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Genpo Roshi - Big-Mindpdf

Lassen Sie es mich so nachdrücklich wie möglich sagen: Der von Zen-Meister Dennis Genpo Merzel entwickelte Big-Mind-Prozess ist die wohl wichtigste und schöpferischste Entdeckung innerhalb des Buddhismus der letzten zwei Jahrhunderte. Er ist ein erstaunlich origineller, tiefgründiger und wirksamer Weg zum Erwachen, zur Erkenntnis der eigenen Wahren Natur. Er ist eine solch einfache und universelle Übung, dass sie für jeden denkbaren spirituellen Weg genutzt werden kann; und er kann sogar für sich allein stehen, als ein Weg, das Wahre Selbst zu verwirklichen - nennen Sie es Gott, Allah, Jahwe, Brahman, Dao, Ain Sof. Wie Sie es nennen, spielt keine Rolle, denn der Kern des Big-Mind-Prozesses ist die Leere selbst, die dadurch, dass sie keinen bestimmten Inhalt hat, alles Entstehende umfassen kann und auch tatsächlich umfasst und integriert

Lassen Sie es mich so nachdrücklich wie möglich sagen: Der von
Zen-Meister Dennis Genpo Merzel entwickelte Big-Mind-Prozess
ist die wohl wichtigste und schöpferischste Entdeckung innerhalb
des Buddhismus der letzten zwei Jahrhunderte. Er ist ein erstaunlich
origineller, tiefgründiger und wirksamer Weg zum Erwachen,
zur Erkenntnis der eigenen Wahren Natur. Er ist eine solch
einfache und universelle Übung, dass sie für jeden denkbaren
spirituellen Weg genutzt werden kann; und er kann sogar für
sich allein stehen, als ein Weg, das Wahre Selbst zu
verwirklichen - nennen Sie es Gott, Allah, Jahwe, Brahman,
Dao, Ain Sof. Wie Sie es nennen, spielt keine Rolle, denn der
Kern des Big-Mind-Prozesses ist die Leere selbst, die dadurch,
dass sie keinen bestimmten Inhalt hat, alles Entstehende
umfassen kann und auch tatsächlich umfasst und integriert

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DENNIS GENPO<br />

MERZEL ROSHI<br />

BIG<br />

MIND<br />

Großer Geist - großes Herz<br />

Übersetzung<br />

Alexandra Gericke<br />

AURUM


Titel der Originalausgabe:<br />

BIG MIND - BIG HEART<br />

erschienen bei:<br />

<strong>Big</strong> Mind Publishing, Salt Lake City<br />

www.bigmind.org<br />

©2007 bei Dennis <strong>Genpo</strong> Merzel<br />

Dennis <strong>Genpo</strong> Merzel <strong>Roshi</strong>: <strong>Big</strong> Mind<br />

© Deutsche Ausgabe:<br />

Aurum in J. Kamphausen Verlag &<br />

Distribution GmbH, Bielefeld 2008<br />

info@j-kamphausen.de<br />

www.weltinnenraum.de<br />

Übersetzung: Alexandra Gericke<br />

Lektorat: Ursula Richard<br />

Umschlag und Satz:<br />

Wilfried Klei<br />

Druck & Verarbeitung:<br />

Westermann Druck Zwickau<br />

1. Auflage 2008<br />

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme<br />

Ein Titelsatz für diese Publikation<br />

ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich.<br />

ISBN 978-3-89901-139-5<br />

Dieses Buch wurde auf 100% Altpapier gedruckt und ist alterungsbeständig.<br />

Weitere Informationen hierzu finden Sie unter www.weltinnenraum.de<br />

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und<br />

sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe<br />

sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.


Widmung<br />

Da dieses Buch das Resultat all meines Trainings,<br />

des Coachings, der Betreuung und der vorbehaltlosen<br />

Liebe ist, die ich in meinem Leben von diesen Menschen<br />

erfahren habe, widme ich es:<br />

Coaches in früheren Jahren:<br />

Dick Hammer • Tom Parks • Frank A. Kanarek<br />

• Jack Watkins<br />

Jerry LaBonte • Monte Nitzkowski • Bob Horn<br />

• Jim Schultz • Whitey Saari<br />

Mentoren:<br />

Annette Gromfin • Everett Shostrum<br />

• Hai & Sidra Stone<br />

Lehrer:<br />

Taizan Maezumi <strong>Roshi</strong><br />

• Bernie Tetsugen Glassman <strong>Roshi</strong><br />

• Koun Yamada <strong>Roshi</strong><br />

Chögyam Trungpa Rinpoche • Seung Sahn Sunim<br />

Familie:<br />

Ben & Lillian Merzel • Willard & Gene Young<br />

• Meine Frau, Stephanie Young Merzel<br />

• Carol Jacobs Merzel • Tai Bennett Merzel<br />

• Nicole Li Merzel<br />

• Tiby der Tempclhund Merzel<br />

• Fillette Kleine Schwester Merzel


Danksagung<br />

Zuerst möchte ich Ken Wilber meinen Dank aussprechen:<br />

Dafür, dass er mich dazu ermutigt hat, dieses Buch zu schreiben,<br />

und für sein äußerst enthusiastisches Vorwort. Mein Dank<br />

gilt ebenso Hai und Sidra Stone, für die Inspiration, die Anregung<br />

und den Zuspruch, die ich von ihnen in meiner Arbeit<br />

empfangen habe und für die großzügigen einleitenden Worte<br />

zu diesem Buch.<br />

Ich möchte auch all jenen danken, die das Manuskript in<br />

seinen verschiedenen Entwicklungsstadien gelesen und sich die<br />

Mühe gemacht haben, mir ihre Vorschläge zu unterbreiten. Ein<br />

großes Dankeschön gilt auch jenen, die mir ihre kurzen Kommentare<br />

und Einschätzungen geschickt haben.<br />

Ich stehe in tiefer Dankesschuld bei Mark und Margaret<br />

Esterman, die großartige Arbeit geleistet haben bei der Niederschrift<br />

und dem Lektorat dieses Buches. Ich habe es während<br />

eines zehntägigen Urlaubs mit meinen Kindern auf Hawaii<br />

geschrieben, wobei ich es teils auf meinem Blackberry<br />

getippt und Teile davon über's Telefon diktiert habe. Mark und<br />

Margaret haben zehn Monate an dem Text gearbeitet, um ihn<br />

les- und vorzeigbar zu machen. Ohne sie wäre dieses Buch viel<br />

später erschienen, und das Schreiben hätte längst nicht so viel<br />

Vergnügen bereitet. Wir hatten viel Spaß dabei.


