br />
in gesellschaftliche <strong>und</strong> politische<br />
Machtsysteme, die sie stützen. Das gilt auch<br />
<strong>für</strong> den modernen demokratischen Wohlfahrtsstaat.<br />
Mit seiner Krise, die mit der Krise der<br />
Normalarbeitsverhältnisse <strong>und</strong> dem Umbruch<br />
in den familialen Lebensverhältnissen einhergeht,<br />
d.h. seinem Rück- <strong>und</strong> Abbau im Zuge<br />
des ‚neuen Geistes des Kapitalismus’, kommt<br />
es regelrecht zu einer Wiederkehr harter Klassenverhältnisse.<br />
Und dann sind Ausgleich <strong>und</strong><br />
Umverteilung der Ressourcen <strong>und</strong> eine solide<br />
Verankerung in integrativen Beziehungsnetzwerken<br />
2 nicht mehr angesagt. „Wenn es einen<br />
Teil der Bevölkerung gibt, der erstens nicht<br />
beschäftigt werden kann <strong>und</strong> <strong>für</strong> den zweitens<br />
die Versorgungsressourcen knapp werden,<br />
dann sind diejenigen, die in Lohn <strong>und</strong> Brot stehen,<br />
schnell bereit, diese Menschen <strong>für</strong> entbehrlich<br />
zu halten.“ 3<br />
Leider lassen sich darum auch soziale Fachkräfte<br />
immer wieder zu willfährigen Agenten<br />
einer solchen Ausgrenzung <strong>und</strong> eines gesellschaftlichen<br />
Containments von Randschichten<br />
machen <strong>und</strong> dann setzen sie auf Beobachtung<br />
<strong>und</strong> kontrollierende Behandlung von außen,<br />
ohne die Familien in Konflikten <strong>und</strong> Not zu erreichen.<br />
Identifikation mit den Privilegierten<br />
<strong>und</strong> ein schwaches Engagement <strong>für</strong> Menschenrechte<br />
<strong>und</strong> soziale Gerechtigkeit tragen dazu<br />
bei. Dass arme Familien ihrerseits aber auch<br />
den Kontakt zu hilfreichen Helfer/innen abblocken<br />
oder abbrechen, aufgr<strong>und</strong> schlechter Erfahrungen<br />
mit den Institutionen <strong>und</strong> Professionellen<br />
einen offenen Austausch <strong>und</strong> produktive<br />
Arbeitsbeziehungen abwehren oder lieber<br />
die Flucht ergreifen, anstatt sich auf Hilfe einzulassen,<br />
spielt freilich auch eine Rolle. Aber<br />
wenn Widerstand <strong>und</strong> Abwehr nicht als Interaktionsmuster<br />
hintergründiger Konfliktdynamik<br />
erkannt <strong>und</strong> durchgearbeitet werden kann,<br />
kann die materielle, die kulturelle, die soziale<br />
<strong>und</strong> seelische Kluft nicht überbrückt werden,<br />
können die Fachkräfte <strong>und</strong> arme Familien nicht<br />
zueinander finden, um einen Prozess ‚transformativer<br />
Transaktionen’ 4 zu gestalten.<br />
Info_Dienst: Was braucht es aus Ihrer Sicht,<br />
um Familien in großer <strong>Armut</strong> zu unterstützen?<br />
Welche Empfehlungen geben Sie den Unterstützungssystemen?<br />
Wolff: Die sozialen, ges<strong>und</strong>heitlichen <strong>und</strong> Unterstützungs-<br />
<strong>und</strong> Bildungssysteme (von der<br />
Gemeinwesenarbeit, der Arbeitsförderung <strong>und</strong><br />
Wohnhilfe, den Hilfen r<strong>und</strong> um die Geburt, den<br />
Frühen Hilfen <strong>für</strong> junge Familien, Eltern <strong>und</strong><br />
Kinder, der Kindertageserziehung, der Elternbildung,<br />
der Erziehungs- <strong>und</strong> Familienberatung<br />
<strong>und</strong> -therapie <strong>und</strong> der kinder- <strong>und</strong> jugendmedizinischen<br />
<strong>und</strong> sozialpsychiatrischen Hilfen bis<br />
hin zur sozialpädagogischen Beratung, der<br />
Gruppen- <strong>und</strong> Jugendarbeit <strong>und</strong> zu den Hilfen<br />
zur Erziehung) müssen zu miteinander verb<strong>und</strong>enen<br />
Orten der anti-oppressiven Begegnung<br />
werden, zu Orten, die Schutz gewähren <strong>und</strong> die<br />
Entwicklung <strong>und</strong> Lernen ermöglichen. Die frühe<br />
Settlement-Bewegung hat uns schon früh<br />
gezeigt, wie ein solcher Hilfeverb<strong>und</strong> aussehen<br />
kann. Wir müssen deswegen die im Zuge hochgradiger<br />
Arbeitsteiligkeit entstandene Versäulung<br />
des professionellen Unterstützungssystems<br />
wieder rückgängig machen <strong>und</strong> flexible<br />
Netzwerke schaffen, die Leitideen, Haltungen,<br />
Programme <strong>und</strong> Methoden dialogisch-demokratischer<br />
Praxis stark machen, um den Menschen<br />
nachhaltig Handlungschancen <strong>und</strong> Kompetenzerweiterung<br />
zu ermöglichen, die zu wenig<br />
oder keine Teilhabechancen haben. Programmatisch<br />
gehören dazu: (1) Gemeinwesenarbeit<br />
zur Stärkung solidarischer Nachbarschaft<br />
auf Gegenseitigkeit (2) Förderung <strong>und</strong><br />
Vermittlung von Erwerbsarbeit <strong>und</strong> von unternehmerischer<br />
Selbständigkeit (3) Unterstützung<br />
<strong>und</strong> Verbesserung der Haus- <strong>und</strong> Gartenarbeit<br />
(4) ges<strong>und</strong>heitliche, soziale <strong>und</strong> pädagogische<br />
Versorgung, Betreuung, Hilfe <strong>und</strong><br />
Schutz („care“) (5) Bildungs- <strong>und</strong> Erziehungsarbeit<br />
innerhalb <strong>und</strong> außerhalb der Familie (6)<br />
Jugend- <strong>und</strong> soziale Kulturarbeit (7) psychologische,<br />
therapeutische <strong>und</strong> sozialpsychiatrische<br />
Arbeit.<br />
Wenn wir so programmatisch ansetzen, uns<br />
mehrseitig vernetzen <strong>und</strong> in unseren Einrichtungen<br />
<strong>und</strong> Organisationen aus Fehlern <strong>und</strong><br />
Erfolgen lernen, können die Unterstützungssysteme<br />
zu lernenden Organisationen werden.<br />
Info_Dienst: Vielen Dank <strong>für</strong> das Gespräch.<br />
Die Fragen stellte Annett Schmok.<br />
1 Übersetzung Reinhart Wolff; vgl. Rosenfeld, Jona M./ Tardieu,<br />
Bruno (1998): Artisans de démocratie. Paris, S.11.<br />
2 vgl. auch Castel, Robert/ Dörre, Klaus (Hg.) (2009): Prekarität,<br />
Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn<br />
des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts. Frankfurt/NewYork: Campus<br />
3 Budde, Heinz/ Willisch, Andreas (2008): Die Debatte über<br />
die ‚Überflüssigen’. In: Dieselben (Hg.): Exklusion: Frankfurt<br />
a. M.: Suhrkamp. S. 26<br />
4 Jona M. Rosenfeld<br />
13
14<br />
Kinderges<strong>und</strong>heit<br />
Väter in den Frühen Hilfen<br />
Herausforderungen <strong>und</strong> Chancen<br />
Väter sind bezüglich Pflege, Erziehung <strong>und</strong><br />
Umgang mit Säuglingen ebenso kompetent<br />
wie Mütter. Sie nehmen allerdings häufig eine<br />
stärker physisch stimulierende <strong>und</strong> die Eigenständigkeit<br />
fördernde Rolle ein, während Mütter<br />
ein eher vorsichtiges Verhalten zeigen. Die<br />
Vater-Kind-Bindung hat eine wichtige eigenständige<br />
Bedeutung <strong>für</strong> die Entwicklung des<br />
Kindes. Verschiedene Studien haben gezeigt,<br />
dass die Abwesenheit des Vaters mit negativen<br />
Auswirkungen, zum Beispiel in der psychosozialen<br />
Anpassung, einhergehen kann. Daher<br />
sollte ein Einbezug von Vätern in alle Angebote<br />
<strong>für</strong> Familien, insbesondere in die sensible Palette<br />
der Interventionen im Rahmen der Frühen<br />
Hilfen, angestrebt werden.<br />
Herausforderungen<br />
Eine zentrale Herausforderung dabei ist die<br />
Berücksichtigung des Geschlechtsrollenstereotyps,<br />
dass „Mann“ keine Probleme hat oder<br />
zumindest selbstständig in der Lage ist, sie zu<br />
lösen. Hier sollten die Helferinnen soweit möglich<br />
den Impuls des Vaters zum eigenständigen<br />
Lösen von Problemen unterstützen. Die Vaterschaft<br />
beinhaltet auch die Übernahme unterschiedlicher<br />
sozialer Rollen, insbesondere in<br />
der Entwicklung von der Paar- zur Elternbeziehung.<br />
Dieser Rollenwechsel zum Vater hat<br />
dann besonders gute Chancen zu gelingen,<br />
wenn die übernommenen Rollenbilder mit den<br />
wahrgenommenen Anforderungen in Einklang<br />
zu bringen <strong>und</strong> überdies realistisch umzusetzen<br />
sind. Darüber hinaus gibt es organisatorische<br />
Herausforderungen <strong>für</strong> den Einbezug von<br />
Vätern. Da die Aufnahme in die Projekte zumeist<br />
über die Mütter erfolgt, führt dies häufig<br />
auch zu einem stärkeren Engagement dieser.<br />
Die aufsuchenden Fachkräfte sind zudem so<br />
gut wie immer Frauen <strong>und</strong> können daher häufig<br />
leichter einen Zugang zu Frauen als zu Männern<br />
finden.<br />
Chancen<br />
Wichtige Voraussetzungen <strong>für</strong> einen gelingenden<br />
Einbezug von Vätern sind eine positive<br />
Gr<strong>und</strong>einstellung den Vätern gegenüber sowie<br />
ein allgemeines Verständnis da<strong>für</strong>, dass die<br />
Berücksichtigung der Perspektive von Kind,<br />
Mutter <strong>und</strong> Vater besondere Chancen bietet.<br />
Die Fachkräfte sollten eine wertschätzende<br />
Gr<strong>und</strong>haltung gegenüber den Vätern einnehmen,<br />
die zunächst einmal unabhängig von akuten<br />
Herausforderungen ist. Die reale Situation<br />
<strong>und</strong> tatsächliche Bemühungen der Väter sollten<br />
wahrgenommen werden, ohne ihnen ein<br />
Idealbild des perfekten Vaters entgegen zu<br />
halten. Gr<strong>und</strong>sätzlich ist die Einnahme einer<br />
salutogenetischen Perspektive, die Stärken<br />
<strong>und</strong> Ressourcen der Familie in den Mittelpunkt<br />
rückt, sehr förderlich. Ein solcher Zugang ermöglicht<br />
ein <strong>für</strong> den Selbstwert des Vaters gefahrloses<br />
Akzeptieren der Frühen Hilfen, da<br />
diese keine Bedrohung darstellen.<br />
Väter im Präventionsprojekt<br />
„Keiner fällt durchs Netz“ (KfdN)<br />
Der im Projekt „Keiner fällt durchs Netz“ (KfdN)<br />
vorhandene Schwerpunkt des gleichberechtigten<br />
Einbezugs von Vätern führte zu den folgenden<br />
Aspekten:<br />
n Einbezug aller Väter durch alle aufsuchenden<br />
Fachkräfte (Familienhebammen <strong>und</strong><br />
Kinderkrankenschwestern)<br />
n Aufnahme von Daten der Mütter <strong>und</strong> Väter<br />
in die Ergebnisevaluation <strong>und</strong> Begleitforschung<br />
n Aufnahme der Sensibilisierung <strong>für</strong> die Belange<br />
der Väter in die Ausbildungscurricula<br />
zur Familienhebamme sowie in die regelmäßigen<br />
Fortbildungen <strong>und</strong> 14-tägigen Supervisionen<br />
Nach vier Projektjahren kann ein gemischtes<br />
Resümee gezogen werden. So waren in knapp<br />
28 Prozent aller Hausbesuche die Väter anwesend,<br />
allerdings lebten etwa 54 Prozent der Eltern<br />
im Projekt zusammen. Hier haben wir es<br />
mit einer auffallenden Diskrepanz zu tun.<br />
Mit den Vätern im Hausbesuchsprogramm<br />
wurde eine Umfrage zu Bedarfen nach spezifischen<br />
Angeboten durchgeführt. Etwa 47 Prozent<br />
der Männer hielten ein spezifisches Angebot<br />
<strong>für</strong> sinnvoll, wobei die Mehrheit sich <strong>für</strong> eine<br />
fortlaufende Vätergruppe entscheiden würde.<br />
Bei der anschließenden Frage, ob man persönlich<br />
teilnehmen würde, antworteten allerdings<br />
nur noch (oder immerhin?) 38 Prozent<br />
mit „ja“.<br />
Darüber hinaus geben unsystematische Rückmeldungen<br />
aus dem Projekt sowohl negative<br />
als auch positive Erfahrungen wieder. So meldeten<br />
Väter „belehrendes“ Verhalten der Fachkräfte.<br />
Familienhebammen berichteten über<br />
große Schwierigkeiten der Kontaktaufnahme<br />
mit einigen Vätern.<br />
Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />
Aber auch positive Einzelberichte von gelungener,<br />
teils origineller Kontaktaufnahme zu Vätern<br />
finden sich unter den Rückmeldungen. So<br />
berichtete etwa eine Familienhebamme, dass<br />
ihre Vorliebe <strong>für</strong> große H<strong>und</strong>e einen skeptischen<br />
Vater <strong>und</strong> H<strong>und</strong>ebesitzer verblüffte <strong>und</strong><br />
<strong>für</strong> sie einnahm, so dass nach einigen Besuchen<br />
auch zunehmend intensiv die Rolle als<br />
Vater thematisiert werden konnte. Als weitere<br />
gut geeignete „Türöffner“ erwiesen sich Themen<br />
der beruflichen Situation des Vaters.<br />
Abschließend ist festzuhalten, dass der unternommene<br />
Versuch des absolut gleichberechtigten<br />
Einbezugs der Väter wesentlich schwieriger<br />
umzusetzen ist als vorher erwartet. Es<br />
dürfte sinnvoll <strong>und</strong> zielführend sein, die Spezifika<br />
väterlichen Erlebens <strong>und</strong> Handelns deutlicher<br />
in die Weiter- <strong>und</strong> Fortbildungen der Fachkräfte<br />
zu integrieren. Schließlich stellt der Einbezug<br />
männlichen Personals eine Option dar,<br />
die möglichst umgehend umgesetzt werden<br />
sollte.<br />
Perspektivisch stellt sich die Frage, durch welche<br />
konkreten Anpassungen <strong>und</strong> Justierungen<br />
sich die Abstimmung zwischen den Anforderungen<br />
seitens der Väter <strong>und</strong> den Strukturen<br />
der Anbieterseite (Jugendhilfe <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsvorsorge)<br />
verbessern lässt.<br />
Andreas Eickhorst <strong>und</strong> Stefanie Peykarjou,<br />
Institut <strong>für</strong> Psychosomatische Kooperationsforschung<br />
<strong>und</strong> Familientherapie,<br />
Universitätsklinikum Heidelberg
Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12 Altern <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
Altern <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
Arm, alt, abgehängt / Nachbarschaftliche Hilfe –<br />
ein Weg zu Lebensqualität im Alter? / Interview mit<br />
Michael Bellwinkel, BKK B<strong>und</strong>esverband<br />
Arm, alt, abgehängt?<br />
Die Situation von älteren Menschen im ländlichen Raum<br />
„Ich musste viel arbeiten, schon mit 12 Jahren,<br />
also wenn ich so denke, ich musste wie eine<br />
Erwachsene arbeiten. Ich habe eigentlich mein<br />
ganzes Leben nur gearbeitet, habe viel gearbeitet<br />
<strong>und</strong> konnte auch doll arbeiten. Aber das<br />
geht nicht mehr. Der Rücken ist kaputt. Das<br />
macht nun mein Sohn, aber ist ja auch alles<br />
nichts mehr. Lohnt sich alles auch nicht mehr<br />
recht.“<br />
Anna, 78 Jahre, verwitwet, schildert, was viele<br />
ältere Menschen, die mit wenig Geld auskommen<br />
müssen, in ländlichen Gebieten erleben.<br />
Gemeinsam mit ihrem Sohn lebt sie auf einem<br />
Bauernhof, der seit mehreren Generationen im<br />
Familienbesitz ist. Es ist der letzte landwirtschaftliche<br />
Betrieb in ihrem ‚250-Seelendorf’.<br />
Ihr unverheirateter Sohn wird auch der letzte<br />
sein, der den Betrieb bewirtschaftet. Es rentiert<br />
sich nicht mehr. Geldsorgen <strong>und</strong> der Abschied<br />