VORWORT von Ken Wilber 13<br />

VORWORT von Hai & Sidra Stone 18<br />

EINFÜHRUNG 21<br />

1 BIG MIND - BIG HEART 23<br />

2 OST UND WEST ÜBERBRÜCKEN:<br />

DIE BEIDEN WURZELN DES BIG MIND 33<br />

Wie Voice Dialogue funktioniert 37<br />

Das torlose Tor passieren 40<br />

Keine besonderen Voraussetzungen<br />

oder Vorbereitungen sind erforderlich 45<br />

Der Weg des Nicht-Strebens 46<br />

Jede und jeder kann es 49<br />

Die Position ändern und Distanz zum Selbst schaffen 53<br />

Keine Anstrengung 55<br />

Perspektiven ändern 56<br />

Integriertes Frei-Wirken, das letztendliche Ziel 58<br />

3 WIE SIE MIT DIESEM BUCH ARBEITEN KÖNNEN 61<br />

In die Stimme gelangen 66<br />

4 STIMMEN DES SELBST 71<br />

Der Beschützer 73<br />

Der Kontrolleur 76<br />

Der Skeptiker 80<br />

Die Angst 83<br />

Wut 86<br />

D a s Beschädigte Selbst 88<br />

D a s Opfer 90<br />

D a s Verletzliche und Unschuldige Kind 92<br />

Der Dualistische Geist 93<br />

Verlangen 94<br />

Der Suchende, Strebende Geist 95<br />

Der Geist, der nach Dem Weg strebt 96<br />

Dem Weg folgen 99


5 NICHT-DUALISTISCHE UND<br />

TRANSZENDENTE STIMMEN 103<br />

Der Weg 105<br />

<strong>Big</strong> Mind 106<br />

<strong>Big</strong> Heart 109<br />

Yin oder Weibliches Mitgefühl 110<br />

Yang oder Männliches Mitgefühl 111<br />

Yin/Yang Mitgefühl (Integriertes<br />

Weibliches/Männliches Mitgefühl) 111<br />

Der Meister 113<br />

Integrierter Frei-Wirkender Mensch 114<br />

Große Freude 118<br />

Große Dankbarkeit und Wertschätzung 119<br />

Der Große Narr, der Große Joker 121<br />

6 DREIECKE: DUALISTISCH UND NICHT-<br />

DUALISTISCH UMFASSEN UND ÜBERSTEIGEN 125<br />

Das Selbst 130<br />

Nicht-Selbst 131<br />

Das Einzigartige Selbst (Selbst und Nicht-Selbst übersteigend) 133<br />

Angst 135<br />

Nicht-Angst 136<br />

Das Wahre Selbst (Angst und Nicht-Angst übersteigend) 137<br />

Der Dualistische Geist 137<br />

Der Nicht-Dualistische Geist 141<br />

Das Wahre Selbst<br />

(Dualität und Nicht-Dualität übersteigend) 143<br />

7 DIE ZEHN PERFEKTIONEN<br />

DER VORTREFFLICHKEIT 147<br />

Großzügigkeit 149<br />

Weise oder Angemessene Handlung 156<br />

Beharrlichkeit oder Rechte Anstrengung 163<br />

Geduld 167<br />

Zazen (Zen-Meditation) 169<br />

Transzendente Weisheit 174<br />

Geschickte Hilfsmittel 175<br />

Absicht 177<br />

Macht 177<br />

Höchste Weisheit 179


8 DIE ACHT GEWAHRSEINS-QUALITÄTEN<br />

DES ERWACHTEN GEISTES 183<br />

Wenige Wünsche und wenig Verlangen haben 185<br />

Zufriedenheit kennen 187<br />

Ruhe genießen 187<br />

Sorgfalt 188<br />

Bedachtsamkeit 189<br />

Meditation 190<br />

Weisheit 191<br />

Achtsamkeit in der Sprache 193<br />

9 VON HIER AUS WEITER 195<br />

Wie kann ich üben 199<br />

Die Haltung des Körpers in der Meditation 200<br />

Die Haltung des Geistes in der Meditation 204<br />

Biografie 211


VORWORT von Ken Wilber<br />

Lassen Sie es mich so nachdrücklich wie möglich sagen: Der von<br />

Zen-Meister Dennis <strong>Genpo</strong> Merzel entwickelte <strong>Big</strong>-Mind-Prozess<br />

ist die wohl wichtigste und schöpferischste Entdeckung innerhalb<br />

des Buddhismus der letzten zwei Jahrhunderte. Er ist ein erstaunlich<br />

origineller, tiefgründiger und wirksamer Weg zum Erwachen,<br />

zur Erkenntnis der eigenen Wahren Natur. Er ist eine solch<br />

einfache und universelle Übung, dass sie für jeden denkbaren<br />

spirituellen Weg genutzt werden kann; und er kann sogar für<br />

sich allein stehen, als ein Weg, das Wahre Selbst zu<br />

verwirklichen - nennen Sie es Gott, Allah, Jahwe, Brahman,<br />

Dao, Ain Sof. Wie Sie es nennen, spielt keine Rolle, denn der<br />

Kern des <strong>Big</strong>-Mind-Prozesses ist die Leere selbst, die dadurch,<br />

dass sie keinen bestimmten Inhalt hat, alles Entstehende<br />

umfassen kann und auch tatsächlich umfasst und integriert.<br />

Im Zen wird diese Realisation der eigenen Wahren Natur oder<br />

letztendlichen Wirklichkeit kensho oder satori genannt („in die eigene<br />

Wahre Natur schauen”, oder „<strong>Big</strong> Mind und <strong>Big</strong> Heart entdecken”).<br />

Es dauert oft viele Jahre extrem schwierigen Übens (ich kann dies aus<br />

eigener Erfahrung bestätigen), bevor man zu einem tiefgreifenden Satori<br />

gelangt. Mit Hilfe des <strong>Big</strong>-Mind-Prozesses kann eine Kensho-Erfahrung,<br />

ein kurzer flüchtiger Blick in Ihre Wahre Natur - wie im Zen<br />

- plötzlich auftreten, ich habe es wiederholt miterlebt. Wenn man diese<br />

Erfahrung erst einmal gemacht hat, kann man sie praktisch jederzeit und<br />

beinahe unmittelbar wiederholen. Es ist nichts weniger als die Entdeckung<br />

Ihres Wahren und Einzigartigen Selbst. Es ist die letztendliche<br />

Wirklichkeit, der Urgrund allen Seins - nochmals: Nennen Sie es, wie<br />

Sie wollen, weil „es Vieles genannt wird, das doch letztlich Eins ist”.<br />

Natürlich kann diese erste - und überaus kraftvolle - Einsicht oder<br />

Kensho-Erfahrung durch kontinuierliche Praxis unendlich<br />

15


vertieft werden, und <strong>Genpo</strong> gibt einige grundlegende Meditationsanleitungen<br />

zur Vertiefung dieses Erwachens. Doch erwachen<br />

werden Sie, davon bin ich wirklich überzeugt.<br />

<strong>Genpo</strong> hat diesen Prozess nicht ausschließlich vom Buddhismus<br />

hergeleitet. Er nahm einige der zentralen Entdeckungen<br />

der westlichen Psychologie - insbesondere „Voice<br />

Dialogue” („Dialog der Stimmen”) und „Teilpersönlichkeiten”<br />

- und fand einen erstaunlich effektiven Weg, das Beste des<br />

Ostens (oder schlicht das Beste der kontemplativen Traditionen)<br />

mit einigen der wertvollsten Erkenntnisse des Westens<br />

zu integrieren (nicht mit Unendlicher Wirklichkeit zu arbeiten,<br />

sondern mit endlicher Wirklichkeit und mit begrenzten<br />

Selbsten, was hilft, dass sie sich ihrer bewusst werden und dann<br />

geheilt und ganz werden können). Das Wunderbare ist, dass<br />

er dann einen einfachen und effektiven Weg fand, das Unendliche<br />

und die begrenzten Selbste zu integrieren.<br />

Der <strong>Big</strong>-Mind-Prozess arbeitet mit Ihrem eigenen Geist,<br />

mit Ihren Bewusstseinszuständen, so wie sie jetzt gerade sind.<br />

Ohne Satori oder Erwachen irgendeiner Art ist Ihnen vielleicht<br />

nicht bewusst, dass das, was diese Zeilen jetzt liest, <strong>Big</strong> Mind<br />

ist oder Gott oder der Heilige Geist. Und es ist so nah und so<br />

offensichtlich, dass Sie es nicht sehen können. Doch dieses<br />

Buch (eine Anleitung, wie man die <strong>Big</strong>-Mind-/<strong>Big</strong>-Heart-Methode<br />

selbst anwenden kann) wird Ihnen den Teil Ihres<br />

Gewahrseins zeigen, der schon erleuchtet ist, schon eins mit<br />

dem Geist, bereits vollkommen erwacht. Diese Erkenntnis<br />

eröffnet Ihnen eine vollkommen andere Welt. Das Buch, das<br />

Sie jetzt gerade vor sich haben, wird, das kann ich Ihnen nahezu<br />

garantieren, Ihr geistiges Auge öffnen und Ihnen zeigen,<br />

wie in diesem Augenblick Ihr Wahres Selbst vollständig und<br />

vollkommen gegenwärtig ist, wie es durch Ihre Augen sieht,<br />

mit Ihren Ohren hört, dieses Buch in Händen hält: genau jetzt!<br />

Und so war es immer schon, aber es war zu nah, um erkannt,<br />

zu offensichtlich, um beachtet, zu einfach, um geglaubt zu<br />

14


werden. Diese außergewöhnliche Entdeckung erwartet Sie in<br />

diesem Buch.<br />

Bei uns im Integralen Institut hat sich dieser Prozess als<br />

so wirkungsvoll und tief greifend erwiesen, dass wir ihn zu<br />

einem zentralen Teil unseres Programms, unserer Seminare<br />

und der Integralen Lebenspraxis gemacht haben. Da wir diesen<br />

Prozess bei uns als so überaus erfolgreich erlebt haben,<br />

kann ich Ihnen leichten Herzens versprechen - oder doch<br />

nahezu versprechen -, dass Sie sich, wenn Sie dieses Buch<br />

gelesen haben, zu den Erleuchteten zählen können, wenn auch<br />

mit der Sicht eines Anfängers.<br />

In diese Integration des Besten aus Ost und West hat<br />

<strong>Genpo</strong> die Entwicklungspsychologie nicht mit einbezogen -<br />

und das aus gutem Grund: Um den <strong>Big</strong>-Mind-Prozess zu erfahren,<br />

spielt es einfach keine Rolle, auf welcher Stufe der<br />

Entwicklung man sich befindet - ob auf der magischen, mythischen,<br />

rationalen, pluralistischen, integralen oder super-integralen.<br />

Auf jeder Stufe kann man <strong>Big</strong> Mind erfahren und zur<br />

allgegenwärtigen, alles durchdringenden, unendlichen Wirklichkeit<br />

allen Seins erwachen (nochmals: nennen Sie es, wie<br />

Sie wollen). Man kann natürlich untersuchen, wie diese Stufen<br />

und die Zustände von <strong>Big</strong> Mind ineinandergreifen: <strong>Genpo</strong><br />

<strong>Roshi</strong> ist ein Gründungsmitglied des Integralen Spirituellen<br />

Zentrums im Integralen Institut und er war maßgeblich an unseren<br />

Bemühungen beteiligt, herauszufinden, wie man Stufen<br />

des Bewusstseins mit Bewusstseinszuständen zusammenfügen<br />

kann - was ich genauer in meinem Buch Integrale Spiritualität 1<br />

beschrieben habe.<br />

Doch beginnen Sie hier, mit diesem Buch, und diesem<br />

einfachen tief greifenden Prozess, und seien Sie darauf vorbereitet,<br />

Ihr eigenes Wahres Selbst zu finden, möglicherweise<br />

zum ersten Mal, in jedem Fall aber voller Freude. Sie werden<br />

1 Ken Wilber, Integrale Spiritualität, München; Kösel Verlag, 2007<br />

15


lernen, die endlichen oder dualistischen Selbste (der Skeptiker,<br />

der Kontrolleur, das Opfer, das beschädigte Selbst, die Wut,<br />

der strebende Geist usw.) mit dem Unendlichen oder dem nichtdualistischen<br />

Selbst in seinen vielen Entfaltungen (<strong>Big</strong> Mind,<br />

<strong>Big</strong> Heart, Integriertes Weibliches/Männliches Mitgefühl,<br />

Große Freude, Große Dankbarkeit, Integriertes Frei-Wirkendes<br />

Mensch-Sein) zu integrieren. Eine echte Kostprobe all<br />

dessen erwartet Sie, und ich bin froh und voller Hoffnung, dass<br />

Sie einfach nur den Geist entspannen, in der Gegenwart ruhen,<br />

Ihrem Bewusstsein freien Lauf lassen, denn es hat keine<br />

Wände - und dann dieses Buch lesen und sich einfach davon<br />

durchdringen lassen: Lassen Sie die Worte durch sich hindurchfließen,<br />

und schon bald wird dieses „du” „DU” sein - das<br />

heißt ICH-BIN-heit, Ihre eigene Wahre, Unendliche und<br />

Ewige Natur. Dieses Buch ist in der Tat ein Handbuch des<br />

Erwachens zur ICH-BIN-heit, die genau jetzt schon durch Ihre<br />

Augen sieht.<br />

Ich füge den wunderbaren Worten des Erwachens in diesem<br />

Buch meinen eigenen Segen hinzu. Möge das Verdienst all<br />

dessen allen Wesen überall zugute kommen, so dass auch sie erwachen<br />

und entdecken, wer und was sie wirklich sind. In <strong>Big</strong><br />

Mind findet Leid keinen Halt, Hass und Wut finden kein Zuhause.<br />

In <strong>Big</strong> Heart nehmen Dank und Freude wunderbarerweise<br />

ihren Platz ein, in einem überschwänglichen Tanz tiefster<br />

Klarheit und Dankbarkeit. <strong>Big</strong> Mind/<strong>Big</strong> Heart stellt eine nie<br />

versiegende Quelle von Freude, Glück, Mitgefühl und Weisheit<br />

dar und sprudelt aus Ihrem Geist und aus Ihrem Herzen hinaus<br />

in die Welt - eine unkontrollierbar überfließende, überreiche<br />

Fülle von strahlendem Glanz, von Befreiung, Glückseligkeit,<br />

Brillanz, Feierlichkeit und Freude.<br />

Hören Sie mir bitte genau zu, ich meine es wahrlich ernst:<br />

Ist es nicht Zeit zu erwachen? Wie lange sind Sie schon in<br />

diesem Traum verloren? Spüren Sie nicht, wie die Weisen an<br />

Ihnen rütteln und rufen: „Wach auf, bitte, dies ist nur ein<br />

16


Traum!” Sie kennen dies, nicht wahr? In der Tiefe Ihres Herzens<br />

wissen Sie, dass Sie erwachen können, oder? Wie lange<br />

sind Sie nun schon auf der Suche? Nun, es ist Zeit, dass die<br />

Große Suche ein Ende findet. Solange Sie suchen, halten Sie<br />

Ausschau nach einem zukünftigen Moment, der besser sein soll<br />

als der jetzige, doch gerade dieser Augenblick hier enthält den<br />

Schlüssel: Warum laufen Sie vor Ihrem eigenen Erwachen<br />

davon?<br />

Also hören Sie auf zu suchen, machen Sie einen Atemzug<br />

und beginnen Sie dann, diese Anleitung zum Erwachen im<br />

gegenwärtigen Moment zu lesen. Ich glaube, Sie werden nie<br />

mehr wieder zurückblicken können. Und sollten Sie und ich<br />

uns jemals begegnen, werden wir uns erkennen, nicht wahr?<br />

Mit einem Funkeln in Ihren Augen, einem leichten Lächeln<br />

auf Ihrem Gesicht, ein Glanz, der von Ihrem Herzen ausgeht<br />

- Sie und ich -, wir werden uns gegenseitig in die Augen schauen<br />

und das Eine und Einzige Selbst sehen, <strong>Big</strong> Mind, <strong>Big</strong><br />

Heart, und die Tage und Nächte der endlosen Suche werden<br />

ihre qualvolle Bedeutung verloren haben.<br />

Wir werden Dennis <strong>Genpo</strong> Merzel <strong>Roshi</strong> dafür zu danken<br />

haben, dass er diesen einfachen, schöpferischen Prozess<br />

des Erwachens hier und jetzt entdeckt hat. Und so verbeuge<br />

ich mich tief vor <strong>Genpo</strong>, widme das Verdienst allen fühlenden<br />

Wesen, und mit nicht endendem Segen lege ich nun dieses<br />

außergewöhnliche Buch in Ihre Hände.<br />

Denver,<br />

Februar 2007<br />

Colorado<br />

15


VORWORT von Hai & Sidra Stone<br />

In diesem Buch geht es um die Reise eines bemerkenswerten<br />

Mannes. Im Westen geboren und aufgewachsen zeigte sich die<br />

spirituelle Natur <strong>Genpo</strong> <strong>Roshi</strong>s schon in jungen Jahren. Der<br />

Zen-Buddhismus wurde zu dem Gefäß seiner tiefen spirituellen<br />

Erfahrungen.<br />

Wir trafen <strong>Genpo</strong> <strong>Roshi</strong> erstmals 1983, als er Lehrer im<br />