von der eigenen Hofstätte stellen eine seelische<br />
Belastung dar.<br />
Die Studie „<strong>Armut</strong> in ländlichen Räumen“ 1 des<br />
Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen<br />
Kirche Deutschlands befragte Menschen,<br />
deren Lebenssituation ähnlich geprägt<br />
ist von<br />
n ges<strong>und</strong>heitlichen Einschränkungen,<br />
n einem strukturellen Wandel des dörflichen<br />
Lebens <strong>und</strong><br />
n zunehmender Vereinsamung der<br />
Menschen.<br />
Wenn dies auch vordergründig plakativ subjektiv<br />
anmutet, decken sich jedoch diese Ergebnisse<br />
mit einer Studie über <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ausgrenzung<br />
in ländlichen Gebieten der europäischen<br />
Kommission 2008. Dort wurden mehrere<br />
Problemfelder benannt, so auch:<br />
1 . Abgelegenheit<br />
Wo ist die nächste Einkaufsmöglichkeit? Post?<br />
Arzt? Wann fährt ein Bus? Was kostet die Fahrkarte?<br />
Die Infrastruktur ist häufig mangelhaft.<br />
2 . Demographie<br />
Die jungen Menschen wandern ab. So rechnet<br />
das B<strong>und</strong>esinstitut <strong>für</strong> Bau-, Stadt- <strong>und</strong> Raumforschung<br />
damit, dass 2025 die ländlich geprägten<br />
bzw. peripher gelegenen Gemeinden<br />
die stärksten Bevölkerungsverluste <strong>und</strong> die im<br />
Durchschnitt ältesten Bewohner/innen haben<br />
werden.<br />
Auch in den Interviews, die mit Menschen aller<br />
Altersgruppen, welche am Existenzminimum<br />
leben, geführt wurden, machte es den Anschein,<br />
dass bestimmte Menschen, Dörfer <strong>und</strong><br />
Regionen von den Zentren abgehängt werden<br />
<strong>und</strong> den Anschluss an gesellschaftliche Entwicklungen<br />
verpassen. Bisher gibt es wenige<br />
Konzepte <strong>für</strong> den sowohl diakonisch-kirchengemeindlichen<br />
als auch „säkularen“ Bereich,<br />
die die spezifischen Herausforderungen, wie<br />
zum Beispiel große Entfernungen <strong>und</strong> Überalterung,<br />
berücksichtigen.<br />
Die Ergebnisse der Befragung von Menschen in<br />
fünf niedersächsischen Landkreisen mit geringerer<br />
Bevölkerungsdichte <strong>und</strong> Pro-Kopf-Einkommen<br />
unter dem Landesdurchschnitt können<br />
in folgenden Kernaussagen zusammengefasst<br />
werden:<br />
Arme wollen nicht als Arme<br />
identifiziert werden<br />
Menschen, die von <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ausgrenzung<br />
betroffen sind, tun unendlich viel da<strong>für</strong>, um ihren<br />
Mangel zu verbergen: gegenüber der Nachbarschaft,<br />
aber auch gegenüber der eigenen<br />
Familie. Die versteckte <strong>und</strong> verschämte <strong>Armut</strong><br />
ist in ländlichen Räumen größer als in der<br />
Stadt. In Städten wird ein Sozialhilfeanspruch<br />
eher realisiert als in kleinen Gemeinden. 2<br />
Die soziale Kontrolle in der dörflichen<br />
Struktur wird als belastend erlebt –<br />
Arme fühlen sich ausgeschlossen aus der<br />
„Dorfgemeinschaft“ .<br />
Die soziale Dichte, das „Jeder kennt Jeden“,<br />
wird von vielen Dorfbewohner/innen durchaus<br />
positiv bewertet. Man kennt sich von Feiern,<br />
aus dem Verein, der Kirche. Für die, die sich<br />
zugehörig fühlen, sind das große Vorteile des<br />
Lebens auf dem Land.<br />
Für diejenigen, die jedoch nicht mithalten können,<br />
<strong>für</strong> die der Vereinsbeitrag zu teuer ist,<br />
oder die nichts zur Kaffeetafel beisteuern können,<br />
ist das anders: Es ist gerade die Nähe im<br />
1 Winkler, Marlis; Nähe, die beschämt. <strong>Armut</strong> auf dem Lande;<br />
Lit-Verlag 2010.<br />
2 Irene Becker <strong>und</strong> Richard Hauser, Dunkelziffer der <strong>Armut</strong>,<br />
Ausmaß <strong>und</strong> Ursachen der Nicht-Inanspruchnahme zustehender<br />
Sozialhilfeleistungen, Berlin 2005<br />
15
16<br />
Altern <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
Dorf, die als belastend erlebt wird. Es ist kaum<br />
möglich, Notlagen im Dorf geheim zu halten.<br />
Und weil sie versuchen, sich <strong>und</strong> ihren Mangel<br />
verborgen zu halten, leben Menschen in <strong>Armut</strong>ssituationen<br />
oft vereinzelt. Über <strong>Armut</strong><br />
wird nicht gesprochen. „Man kennt sich“, aber<br />
die Erfahrungen der Befragten zeigen, dass<br />
genau dies die gegenseitige Unterstützung<br />
verhindert. Wer kein Auto hat, keine Tupperware-Tortenbox,<br />
fühlt sich der Dorfgemeinschaft<br />
in der Regel nicht zugehörig, sondern empfindet<br />
<strong>und</strong> erlebt immer wieder Ausgrenzung<br />
durch andere – <strong>und</strong> zieht sich oft aktiv zurück.<br />
Aufgr<strong>und</strong> verschiedener Kränkungserfahrungen<br />
<strong>und</strong> Entmutigungen reagieren die Betroffenen<br />
sensibel auf Störungen im zwischenmenschlichen<br />
Kontakt. Je mehr sich diese Erfahrungen<br />
<strong>und</strong> ihr eigener Rückzug ausprägen<br />
<strong>und</strong> verfestigen, desto schwieriger wird es,<br />
aufeinander zuzugehen.<br />
Arme erleben in der ländlichen Struktur<br />
auch Freiheiten<br />
Neben der sozialen Kontrolle <strong>und</strong> dem Ausgrenzungserleben<br />
bietet das Leben auf dem<br />
Land jedoch durchaus Positives: Die Lebenszu-<br />
Nachbarschaftliche Hilfe –<br />
ein Weg zu Lebensqualität im Alter?<br />
sammenhänge sind übersichtlicher. Das allgemeine<br />
Konsumverhalten ist bescheidener, Mieten<br />
niedriger. Häufig ein weiterer Pluspunkt:<br />
das Haus mit Garten. Die Weite <strong>und</strong> Ruhe der<br />
Natur wird oft mit einem Gefühl von Freiheit<br />
verb<strong>und</strong>en.<br />
Mobilität ist ein Schlüssel zur Teilhabe<br />
Diese Freiheit hat ihren Preis. Die Befragten<br />
berichten von Mobilitätsproblemen bei Arztbesuchen,<br />
insbesondere zu Fachärzten oder zum<br />
Krankenhaus. Gerade ältere Menschen sind<br />
auf Unterstützung der Nachbarn oder der Familie<br />
angewiesen. Die Lebensqualität hängt <strong>für</strong><br />
viele Landbewohner/innen von einem Auto ab.<br />
Von der Kirche erwarten ältere<br />
Menschen in <strong>Armut</strong> ‚Beziehungsangebote’<br />
Bei den älteren Menschen ist deutlich: Die Kirche-im-Dorf<br />
ist ein wichtiger Bezugspunkt. Sowohl<br />
der Besuch des Pastors/der Pastorin als<br />
auch der Senior/innennachmittag gehören zu<br />
den ‚Höhepunkten’ des Alltags. Eine vertraute<br />
Beziehungsebene sowie die Präsenz des Pastors/der<br />
Pastorin im dörflichen Geschehen ist<br />
wichtig. Dies stellt jedoch die kirchlichen<br />
Herausforderungen an das Konzept des „dritten Sozialraums“<br />
Der demografische Wandel schafft menschheitsgeschichtlich<br />
neue soziale Herausforderungen,<br />
die die Grenzen von Familie, Staat <strong>und</strong><br />
Markt bei der Bewältigung neuer Bedarfe offenk<strong>und</strong>ig<br />
werden lassen. Ebenso kann von einer<br />
gesellschaftlichen Entwicklung ausgegangen<br />
werden, in der sich einerseits ein anhaltender<br />
Trend zu Individualisierung <strong>und</strong> Singularisierung<br />
abzeichnet, andererseits lässt sich<br />
eine kollektive Sehnsucht nach mehr sozialem<br />
Zusammenhalt <strong>und</strong> lebensbegleitenden Strukturen<br />
konstatieren.<br />
In diese Gemengelage setzt Klaus Dörner seine<br />
Vision des „dritten Sozialraums“ als tragendes<br />
Element der Sorge <strong>und</strong> Teilhabesicherung <strong>für</strong><br />
ältere Menschen (Dörner, K. 2007: Leben <strong>und</strong><br />
sterben wo ich hingehöre – Dritter Sozialraum<br />
<strong>und</strong> neues Hilfesystem. Paranus Verlag). Das<br />
individuelle Bedürfnis nach Sinnhaftigkeit <strong>und</strong><br />
Bedeutsamkeit <strong>für</strong> andere bezeichnet Dörner<br />
als die zentrale Triebfeder <strong>für</strong> nachbarschaftliches<br />
Engagement. In seinem Ansatz soll die<br />
Hilfeorientierung „nahe an den Menschen“<br />
sein. Institutionen <strong>und</strong> professionelle Helfer<br />
wären demnach nicht die geeigneten Orte <strong>und</strong><br />
Akteure, älteren Menschen ein gutes Leben<br />
<strong>und</strong> Sterben in ihrer vertrauten Umgebung zu<br />
ermöglichen. Zukünftig soll Nachbarschaftshilfe<br />
der Garant sein, individuelle Bedürfnisse<br />
hilfeabhängiger Menschen wahrzunehmen<br />
<strong>und</strong> bei der Gestaltung eines selbstbestimmten<br />
Lebens zu unterstützen. Die spannende<br />
Frage stellt sich, wie dieses Hilfekonzept realisiert<br />
<strong>und</strong> welche Zielgruppen damit erreicht<br />
werden können. Zum einen richtet es sich an<br />
Menschen, die offen sind, sich von Nach-<br />
Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />
Strukturen im ländlichen Raum, die aufgr<strong>und</strong><br />
der Gemeindeglieder-Zahlen verstärkt zusammengelegt<br />
werden, vor Herausforderungen<br />
<strong>und</strong> legt den Schwerpunkt auf die ehrenamtliche<br />
Arbeit, die jedoch aufgr<strong>und</strong> der geringen<br />
Bevölkerungsdichte problematisch ist. Auch<br />
die Entfernungen sind ein Problem. In einigen<br />
Gemeinden gibt es nun einen „Kirchenbulli“,<br />
der zu den jeweiligen Gemeindeveranstaltungen<br />
fährt. Auch die Besuchsdienstkreisarbeit<br />
weitet sich aus, wo früher nur die Geburtstagskinder<br />
besucht wurden, findet nun häufiger<br />
auch ein Besuch ‚zwischendurch’ statt.<br />
Anna Küster<br />
Anna Küster ist Pastorin im Kirchenkreis Hittfeld<br />
in Niedersachsen. Sie war Mitarbeiterin<br />
der im Jahr 2009 durchgeführten Studie „<strong>Armut</strong><br />
in ländlichen Räumen“ des Sozialwissenschaftlichen<br />
Instituts der Evangelischen Kirche<br />
in Deutschland.<br />
annakuester@web.de<br />
bar/innen unterstützen zu lassen, zum anderen<br />
an solche, die ihre Hilfsbereitschaft im unmittelbaren<br />
Wohnumfeld einsetzen wollen. Dör ner<br />
geht dabei von hohen Selbsthilfepotentialen in<br />
allen gesellschaftlichen Milieus aus <strong>und</strong> bezeichnet<br />
Nachbarschaftlichkeit als verlernte<br />
Kompetenz eines solidarischen Zusammenlebens,<br />
das der modernen individualisierten Gesellschaft<br />
abhanden gekommen zu sein scheint<br />
<strong>und</strong> wieder neu entdeckt werden müsse.<br />
Wie belastbar ist nachbarschaftliche Hilfe?<br />
Dass das Zusammenleben in Deutschland sehr<br />
unterschiedlich segregiert ist, belegen steigende<br />
Zahlen von Einpersonenhaushalten, aber<br />
auch zahlreiche Nachbarschaftsinitiativen <strong>und</strong><br />
funktionierende Hausgemeinschaften. Entscheidender<br />
ist aber die Frage, wie belastbar<br />
nachbarschaftliche Hilfe gr<strong>und</strong>sätzlich ist <strong>und</strong><br />
ob sie den zukünftigen Anforderungen an Sorge,<br />
Hilfe <strong>und</strong> Integration gerecht werden kann.<br />
Zu klären ist auch, wer die eigentlichen Erbringer/innen<br />
dieser Aufgaben sein sollen. Hier ist<br />
Dörners Adressierung eindeutig <strong>und</strong> wenig kritisch:<br />
In erster Linie sind es Frauen <strong>und</strong> in zweiter<br />
rüstige Rentner/innen. Damit wird deutlich,<br />
dass das Engagement an konkrete Bedingungen<br />
geknüpft ist, das die Engagierten in Form<br />
von zeitlichen <strong>und</strong> finanziellen Kapazitäten<br />
mitbringen müssen. Beides scheint bei genauerem<br />
Hinsehen als gesellschaftliche Ressource<br />
aufgr<strong>und</strong> verlängerter Lebensarbeitszeiten<br />
<strong>und</strong> sinkender Altersrenten, insbesondere bei
Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12 Altern <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
Frauen, rückläufig zu sein. Diese Entwicklung<br />
lässt erwarten, dass sich das Potential an<br />
Nachbarschaftshilfe zukünftig eher verringern<br />
als steigern lassen wird.<br />
Wie lassen sich Selbsthilfepotentiale<br />
aktivieren?<br />
Aus der nationalen Engagementforschung ist<br />
bekannt, dass die maßgeblichen Engagementträger<br />
aus der deutschen, weißen Mittelschicht<br />
kommen <strong>und</strong> ein hohes Maß an Selbsthilfepotentialen<br />
mitbringen. Wie aber kann dieses<br />
Potential in heterogenen Wohnquartieren aktiviert<br />
werden, in denen es keine gewachsenen<br />
Selbsthilfestrukturen gibt? Hier bleibt Dörners<br />
Konzept sehr vage. Zu den bekannten Herstellungsbedingungen<br />
von guter Nachbarschaft<br />
zählen Initiator/innen, ggf. auch professionelle<br />
Türöffner sowie niedrigschwellige Gemeinschaftsangebote.<br />
Insbesondere in Quartieren,<br />
in denen wenig Selbsthilfepotential zur Verfügung<br />
steht, ist professionelle Hilfe zum Aufbau<br />
eines nachbarschaftlichen Hilfesystems notwendig.<br />
Dabei geht es um Empowerment der<br />
Bewohner/innen, Kooperation von Engagierten<br />
<strong>und</strong> Profis auf Augenhöhe, eine frühzeitige<br />
Wahrnehmung von Überforderung der Engagierten<br />
sowie um das Ermöglichen nachbarschaftlicher<br />
Lernerfahrungen. Als nachhaltige<br />
Perspektive gilt die strukturelle Förderung von<br />
Nachbarschaften, zum Beispiel durch Anerkennung<br />
nachbarschaftlicher Hilfe als Pflegezeit<br />
nach SGB XI oder Anreiz- <strong>und</strong> Beteiligungsstrukturen<br />
zur positiven Identifikation mit dem<br />
Quartier. Aber auch ökonomische Modelle zur<br />
Minderung von (Alters-) <strong>Armut</strong> durch Monetari-<br />
Pflegende Angehörige von Demenzkranken<br />
unterstützen<br />
Interview mit Michael Bellwinkel, BKK B<strong>und</strong>esverband<br />
Der BKK B<strong>und</strong>esverband<br />
<strong>und</strong> der Kooperationsverb<strong>und</strong>„<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />
bei sozial<br />
Benachteiligten“<br />
haben den Preis „Vorbildliche<br />
Praxis 2012:<br />
Nicht erkrankt <strong>und</strong><br />
doch betroffen – Unterstützungsangebote<br />
<strong>für</strong> Angehörige von Demenzkranken“<br />
ausgeschrieben. Die B<strong>und</strong>eszentrale<br />
<strong>für</strong> ges<strong>und</strong>heitliche Aufklärung (BZgA)<br />
begleitete den Wettbewerb im Rahmen ihrer<br />
Schwerpunktsetzung „Ges<strong>und</strong> <strong>und</strong> aktiv älter<br />
werden“.<br />
Am 8. März 2012 – am Vorabend des 17. <strong>Kongress</strong><br />
„<strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit“ – wurden die<br />
Preisträger bekannt gegeben. Diese erhielten<br />
jeweils ein Preisgeld in Höhe von 1.000 Euro.<br />
Der Info_Dienst sprach mit Michael Bellwinkel<br />
über die diesjährigen Preisträger <strong>und</strong> das Engagement<br />
des BKK B<strong>und</strong>esverbandes <strong>für</strong> das<br />