Zen-Zentrum von Los Angeles war. Hals erste Reaktion auf<br />

ihn war sehr positiv. Die Situation am Zentrum war zu jener<br />

Zeit sehr angespannt und schwierig, und hier war jemand, der<br />

sich äußerst bedachtsam und mit großer praktischer Weisheit<br />

verhielt. Zu diesem Zeitpunkt führte Hai zusammen mit seinem<br />

Lehrkörper im Zentrum ein Training in „Voice Dialogue,<br />

Beziehungen und Psychologie der inneren Stimmen” für die<br />

Zen-Gemeinschaft durch. Später boten wir fortlaufende Gruppen<br />

an, so dass diejenigen in der Gemeinschaft, die Interesse<br />

daran hatten, das Training fortsetzen konnten.<br />

Viele Jahre sind seither vergangen, und wir haben die<br />

Entwicklung von <strong>Genpo</strong>s Arbeit und seinen spirituellen Unterweisungen<br />

stets mit großem Vergnügen verfolgt. In jüngster<br />

Zeit hat er sich auf Methoden konzentriert, um <strong>Big</strong> Mind zu<br />

aktivieren. Wir fühlen uns geehrt, dass er grundlegende Ideen<br />

aus der Psychologie der inneren Stimmen und Aspekte der<br />

Voice-Dialogue-Methode in die Entwicklung seiner eigenen<br />

neuen Methodik, Zugang zur <strong>Big</strong>-Mind-Energie zu eröffnen,<br />

einbezieht.<br />

Im Lauf der Jahre hat es uns in unserer eigenen Arbeit<br />

viel Freude bereitet zu sehen, in welch kreativen Weisen die<br />

Voice-Dialogue-Methode sowie die Psychologie der Selbste<br />

angewendet wird. Es gibt zahlreiche Coaches und Managementberater,<br />

die eine neue Sprache und neue Formen in der<br />

Arbeit mit Führungspersönlichkeiten aus der Wirtschaft ent-<br />

18


wickelt haben, die auf unseren Ansätzen basiert. Tanz- und<br />

andere körperorientierte Therapeuten gebrauchen die Voice-<br />

Dialogue-Methode auf ihre Art, um Menschen zu helfen, die<br />

vielen inneren Stimmen, die wie autonome „Personen” in der<br />

Psyche wirken, durch den Körper zugänglich zu machen und<br />

sie so zu erfahren und klarer zu erleben.<br />

Unsere Arbeit und unsere Ideen wurden von spirituell Suchenden<br />

aufgegriffen, von Astrologen, Medizinerinnen und<br />

Wissenschaftlern sowie von Psychotherapeuten und Beraterinnen<br />

in vielen Traditionen. Viele der spirituell Suchenden, die<br />

sich zu unserer Arbeit hingezogen fühlen, sehen und verstehen<br />

unsere Arbeit als die Anwendung grundlegender buddhistischer<br />

Prinzipien.<br />

Es ist wichtig, die Theorie und Anwendung der Psychologie<br />

der inneren Stimmen von der eigentlichen Vöice-Dialogue-<br />

Methode zu unterscheiden. Bei der Voice-Dialogue-Methode<br />

arbeitet ein ausgebildeter Facilitator in Einzelarbeit mit Klientinnen<br />

und Klienten, um diesen zu helfen, die Energie ihrer<br />

verschiedenen inneren Stimmen zu „halten” - und zu erforschen.<br />

Dem Facilitator ist es dabei nicht wichtig, mit irgendeiner<br />

besonderen Stimme in Kontakt zu kommen oder mit der<br />

angesprochenen Stimme etwas Bestimmtes zu erreichen. Für<br />

uns ist das Ziel der Arbeit mit den inneren Stimmen die Entwicklung<br />

eines Bewussten Ichs, das Gegensätze, die gegensätzlichen<br />

Energien oder Stimmen, halten kann.<br />

Für manche jedoch liegt der höchste Wert darin, Zugang<br />

zu bestimmten Stimmen zu erlangen, die aus spezifischen<br />

Gründen wertvoll sind. Zum Beispiel gibt es viele Facilitatoren,<br />

die auf die Energie des „Seins” Nachdruck legen, weil diese<br />

den meisten von uns als Folge der Überbetonung leistungsorientierten<br />

Handelns in der westlichen Kultur fehlt. Diese Energie<br />

des „Seins” erlaubt oftmals eine erste Begegnung mit<br />

spiritueller Energie.<br />

19


Die bemerkenswerte Arbeit von Judith Stone ist ein weiteres<br />

Beispiel für die Betonung einer spezifischen Energie oder<br />

Stimme. Judith gehört zu den erfahrensten Lehrern der Voice-<br />

Dialogue-Methode und hat einen eigenen Ansatz entwickelt,<br />

den sie „Body Dialogue” (Körperdialog) nennt. Damit kann<br />

sie mit dem Köper und mit vielen seiner Systeme in Dialog<br />

treten, und sie erzielt dabei erstaunliche Ergebnisse. Sie verwendet<br />

Voice Dialogue, um Menschen zu zeigen, wie sie sich<br />

besser auf ihren Körper einstellen und sich mit ihm in Einklang<br />

bringen können.<br />

Und so hat auch <strong>Genpo</strong> seine eigene ganz besondere Anwendung<br />

der Voice-Dialogue-Methode entwickelt. Anstatt sich<br />

mit den Energien zu bewegen, wenn sie hochkommen, konzentriert<br />

er sich darauf, Menschen zu helfen, <strong>Big</strong> Mind und die<br />

vielen verwandten spirituellen Stimmen zu erfahren. Wir leben<br />

in einer Zeit, in der mehr und mehr Menschen nach spiritueller<br />

Erfahrung dürsten, und <strong>Genpo</strong> ermöglicht einer ständig<br />

wachsenden Anzahl von Menschen solche Erfahrungen.<br />

<strong>Genpo</strong> ist ein Erforscher der spirituellen Welt und ein<br />

kraftvoller Lehrer. Seine Erkundungen haben ihren Niederschlag<br />

in diesem Buch gefunden. Darin bedient er sich der<br />

Methode des Dialogs mit sich selbst als der Person, deren innere<br />

Stimmen im Gespräch angeleitet werden. Auf diese Weise<br />

lässt er viele seiner inneren spirituellen Stimmen direkt mit<br />

dem Leser, der Leserin sprechen. Dieses Buch ist an spirituell<br />

Suchende gerichtet, deren spirituelle Stimmen auch darauf<br />

warten, nach vorne zu treten und sprechen zu dürfen. Die<br />

Popularität von <strong>Genpo</strong>s Arbeit zeigt deutlich, wie viele Menschen<br />

es gibt, deren innere Stimmen auf diese Art lebendig<br />

werden, und dass diese Arbeit in ihnen auf eine tiefe Resonanz<br />

stößt.<br />

Albion, Kalifornien<br />

Februar 2007<br />

20


Einführung<br />

Wir leben in Zeiten großer Herausforderungen. Wir machen<br />

uns Sorgen um unsere Kinder, unsere Eltern, unsere Partner,<br />

um die, die wir lieben. Gern würden wir in all unseren Beziehungen<br />

besser und einfühlsamer miteinander kommunizieren.<br />

Wir möchten, dass unsere Kinder und unsere Familie - und<br />

wir selbst - unser volles Potenzial entwickeln, und wünschen<br />

uns ein glücklicheres, freudvolleres Leben.<br />

Tagtäglich erleben wir Stress im Beruf, sorgen uns um<br />

unsere finanzielle Sicherheit, fühlen uns bedroht von Terrorismus,<br />

radiologischen Waffen, der globalen Erderwärmung<br />

und Naturkatastrophen. Wir alle sehnen uns danach, mehr in<br />

Frieden mit uns zu leben, mit weniger Angst, Wut und Sorgen,<br />

und einfach gut durch den Tag zu kommen.<br />

Dieses Buch kann Ihnen helfen, diese Herausforderungen<br />

und Probleme anzugehen. Es gibt Ihnen das vielleicht beste<br />

Werkzeug an die Hand, das aus dem Zusammentreffen von Ost<br />

und West entstand. Es wird Sie darin unterstützen, mit Ihren<br />

Gedanken, Gefühlen und Emotionen zu arbeiten, Ihre Schwierigkeiten<br />

aus einer neuen Perspektive zu betrachten und zu<br />

verstehen, wie wir aufgrund unseres grundlegenden Verhaftetseins<br />

an das Selbst und seine Ansichten leiden und uns verunsichert<br />

fühlen. Dieses Buch wird Ihnen helfen, sich selbst mit<br />

mehr Klarheit zu sehen, weniger an einer eingeschränkten<br />

Selbst-Sicht festzuhalten und frei und ungehindert als integrierter<br />

Mensch zu wirken.<br />

Dieses Buch ist das Resultat von über fünfunddreißig<br />

Jahren manchmal mühsamer und schwieriger Suche nach einem<br />

Weg, der jedem Menschen die Erfahrung eines freien,<br />

erfüllten und erwachten Lebens eröffnet. Ich habe es so geschrieben,<br />

dass Sie kein praktizierender Buddhist oder kein<br />

21


Gelehrter sein müssen, um es zu verstehen. Der Sinn und<br />

Zweck dieses Buches ist es, diese äußerst wertvollen und dringend<br />

benötigten Einsichten jedem Menschen zugänglich zu<br />

machen.<br />

Mein eigener Weg hat mich zum Zen geführt. Doch gibt<br />

es viele Wege, die ich hätte einschlagen können, und sie hätten<br />

mich möglicherweise in dieselbe Richtung geführt. Seitdem<br />

ich den <strong>Big</strong>-Mind-Prozess, den ich in diesem Buch beschreibe,<br />

entwickelt habe, habe ich ihn mit Tausenden von<br />

Menschen aller Altersgruppen geteilt, mit Kindern und Jugendlichen<br />

ebenso wie mit älteren Menschen. Auch unheilbar<br />

Kranke haben von dieser Methode profitiert. Menschen mit<br />

den unterschiedlichsten beruflichen Werdegängen konnten<br />

sich von seiner Wirksamkeit überzeugen: Lehrer, Ärztinnen,<br />

Therapeuten, Geschäftsführerinnen und Vorstände aus Wirtschaft<br />

und Politik, Anwälte, Richterinnen und Mediatoren,<br />

Sportler und Künstlerinnen - und ebenso Menschen verschiedener<br />

Glaubensrichtungen: katholische Priester und Nonnen,<br />

protestantische Geistliche, mormonische Bischöfe, jüdische<br />

Rabbis, hinduistische Swamis, buddhistische Lamas und Zen-<br />

Meister, Skeptiker und solche ohne eine bestimmte Religion.<br />

In der Tat ist dieser Prozess mit allen Glaubensrichtungen<br />

vereinbar, und so bin ich zuversichtlich, dass er sich für alle<br />

Menschen auf dem Weg, den wir alle miteinander teilen, als<br />

hilfreich und wertvoll erweist.<br />

22


1<br />

BIG MIND<br />

BIG HEART


Es gibt ein transzendentes Gewahrsein, <strong>Big</strong> Mind, <strong>Big</strong><br />

Heart, das gegenwärtig und für jede und jeden von uns<br />

unmittelbar zugänglich ist. Wenn wir das realisieren, erkennen<br />

wir, dass es der Ursprung und die Quelle von wahrem<br />

Frieden, von Glück, Zufriedenheit, Mut und Freude ist. Und<br />

doch wissen wir nicht, wie wir zu diesem Gewahrsein Zugang<br />

finden, wie wir es ins Bewusstsein bringen können. Wir wissen<br />

nicht, wie wir es ausdrücken und ihm in unserem Leben<br />

Form geben können.<br />

Die letzten sechsunddreißig Jahre habe ich nach einem<br />

Weg gesucht, Menschen dabei zu helfen, zu diesem Gewahrsein<br />

Zugang zu finden. Im Juni 1999, nach vielen Bemühungen,<br />

fand ich dann endlich einen einfachen, effektiven Weg,<br />

den ich seither noch weiter erforscht und verfeinert habe. Ich<br />

nenne ihn den <strong>Big</strong>-Mind/<strong>Big</strong>-Heart-Prozess oder einfach nur<br />

<strong>Big</strong> Mind.<br />

In gewisser Hinsicht begann alles an einem Wochenende Anfang<br />

Februar 1971, als ich mit zwei Freunden in der Mojave-<br />

Wüste beim Campen war. Ich saß alleine auf dem Gipfel eines<br />

kleinen Berges und dachte darüber nach, wie ich es fertiggebracht<br />

hatte, mein Leben schon im Alter von sechsundzwanzig<br />

Jahren so vermasselt zu haben. In meiner Beziehung<br />

fühlte ich mich wie gefangen, und doch hatte sie unter ganz<br />

25


anderen Vorzeichen begonnen. Schon in einer anderen, früheren<br />

Beziehung hatte ich nach einer Zeit das Gefühl, ausbrechen<br />

zu müssen oder durchzudrehen. Jetzt, nach weniger als<br />

drei Jahren, kamen die gleichen Gefühle wieder auf. Ich war<br />

raus in die Wüste gefahren, um etwas Raum für mich zu haben.<br />

Vom Berggipfel aus konnte ich meinen VW-Camper sehen,<br />

der ein paar Kilometer entfernt geparkt war und in dem<br />

wir die kommenden zwei Nächte schlafen wollten. Ich begann,<br />

über mein Apartment in Long Beach in Kalifornien nachzudenken.<br />

Ich unterrichtete dort an der Schule Dritt-, Viert-, und<br />

Fünftklässler und wohnte zusammen mit meiner Freundin gegenüber<br />

vom Strand. Zwei Fragen kamen in mir auf: Wie war<br />

es möglich, dass ich so verkorkst war, und wo war mein Zuhause?<br />

Wo ist unser Zuhause? Diese Frage ist für uns alle ein<br />

guter Ausgangspunkt. Tatsächlich steht am Anfang die Erkenntnis,<br />

dass uns etwas fehlt, wir etwas ermangeln. Wir wissen<br />

nicht, was es ist. Es ist uns ein Rätsel. Und doch haben wir<br />

so ein Gefühl, eine Art Erwachen zu dem, was wir als Spiritualität<br />

bezeichnen könnten oder auch einfach als Gewahrsein.<br />

Wir beginnen, nach dem zu suchen, was fehlt - aber wir haben<br />

eigentlich keine Ahnung, was es ist.<br />

Der erwachte Geist sendet allzeit eine Art Signal aus. Der<br />

erwachte Geist, oder wie immer wir ihn auch bezeichnen<br />

mögen, versucht immer, in Erscheinung zu treten und uns nach<br />

Hause zu rufen. Jemand hat einmal gesagt, dass unser einziges<br />

Gebrechen Heimweh sei und dass wir krank seien, weil wir<br />

nicht zuhause sind - und doch, wo wir auch sind, ist unser<br />

Zuhause. Aber wir haben dieses Gefühl nicht: Wir fühlen uns<br />

von unserem eigenen Zuhause und von uns selbst entfremdet.<br />

Ich denke, dass wir unter anderem danach suchen, wie wir<br />

zuhause sein können, wo immer wir uns auch befinden. Wir<br />

suchen danach, wie wir uns in unserem eigenen Körper<br />

26


zuhause fühlen können und wie wir in uns selbst zuhause sein<br />

können. Es ist wie ein Heimkehrinstinkt. Wir sind wie die<br />

Brieftaube mit der scheinbar unglaublichen Fähigkeit, immer<br />

ihren Weg nach Hause zu finden.<br />

Ich nenne es den Geist, der nach dem Weg oder der Wahrheit<br />

strebt. Manchmal ist dieser Geist nicht erwacht. In dem<br />

Moment, in dem er erwacht, wandelt sich unser Leben wahrhaftig.<br />

Zu diesem Zeitpunkt scheinen sich unsere Prioritäten<br />

zu ändern. Vieles, was bis dahin so wichtig erschien - Sicherheit,<br />

Ruhm, Besitz und Reichtum -, scheint plötzlich in den<br />

Hintergrund zu treten, wohingegen unsere eigene Entdeckungsreise<br />

danach, wer wir sind, viel wichtiger wird.<br />

Dies widerfuhr mir 1971 auf dem Berggipfel mitten in der<br />

Mojave-Wüste. Plötzlich fiel alles weg, und ich erfuhr etwas<br />

vollständig Neues und Unerwartetes. Ich wurde das Universum,<br />

war eins mit dem Schöpfer und mit aller Schöpfung. Ich<br />

realisierte, dass alles mit allem verbunden ist, dass alles mit<br />

allem in Beziehung steht und jedes Teil dieser Welt alles andere<br />

in dieser Welt beeinflusst.<br />

Es war, als wäre ich zur Vernunft gekommen, nachdem ich<br />

mein ganzes Leben lang verrückt gewesen war. Natürlich hat<br />

meine Mutter das später genau andersrum interpretiert. Zum<br />

ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass das Leben einen vollkommenen<br />