Themenfeld „<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> bei Älteren“.<br />
Info_Dienst: Der BKK B<strong>und</strong>esverband hat auch<br />
in diesem Jahr den Wettbewerb „Vor bildliche<br />
Praxis“ durchgeführt. Im Mittelpunkt standen<br />
Unter stüt zungs angebote <strong>für</strong> Angehörige von<br />
Menschen mit Demenz. Warum haben Sie sich<br />
gerade <strong>für</strong> diese Zielgruppe entschieden?<br />
Bellwinkel: Der BKK B<strong>und</strong>esverband hat am<br />
22. September 2011 den 10. BKK Selbsthilfetag<br />
unter das Motto „Nicht erkrankt <strong>und</strong> doch betroffen<br />
– Angehörige in der Selbsthilfe“ gestellt<br />
<strong>und</strong> damit eine enorme Resonanz ausgelöst.<br />
Das war <strong>für</strong> uns der Anlass, nachdem wir den<br />
Selbsthilfe-Aspekt bei dieser Veranstaltung intensiv<br />
diskutiert hatten, uns auch mit den präventiven<br />
Ansätzen zu diesem Thema auseinander<br />
zu setzen.<br />
Wir gehen davon aus, dass diese Zielgruppe in<br />
jeder Hinsicht bisher zu wenig Aufmerksamkeit<br />
bekommen hat. Das hat sicherlich auch damit<br />
zu tun, dass Angehörige insbesondere von Dementen<br />
zeitlich derart geb<strong>und</strong>en sind, dass sie<br />
tatsächlich kaum die Zeit haben, sich in Selbsthilfegruppen<br />
mit Gleichbetroffenen zu organisieren<br />
<strong>und</strong> auf sich aufmerksam zu machen.<br />
Das schließt ein, dass sie auch <strong>für</strong> sich selbst,<br />
<strong>für</strong> ihr Wohlbefinden <strong>und</strong> den Erhalt der eigenen<br />
Ges<strong>und</strong>heit zu wenig tun. Deshalb sind<br />
Angebote in der Prävention wichtig, die diese<br />
besondere Situation berücksichtigen <strong>und</strong> darauf<br />
eingehen. Durch den Wettbewerb ist es<br />
gelungen, eine Vielzahl sehr gelungener Praxisbeispiele<br />
aufzuspüren.<br />
sierung der Nachbarschaftshilfe müssen in Betracht<br />
gezogen werden.<br />
Im Fazit stellt sich das neue Hilfesystem des<br />
„dritten Sozialraums“ als ein bedingungsreiches<br />
Konzept dar. Es lebt vom Engagement<br />
<strong>und</strong> der Überzeugung der Beteiligten, braucht<br />
fördernde Strukturen (ideell <strong>und</strong> materiell) <strong>und</strong><br />
hat vielfältige Potentiale, die aktiviert <strong>und</strong> gefördert<br />
werden müssen. Fest steht aber auch,<br />
dass es kein Allheilmittel gegen die soziale<br />
Herausforderung einer alternden Gesellschaft<br />
sein kann, welches Menschen bis zum Lebensende<br />
ein selbstbestimmtes Leben in den eigenen<br />
vier Wänden sichert.<br />
Barbara Weigl, Wissenschaftszentrum Berlin<br />
<strong>für</strong> Sozialforschung (WZB)<br />
Info_Dienst: In diesem Jahr haben sich insgesamt<br />
129 Projekte aus dem gesamten B<strong>und</strong>esgebiet<br />
am Wettbewerb beteiligt. Dies ist deutlich<br />
mehr als in den Vorjahren. Welchen Beitrag<br />
kann der Wettbewerb „Vorbildliche Praxis“<br />
<strong>für</strong> die <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong>slandschaft<br />
leisten?<br />
Bellwinkel: Wettbewerbe wie die vom BKK<br />
B<strong>und</strong>esverband in diesem Jahr zum sechsten<br />
Mal ausgelobte „Auszeichnung <strong>für</strong> vorbildliche<br />
<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong>“ bieten die Möglichkeit,<br />
eine größere Öffentlichkeit auf Themen<br />
aufmerksam zu machen, die bislang noch zu<br />
wenig beachtet wurden, <strong>und</strong> sie dadurch nach<br />
vorne zu bringen. Mein Eindruck ist, dass wir<br />
mit den Wettbewerbsthemen 2010 „Ges<strong>und</strong> im<br />
Alter – Selbstbestimmt wohnen <strong>und</strong> aktiv bleiben“<br />
<strong>und</strong> 2009 „<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> bei sozial<br />
benachteiligten älteren Menschen“ dazu<br />
beigetragen haben, dass die <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />
bei älteren Menschen deutlich stärker<br />
in den Fokus der unterschiedlichsten Akteure<br />
gerückt ist. D.h. mit der Auswahl der Wettbe-<br />
Praxishilfe „Ges<strong>und</strong> im Alter – Selbstbestimmt<br />
wohnen <strong>und</strong> aktiv bleiben“ des BKK<br />
B<strong>und</strong>esverbandes erschienen<br />
Um die guten Praxisbeispiele, die sich am<br />
Wettbewerb des BKK B<strong>und</strong>esverbandes<br />
zum Thema „Vorbildliche Praxis 2010: Ges<strong>und</strong><br />
im Alter – selbstbestimmt wohnen <strong>und</strong><br />
aktiv bleiben“ beteiligt haben, in die Fläche<br />
zu bringen, ist nun die Praxishilfe „Ges<strong>und</strong><br />
im Alter“ des BKK B<strong>und</strong>esverbandes neu erschienen.<br />
Die hier vorgestellten Angebote<br />
engagieren sich <strong>für</strong> ein erfolgreiches <strong>und</strong><br />
bedarfsgerechtes Wohnen im Alter. Das Heft<br />
können Sie unter www.bkk.de/tns/service/<br />
infomaterial/suche bestellen.<br />
17
18<br />
Altern <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit / Migration <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
werbs-Themen können wir ganz konkrete Impulse<br />
setzen, auf Defizite hinweisen <strong>und</strong> zugleich<br />
anhand der eingereichten Praxisbeispiele<br />
ganz viele praktische Lösungen anbieten,<br />
die von Interessierten leicht aufgegriffen werden<br />
können. Um diesen Prozess der Verbreitung<br />
guter Praxis zu befördern, hat der BKK<br />
B<strong>und</strong>esverband die wichtigsten Beiträge des<br />
letzten Wettbewerbs in der Praxishilfe „Ges<strong>und</strong><br />
im Alter – Selbstbestimmt wohnen <strong>und</strong><br />
aktiv bleiben“ zusammengestellt.<br />
Info_Dienst: Insgesamt wurden drei Projekte<br />
im Rahmen des Wettbewerbs „Vorbildliche<br />
Praxis 2012“ ausgezeichnet. Wie unterstützen<br />
die diesjährigen Preisträger die pflegenden Angehörigen<br />
bei ihrer schwierigen <strong>und</strong> kräftezehrenden<br />
Aufgabe?<br />
Bellwinkel: Angesichts der 129 Einsendungen<br />
ist uns in diesem Jahr die Auswahl der drei<br />
Preisträger nicht leicht gefallen. Das Auswahlverfahren<br />
hat gezeigt, dass es einen gewissen<br />
State-of-the-art an Unterstützungsangeboten<br />
gibt. Die Preisträger stehen somit immer auch<br />
stellvertretend <strong>für</strong> eine Vielzahl guter Praxisbeispiele.<br />
Das Angebot NADiA aus Köln macht<br />
ganz klar den Präventionsgedanken sichtbar.<br />
Das Projekt hat zum Ziel, mit einem Bewegungsprogramm<br />
die körperliche Leistungsfähigkeit<br />
zu erhalten <strong>und</strong> die Alltagskompetenzen<br />
zu verbessern. Die Angehörigenberatung<br />
e.V. in Nürnberg besteht bereits seit 25 Jahren.<br />
Ihre vielfältigen, innovativen Angebote, wie Angehörigengruppen<br />
<strong>und</strong> -kurse, Beratungs- <strong>und</strong><br />
Betreuungsangebote, Bewegung <strong>und</strong> Sport <strong>für</strong><br />
sowohl <strong>für</strong> Menschen mit Demenz als auch <strong>für</strong><br />
deren Angehörige, haben sich in der Stadt etabliert.<br />
Der Seniorentreff „Jute Stuw“ in Mettmann<br />
ist besonders <strong>für</strong> an Demenz erkrankte<br />
Menschen <strong>und</strong> deren Angehörige konzipiert<br />
<strong>und</strong> dient dem Aufbau <strong>und</strong> Erhalt sozialer Beziehungen<br />
sowie der Steigerung der Lebensqualität.<br />
Besonders vorbildhaft ist die Betonung<br />
des bürgerschaftlichen Engagements.<br />
Die drei Preisträger-Projekte machen deutlich,<br />
was es braucht, um pflegende Angehörige zu<br />
unterstützen, nämlich: Aufbau von nachhaltigen<br />
Strukturen, niedrigschwelliges Vorgehen,<br />
Hilfe zur Selbsthilfe <strong>und</strong> Stärkung des bürgerschaftlichen<br />
Engagements.<br />
Info_Dienst: Vielen Dank <strong>für</strong> das Gespräch!<br />
Die Fragen stellte Marco Ziesemer.<br />
Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />
Gewinner Vorbildliche Praxis 2012<br />
n Angehörigenberatung e.V. – Beratungsstelle <strong>und</strong> Fachkoordination (Angehörigenberatung<br />
e.V.), Nürnberg<br />
weitere Informationen: www.angehoerigenberatung-nbg.de<br />
n NADiA – Neue Aktionsräume <strong>für</strong> Menschen mit Demenz <strong>und</strong> ihre Angehörigen (Institut <strong>für</strong><br />
Bewegungs- <strong>und</strong> Sportgerontologie der Deutschen Sporthochschule Köln), Köln<br />
weitere Informationen: www.nadia-projekt.de<br />
n Seniorentreff „Jute Stuw“ – Unterstüt zungs angebote <strong>für</strong> Demenzkranke <strong>und</strong> ihre Angehörigen<br />
(Alzheimer Gesellschaft Düsseldorf & Kreis Mettmann e.V.), Mettmann<br />
weitere Informationen: www.alzheimer-duesseldorf-mettmann.de<br />
Migration <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
Prävention bei Menschen mit Migrationshintergr<strong>und</strong> /<br />
<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> durch interkulturelle Frauen-<br />
<strong>und</strong> Männergruppen / Interkulturelle Kompetenz <strong>und</strong><br />
Öffnung im Ges<strong>und</strong>heitswesen / Ges<strong>und</strong>heitsbildung<br />
<strong>und</strong> -förderung bei Kindern<br />
Prävention bei Menschen mit<br />
Migrationshintergr<strong>und</strong><br />
Aktueller Forschungsstand <strong>und</strong> zukünftige Herausforderungen<br />
Menschen mit Migrationshintergr<strong>und</strong>, die<br />
selbst migriert sind, haben zur Zeit der Einreise<br />
oft einen besseren Ges<strong>und</strong>heitszustand als<br />
gleichaltrige Menschen im Herkunftsland. Dieser<br />
verschlechtert sich aber mit zunehmender<br />
Aufenthaltsdauer (Razum 2006). Besonders<br />
Arbeitsmigrant/innen waren <strong>und</strong> sind hohen<br />
ges<strong>und</strong>heitsgefährdenden Belastungen bei<br />
der Arbeit ausgesetzt (Razum et al. 2008). Hinzu<br />
kommen ein im Durchschnitt niedrigerer sozialer<br />
Status <strong>und</strong> teilweise Probleme mit der<br />
deutschen Sprache. Chronische Krankheiten<br />
wie Diabetes <strong>und</strong> Schlaganfall sowie psychische<br />
Erkrankungen treten bei Menschen mit<br />
Migrationshintergr<strong>und</strong> durchschnittlich häufiger<br />
<strong>und</strong> in jüngeren Altersjahren auf als in der<br />
Mehrheitsbevölkerung (Razum et al. 2008, Icks<br />
et al. 2010). Gleichzeitig nehmen Menschen<br />
mit Migrationshintergr<strong>und</strong> präventive Versorgungsangebote<br />
seltener wahr. Das trägt zu<br />
höheren Erwerbsminderungsquoten <strong>und</strong> einer<br />
niedrigeren Lebens- <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitszufriedenheit<br />
bei (Razum et al. 2008, Brzoska et al.<br />
2010).<br />
Präventionsmaßnahmen sind ein wichtiger Teil<br />
der ges<strong>und</strong>heitlichen Versorgung. Hierunter<br />
fallen nicht nur die Vermeidung von Erkrankungen<br />
<strong>und</strong> ihre Früherkennung (Primär- <strong>und</strong> Sek<strong>und</strong>ärprävention),<br />
sondern auch die rehabilitative<br />
Versorgung (Tertiärprävention). In<br />
Deutschland werden viele regionale präventionsbezogene<br />
Projekte <strong>für</strong> Menschen mit Migrationshintergr<strong>und</strong><br />
durchgeführt. Häufig geht<br />
es um Beratungs- oder Gruppenangebote <strong>und</strong><br />
Schulungen in der Muttersprache, in denen<br />
migrationsspezifische Besonderheiten berücksichtigt<br />
werden. Auf der Webseite des Kooperationsverb<strong>und</strong>es<br />
„<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> bei<br />
sozial Benachteiligten“ sind verschiedene Präventionsangebote<br />
<strong>und</strong> Projekte dargestellt, die<br />
dem Anspruch von Best- oder Good Practice-<br />
Angeboten gerecht werden wollen
Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12 Migration <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
(www.ges<strong>und</strong>heitliche-chancengleichheit.de).<br />
Eine wichtige Voraussetzung <strong>für</strong> Best- <strong>und</strong> Good<br />
Practice-Angebote ist jedoch die Durchführung<br />
einer Ergebnisevaluation, welche die Effektivität<br />
sowie die Nachhaltigkeit eines Angebots <strong>für</strong> die<br />
jeweilige Zielgruppe ermittelt. Eine solche Evaluation<br />
fehlt in den meisten Fällen (Glodny et al.<br />
2009). Studien deuten darauf hin, dass beispielsweise<br />
Angebote der Tertiärprävention<br />
(Rehabilitation) oft nicht ausreichend migrationssensibel<br />
gestaltet sind (Brzoska et al. 2010).<br />
Die Betonung liegt hierbei auf der Migrationssensibilität,<br />
nicht der -spezifität. Migrationsspezifische<br />
Angebote bergen immer die Gefahr einer<br />
gesellschaftlichen Schließung gegenüber<br />
der Bevölkerungsgruppe von Menschen mit Migrationshintergr<strong>und</strong>,<br />
wodurch mögliche positive<br />
ges<strong>und</strong>heitliche Ergebnisse langfristig durch<br />
eine Einschränkung gesellschaftlicher Partizipationsmöglichkeiten<br />
verhindert werden. Zur langfristigen<br />
<strong>und</strong> nachhaltigen Verbesserung der<br />
Ges<strong>und</strong>heit von Menschen mit Migrationshintergr<strong>und</strong><br />
ist ein Umdenken erforderlich, auch im<br />
Bereich der Prävention. Der Migrationshintergr<strong>und</strong><br />
von Menschen sollte nicht länger als<br />
Merkmal von Fremdheit <strong>und</strong> Andersartigkeit<br />
wahrgenommen werden, sondern als ein Diversitätsmerkmal<br />
von vielen, das – wie auch die<br />
Merkmale Geschlecht, Alter <strong>und</strong> sozialer Status<br />
– mit unterschiedlichen Bedürfnissen <strong>und</strong> Bedarfen<br />
einhergeht <strong>und</strong> Teil unserer vielfältigen<br />
Gesellschaft ist.<br />
Ein ganzheitlicher Ansatz, der dieses Umdenken<br />
<strong>und</strong> den Umgang mit Vielfalt in der Gesellschaft<br />
unterstützt, ist Diversity Management. Es ermöglicht,<br />
die Verschiedenheit von individuellen<br />
Bedürfnissen <strong>und</strong> Bedarfen zu berücksichtigen,<br />
die durch Kultur <strong>und</strong> Migration, aber auch durch<br />
andere Diversitätsmerkmale wie Alter, Geschlecht<br />
<strong>und</strong> Bildung entstehen. Das Individuum<br />
wird hierbei als Ganzes wahrgenommen <strong>und</strong><br />
einzelne Diversitätsmerkmale nicht in den Vordergr<strong>und</strong><br />
gerückt. Dies stellt einen wichtigen<br />
Schritt zu einer wirksamen Prävention sowie zu<br />
einer bedarfs- <strong>und</strong> bedürfnisgerechteren Versorgung<br />
in allen ges<strong>und</strong>heitlichen Bereichen<br />
dar – nicht nur <strong>für</strong> Menschen mit Migrationshintergr<strong>und</strong>,<br />
sondern <strong>für</strong> alle Nutzer/innen des Ges<strong>und</strong>heitsversorgungssystems<br />
(Geiger 2006).<br />
Maßnahmen des Diversity Managements auf<br />
struktureller <strong>und</strong> organisatorischer Ebene sollten<br />
dabei Hand in Hand mit der Einbindungen<br />
von Potenzialen <strong>und</strong> Ressourcen gehen. Bei<br />
vielen Menschen mit Migrationshintergr<strong>und</strong><br />
sind dies etwa eine ausgeprägte familiäre <strong>und</strong><br />
nachbarschaftliche Unterstützung. Auch die Entwicklung<br />
<strong>und</strong> Aktivierung von außerfamiliären<br />
sozialen Netzwerken (z.B. Selbst hilfeor ganisationen)<br />
kann bei der Ges<strong>und</strong>erhaltung helfen<br />
<strong>und</strong> die Teilhabe an ges<strong>und</strong>heitlicher Versorgung<br />
sicherstellen (Yilmaz et al. 2009).<br />
Einblicke in die Praxis:<br />
<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> durch interkulturelle<br />
Frauen- <strong>und</strong> Männergruppen<br />
Der Verein Aufbruch Neukölln e .V . stellt sich vor<br />
In Berlin leben Menschen aus 189 verschiedenen<br />
Nationen mit 161 unterschiedlichen Sprachen.<br />
Über 25 Prozent der Bewohner/innen<br />
Berlins haben eine Zuwanderungshistorie. Bei<br />
den unter 16-Jährigen liegt dieser Anteil mittlerweile<br />
bei über 43 Prozent. Die Scheidungsraten<br />
besonders in den Familien mit Zuwanderungsgeschichte<br />
sind sehr hoch <strong>und</strong> steigen<br />
weiter.<br />
Belastungen durch Flucht <strong>und</strong> Migration<br />
Mütter <strong>und</strong> Frauen sind durch Flucht <strong>und</strong> Migration<br />
besonders hohen psychischen <strong>und</strong><br />
physischen Belastungen ausgesetzt. Sie tragen<br />
die Verantwortung <strong>für</strong> ihre Kinder <strong>und</strong> die<br />
Familie in einer Umgebung, in der sie von ihren<br />
familiären, sozialen <strong>und</strong> kulturellen Wurzeln<br />
abgeschnitten sind. Sie leben nicht selten isoliert<br />
oder „gettoisiert“ unter meist kargen wirtschaftlichen<br />
Verhältnissen. Viele Frauen haben<br />
über Jahre hinweg keinen Kontakt zur einheimischen<br />
Bevölkerung. Die Gründe da<strong>für</strong> sind<br />
fehlende Sprachkenntnisse, fehlendes Selbstbewusstsein,<br />
patriarchalische Familienstrukturen<br />
<strong>und</strong> keine eigenen finanziellen Mittel. Viele<br />
dieser Frauen leiden unter massiven psychosomatischen<br />
Störungen <strong>und</strong> brauchen dringend<br />
therapeutische Behandlungen durch Fachkräfte<br />
aus dem Kulturkreis des jeweiligen Herkunftslandes.<br />
Die Wartezeiten <strong>für</strong> eine angemessene<br />
Behandlung liegen jedoch bei etwa<br />
drei bis vier Jahren, da nicht ausreichend Fach-<br />
Ausblick<br />
Der Abbau von Barrieren im Zugang zu präventiven<br />
Angeboten ist von großer Bedeutung, um<br />
Menschen mit Migrationshintergr<strong>und</strong> bei der<br />
Ges<strong>und</strong>erhaltung besser unterstützen zu können.<br />
Hierzu müssen innovative Lösungsansätze<br />
entwickelt, umgesetzt <strong>und</strong> evaluiert werden.<br />
Wesentlich ist dabei die migrationssensible Gestaltung<br />
<strong>und</strong> Berücksichtigung von Diversität.<br />
Die Gruppe von Menschen mit Migrationshintergr<strong>und</strong><br />
ist in vielerlei Hinsicht heterogen. Die individuellen<br />
<strong>und</strong> kulturellen Werte sowie die Bedürfnisse<br />
des Einzelnen müssen als wichtige<br />
Merkmale in der Gestaltung von präventiven<br />
Angeboten verankert werden. Dabei sollten<br />
aber möglichst Angebote geschaffen werden,<br />
die sich nicht exklusiv an einzelne Untergruppen<br />
der Bevölkerung richten. Ein Diversity-Ansatz<br />
kann im Idealfall nicht nur Menschen mit Migrationshintergr<strong>und</strong>,<br />
sondern alle Nutzer/innen<br />
präventiver Angebote ansprechen. Auch präventive<br />
Maßnahmen im Rahmen des Diversity Managements<br />
müssen dabei auf ihre Wirksamkeit<br />
<strong>und</strong> Nachhaltigkeit hin evaluiert werden.<br />
Informationen zu der verwendeten Literatur<br />
können über die Autoren bezogen werden.<br />
Kontakt: patrick.brzoska@uni-bielefeld.de<br />
Yüce Yilmaz-Aslan, Patrick Brzoska<br />
<strong>und</strong> Oliver Razum,<br />
Universität Bielefeld<br />
kräfte in diesem Gebiet vorhanden sind. Aus<br />
diesem Gr<strong>und</strong> bietet der Verein Aufbruch Neukölln<br />
e.V. seit 2007 Mütter- <strong>und</strong> Frauengruppen<br />
<strong>für</strong> Migrantinnen an.<br />
Doch auch Väter <strong>und</strong> Männer mit Zuwanderungsgeschichte<br />
brauchen Unterstützung <strong>und</strong><br />
Hilfe. Häufig kommen sie mit einer Trennungs-<br />
<strong>und</strong> Scheidungssituation nicht zurecht. Vor allem<br />
Väter <strong>und</strong> Männer, die durch die Heirat in<br />
ihren Heimatländern nach Deutschland gekommen<br />
sind <strong>und</strong> hier keine typische Väter-<br />
<strong>und</strong> Männerrolle übernehmen können, weil sie<br />
nicht die Versorger <strong>und</strong> Ernährer ihrer Familien<br />
sind, finden sich mit ihrer neuen Rolle in<br />
Deutschland oftmals nicht zurecht. Sie sind<br />
keine Vorbilder <strong>für</strong> ihre Frauen <strong>und</strong> Kinder.<br />
Dieser Zustand führt in den Familien <strong>und</strong> in den<br />
Bildungseinrichtungen wie Schule oder Kita zu<br />
unlösbaren Problemen. Die betroffenen Männer<br />
haben keine Möglichkeiten, über ihre Probleme<br />
zu sprechen <strong>und</strong> diese zu verarbeiten. Als<br />
Lösung kommen <strong>für</strong> sie entweder Männercafés<br />
oder Moscheen in Frage, die <strong>für</strong> den Integrationsprozess<br />
<strong>und</strong> das interkulturelle Zusammenleben<br />
in Berlin jedoch nicht förderlich sind.<br />
Viele dieser Väter <strong>und</strong> Männer sind häufig<br />
nicht mehr in der Lage oder bereit, <strong>für</strong> die Erzie-<br />
19
20<br />
Migration <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
hung <strong>und</strong> Bildung ihrer Kinder <strong>und</strong> eine funktionierende<br />
Familienstruktur Verantwortung zu<br />
übernehmen. Als Ergebnis wachsen ihre Kinder<br />
zunehmend in einer vaterlosen <strong>und</strong> orientierungslosen<br />
Gesellschaft auf.<br />
Verbesserung der Lebenssituation<br />
Daher war es dringend notwendig, <strong>für</strong> diese<br />
Menschen entsprechende Angebote zu entwickeln<br />
<strong>und</strong> umzusetzen. Obwohl die Kontaktaufnahme<br />
zu den Männern <strong>und</strong> Frauen in ihrer<br />
Landessprache erfolgte, waren große Anstrengungen<br />
<strong>und</strong> Überzeugungsarbeit nötig, um sie<br />
zu regelmäßigen Treffen zu bewegen <strong>und</strong> ihr<br />
Vertrauen zu gewinnen.<br />
Die Gruppen begannen sehr klein. Die Anzahl<br />
stieg jedoch von Woche zu Woche rasch an,<br />
<strong>und</strong> schon nach kurzer Zeit nahmen etwa 80<br />
Männer <strong>und</strong> 110 Frauen unser Angebot wahr.<br />
Heute existieren insgesamt drei Vätergruppen<br />
<strong>und</strong> fünf Frauengruppen unterschiedlicher Herkunftskulturen.<br />
Für die Gruppen wurde keinerlei<br />
Werbung gemacht. Die Teilnehmer/innen<br />
erfuhren von diesem Angebot ausschließlich<br />
durch M<strong>und</strong>propaganda. Die Teilnahme ist<br />
freiwillig <strong>und</strong> kostenlos.<br />
Damit die Sichtweise des anderen Geschlechtes<br />
bei den Gesprächen in den Männergruppen<br />
ausreichend Berücksichtigung findet, werden<br />
die Gruppen jeweils von einem Mann <strong>und</strong> einer<br />
Frau mit pädagogischer Ausbildung aus dem<br />
entsprechenden Kulturkreis geleitet. Die Teilnehmer/innen<br />
aller Gruppen treffen sich regelmäßig<br />
einmal in der Woche <strong>für</strong> zwei bis drei<br />
St<strong>und</strong>en.<br />
Insbesondere die ganz lebensnahen <strong>und</strong> seelischen<br />
Anliegen der Teilnehmer/innen werden<br />
in den Gesprächsr<strong>und</strong>en erörtert. Gemeinsam<br />
<strong>und</strong> unter fachlicher Anleitung wird nach Lösungsmöglichkeiten<br />
gesucht, die aktuelle Lebenssituation<br />
zu verbessern. Dabei stehen die<br />
individuellen Voraussetzungen der Teilnehmer/innen<br />
im Mittelpunkt. Sie werden dort abgeholt,<br />
wo sie sich befinden <strong>und</strong> dann gezielt<br />
unterstützt. Expert/innen werden bei Bedarf zu<br />
bestimmten Themen hinzugezogen.<br />
„Vergangenheit bewältigen, Vertrauen<br />
aufbauen, Verlässlichkeit herstellen <strong>und</strong><br />
Verantwortung übernehmen“<br />
lautet das Motto der Gruppenarbeit. Durch Gespräche<br />
lassen die Teilnehmer/innen ihre Seelen<br />
sprechen. Durch praktische Übungen, den<br />
Diskussionsprozess <strong>und</strong> die Öffnung der Teilnehmer/innen<br />
entsteht in den Gruppen ein<br />
Gemeinschaftsgefühl <strong>und</strong> der Anfang einer<br />
Netzwerkstruktur, die auch in zukünftigen Lebenssituationen<br />
praktische Hilfe zur Selbsthilfe<br />
<strong>und</strong> Zuspruch untereinander bietet.<br />
Interkulturelle Kompetenz <strong>und</strong> Öffnung im<br />
Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />
Theoretische Konzepte <strong>und</strong> praktische Ansätze<br />
Aus der Praxis <strong>und</strong> Wissenschaft gehen immer<br />
wieder Meldungen von ungenügender Teilhabe<br />
der in diesem Land lebenden Menschen mit<br />
Migrationshintergr<strong>und</strong> hervor. Das Wissen dieser<br />
Menschen über medizinische <strong>und</strong> soziale<br />
Hilfsangebote ist oft unzureichend. Als Ergebnis<br />
bleiben viele Möglichkeiten der sozialen<br />
<strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitlichen Versorgung ungenutzt.<br />
Fehlende Partizipationsmöglichkeiten haben<br />
sehr häufig Fehl- <strong>und</strong> Unterversorgung zu Folge.<br />
Dies lässt sich im Besonderen auch in der<br />
<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> <strong>und</strong> Prävention beobachten.<br />
Interkulturelle Öffnung <strong>und</strong> Kompetenzen im<br />
Ges<strong>und</strong>heitswesen können einen großen Beitrag<br />
zur gleichberechtigten Teilhabe von Menschen<br />
mit Migrationshintergr<strong>und</strong> leisten. Der<br />
17. <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit hat Akteure<br />
aus Wissenschaft <strong>und</strong> Praxis zusammengebracht,<br />
um gemeinsam gr<strong>und</strong>legende theoreti-<br />
sche Konzepte <strong>und</strong> praktische Ansätze aber<br />
auch zu bewältigende Herausforderungen zu<br />
diskutieren.<br />
Dr. Kristine Krause von Max-Planck-Institut in<br />
Göttingen präsentierte zentrale Ergebnisse der<br />
AG Migration der Deutschen Gesellschaft <strong>für</strong><br />
Völkerk<strong>und</strong>e in Bremen initiierten Workshops<br />
„Interkulturelle Kompetenzen im Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />
– Notwendigkeit oder Luxus?“. Anlass<br />
<strong>für</strong> den Workshop war die steigende Nachfrage<br />
nach interkultureller Kompetenz im Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />
<strong>und</strong> die bisherige Zurückhaltung<br />
der Ethnologie, sich in ihrer Kompetenz als<br />
„Kulturexpertin“ in diesen Diskussionen einzubringen.<br />
Die Dringlichkeit im Ges<strong>und</strong>heitswesen,<br />
<strong>für</strong> ethno-kulturelle <strong>und</strong> sozio-kulturelle<br />
Vielfalt zu sensibilisieren, war ein wichtiger<br />
Aspekt des Workshops. Dabei ging es u. a. um<br />
die Frage, welche Form der interkulturellen<br />
Kompetenz als kulturspezifisches Hintergr<strong>und</strong>-<br />
Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />
Multiplikatorenarbeit in Kita, Schule<br />
<strong>und</strong> Familie<br />
Durch die große Bereitschaft der Teilnehmer/<br />
innen, ehrenamtlich die Kita-, Schul- <strong>und</strong> Familienarbeit<br />
zu unterstützen, entwickelte sich eine<br />
gezielte Schulung einzelner Teilnehmer/innen<br />
hin zu Multiplikator/innen. Diese sind nun<br />
aktiv in Kitas, Schulen <strong>und</strong> Familien tätig <strong>und</strong><br />
leisten dort mit ihrer besonderen interkulturellen<br />
Kompetenz <strong>und</strong> der Sprache ihres Herkunftslandes<br />
wertvolle Brückenarbeit.<br />
Besonders wirkungsvoll ist dieses Engagement<br />
in Schulen <strong>und</strong> Kitas, da hier Kinder <strong>und</strong><br />
Jugendliche Erziehung <strong>und</strong> Bildung erfahren.<br />
Hier werden die Weichen <strong>für</strong> sie <strong>und</strong> <strong>für</strong> das<br />
zukünftige Zusammenleben zwischen den unterschiedlichen<br />
Bevölkerungsgruppen in Berlin<br />
gestellt.<br />
Einzigartig an dieser interkulturellen Gruppenarbeit<br />
des Vereins Aufbruch Neukölln e.V. ist<br />
die Verknüpfung von Lebenshilfen mit der Förderung<br />
des Integrationsprozesses, der Bildung<br />
von Kindern <strong>und</strong> Erwachsenen <strong>und</strong> der Organisation<br />
ehrenamtlichen Engagements.<br />
Weitere Informationen über die Projektarbeit<br />
des Vereins finden Sie unter<br />
www.aufbruch-neukoelln.de.<br />
Kazim Erdogan, Aufbruch Neukölln e.V.<br />
wissen oder zu vermittelnde zentrale Metakompetenz<br />
im Umgang mit Diversität überhaupt<br />
benötigt wird.<br />
Unter dem Titel „Transkulturalität – Die Antwort<br />
auf Diversität“ stellten Prof. Dr. Knut Tielking<br />
<strong>und</strong> Henning Fietz von der Hochschule<br />
Emden/Leer am Beispiel des B<strong>und</strong>esmodellprojektes<br />
„Transkulturelle Versorgung von<br />
Suchtkranken“ (transVer) das Konzept der<br />
Transkulturalität vor. Hierbei wird Diversität<br />
als Ressource verstanden <strong>und</strong> transkulturelle<br />
Kompetenzen können den Zugang zu der vielfältigen<br />
Klientel im Präventionsbereich erleichtern.<br />
Die wachsende Vielfalt in der Gesellschaft<br />
bringt Ressourcen <strong>und</strong> Risiken <strong>für</strong> das Zusammenleben<br />
mit sich <strong>und</strong> stellt eine besondere<br />
Herausforderung <strong>für</strong> die kultursensible Arbeit<br />
dar. Das Zuschreiben fester kultureller Merkmale<br />
kann Unterschiede erzeugen <strong>und</strong> wahrnehmbar<br />
machen, die vorher in dieser Bedeutung<br />
nicht unbedingt vorhanden waren.<br />
Nach Wolfgang Gulis vom Zentrum <strong>für</strong> Kulturwissenschaften<br />
in Graz haben Exklusion <strong>und</strong><br />
Barrieren organisationelle <strong>und</strong> strukturelle Ursachen.<br />
Dadurch bleiben die Zugangsmöglichkeiten<br />
<strong>und</strong> die Beteiligung unterentwickelt <strong>und</strong><br />