Sinn ergab, dass all mein Streben nach Sicherheit,<br />

Reichtum und Ruhm leer und lächerlich war und dass ich in<br />

Frieden war. Die einzigen zwei Dinge, die jetzt wirklich noch<br />

zählten, waren, diese Erfahrung mit anderen zu teilen und<br />

fortan mehr über diese erstaunliche Reise genannt Leben zu<br />

entdecken. Diese beiden Wünsche sind mir stete Inspiration<br />

geblieben. Sie sind die Motivation, dieses Buch zu schreiben.<br />

Damals hatte ich keine Erklärung dafür, was da geschehen<br />

war, doch intuitiv wusste ich, dass es ein einschneidendes<br />

Erlebnis war. Ich würde nie mehr dieselbe Person sein, die den<br />

Gipfel des Berges erklommen hatte. Eine kraftvolle und<br />

27


unbeschreibliche Energie floss durch mich hindurch. Es war,<br />

als wären Gott und ich eins. Die ganze Welt war ich, und ich<br />

war die ganze Welt. Ich bin alle Dinge, und alle Dinge sind ich.<br />

Ich hatte das Gefühl, als hätte ich mich wie eine Lokomotive<br />

mein ganzes Leben lang mit hundertfünfzig Kilometern in der<br />

Stunde vorwärts bewegt, und plötzlich hatte ich eine abrupte<br />

Kehrtwendung gemacht und fuhr in die genau entgegengesetzte<br />

Richtung. Großes Mitgefühl erwuchs in mir ganz natürlich,<br />

ohne Anstrengung. Das Einzige, was nun zählte, war zu erwachen<br />

und anderen zu helfen, das Gleiche zu tun.<br />

Später am selben Abend meinte mein Freund, ich höre<br />

mich wie ein Zen-Meister an. Ich hatte keine Ahnung von Zen-<br />

Meistern oder von Zen, aber ich konnte die ganze Nacht nicht<br />

schlafen, weil die Energie mich unaufhörlich weiter durchströmte,<br />

als wäre ich ein Medium für etwas Größeres als diesen<br />

begrenzten Körper. Am Morgen richtete ich mich in meinem<br />

Camper auf und wusste, dass mein Leben nie mehr<br />

dasselbe sein würde, und ich war mir im Klaren, was zu geschehen<br />

hatte. Als ich Sonntagabend nach Long Beach zurückkehrte,<br />

machte ich mit meiner Freundin Schluss und begann die<br />

Reise, auf der ich mich heute immer noch befinde.<br />

Ich denke, wir alle haben ein Gefühl, dass da noch mehr ist,<br />

es etwas Größeres gibt. Als Kinder spielen wir mit mysteriösen<br />

Konzepten wie Unendlichkeit und Ewigkeit - ich zumindest<br />

tat das -, und manchmal sinnieren wir über Gott oder sogar<br />

den Tod. Da ich in keinem bestimmten religiösen Glauben<br />

erzogen wurde, hatte ich auch keine besonderen Vorstellungen<br />

über ein Leben nach dem Tod. So überlegte ich, wie das<br />

dann wäre, wenn ich starb, nie mehr wieder bewusst zu sein,<br />

für alle Ewigkeit? Ein ziemlich Angst einjagender Gedanke.<br />

28


Ein Teil von uns fragt, zweifelt und sucht immer. Ich erinnere<br />

mich an ein Gespräch mit meiner Schwester Carol im<br />

Jahr 1973 in ihrem Haus in Marin County, in dessen Verlauf<br />

ich sie fragte: „Stellst du niemals diese Fragen, wer bin ich, und<br />

wohin gehe ich, und worum geht's hier, und warum bin ich<br />

hier?” Sie antwortete: „Nun ja, einmal tat ich es schon; und<br />

ich sah, dass ich, würde ich diese Gedanken weiterverfolgen,<br />

verrückt werden würde, also habe ich es sein lassen und mich<br />

das nie mehr gefragt.” Sie hat Recht, meine ich. Falls wir viel<br />

über diese Dinge nachdenken, bekommen wir es wirklich mit<br />

der Angst zu tun.<br />

Dieses Suchen und Hinterfragen ist neben der Sehnsucht<br />

nach unserem Zuhause auch als Sehnsucht nach Vollendung<br />

zu verstehen, danach, uns vollständig und erfüllt zu fühlen. Für<br />

manche ist es eine Sehnsucht nach Perfektion; für andere, wie<br />

für mich, mehr nach Befreiung und Freiheit. Manche wiederum<br />

fühlen sich durch die große Wahrheit oder das Göttliche,<br />

Gott, das Absolute oder die Wirklichkeit angesprochen; andere<br />

durch Erleuchtung oder Erwachen.<br />

Es gibt viele Namen für diese Wahrheit, für das Transzendente.<br />

Wir bedienen uns vieler Worte, um zu versuchen, das<br />

Unfassbare zu erfassen. Das Problem ist: Es ist unfassbar. Um<br />

etwas zu erfassen, benötigt man offensichtlich zwei Dinge -<br />

dasjenige, das erfasst wird, und jemanden, der oder die<br />

erfasst -, doch die Wirklichkeit ist nicht zwei, ist nicht dualistisch.<br />

Sie ist nicht erfassbar, sie geht über Greifer und Ergriffenes<br />

hinaus. Darum ist der Versuch, diese Wahrheit zu erfassen,<br />

sinnlos.<br />

Unsere Sehnsucht nach dem Absoluten, unser Streben,<br />

unsere gewohnte Art des Suchens, funktioniert also ganz einfach<br />

nicht. Irgendwie müssen wir über die Zweiheit, über die<br />

Dualität, hinausgehen. Bis jetzt wurde dies immer auf eine von<br />

zwei Weisen bewerkstelligt: Entweder wurden Menschen durch<br />

Gottes Gnade vom Göttlichen berührt, während sie danach<br />

29


strebten (oder auch nicht strebten); oder sie gelangten durch<br />

großen Eifer, durch Jahre des Suchens, der Meditation, des<br />

Gebets, mit etwas Glück oder in einem karmisch passenden<br />

Augenblick dort hin. Wenn wir uns dort wiederfinden, erkennen<br />

wir, dass dieser Ort da ist, wo wir immer schon waren. Dies ist<br />

unser Zuhause, und wir haben es nie verlassen. Dieser Zustand,<br />

dieses Gewahrsein, ist allgegenwärtig und immer zugänglich.<br />

Dazu erwachen bedeutet nicht mehr und nicht weniger<br />

als verwirklichen, wer wir immer schon wahrlich sind.<br />

Warum ist es für uns so schwierig, dies zu realisieren? Seit<br />

meiner ersten Erfahrung im Februar 1971 untersuche ich diese<br />

Frage. Nachdem ich all die Jahre mit traditionellen Zen-Methoden<br />

geübt und es bis zum Zen-Meister gebracht hatte,<br />

konnte ich sehen, dass man durch den Weg des Zen Zugang<br />

zu diesem transzendenten Gewahrsein erlangen kann. Nur<br />

schien das traditionelle Training einfach ewig zu dauern, obwohl<br />

doch Zen als die „Plötzliche Schule” des Buddhismus gilt.<br />

Es musste einen direkteren und unmittelbareren Weg geben,<br />

diesen <strong>Big</strong> Mind zu erwecken. Bekannterweise kommt es<br />

nach vielen, vielen Jahren des Trainings und der Übung oft zu<br />

einer plötzlichen Erfahrung. Warum sollte aber diese unmittelbare<br />

Realisation, ist sie doch allgegenwärtig, nicht von jedem<br />

und jeder zu jeder Zeit erreicht oder erfahren werden können?<br />

Diese Frage hat mich all die Jahre angetrieben, denn es<br />

scheint mir, dass Zeit von essenzieller Bedeutung ist. Falls wir<br />

so weitermachen wie bisher, läuft uns die Zeit davon. Wir sind<br />

aufgerufen mitzuhelfen, ein Erwachen herbeizuführen, das bis<br />

jetzt nur ein paar begnadeten Suchern innerhalb der großen<br />

spirituellen Traditionen zugänglich war.<br />

Seit ich 1973 begann, Einführungskurse in Zen am Zen-<br />

Zentrum von Los Angeles zu geben, und in den fünfundzwanzig<br />

Jahren, in denen ich Zen auf mehr oder weniger traditionelle<br />

Art unterrichtete, experimentierte ich immer schon<br />

mit verschiedenen Möglichkeiten. 1987 ließ ich mir die „<strong>Big</strong>-<br />

30


Mind-Geführte-Meditation” einfallen. Den Namen wählte ich,<br />

weil die Erfahrung 1971 für mich eine <strong>Big</strong>-Mind-/<strong>Big</strong>-Heart-<br />