eine adäquate Versorgung von Migrant/innen<br />
wird verhindert. In seinem Vortrag „Interkulturelle<br />
Öffnung als Qualitätskriterium in der Ge-
Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12 Migration <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
s<strong>und</strong>heitsförderung“ stellte Gulis dar, dass die<br />
zahlreichen Projekte der letzten Jahrzehnte an<br />
den eigentlichen Lösungen vorbei gehen, weil<br />
die bestehende Strukturen unangetastet <strong>und</strong><br />
die Verantwortung von Politik <strong>und</strong> Führung in<br />
Organisationen häufig unbeachtet bleibt.<br />
Durch Festlegung von Kriterien bei der Planung,<br />
Umsetzung <strong>und</strong> Evaluation können interkulturelle<br />
Öffnungsprozesse systematisch in<br />
die Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Präventionsarbeit einfließen.<br />
Daher ist eine umfassende strukturelle<br />
Sicht auf die Zusammenhänge von Exklusion<br />
<strong>und</strong> Diskriminierung notwendig.<br />
Als ein Beispiel aus der Praxis stellte Havva<br />
Arik von der Unabhängigen Patientenberatung<br />
Deutschland (UPD) ihre Arbeit vor. Für eigenverantwortliches<br />
Handeln <strong>und</strong> Empowerment<br />
von Migrant/innen sind verständliche Informa-<br />
tionen, Beratungsgespräche <strong>und</strong> darüber hinausgehend<br />
vielfach individuelle Unterstützung<br />
erforderlich. Die UPD hatte bereits in einer Modellphase<br />
(2000-2010) mit unterschiedlichen<br />
Angeboten <strong>für</strong> Ratsuchende mit Migrationshintergr<strong>und</strong><br />
Erfahrungen gesammelt. Aufbauend<br />
auf den Erfahrungen bietet die UPD jetzt ein<br />
spezielles Angebot <strong>für</strong> russisch- <strong>und</strong> türkischsprechende<br />
Ratsuchende. Durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit<br />
<strong>und</strong> eine Bandbreite von<br />
Methoden, wie z.B. Beratung in Muttersprache,<br />
aufsuchende Gruppenberatung, face-toface<br />
Beratung <strong>und</strong> ein b<strong>und</strong>esweites kostenloses<br />
Beratungstelefon in türkischer <strong>und</strong> russischer<br />
Sprache, versucht die UPD diesen Anforderungen<br />
gerecht zu werden. Darüber hinaus<br />
werden Patienteninformationen, Internetinformationen<br />
in Türkisch <strong>und</strong> Russisch sowie ein<br />
Ges<strong>und</strong>heitsbildung <strong>und</strong> -förderung<br />
bei Kindern mit Migrationshintergr<strong>und</strong><br />
Entwicklung von Ges<strong>und</strong>heitsvorstellungen <strong>und</strong> -theorien<br />
im Kontext von Kindergarten <strong>und</strong> Familie<br />
Ges<strong>und</strong>heitsrelevantes Verhalten stellt einen<br />
Bestandteil des Lebensstils dar, der sich über<br />
Lernen, Gewohnheitsbildung <strong>und</strong> Prozesse des<br />
sozialen Vergleichs ausbildet. Je früher Kinder<br />
ein ges<strong>und</strong>heitsförderliches Verhalten lernen<br />
<strong>und</strong> einüben, desto wirksamer werden sie in<br />
ihrer ges<strong>und</strong>heitsbezogenen Entwicklung gefördert<br />
(Zimmer 2009).<br />
Das vom Niedersächsischen Institut <strong>für</strong> frühkindliche<br />
Bildung <strong>und</strong> Entwicklung geförderte<br />
Forschungsprojekt „Ges<strong>und</strong>heitsbildung <strong>und</strong><br />
-förderung im Elementarbereich“ evaluiert die<br />
ges<strong>und</strong>heitspädagogischen Konzepte in Kindergärten<br />
(Schwerpunkt Ernährung <strong>und</strong> Bewegung)<br />
sowie deren Umsetzung im Alltag. In der<br />
vertiefenden Projektphase werden die Ges<strong>und</strong>heitsvorstellungen<br />
<strong>und</strong> -konzepte von sozial<br />
benachteiligten Kindern mit <strong>und</strong> ohne Migrationshintergr<strong>und</strong><br />
analysiert. Auf Basis der Ergebnisse<br />
einer Bestandserhebung zu den ges<strong>und</strong>heitspädagogischen<br />
Konzepten der Kindergärten<br />
im Großraum Hannover (Vollerhebung:<br />
N=557, Responserate: 47 Prozent) wurden<br />
sieben Kindergärten – vier Kindergärten<br />
mit differenziertem <strong>und</strong> drei Kindergärten mit<br />
gering ausgeprägtem Ges<strong>und</strong>heitskonzept –<br />
<strong>für</strong> vertiefende Untersuchungen ausgewählt.<br />
Mit 21 Kindern (davon acht Kinder mit türkischer<br />
Herkunft <strong>und</strong> 13 Kinder ohne Migrationshintergr<strong>und</strong>)<br />
im Alter von fünf bis sechs Jahren<br />
wurden symbolische Puppeninterviews geführt.<br />
Den Kindern wurden offene, altersge-<br />
rechte Fragen gestellt <strong>und</strong> sie wurden gebeten,<br />
Bilder von Lebensmitteln in ges<strong>und</strong> <strong>und</strong> unges<strong>und</strong><br />
zu sortieren <strong>und</strong> ihre Entscheidung zu<br />
begründen. Um die Ergebnisse in die Kontexte<br />
von Familie <strong>und</strong> Kita einordnen zu können,<br />
wurden Eltern <strong>und</strong> Erzieher/innen mittels episodischer<br />
Interviews befragt.<br />
Studienergebnisse<br />
Die Kinder hatten teilweise Schwierigkeiten,<br />
die Zuordnung der Lebensmittel zu begründen.<br />
Lebensmittel, die zu den Geschmacksvorlieben<br />
der Kinder gehören, werden von ihnen oft als<br />
ges<strong>und</strong> bezeichnet. Kinder mit Migrationshintergr<strong>und</strong><br />
stellten häufig einen Zusammenhang<br />
zwischen dem Konsum von unges<strong>und</strong>en Lebensmitteln<br />
(z.B. Süßigkeiten) <strong>und</strong> Zahnproblematiken<br />
her. Sie geben zudem plastische Erklärungen:<br />
So begründen sie anhand der Farbe<br />
oder Konsistenz der Lebensmittel, dass diese<br />
ges<strong>und</strong> oder unges<strong>und</strong> sind. Beim Vergleich<br />
Kompetenzstelle <strong>für</strong> interkulturelle Öffnung<br />
<strong>und</strong> Qualifizierung angeboten.<br />
Im Anschluss an die Präsentationen wurde unter<br />
Moderation von Prof. Dr. Barbara John von<br />
der Berliner Senatsverwaltung <strong>für</strong> Bildung, Jugend<br />
<strong>und</strong> Wissenschaft <strong>und</strong> Dr. Magdalena<br />
Stülb vom Freiburger Institut <strong>für</strong> Migration,<br />
Kultur <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit diskutiert. Schwerpunkte<br />
waren u.a. die Frage nach den praktischen<br />
Ansätzen, um Migrant/innen adäquat im<br />
Ges<strong>und</strong>heitswesen zu versorgen <strong>und</strong> welche<br />
Form von interkultureller Kompetenz hier<strong>für</strong><br />
erforderlich ist.<br />
Havva Arik, Kompetenzstelle<br />
<strong>für</strong> Interkulturelle Öffnung, Unabhängige<br />
Patientenberatung Deutschland – UPD<br />
der Aussagen der Kinder wird deutlich, dass<br />
die Begründungen der Kinder ohne Migrationshintergr<strong>und</strong><br />
differenzierter sind als die Begründungen<br />
der Kinder mit Migrationshintergr<strong>und</strong>.<br />
So gingen sie bei den Erklärungen stärker auf<br />
die Bestandteile einzelner Lebensmittel <strong>und</strong><br />
deren ges<strong>und</strong>heitsbezogenen Auswirkungen<br />
ein (z.B. Obst, Zucker, Fett, Milch). Auf die Frage,<br />
warum manche Menschen „dick“ bzw.<br />
„dünn“ sind, benennen die meisten Kinder den<br />
Zusammenhang zwischen Ernährung <strong>und</strong> dem<br />
Körpergewicht. Kinder ohne Migrationshintergr<strong>und</strong><br />
differenzieren ihre Aussagen stärker<br />
aus, indem sie einzelne Lebensmittelbestandteile<br />
benennen, die zu Übergewicht führen. Im<br />
Hinblick auf die Frage, welche Maßnahmen<br />
man treffen kann, um ges<strong>und</strong> zu bleiben, betonen<br />
Kinder mit Migrationshintergr<strong>und</strong> häufig<br />
den Arztbesuch <strong>und</strong> die Einnahme von Medikamenten<br />
sowie das Tragen angemessener Kleidung<br />
(im Winter). Kinder ohne Migrationshintergr<strong>und</strong><br />
merken zudem an, dass ges<strong>und</strong>e Lebensmittel<br />
<strong>und</strong> ausreichendes Trinken gut <strong>für</strong><br />
die Ges<strong>und</strong>heit sind <strong>und</strong> sich unges<strong>und</strong>e Lebensmittel<br />
negativ auf die Ges<strong>und</strong>heit auswirken.<br />
Die Gründe <strong>für</strong> die Unterschiede in den Aussagen<br />
von Kindern mit <strong>und</strong> ohne Migrationshintergr<strong>und</strong><br />
können bisher nicht abschließend<br />
aufgezeigt werden. Zunächst ist zu bemerken,<br />
dass bis auf ein Kind alle Kinder mit Migrationshintergr<strong>und</strong><br />
Kindergärten mit einem gering<br />
ausgeprägten Ges<strong>und</strong>heitskonzept besuchen.<br />
Die differenzierten Antworten werden mehrheitlich<br />
von den Kindern aus Kindergärten mit<br />
einem sehr gut ausgearbeiteten Ges<strong>und</strong>heitskonzept<br />
gegeben, so dass die Unterschiede<br />
zwischen den Kindern nicht unmittelbar auf<br />
deren Migrationsstatus zurückgeführt werden<br />
können. Zudem können elternbezogene <strong>und</strong><br />
soziale Determinanten sowie die Verbalisie-<br />
21
22<br />
Migration <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit / Arbeitslosigkeit<br />
rungsfähigkeiten der Kinder eine wichtige Rolle<br />
spielen.<br />
Diskussionen auf dem<br />
17 . <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
Diskussionen mit den Workshop-Teilnehmer/<br />
innen ergaben im Konsens, dass bei den Erklärungen<br />
<strong>für</strong> die Unterschiede in den Ges<strong>und</strong>heitsvorstellungen<br />
<strong>und</strong> -gewohnheiten von<br />
Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen der Migrationsstatus<br />
nach aktuellen Erkenntnissen nur noch eine<br />
untergeordnete Rolle spielt <strong>und</strong> das Ausmaß<br />
der soziokulturellen Belastung einen<br />
deutlich stärkeren Einfluss ausübt.<br />
Die symbolischen Puppeninterviews belegen,<br />
dass bereits Vorschulkinder Vorstellungen<br />
über eine ges<strong>und</strong>e <strong>und</strong> unges<strong>und</strong>e Ernährung<br />
entwickelt haben <strong>und</strong> sich mit ges<strong>und</strong>heitsbezogenen<br />
Informationen auseinandersetzen<br />
können. Die Kinder verfügen dabei über ein<br />
umfangreiches, jedoch nicht immer verbalisiertes,<br />
begründbares Ges<strong>und</strong>heitswissen.<br />
Es scheint zudem noch kein Gesamtkonzept<br />
über Ges<strong>und</strong>heit zu bestehen. Die Kinder nennen<br />
häufig konkrete Verhaltensweisen wie<br />
„Medizin nehmen“ <strong>und</strong> „Obst <strong>und</strong> Gemüse essen“,<br />
die sich an den Verhaltensvorgaben von<br />
Erwachsenen orientieren.<br />
Ges<strong>und</strong>heitsbildung im Kindergarten kann insbesondere<br />
bei sozial benachteiligten Kindern<br />
einen wichtigen Beitrag zur Ausprägung eines<br />
ges<strong>und</strong>heitsrelevanten Lebensstils leisten. Um<br />
altersgerechte Programme entwickeln zu können,<br />
sollten die Determinanten, die die Ges<strong>und</strong>heitsvorstellungen<br />
der Kinder beeinflussen<br />
sowie das vorhandene Wissen <strong>und</strong> die<br />
Vorkenntnisse über Ges<strong>und</strong>heit berücksichtigt<br />
werden (Kolip 1998; Schmidt & Fröhling 1998).<br />
Weitere Information zum Forschungsprojekt<br />
unter:<br />
www.ges<strong>und</strong>heitsbildung.uni-hannover.de<br />
Elena Sterdt 1 , Roswitha Stöcker 2 ,<br />
Marie-Luise Dierks 1 , Michael Urban 3 ,<br />
Rolf Werning 2 , Ulla Walter 1<br />
Informationen zu der verwendeten Literatur<br />
können über die Autor/innen bezogen werden.<br />
Kontakt: sterdt.elena@mh-hannover.de<br />
1 Medizinische Hochschule Hannover, Institut <strong>für</strong> Epidemiologie,<br />
Sozialmedizin <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitssystemforschung,<br />
Hannover<br />
2 Leibniz Universität Hannover, Institut <strong>für</strong> Sonderpädagogik,<br />
Hannover<br />
3 Universität Bielefeld, Fakultät <strong>für</strong><br />
Erziehungswissenschaften<br />
Arbeitslosigkeit<br />
Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />
Kooperationsverb<strong>und</strong> „<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> bei<br />
sozial Benachteiligten“ veröffentlicht Empfehlungen<br />
<strong>für</strong> die Praxis<br />
Gemeinsam handeln: <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />
bei erwerbslosen Menschen<br />
Kooperationsverb<strong>und</strong> veröffentlicht Empfehlungen <strong>für</strong> die Praxis<br />
Arbeitslosigkeit stellt ein Ges<strong>und</strong>heitsrisiko<br />
dar <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitliche Einschränkungen erschweren<br />
den (Wieder-)Einstieg in den Arbeitsmarkt.<br />
Erwerbslose Menschen – seien es die<br />
jungen, unter 25-Jährigen, die Über-50-Jährigen,<br />
Männer, Frauen, Alleinerziehende, Migrant/innen<br />
– haben ein doppelt so hohes Risiko<br />
zu erkranken, wie Erwerbstätige! Nicht zuletzt<br />
<strong>für</strong> eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt<br />
ist es allerdings sehr entscheidend,<br />
dass man ges<strong>und</strong> ist. Für eine koordinierte Zusammenarbeit<br />
besteht dringender Bedarf, da<br />
wir es hier mit schwierigen sozialen Bedingungen<br />
zu tun haben: Gerade langzeitarbeitslose<br />
Menschen wissen um die Gefahr von Stigmatisierung<br />
<strong>und</strong> Diskriminierung, sie zeigen sich<br />
kaum selbstbewusst in der Öffentlichkeit. Sie<br />
sind zudem keine „Zielgruppe“, mit der sich<br />
Projektanbieter <strong>und</strong> Kostenträger der <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />
<strong>und</strong> Prävention gerne „schmücken“.<br />
Wir müssen festhalten, dass wir noch<br />
am Anfang stehen, herauszufinden, welche<br />
Maßnahmen passgenau <strong>und</strong> partizipativ die<br />
Ges<strong>und</strong>heit arbeitsloser Menschen fördern.<br />
Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, müssen<br />
sich alle verantwortlichen Akteure zusammen<br />
an einen Tisch setzen <strong>und</strong> ihre Maßnahmen<br />
aufeinander abstimmen. Als herausragendes<br />
Beispiel ist in diesem Zusammenhang die<br />
kürzlich veröffentlichte Kooperationsvereinbarung<br />
der B<strong>und</strong>esagentur <strong>für</strong> Arbeit <strong>und</strong> der Gesetzlichen<br />
Krankenversicherungen zum Thema<br />
Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit anzusehen.<br />
Ziel ist es, einen gemeinsamen Prozess anzustoßen,<br />
der Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Arbeitsmarktpolitik<br />
enger miteinander verzahnt, um so die Ges<strong>und</strong>heit<br />
von Arbeitslosen zu erhalten <strong>und</strong> zu<br />
fördern.<br />
Gemeinsam handeln<br />
Auch der beratende Arbeitskreis des Kooperationsverb<strong>und</strong>es<br />
„<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> bei<br />
sozial Benachteiligten“ begegnet dem Bedarf<br />
an koordinierter Zusammenarbeit <strong>und</strong> hat die<br />
Herausforderung angenommen, gemeinsam<br />
zu formulieren, welches die zentralen Qualitätserfordernisse<br />
<strong>für</strong> die Kooperation der Partner<br />
in der Kommune sind. Das Ergebnis ist das<br />
Eckpunktepapier „Gemeinsam handeln“, welches<br />
durch die B<strong>und</strong>eszentrale <strong>für</strong> ges<strong>und</strong>heitliche<br />
Aufklärung (BZgA) initiiert wurde <strong>und</strong><br />
durch Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg in Zusammenarbeit<br />
mit einer großen Anzahl von<br />
Expert/innen aus der Praxis ebenso wie aus<br />
der Wissenschaft, aus der B<strong>und</strong>esagentur <strong>für</strong><br />
Arbeit <strong>und</strong> der Gesetzlichen Krankenversicherung,<br />
aus den B<strong>und</strong>esministerien, dem Robert<br />
Koch-Institut, aus den Landesvereinigungen<br />
<strong>für</strong> Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> vielen weiteren zusammengestellt<br />
wurde.<br />
Gemeinsam konnten vielfältige Kenntnisse<br />
gebündelt werden, wie die ges<strong>und</strong>heitliche
Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12 Arbeitslosigkeit / Patienteninteressen<br />
Lage arbeitsloser Menschen verbessert werden<br />
kann. In sieben Eckpunkten werden die<br />
Erfahrungen aus Beispielen guter Praxis (Good<br />
Practice), verschiedenen Handlungsansätzen<br />
<strong>und</strong> aus laufenden Prozessen in den Ländern<br />
konzentriert zusammengefasst:<br />
1. Herausforderung gemeinsam angehen!<br />
Nur im Zusammenwirken aller relevanten<br />
Akteure im kommunalen Rahmen sind die<br />
durch Arbeitslosigkeit verursachten vielfältigen<br />
Problemlagen erfolgreich zu bewältigen.<br />
2. Strategien <strong>für</strong> Zielgruppen mit besonderen<br />
Bedarfslagen entwickeln! Die höchst unterschiedlichen<br />
Ressourcen, Risiken <strong>und</strong> Bewältigungsstrategien<br />
arbeitsloser Menschen<br />
müssen bei der Entwicklung von<br />
Maßnahmen berücksichtigt werden.<br />
3. Ges<strong>und</strong>heits- mit Beschäftigungsförderung<br />
verzahnen! Die Verknüpfung von ges<strong>und</strong>heitlicher<br />
Prävention mit Maßnahmen<br />
der Arbeitsförderung bietet einen erfolgreichen<br />
Zugang <strong>für</strong> Arbeitslose zur <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />
<strong>und</strong> ist weiter auszubauen.<br />
4. <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> in den Lebenswelten<br />
verankern! Um Rahmenbedingungen zu<br />
schaffen, die ges<strong>und</strong>e Lebensstile im Alltag<br />
ermöglichen <strong>und</strong> soziale Belastungen mildern,<br />
sind Veränderungen in den Lebenswelten<br />
<strong>und</strong> Angebote sozialer Unterstützung<br />
erforderlich.<br />
5. Übergänge gestalten! Bereits bei drohendem<br />
Arbeitsplatzverlust sollten unterstützende<br />
Angebote frühzeitig ansetzen, um so<br />
von Arbeitslosigkeit bedrohte Menschen<br />
bei der Gestaltung <strong>und</strong> Bewältigung ihrer<br />
Lebenssituation zu stärken<br />
6. So früh wie möglich aktiv werden! Frühzeitige<br />
Intervention durch Bildung <strong>und</strong> Stärkung<br />
der ges<strong>und</strong>heitlichen Ressourcen sowie<br />
der Lebenskompetenz sind Teil einer<br />
umfassenden präventiven Strategie gegen<br />
die negativen Folgen von Arbeitslosigkeit.<br />
7. Stärken fördern, Wertschätzung <strong>und</strong><br />
Transparenz sichern! In allen Lebenssituationen<br />
sind die Ressourcen <strong>und</strong> Fähigkeiten<br />
arbeitsloser Menschen zentral einzubeziehen.<br />
Ausgangspunkt <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />
bei Arbeitslosen ist eine vorurteilsfreie,<br />
unterstützende <strong>und</strong> respektvolle Begegnung.<br />
Nachhaltige Strategien entwickeln<br />
Damit bietet das Eckpunktepapier einen fachlichen<br />
Rahmen <strong>und</strong> Anregung zur Stärkung der<br />
<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> bei Arbeitslosen. Auch<br />
wenn es schon viele gelungene Beispiele gibt,<br />
beispielsweise die durch den Kooperationsverb<strong>und</strong><br />
identifizierten Good Practice-Beispiele,<br />
fehlt es doch fast allerorten noch an umfassenden,<br />
nachhaltigen Strategien. Alle verantwortlichen<br />
Akteure sind gefordert, gemeinsam ver-<br />
bindliche Strukturen auf den Weg zu bringen,<br />
Unterstützungsangebote bedarfsgerecht <strong>und</strong><br />
ressortübergreifend aufeinander abzustimmen<br />
<strong>und</strong> erfolgreiche Ansätze zu implementieren.<br />
Das Eckpunktepapier richtet sich an Akteure im<br />
Bereich der Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Arbeitsförderung<br />
wie Jobcenter, Krankenkassen, Beschäftigungs-<br />
<strong>und</strong> Qualifizierungsträger sowie an politische<br />
Entscheidungsträger, Betroffeneninitiativen,<br />
Beratungsstellen, Kammern, Wohlfahrtsverbände,<br />
freie Träger <strong>und</strong> an alle, die<br />
die ges<strong>und</strong>heitlichen Ressourcen arbeitsloser<br />
Menschen stärken <strong>und</strong> ihre Belastungen senken<br />
können.<br />
Pia Block <strong>und</strong> Stefan Bräunling,<br />
Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />
Patienteninteressen<br />
Das Eckpunktepapier „Gemeinsam handeln“<br />
kann über die Webseite des b<strong>und</strong>esweiten<br />
Kooperationsverb<strong>und</strong>es<br />
www.ges<strong>und</strong>heitliche-chancengleichheit.de<br />
als pdf-Datei heruntergeladen oder kostenlos<br />
in gedruckter Form bestellt werden.<br />
Weitere Informationen zur Kooperationsvereinbarung<br />
der B<strong>und</strong>esagentur <strong>für</strong> Arbeit <strong>und</strong><br />
der Gesetzlichen Krankenversicherung finden<br />
Sie in der gemeinsamen Presseerklärung<br />
„Damit Arbeitslosigkeit nicht krank<br />
macht“ vom 5. April 2012 unter<br />
www.gkv-spitzenverband.de. Hier kann auch<br />
die Vereinbarung selbst – mit Überlegungen<br />
zu konkreten Vorhaben – als PDF-Datei herunterladen<br />
werden.<br />
Stigmatisierung als Barriere <strong>für</strong> erfolgreiche<br />
HIV-Prävention / Neutralität <strong>und</strong> Unabhängigkeit? /<br />
Benachteiligung im Ges<strong>und</strong>heitssystem<br />
Stigmatisierung als Barriere <strong>für</strong> erfolgreiche<br />
HIV-Prävention<br />
17 . <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit zeigt gute Praxis <strong>und</strong><br />
zukünftige Herausforderungen<br />
Ges<strong>und</strong>heitsbezogene Stigmatisierung führt<br />
nicht nur zu massiven psychosozialen Belastungen<br />
der von spezifischen Krankheiten Betroffenen,<br />
sondern gilt auch als eine zentrale<br />
Barriere <strong>für</strong> eine wirksame Primär- <strong>und</strong> Sek<strong>und</strong>ärprävention.<br />
Das Ziel des Workshops „Stigmatisierung<br />
als Barriere <strong>für</strong> erfolgreiche Prävention:<br />
Das Beispiel HIV“ auf dem 17. <strong>Kongress</strong><br />
<strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit war es am Beispiel<br />
der HIV-Infektion diese negativen Konsequenzen<br />
von Stigma aufzuzeigen <strong>und</strong> Ansätze<br />
zur Entstigmatisierung von HIV darzustellen.<br />
In seinem einführenden Beitrag stellte Jochen<br />
Drewes (Freie Universität Berlin) theoretische<br />
Hintergründe zum Stigma-Konzept <strong>und</strong> empirische<br />
Daten zur Stigmatisierung HIV-Infizierter<br />
vor. Stigmatisierung wird in der Allgemeinbevölkerung<br />
genauso wie in den hauptsächlich<br />
von HIV betroffenen Gruppen berichtet. Stigma<br />
kann indirekt die Lebensqualität beeinträchtigen<br />
<strong>und</strong> zu einer beschleunigten Krankheitsprogression<br />
der Betroffenen führen. Dazu tragen<br />
späte HIV-Diagnosen, mangelnde Adhärenz,<br />
Stress <strong>und</strong> unangemessene Copingstrategien<br />
bei, die mit wahrgenommener Stigmatisierung<br />
in direktem Zusammenhang stehen.<br />
Für die Primärprävention stellt HIV-Stigma ein<br />
Problem dar, da Stigma bei vulnerablen Personen<br />
zu einer geringeren Testbereitschaft <strong>und</strong><br />
23
24<br />
Patienteninteressen<br />
einem schlechteren HIV-Schutzverhalten beiträgt.<br />
Gesamtgesellschaftlich behindert Stigma<br />
adäquate gesellschaftliche Reaktionen auf<br />
die HIV-Epidemie, wie sich zum Beispiel aktuell<br />
an der international zu beobachtenden Kriminalisierung<br />
der HIV-Transmission zeigt.<br />
In den folgenden Beiträgen wurden drei Initiativen<br />
vorgestellt, die im deutschen Feld besondere<br />
Beachtung verdienen. Sie verfolgen dabei<br />
alle das Ziel, HIV-bezogene Stigmatisierung<br />
<strong>und</strong> Diskriminierung abzubauen <strong>und</strong> nähern<br />
sich diesem auf ganz unterschiedliche Weisen.<br />
Allen drei Projekten ist die gr<strong>und</strong>legende Herangehensweise<br />
gemein, die Auseinandersetzung<br />
über HIV-bezogene Stigmatisierung nicht<br />
ohne Menschen mit HIV zu führen.<br />
Im Jahr 2005 initiierten verschiedene internationale<br />
HIV-Selbsthilfe-Netzwerke zusammen<br />
mit dem Programm der Vereinten Nationen zu<br />
HIV <strong>und</strong> Aids (UNAIDS) den PLHIV Stigma Index.<br />
Der Index verbindet Forschung zu HIV-bezogener<br />
Stigmatisierung mit der Förderung der<br />
Selbstorganisation von HIV-Positiven. Dies geschieht<br />
anhand des Ansatzes der Peer-Forschung.<br />
Das heißt: HIV-Positive werden ausgebildet,<br />
um die Daten zu erlebter Stigmatisierung<br />
im Rahmen von strukturierten Interviews<br />
selbst zu dokumentieren. Carolin Vierneisel<br />
(Deutsche AIDS-Hilfe) stellte das im August<br />
2011 unter dem Namen positive stimmen angelaufene<br />
Projekt vor, in dem mit Unterstützung<br />
der Deutschen AIDS-Hilfe der PLHIV Stigma Index<br />
auch in Deutschland realisiert wird. Die Ergebnisse,<br />
die <strong>für</strong> August 2012 erwartet werden,<br />
dienen der Interessenvertretung von Men-<br />
Neutralität <strong>und</strong> Unabhängigkeit?<br />
Expert/innen diskutierten Interessenkonflikte <strong>und</strong> Abhängigkeiten<br />
im Feld der ges<strong>und</strong>heitsbezogenen Selbsthilfe<br />
Heute pflegen nicht alle, aber viele Selbsthilfegruppen<br />
<strong>und</strong> -organisationen mehr oder weniger<br />
enge Verbindungen zur pharmazeutischen<br />
Industrie, zu Medizinprodukteherstellern <strong>und</strong>/<br />
oder zu anderen Wirtschaftsunternehmen. Vor<br />
dem Hintergr<strong>und</strong> chronischer Finanznöte in der<br />
Selbsthilfe sind die Versuchungen groß, die<br />
Kasse über Sponsoringmittel von Pharmaunternehmen<br />
<strong>und</strong> Medizinprodukteherstellern<br />
aufzubessern, um besonders gute Dienstleistungen<br />
anzubieten, Fachkongresse zu besuchen,<br />
den Internetauftritt der Organisation zu<br />
verbessern oder Schulungen <strong>für</strong> Gruppenleiter<br />
schen mit HIV <strong>und</strong> sollen zudem aufzeigen, an<br />
welchen Stellen die Selbstorganisation von<br />
HIV-Positiven weiter gefördert werden kann.<br />
Die Kampagne ICH WEISS WAS ICH TU der<br />
Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) ist die erste b<strong>und</strong>esweite<br />
Kampagne zur Prävention von HIV<br />
<strong>und</strong> anderen STIs, die sich ausschließlich an<br />
schwule, bisexuelle <strong>und</strong> andere Männer, die<br />
Sex mit Männern haben (MSM), richtet. Dr.<br />
Dirk Sander (Deutsche AIDS-Hilfe) zeigte, wie<br />
<strong>und</strong> warum diese Kampagne Strategien zur<br />
Entstigmatisierung HIV-positiver MSM einen<br />
zentralen Stellenwert einräumt. Die Kampagne<br />
setzt auf den Einsatz HIV-positiver Rollenmodelle,<br />
um damit einseitige Bilder vom Leben<br />
mit HIV zu korrigieren. Damit wendet sie sich<br />
explizit gegen Ansätze, die – vermeintlich im<br />
Dienste der Prävention – stigmatisierende Bilder<br />
<strong>und</strong> Berichte verwenden <strong>und</strong> festigen in<br />
der Annahme, Angst vor HIV könne präventive<br />
Effekte haben. Die Ergebnisse der Evaluation<br />
dieser Kampagne zeigen, dass die gewählten<br />
Strategien erfolgreich sind.<br />
Der Welt-Aids-Tag wurde 1988 von der Weltges<strong>und</strong>heitsorganisation<br />
(WHO) ins Leben gerufen.<br />
Die B<strong>und</strong>eszentrale <strong>für</strong> ges<strong>und</strong>heitliche<br />
Aufklärung (BZgA) nutzt diesen Tag seither, um<br />
über ihre Kampagnenarbeit <strong>für</strong> ein solidarisches<br />
Miteinander in der Gesellschaft zu werben.<br />
Michael Eckert (BZgA) stellte die aktuelle,<br />
nationale Kampagne Positiv zusammen leben.<br />
Aber sicher! vor, die erstmals mit der Porträtierung<br />
von realen Menschen mit HIV arbeitet, um<br />
damit die große Vielfalt des Lebens mit HIV<br />
aufzuzeigen. Diese Porträtierungen, die über<br />
zu finanzieren. Für David Klemperer von der<br />
Hochschule Regensburg steht außer Frage,<br />
dass mit der Kooperation von Selbsthilfe <strong>und</strong><br />
Industrie Risiken <strong>und</strong> Nebenwirkungen einhergehen,<br />
die die Unabhängigkeit der Selbsthilfe<br />
bedrohen, deren Ansehen <strong>und</strong> Akzeptanz schaden.<br />
Die Selbsthilfe solle sich stets bewusst<br />
sein, die Industrie würde nicht aus Selbstlosigkeit<br />
handeln, sondern bestimmte unternehmerische<br />
Ziele verfolgen.<br />
In dem Workshop „Neutralität <strong>und</strong> Unabhängigkeit?<br />
Interessenkonflikte <strong>und</strong> Abhängigkei-<br />
Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />
Großflächenplakate, Kino- <strong>und</strong> TV-Spots sowie<br />
eine starke Internetpräsenz an die Öffentlichkeit<br />
getragen werden, sollen Menschen anregen,<br />
sich mit dem Thema persönlich auseinanderzusetzen.<br />
Diese Auseinandersetzung soll<br />
letztendlich dazu beitragen, dass HIV-Positive<br />
weniger mit Ausgrenzung <strong>und</strong> Diskriminierung<br />
in der Mehrheitsgesellschaft konfrontiert werden<br />
<strong>und</strong> ein Klima der Solidarität entsteht.<br />
Auch 30 Jahre nach dem ersten Auftreten von<br />
HIV <strong>und</strong> Aids stellen Stigmatisierung <strong>und</strong> Diskriminierung<br />
immer noch große Einschränkungen<br />