Erfahrung war. In der geführten Meditation ließ ich die Teilnehmerinnen<br />

und Teilnehmer mit ihrer tatsächlichen, unmittelbaren<br />

Situation beginnen, indem ich sie aufforderte, erst<br />

einmal die Menschen neben sich einzubeziehen, dann den<br />

Raum, dann die Stadt, die Umgebung, das ganze Land, die<br />

Welt und schließlich den ganzen Kosmos. Wenn sie sich erst<br />

einmal so weit ausgedehnt hatten, waren sie im Transzendenten<br />

oder dem Grenzenlosen. Das funktionierte, doch war ich<br />

über die Jahre hinweg nicht so recht glücklich damit. Irgendwie<br />

wusste ich, dass es einen einfacheren und direkteren Weg<br />

als die geführte Meditation gab.<br />

Dann, im Juni 1999, trat etwas hervor. Ungefähr neun<br />

Monate lang hatte ich mich gefühlt, als wäre ich schwanger.<br />

Ich wusste, dass etwas in mir wuchs, doch hatte ich keine Ahnung,<br />

was es war. Um die Zeit meines fünfundfünfzigsten Geburtstags<br />

herum, in einem meiner Workshops, arbeitete ich vor<br />

der ganzen Gruppe mit einem jungen Mann - es waren ungefähr<br />

fünfzig oder sechzig Leute im Raum. Ich bat, mit der<br />

Stimme von <strong>Big</strong> Mind sprechen zu können, und in diesem Moment<br />

war der <strong>Big</strong>-Mind-Prozess geboren. Dieser Mann hatte<br />

noch nie zuvor Zen geübt, aber als er zu sprechen begann,<br />

sprach er mit solcher Klarheit, dass es mich einfach nur verblüffte.<br />

Es war deutlich, dass er seine Perspektive verändert<br />

hatte. In dem Augenblick, in dem ich ihn bat, mit <strong>Big</strong> Mind<br />

zu sprechen, war <strong>Big</strong> Mind da.<br />

In all den Jahren des Unterrichtens - zu dem Zeitpunkt<br />

mehr als fünfundzwanzig - hatte ich es als sehr, sehr schwierig<br />

empfunden, einen Studenten dazu zu bewegen, wirklich<br />

über das Selbst hinauszugehen. Wir haben natürlich daran<br />

gearbeitet, und mit viel, viel Sitzpraxis, großem Bemühen und<br />

manchmal scheinbar reinem Glück und Zufall konnten einige<br />

aus dem eingeschränkten Selbst ausbrechen - sich von dieser<br />

31


Begrenzung und Einengung befreien und den weiten offenen<br />

Raum entdecken, den ich jetzt <strong>Big</strong> Mind/<strong>Big</strong> Heart nenne.<br />

Doch hier saß dieser Anfänger vor mir, der dazu fähig war,<br />

einfach nur, weil ich ihn bat, als <strong>Big</strong> Mind zu sprechen.<br />

Damit war der <strong>Big</strong>-Mind-Prozess geboren. Doch erst als<br />

ich drei Monate später nach Europa reiste, trat er deutlicher<br />

hervor und ich konnte seine Form und seine Gestalt erahnen.<br />

Früh schon entschloss ich mich, aus mehr oder weniger persönlichen<br />

Gründen, bei dem Namen <strong>Big</strong> Mind zu bleiben:<br />

meinem Vater zu Ehren, dessen Name Ben Merzel war (beachten<br />

Sie die Initialen!), und meines Lehrers Taizan Maezumi<br />

<strong>Roshi</strong> wegen und meines Sohnes wegen, dessen Name Tai ist,<br />

was im Japanischen groß (big) bedeutet. (Im Japanischen wäre<br />

<strong>Big</strong> Mind Taishin oder Daishin.) Es hatte nun also einen Namen,<br />

aber es war noch nicht voll entwickelt.<br />

Acht Jahre später entwickelt sich der <strong>Big</strong>-Mind-Prozess<br />

immer noch weiter, nimmt immer noch deutlichere Konturen<br />

an. Die verschiedenen Richtungen, in die dieser Prozess wachsen<br />

wird, können wir nur erahnen, doch es ist mein Wunsch,<br />

dass er als Weg, Menschen dabei zu helfen, ihr Bewusstsein<br />

zu erweitern, in unserer Nation und in der Welt eine Schlüsselrolle<br />

spielt.<br />

<strong>Big</strong> Mind hat seither meinen Unterricht vollkommen<br />

durchdrungen und ist jetzt ein integraler Teil davon. Da die<br />

Methode so offenkundig einfach ist und <strong>Big</strong> Mind so leicht<br />

zugänglich macht, bin ich davon überzeugt, dass die weiseste<br />

Richtung wäre, von Beginn an die Menschen an <strong>Big</strong> Mind<br />

heranzuführen.<br />

32


2<br />

OST UND WEST<br />

ÜBERBRÜCKEN:<br />

DIE BEIDEN<br />

WURZELN DES<br />

BIG MIND


1983 befanden wir uns im Zen-Zentrum von Los Angeles<br />

in einer Krise und hatten das Gefühl, therapeutische<br />

Unterstützung zu brauchen, um all den Aufruhr und Stress<br />

bewältigen zu können. Wir luden Hai und Sidra Stone ein, mit<br />

uns am Zen-Zentrum zu arbeiten, und einige von uns begannen<br />

zu dieser Zeit auch, mit Hai Stone Voice Dialogue zu studieren.<br />

Hai und Sidra Stone sind die Gründer dieser einzigartigen<br />

Therapiemethode. Beide haben einen reichen, mannigfaltigen<br />

Hintergrund als Psychotherapeuten. Hai war jungianischer<br />

Analytiker, Leiter der Jungian analaytical association<br />

in Los Angeles und hat Gestalttherapie und andere zu dieser<br />

Zeit gängigen Therapieformen studiert. Zusammen mit seiner<br />

Frau Sidra entwickelte er in den siebziger Jahren die Voice-<br />

Dialogue-Methode.<br />

Mir erschien diese Methode eine außerordentlich gute<br />

Ergänzung zu unserer Zen-Praxis, da sie uns westlichen Zen-<br />

Studenten etwas anbot, das dem asiatischen Zen-Training<br />

fehlte. Und so gingen einige von uns zweimal die Woche zu<br />

Hai und Sidra, um dort in ihrem Haus jeweils zwei oder drei<br />

Stunden die Voice-Dialogue-Methode zu studieren - drei<br />

davon sind inzwischen selbst Zen Meister.<br />

Voice Dialogue hat zwei Wurzeln: Jungianische Psychologie<br />

und Gestalttherapie. Der Prozess ist darauf gerichtet,<br />

unsere Bewusstheit und unsere Selbsterkenntnis zu erweitern<br />

und zu stärken. Voice Dialogue ist darin äußerst effektiv, und<br />

35


obwohl ich selbst kein Therapeut bin, halte ich diese Form der<br />

Therapie für eine der wohl besten Methoden, die es gibt.<br />

Ich schätze an Voice Dialogue vor allem, dass es dem Zen-<br />

Training Ausgewogenheit und Erdung geben kann. Zen an sich<br />

ist eine radikale Übungsform. Im Kern geht es im Zen darum,<br />

all unsere Verhaftungen abzuschneiden, alle Stricke und Ketten<br />

zu durchtrennen, die uns binden - abschneiden, durchtrennen,<br />

abschneiden -, und manchmal können wir uns dadurch,<br />

insbesondere auf der psychischen Ebene, recht abgehoben und<br />

wenig geerdet und verwurzelt fühlen.<br />

Nach einem Jahrzehnt oder mehr Jahren der Zen-Übung<br />

im Zen-Zentrum von Los Angeles gab es durchaus etliche<br />

Leute, die eine Art Erwachen, spontane Durchbruchserfahrungen<br />

erlebt hatten - und doch waren wir im Grunde<br />

genommen alle noch ziemlich verkorkst. Spirituelle Übung<br />

verändert nicht unbedingt alles. Wir kommen damit nicht<br />

notwendigerweise an unsere tieferen psychischen Probleme<br />

heran. Tatsächlich können wir zwanzig, dreißig, vierzig Jahre<br />

lang in Meditation sitzen und doch nur „auf unserem Zeug<br />

herumsitzen” - eine der negativen Seiten des „nur Sitzens”.<br />

Wir können durchaus innerhalb der traditionellen Zen-Praxis<br />

Fortschritte erzielen, Zen-Koans lösen (Fragen, die Einsichten<br />

jenseits des Intellekts eröffnen), und doch nicht zur wahren<br />

Essenz von allem vordringen.<br />

So also kam Voice Dialogue ins Spiel und ermöglichte uns,<br />

uns selbst langsam in etwas zu erden, das westlich und psychisch<br />

sehr gesund war. Wir alle, oder zumindest einige von uns, erkannten,<br />

dass wir hier auf etwas gestoßen waren, das sehr<br />

wertvoll und wichtig für uns werden könnte, und gingen ihm<br />

daher nach.<br />

Ich fand es einfach großartig. Meinem Gefühl nach war<br />

psychologische Arbeit absolut notwendig, sollte Zen im Westen<br />

Wurzeln schlagen. Ich fing an, diesen Prozess in meinem<br />

Unterricht zu verwenden, und gab Workshops, die ich Voice<br />

36


Dialogue nannte. Ab 1998 nannte ich sie dann Zen Dialogue,<br />

da ich weniger an den psychologischen Aspekten der Arbeit<br />

interessiert war, sondern mehr daran, wie diese Methode in<br />

der Zen-Schulung eingesetzt werden konnte. Dies entwickelte<br />

sich 1999 zu dem, was ich den <strong>Big</strong>-Mind-Prozess nenne. <strong>Big</strong><br />