sowohl <strong>für</strong> Menschen mit HIV als auch <strong>für</strong><br />
Präventionserfolge dar. Eine andauernde, aktualisierte<br />
Auseinandersetzung auf allen Ebenen<br />
ist daher unerlässlich. Deren Kern bilden<br />
neben weiterer wissenschaftlicher Auseinandersetzung<br />
vordringlich die Teilhabe <strong>und</strong> der<br />
Einbezug von Menschen mit HIV, in alle Entscheidungen,<br />
die sie betreffen – sei es in Politik,<br />
Prävention oder Forschung. Dieser Ansatz<br />
darf jedoch nicht allein auf den Umgang mit<br />
HIV beschränkt werden. Auch andere Erkrankungen<br />
werden mehr oder weniger stark stigmatisiert.<br />
Auch hier gilt es, unter Partizipation<br />
der Betroffenen angemessene Strategien zu<br />
entwickeln, um die Stigmatisierung abzubauen.<br />
Weiterführende Infos:<br />
www.positive-stimmen.de<br />
www.iwwit.de<br />
www.welt-aids-tag.de<br />
Jochen Drewes, Freie Universität Berlin <strong>und</strong><br />
Carolin Vierneisel, Deutsche AIDS-Hilfe<br />
ten im Feld der ges<strong>und</strong>heitsbezogenen Selbsthilfe“<br />
auf dem 17. <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
wurden verschiedene Motive deutlich,<br />
warum Pharmaunternehmen Selbsthilfeorganisationen<br />
<strong>und</strong> -gruppen sponsern:<br />
n In Deutschland sei das Image der pharmazeutischen<br />
Industrie seit Jahren auf „Wulff-<br />
Niveau“. Eine Unterstützung der Selbsthilfe<br />
trage zur Imageförderung bei ihren zentralen<br />
K<strong>und</strong>en, den chronisch Kranken <strong>und</strong><br />
behinderten Menschen bei, <strong>und</strong> sei zudem<br />
wesentlich preiswerter als millionenschwere<br />
Imagekampagnen der Industrieverbände.<br />
n Bislang dürfe <strong>für</strong> verschreibungspflichtige<br />
Arzneimittel nur in Fachkreisen geworben<br />
werden. Es liege daher nahe, sich seine<br />
„K<strong>und</strong>schaft“ über teilweise sehr subtile<br />
Strategien der Einflussnahme auf Selbsthil-
Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12 Patienteninteressen<br />
fegruppen <strong>und</strong> Patientenorganisationen zu<br />
akquirieren. Ziel sei das direkte Patienten-<br />
Marketing mit geringem Streuverlust <strong>und</strong><br />
das Prä-Marketing von Arzneimitteln, die<br />
noch nicht auf dem Markt seien.<br />
n Schließlich sei die Selbsthilfe durch die Einbindung<br />
in Beratungs- <strong>und</strong> Entscheidungsgremien<br />
des Ges<strong>und</strong>heitswesens zugleich<br />
als Adressat interessengeleiteter Lobbying-<br />
Strategien der Industrie interessanter geworden.<br />
Leitsätze im Umgang mit<br />
Pharmaunternehmen<br />
Die Vertreter/innen der Selbsthilfe sahen<br />
durchaus die Gefahren von Interessenkonflikten.<br />
Sie seien jedoch keineswegs die „Fußtruppen<br />
der Pharmaindustrie“. So hob Sirii Doka<br />
von der B<strong>und</strong>esarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe<br />
(BAG-Selbsthilfe) hervor, dass sich die Spitzenorganisationen<br />
der Selbsthilfe <strong>und</strong> die<br />
Selbsthilfeorganisationen zur Einhaltung von<br />
Leitsätzen der Zusammenarbeit mit Wirtschaftsunternehmen<br />
verpflichtet haben. Um<br />
diese in die Praxis umzusetzen, seien sogenannte<br />
Monitoring-Ausschüsse eingerichtet<br />
worden. Ziel sei es, Mitgliedsorganisationen<br />
bei der Umsetzung der Leitsätze zu beraten<br />
<strong>und</strong> Prüfbitten zu beantworten. Carl Catteleans<br />
vom Rheumaliga B<strong>und</strong>esverband schilderte<br />
wie seine Organisation in einem langen Diskussionsprozess<br />
das Thema aufgearbeitet habe.<br />
Heute würden <strong>für</strong> die Rheumaliga klare <strong>und</strong><br />
transparente Regelungen gelten.<br />
Dass dies nicht bei allen Organisationen der<br />
Fall ist, wurde anhand verschiedener aktueller<br />
Beispiele deutlich: Eine Selbsthilfeorganisation<br />
finanziere über 60 Prozent ihres Haushalts<br />
aus Pharmamitteln, gebe aber zugleich bei den<br />
Krankenkassen eine rechtsverbindliche Erklärung<br />
ab, dass sie neutral <strong>und</strong> unabhängig sei.<br />
Die B<strong>und</strong>esvereinigung pulmonale Hypertonie<br />
werbe seit Ende Februar 2012 mit den Logos<br />
verschiedener Pharmakonzerne auf großflächigen<br />
Plakaten in den Berliner U-Bahnen <strong>für</strong> ihre<br />
Sache. Der MDR habe jüngst aufgedeckt, dass<br />
in Hamburg ein Verleger den Deutschen Vitiligo<br />
Verein (sog. Weißfleckenerkrankung) „betreibe“<br />
<strong>und</strong> von den Krankenkassen Fördermittel<br />
erhalten habe – ohne dass Selbsthilfegruppen<br />
vorhanden seien. Angelika Zollmann von<br />
der Bremischen Zentralstelle <strong>für</strong> die Verwirklichung<br />
der Gleichberechtigung der Frau sowie<br />
die Medizinjournalistin Rosemarie Stein wiesen<br />
in diesem Zusammenhang auf die langjährige<br />
Diskussion der Einflussnahme der Indus-<br />
Benachteiligung im Ges<strong>und</strong>heitssystem<br />
Zuzahlungen <strong>und</strong> Eigenbeteiligungen belasten zunehmend auch<br />
den Mittelstand<br />
Belastungen durch Zuzahlungen <strong>und</strong> Eigenbeteiligungen,<br />
welche vermehrt auch den Mittelstand<br />
betreffen, <strong>und</strong> die „Entsolidarisierung“<br />
des Ges<strong>und</strong>heitssystems waren Themen des<br />
Workshops „Systemische Benachteiligung von<br />
<strong>Armut</strong> Betroffener im Ges<strong>und</strong>heitssystem“ auf<br />
dem 17. <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit.<br />
Dr. Uwe Denker stellte das Projekt „Praxis ohne<br />
Grenzen“ – Region Bad Segeberg e.V. vor.<br />
Seit Anfang 2010 werden in dieser medizinischen<br />
Praxis all diejenigen untersucht, beraten<br />
<strong>und</strong> behandelt, die „mittellos“ sind <strong>und</strong> sich<br />
Krankheit nicht leisten können, berichtete<br />
Denker. Mittlerweile beteiligen sich verschiedene<br />
Berufsgruppen ehrenamtlich an diesem<br />
Projekt. Sogenannte „Basisärzte“, Fachärzte,<br />
Physiotherapeuten, Apotheker <strong>und</strong> „Behördenlotsen“<br />
(Belos). Zuzahlungen, Ausweispapiere<br />
oder eine Krankenversichertenkarte wer-<br />
den nicht eingefordert bzw. erhoben. Denker<br />
berichtete auch über das sich ändernde Patientenspektrum:<br />
So suchten zahlreiche ehemals<br />
selbstständige <strong>und</strong> damit privat versicherte<br />
Menschen, die nach der Beendigung ihrer beruflichen<br />
Tätigkeit keinen Krankenversicherungsschutz<br />
mehr besitzen, gehäuft die „Praxis<br />
ohne Grenzen“ auf.<br />
Verena Lührs <strong>und</strong> Paul Wenzlaff vom Zentrum<br />
<strong>für</strong> Qualität <strong>und</strong> Management im Ges<strong>und</strong>heitswesen,<br />
einer Einrichtung der Ärztekammer Niedersachsen<br />
(Hannover), stellten die 10 Jahre<br />
Evaluation der „Aufsuchenden medizinischen<br />
Versorgung <strong>für</strong> Wohnungslose <strong>und</strong> von Wohnungslosigkeit<br />
bedrohte Menschen in Hannover“<br />
<strong>und</strong> deren Relevanz <strong>für</strong> die „<strong>Armut</strong>sbevölkerung“<br />
dar. In dem Projekt „Aufsuchende Ges<strong>und</strong>heits<strong>für</strong>sorge<br />
<strong>für</strong> Wohnungslose in Hannover“<br />
werden Menschen versorgt, die durch<br />
trie auf Brustkrebs-Patientinnenorganisationen<br />
hin.<br />
Offensichtlich bestehe erheblicher Handlungsbedarf,<br />
so das einhellige Urteil der Workshop-<br />
Besucher/innen. Um Interessenkonflikte zu<br />
vermeiden, seien Selbstverpflichtungserklärungen<br />
zwar (aller-)erste Schritte in die richtige<br />
Richtung, es bedürfe jedoch weitergehender<br />
Kriterien <strong>und</strong> Regelungen, wie Ursula<br />
Helms von der NAKOS betonte. Ihre Organisation<br />
werde gemeinsam mit der BARMER GEK<br />
ein Projekt starten <strong>und</strong> versuchen, solche Regelungen<br />
zu entwickeln. Die Selbsthilfe könne<br />
von der Initiative unbestechlicher Ärzt/innen –<br />
„Mein Essen zahl ich selbst (MEZIS)“ sehr lernen.<br />
Christoph Kranich von der Verbraucherzentrale<br />
Hamburg erinnerte in diesem Zusammenhang<br />
an eine alte Forderung von Selbsthilfe- <strong>und</strong><br />
Patientenorganisationen: Die pharmazeutische<br />
Industrie <strong>und</strong> die Medizinproduktehersteller<br />
sollen ihre Fördermittel in einen gemeinsamen<br />
Förderpool einzahlen, nur so könne<br />
das Problem wirksam angegangen werden.<br />
Diese Forderung stieß bei den Workshop-Teilnehmer/innen<br />
auf große Zustimmung.<br />
Rüdiger Meierjürgen, BARMER GEK<br />
individuelle oder gesellschaftliche Zugangsbarrieren<br />
die medizinischen Leistungen des<br />
Regelversorgungssystems nicht in Anspruch<br />
nehmen. Die Evaluation des Projektes zeigt,<br />
dass der Versorgungsbedarf steigt <strong>und</strong> neben<br />
den Wohnungslosen auch vermehrt Patient/<br />
innen aus anderen Bevölkerungsgruppen, zum<br />
Beispiel aus finanziell <strong>und</strong> sozial benachteiligten<br />
Gruppen, die Angebote des Projekts in Anspruch<br />
nehmen. Diese sogenannte „<strong>Armut</strong>sbevölkerung“<br />
kann den Zuzahlungen im Rahmen<br />
der medizinischen Regelversorgung offensichtlich<br />
nicht nachkommen <strong>und</strong> sucht als Alternative<br />
die Wohnungslosenversorgung auf.<br />
Werena Rosenke von der B<strong>und</strong>esarbeitsgemeinschaft<br />
Wohnungslosenhilfe e.V. (Bielefeld)<br />
referierte über die „Auswirkungen zunehmender<br />
Kostenbeteiligung <strong>und</strong> Eigenverantwortung<br />
auf die Ges<strong>und</strong>heitsversorgung wohnungsloser<br />
<strong>und</strong> armer Patient/innen“. Um die<br />
medizinische Versorgung wohnungsloser Männer<br />
<strong>und</strong> Frauen aufrecht zu erhalten, bemühen<br />
sich die medizinischen Projekte der Wohnungslosenhilfe<br />
seit Anfang 2004, die finanziellen<br />
Belastungen der Patient/innen (Praxisgebühr,<br />
Zuzahlungen, Kauf von OTC-Präparaten<br />
etc.) möglichst gering zu halten. Die stei-<br />
25
26<br />
Patienteninteressen<br />
gende Zahl armer Mitbürger/innen führt auch<br />
vermehrt Menschen ohne Erfahrung der Wohnungslosigkeit<br />
in diese Projekte – ausschließlich<br />
aufgr<strong>und</strong> ihrer wirtschaftlichen Bedürftigkeit.<br />
ALG II-Empfänger/innen <strong>und</strong> Empfänger/<br />
innen von Gr<strong>und</strong>sicherung sind ebenso betroffen<br />
wie auch ältere Menschen mit kleineren<br />
Renten <strong>und</strong> aufzahlender Gr<strong>und</strong>sicherung. Rosenke<br />
betonte, dass mit dem GKV-Finanzierungsgesetz<br />
(GKV-FinG) die Entsolidarisierung<br />
im Ges<strong>und</strong>heitswesen vorangetrieben werde.<br />
Aufgr<strong>und</strong> einer Vielzahl privat zu finanzierender<br />
Zusatzleistungen, Eigenbeteiligungen <strong>und</strong><br />
Zusatzbeiträge werde eine Partizipation am<br />
bestehenden Ges<strong>und</strong>heitsversorgungssystem<br />
massiv erschwert, teilweise unmöglich gemacht.<br />
In Kürze erhältlIch<br />
Die Dokumentation des<br />
17 . <strong>Kongress</strong> <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
ist ab Sommer 2012 <strong>für</strong> 5 Euro zzgl. Versand<br />
erhältlich <strong>und</strong> kann bereits jetzt vorbestellt<br />
werden.<br />
Bestelladresse:<br />
Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />
Friedrichstraße 231<br />
10969 Berlin<br />
Tel.: (030) 44 31 90 60<br />
Fax: (030) 44 31 90 63<br />
E-Mail: sekretariat@ges<strong>und</strong>heitbb.de<br />
Inge Döring vom Ges<strong>und</strong>heitsamt Kreis Heinsberg<br />
<strong>und</strong> Dr. Udo Puteanus vom Landesinstitut<br />
<strong>für</strong> Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Arbeit Nordrhein-Westfalen<br />
(LIGA.NRW, Düsseldorf) stellten eine Studie<br />
zum Thema „Medikamententafeln – eine<br />
sinnvolle <strong>und</strong> notwendige ergänzende Versorgungsinitiative!?“<br />
dar. Im Fokus des Referats<br />
standen die nicht rezeptpflichtigen Arzneimittel,<br />
die bis auf wenige Ausnahmen von den gesetzlich<br />
Versicherten selbst bezahlt werden<br />
müssen. Döring machte deutlich, dass sozial<br />
benachteiligte Menschen sich Arzneimittel im<br />
Rahmen der Selbstmedikation häufig nicht<br />
leisten könnten, auf Unterstützung angewiesen<br />
sind oder auf die Selbstmedikation verzichten.<br />
Inzwischen haben sich in Deutschland<br />
einige Medikamenten-Tafeln etabliert, die den<br />
Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />
bedürftigen Menschen Arzneimittel zu einem<br />
ermäßigten Preis anbieten. Als Sponsoren treten<br />
unterschiedliche Personen oder Institutionen<br />
auf. Es wurden verschiedene Arzneimittelgruppen,<br />
Möglichkeiten des vergünstigten Erwerbs<br />
<strong>und</strong> eine entsprechende Bedarfsanalyse<br />
<strong>für</strong> sozial benachteiligte Menschen dar gestellt.<br />
Ob Medikamenten-Tafeln eine sinnvolle Möglichkeit<br />
darstellen, diesen Versorgungsmangel<br />
zu schließen, wurde kritisch diskutiert.<br />
Unser derzeitiges Ges<strong>und</strong>heitsversorgungssystem<br />
ist sozial ungerecht. Zahlreiche Bevölkerungsgruppen<br />
können die bestehenden medizinischen<br />
Angebote nicht in Anspruch nehmen,<br />
da ihnen die finanziellen Ressourcen<br />
fehlen.<br />
Alle Referent/innen forderten dementsprechend<br />
auch eine Entlastung von <strong>Armut</strong> betroffener<br />
Menschen durch eine Streichung der Praxisgebühr,<br />
Befreiung von Zuzahlungen bei Medikamenten,<br />
Heil- <strong>und</strong> Hilfsmittel <strong>und</strong> keinerlei<br />
neue Zuzahlungsmodelle <strong>und</strong> Erhebung von<br />
Sonderbeiträgen. Zudem muss das medizinische<br />
Versorgungskonzept in Deutschland so<br />
gestaltet sein, dass eine Partizipation durch<br />
jeden Bürger <strong>und</strong> jede Bürgerin möglich ist.<br />
Subversorgungseinrichtungen müssen sich<br />
immer wieder kritisch reflektierend im Sinne<br />
einer zusätzlichen Ausgrenzungsproblematik<br />
in Frage stellen. Auch wenn dies zum Überleben<br />
vieler Menschen in Deutschland derzeit<br />
sinnvoll <strong>und</strong> notwendig ist, muss eine systemimmanente<br />
Regelversorgung angestrebt werden<br />
<strong>und</strong> letztendlich möglich sein.<br />
Gerhard Trabert, <strong>Armut</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit in<br />
Deutschland e. V<br />
Wir laden Sie herzlich ein, sich an der kommende Ausgabe des<br />
Info_Dienst zu beteiligen. Bitte senden Sie Ihre Beiträge <strong>und</strong><br />
Anregungen bis zum 22 . Juni an redaktion@ges<strong>und</strong>heitbb.de.
Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12 Termine<br />
Termine<br />
Weitere Termine auch unter www .ges<strong>und</strong>heitbb .de<br />
<strong>und</strong><br />
www .ges<strong>und</strong>heitliche-chancengleichheit .de<br />
Kontakt <strong>für</strong> Veranstaltungen (falls nicht anders angegeben): Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg,<br />
Friedrichstraße 231, 10969 Berlin, Tel.: (030) 44 31 90 60; post@ges<strong>und</strong>heitbb.de<br />
Arbeitskreise von<br />
Ges<strong>und</strong>heit<br />
Berlin-Brandenburg<br />
Arbeitskreistreffen<br />
Arbeitskreis Betriebliche<br />
<strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />
Di., 15. Mai 2012 von 15.00 bis 17.00 Uhr<br />
Veranstalter: Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />
Ort: Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg,<br />
Friedrichstr. 231, 10969 Berlin<br />
www.ges<strong>und</strong>heitbb.de<br />
Arbeitskreistreffen<br />
Arbeitskreis Migration <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
Mi., 23. Mai 2012 von 17.00 bis 19.30 Uhr<br />
Veranstalter: Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />
Ort: Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg,<br />
Friedrichstr. 231, 10969 Berlin<br />
www.ges<strong>und</strong>heitbb.de<br />
Arbeitskreistreffen<br />
Arbeitskreis Altern <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
Mo., 18. Juni 2012 von 15.00 bis 17.00 Uhr<br />
Veranstalter: Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />
Ort: Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg,<br />
Friedrichstr. 231, 10969 Berlin<br />
www.ges<strong>und</strong>heitbb.de<br />
Tagungen, organisiert<br />
oder mitorganisiert<br />
von Ges<strong>und</strong>heit<br />
Berlin-Brandenburg<br />
Fachtagung<br />
Generationen Hand in Hand<br />
Mo., 11. Juni 2012<br />
Veranstalter: Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg<br />
in Kooperation mit dem Ministerium <strong>für</strong> Arbeit,<br />
Soziales, Frauen <strong>und</strong> Familie des Landes<br />
Brandenburg<br />
Ort: Kutschstallensemble (Lé Manege), Am<br />
Neuen Markt 9 a-b, 14467 Potsdam<br />
www.ges<strong>und</strong>heitbb.de<br />
Veranstaltungen in<br />
Berlin-Brandenburg<br />
Seminar<br />
Wie kann sie nur jeden Tag<br />
Schokocroissants . . .?<br />
Sa., 2. Juni <strong>und</strong> So., 3. Juni 2012<br />
Veranstalter: Verband der<br />
Oecotrophologen e.V.<br />
Ort: Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg,<br />
Friedrichstr. 231, 10969 Berlin<br />
www.vdoe.de/seminar_details2012.html?&no_<br />
cache<br />
Tagung<br />
Miteinander – Füreinander<br />
Mo., 4. Juni 2012 von 10.00 bis 16.30 Uhr<br />
Veranstalter: Deutsche Alzheimer Gesellschaft<br />
e. V. Selbsthilfe Demenz<br />
Ort: Hotel Aquino, Hannoversche Str. 5b,<br />
10115 Berlin<br />
www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Service/<br />
veranstaltungen,did=184362.html<br />
Fachtag<br />
Altenarbeit im Gemeinwesen . Demografisch<br />
geboten – politisch notwendig – verlässlich<br />
finanziert<br />
Di., 5. Juni 2012<br />
Veranstalter: Diakonie B<strong>und</strong>esverband<br />
Ort: Haus des Militärbischofs,<br />
Jebenstraße 3, 10623 Berlin<br />
www.diakonie.de/veranstaltungen-6748altenarbeit-im-gemeinwesen-9023.htm<br />
Veranstaltungen im<br />
B<strong>und</strong>esgebiet<br />
Ges<strong>und</strong>heitswoche<br />
19 . Sächsische Ges<strong>und</strong>heitswoche zum<br />
Europäischen Jahr <strong>für</strong> Aktives Altern <strong>und</strong><br />
Solidarität der Generationen<br />
Mo., 21. Mai 2012<br />
Veranstalter: Sächsische Landesvereinigung<br />
<strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> e. V. / Chemnitz<br />
Stadt der Moderne<br />
Ort: Chemnitz<br />
www.slfg.de<br />
Jahrestagung<br />
Lebensphase Alter gestalten – Ges<strong>und</strong> <strong>und</strong><br />
aktiv älter werden<br />
Di., 22. Mai <strong>und</strong> Mi., 23. Mai 2012<br />
Veranstalter: Kooperation <strong>für</strong> nachhaltige<br />
Präventionsforschung (KNP)<br />
Ort: Bonn<br />
www.knp-forschung.de<br />
Europäische Konferenz<br />
Gewalt gegen ältere pflegebedürftige<br />
Menschen erkennen <strong>und</strong> handeln: Chancen<br />
<strong>und</strong> Barrieren in der Praxis<br />
Mi., 31. Mai 2012<br />
Veranstalter: Hochschule Fulda /<br />
Präventionsrat der Stadt Fulda<br />
Ort: Fulda<br />
www.fh-fulda.de/index.php?id=10449#c37198<br />
Tagung<br />
Aktives ges<strong>und</strong>heitsförderliches Handeln –<br />
Überall <strong>und</strong> nirgends? Ständig <strong>und</strong> nie?<br />
Di., 26. Juni 2012<br />
Veranstalter: Landesvereinigung <strong>für</strong><br />
Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Akademie <strong>für</strong> Sozialmedizin<br />
Niedersachsen e.V.<br />
Ort: Hannover<br />
www.ges<strong>und</strong>heit-nds.de/CMS/index.php/<br />
veranstaltungen/205-25-jahre-ottawa-charta<br />
<strong>Kongress</strong><br />
Ges<strong>und</strong>heitliche Ungleichheit über den<br />
Lebenslauf<br />
Do., 30. August bis Sa., 1. September 2012<br />
Veranstalter: Deutsche Gesellschaft <strong>für</strong><br />
Medizinische Soziologie / European Society of<br />
Health and Medical Sociology<br />
Ort: Hannover<br />
www.eshms-dgms-2012.de<br />
<strong>Kongress</strong><br />
DGSMP Jahrestagung 2012<br />
„Wie viel Ökonomisierung verträgt ein<br />
solidarisches Ges<strong>und</strong>heitssystem?“<br />
Mi., 12. September bis Fr., 14. September 2012<br />
Veranstalter: Deutsche Gesellschaft <strong>für</strong><br />
Sozialmedizin <strong>und</strong> Prävention<br />
Ort: Essen<br />
www.dgsmp.de/index.php/jahrestagung/<br />
essen-2012<br />
27
28<br />
Publikationen<br />
Patienten auf der Suche<br />
Die Ges<strong>und</strong>heitswissenschaftlerin Anja Bargfrede<br />
untersucht in einer qualitativen Studie,<br />
wie sich Patienten innerhalb der Versorgungsstrukturen<br />
bewegen <strong>und</strong> wie sie die Suche<br />
nach adäquater medizinischer Hilfeleistung erleben.<br />
Am Beispiel von Patienten mit umweltbezogenen<br />
Ges<strong>und</strong>heitsstörungen kann der<br />
Leser nachvollziehen, was passiert, wenn keine<br />
standardisierten Versorgungsbahnen vorgegeben<br />
sind <strong>und</strong> sich Patienten mit ihren Beschwerden<br />
allein gelassen fühlen: Eine ineffiziente<br />
Versorgung verursacht einen immensen<br />
individuellen Leidensdruck <strong>und</strong> steigert das<br />
Risiko einer Chronifizierung von Erkrankungen.<br />
Damit wiederum gehen gesellschaftliche Kosten<br />
einher, die sich durch eine erhöhte Inanspruchnahme<br />
von Versorgungsleistungen aber<br />
auch durch vermehrten Arbeitsausfall bedingen.<br />
Die Autorin entwickelt ein Modell, das<br />
Kriterien wie Transparenz, dialogische Qualität<br />
<strong>und</strong> Eindeutigkeit in der Begegnung mit Patienten<br />
als entscheidend <strong>für</strong> eine gelungene Orientierung<br />
im Versorgungssystem identifiziert.<br />
Eine Klassifikation von möglichen Bewältigungs-<br />
<strong>und</strong> Reaktionsmustern seitens der Patienten<br />
kann darüber hinaus da<strong>für</strong> genutzt werden,<br />
um bedarfsbezogen psycho-soziale Unterstützung<br />
im Umgang mit den erlebten ges<strong>und</strong>heitlichen<br />
Beschwerden zu leisten. Bargfrede<br />
schlussfolgert einen klaren Bedarf an einer<br />
Anlaufstelle <strong>für</strong> Patienten mit selteneren<br />
Störungsbildern, um die Ausbildung von Versorgungskarrieren<br />
zu vermeiden. Interviews<br />
mit betroffenen Patienten, Experten seitens<br />
der Versorgungseinrichtungen sowie Versicherungsträgern<br />
münden in konkrete Vorschläge,<br />
wie eine solche Anlaufstelle institutionalisiert<br />
werden kann. Der Autorin gelingt mit ihrem<br />
Buch ein Brückenschlag zwischen Theorienbildung<br />
<strong>und</strong> praktischen Ansätzen, der von der<br />
Versorgungslandschaft unbedingt zur Kenntnis<br />
genommen werden sollte.<br />
Anja Bargfrede (2011). Patienten auf der Suche.<br />
Orientierungsarbeit im Ges<strong>und</strong>heitswesen.<br />
Wiesbaden: VS Verlag.<br />
Katrin Rothländer,<br />
rothlaender@psychologie.tu-dresden.de<br />
Info_Dienst <strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong> 1_12<br />
Impressum<br />
Herausgeber <strong>und</strong> Verleger:<br />
Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg,<br />
Arbeitsgemeinschaft<br />
<strong>für</strong> <strong>Ges<strong>und</strong>heitsförderung</strong><br />
Friedrichstraße 231,<br />
10969 Berlin,<br />
Tel. 030-44 31 90-60,<br />
Fax 030-44 31 90-63<br />
E-Mail: post@ges<strong>und</strong>heitberlin.de,<br />
www.ges<strong>und</strong>heitberlin.de<br />
Redaktion:<br />
Redaktion: Stefan Pospiech (V.i.S.d.P.),<br />
Merle Wiegand<br />
Weitere Autor/innen:<br />
Marion Amler, Havva Arik, Ullrich Bauer,<br />
Michael Bellwinkel, Pia Block, Stefan Bräunling,<br />
Patrick Brzoska, Marie-Luise Dierks, Jochen Drewes,<br />
Andreas Eickhorst, Kazim Erdogan, Gesine Grande,<br />
Janka Große, Carmen Kluge, Anna Küster,<br />
Katrin Linthorst, Niels Löchel, Katja Maurer,<br />
Rüdiger Meierjürgen, Verena Mörath,<br />
Monika Nellen, Stefanie Peykarjou, Marianne P<strong>und</strong>t,<br />
Oliver Razum, Gerwin-Lutz Reinink; Tina Salomon,<br />
Carola Schmidt, Annett Schmok, Elena Sterdt,<br />
Roswitha Stöcker, Gerhard Trabert, Michael Urban,<br />
Carolin Vierneisel, Ulla Walter, Stefan Weigand,<br />
Barbara Weigl, Rolf Werning, Reinhart Wolff,<br />
Yüce Yilmaz-Aslan, Marco Ziesemer<br />
Redaktionsschluss: Ausgabe 2_2012 22. Juni 2012<br />
Auflage: 4.500<br />
Satz <strong>und</strong> Layout:<br />
Connye Wolff, www.connye.com<br />
Druck:<br />
Allprintmedia GmbH<br />
Blomberger Weg 6a, 13437 Berlin,<br />
www.allpint-media.de<br />
Copyright:<br />
Ges<strong>und</strong>heit Berlin-Brandenburg, Mai 2012<br />
E-Mail an: redaktion@ges<strong>und</strong>heitberlin.de<br />
ISSN 1614-5305<br />
Bildnachweise:<br />
Seite 3, 4 <strong>und</strong> 10: André Wagenzik;<br />
Seite 9: medico international;<br />
Seite 12: www.pixelio.de: adel<br />
Seite 14: Ernst Fesseler; Seite 15: www.pixelio.de:<br />
Jerzy Sawluk; Seite 16: www.fotolia.com:<br />
Hans-Dieter Holtz; Seite 17: Michael Bellwinkel;<br />
Seite 21: www.fotolia.com: Monkey Business;<br />
Seite 26: www.pixelio.de: CFALK