Mind hat also zwei Wurzeln: Zen und Voice Dialogue.<br />

Wie Voice Dialogue funktioniert<br />

Hai und Sidra Stone waren damit vertraut, dass jeder Aspekt,<br />

jede Teilpersönlickeit, in irgendeinem von uns, in uns allen<br />

vorhanden ist. Meines Wissens geht dieses Verständnis auf<br />

Carl Gustav Jung zurück. Diese Teilpersönlichkeiten können<br />

jedoch auch sogenannte Schatten sein, die von uns selbst unerkannt<br />

bleiben. Zu Zeiten verdrängen wir in unserem Leben<br />

bestimmte Aspekte unserer selbst - meistens aus einem guten<br />

Grund: Wir mögen sie nicht oder halten nicht viel von ihnen.<br />

Wir treffen damit eine Entscheidung über einen bestimmten<br />

Aspekt unserer selbst, und fortan bleiben wir dabei, sogar wenn<br />

wir manchmal schon längst das Wann und Warum der Entscheidung<br />

vergessen haben. Nehmen wir einmal an, dass ich nicht<br />

gerne wütend bin oder dass ich meine, wütend zu sein, sei nicht<br />

richtig, oder ich habe von meinen Eltern gelernt, dass es nicht<br />

gut ist, wütend zu werden, dann ist der nächste Schritt häufig,<br />

meine Wut zu verdrängen. Ich verleugne sie.<br />

Das Problem ist, dass eine Stimme, die verleugnet wird,<br />

nicht wirklich verschwindet, sondern einfach nur in den Untergrund<br />

geht, sich versteckt und im Verborgenen weiter wirkt<br />

oder sich unterschwellig zu Wort meldet. So kann es sein, dass<br />

ich für andere ziemlich wütend klinge, mir selbst aber meiner<br />

Wut nicht bewusst bin. Für jeden anderen mag sie ersichtlich<br />

sein, nur ich selbst erkenne sie nicht. Sehe ich sie jedoch in<br />

jemand anderem, gefällt mir das meist ganz und gar nicht. So<br />

neige ich dazu, Menschen, die schnell wütend werden, nicht<br />

37


zu mögen, oder ich habe große Angst vor ihnen, oder ich werde<br />

wütend auf Leute, die wütend sind, sie machen mich rasend -<br />

weil meine Wut verleugnet wird. Dies ist eine wirklich schnelle<br />

Methode, eine verleugnete, verdrängte Stimme herauszufinden.<br />

Wenn ich eine Eigenschaft bei jemandem sehe, die ich<br />

absolut nicht mag, wird wahrscheinlich genau diese Eigenschaft<br />

in mir selbst verleugnet.<br />

Hai und Sidra Stone erkannten, dass man die verdrängten<br />

Stimmen ans Licht bringen kann, indem man einen<br />

Facilitator mit diesen Stimmen sprechen lässt, um sie auf diese<br />

Weise wieder anzuerkennen. Voice Dialogue eröffnet uns die<br />

Möglichkeit, den verdrängten Aspekten eine Stimme zu geben<br />

und sie so ans Licht zu bringen, um sie dann allmählich in<br />

unser Leben zu integrieren.<br />

Auch mit dem <strong>Big</strong>-Mind-Prozess können wir diese verdrängten<br />

Stimmen ans Licht bringen, doch geht es dabei um<br />

mehr als das. Schon 1983 wurde mir deutlich, dass Hai uns<br />

einen Schlüssel überreicht hatte - einen magischen Schlüssel.<br />

Er öffnete uns viele Türen. Er war eine großartige Ergänzung<br />

unseres Zen-Trainings und ermöglichte uns, psychisch ausgeglichener<br />

zu werden. Vor diesem besagten Juni 1999 hatte ich<br />

allerdings nicht erkannt, dass dieser Schlüssel tatsächlich auch<br />

das Tor zum Transzendenten öffnete.<br />

Manche Aspekte unserer selbst sind allgegenwärtig, wurden<br />

jedoch noch nicht erweckt. Sie wurden nicht verdrängt<br />

oder verleugnet, sondern noch nie erweckt. Ich nenne sie daher<br />

unerwachte Stimmen. Und so ist <strong>Big</strong> Mind - oder wie auch<br />

immer wir das Transzendente nennen wollen - vorhanden,<br />

jedoch noch nicht erwacht. Unsere Übung und unsere Arbeit<br />

bestehen darin, diese noch nicht erwachten Stimmen oder<br />

Aspekte zum Erwachen zu bringen.<br />

Ähnlich wie Hai und Sidra Stone wussten, dass die Teilpersönlichkeiten<br />

vorhanden sind, wusste ich, dass das Transzendente<br />

da ist. Nach achtundzwanzig Jahren Zen-Praxis<br />

38


wusste ich, dass <strong>Big</strong> Mind/<strong>Big</strong> Heart, all diese transzendenten<br />

Aspekte in jedem und jeder von uns, vorhanden und allgegenwärtig<br />

sind. Ich wusste dies ohne den geringsten Zweifel und<br />

mit hundertprozentiger Sicherheit. Nur war mir zu diesem<br />

Zeitpunkt, im Juni 1999, noch nicht klar, wie leicht zugänglich<br />

sie sind.<br />

Wir alle, die damals in den siebziger, achtziger und<br />

neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts Zen praktizierten,<br />

arbeiteten sehr hart und durchlebten viele Schwierigkeiten,<br />

während wir viele, viele Stunden in Meditation saßen. Wir<br />

gingen so weit, neunzigtägige Retreats zu absolvieren. (1988<br />

in einem Retreat in Bar Harbor, Maine, saßen wir zehn Stunden<br />

täglich in Meditation. Wir nahmen zwei freie Tage, den<br />

dreißigsten und den sechzigsten, um unsere Wäsche zu waschen.)<br />

Worin waren wir in diesen sehr langen Retreats erfolgreich?<br />

Im langen Sitzen und müde Werden!<br />

Sich zu verausgaben ist eine der traditionellen Methoden,<br />

das „kleine” Ich abzuwerfen: Wenn ich erschöpft bin, so ist es<br />

auch mein Ich. Dann kann ich nicht länger kämpfen, mich nicht<br />

mehr länger zur Wehr setzen und den Widerstand aufrechterhalten.<br />

Irgendwann schmeiße ich das Handtuch und gebe auf.<br />

In genau diesem Augenblick des Aufgebens eröffnet sich mir<br />

Einsicht. Diese Methode hat sich schon seit Jahrtausenden<br />

bewährt. Man braucht natürlich schon ein gewisses Maß an<br />

Chuzpe, wenn man etwas zu verbessern sucht, das zweitausendfünfhundert<br />

Jahre der Probe und Bewährung standhielt; und<br />

jeder, der fragt, warum wir es nicht besser machen können als<br />

die alten Meister, wird sich eine Reihe von Titulierungen anhören<br />

müssen.<br />

Als ich den <strong>Big</strong>-Mind-Prozess in meinen Unterricht einzubauen<br />

begann, rief dies bei einigen meiner langjährigen<br />

Studentinnen und Studenten sehr viel Widerstand hervor. Ich<br />

denke, so mancher empfand mein Vorgehen nahezu als ketzerisch,<br />

weil es nicht der sogenannte traditionelle Weg war. Zu<br />

39


diesem Zeitpunkt war ich seit achtundzwanzig Jahren ein<br />

„Traditionalist”. Hätte ich das Gefühl gehabt, der <strong>Big</strong>-Mind-<br />

Prozess sei in irgendeiner Weise weniger wirksam oder wertvoll<br />

als traditionelle Praxis, hätte ich ihn sicherlich nicht weiter<br />

verwendet. Damals wie heute versetzt es mich immer<br />

wieder in Staunen, dass so ziemlich jeder, egal ob erfahrener<br />

Zen-Student oder Anfängerin in der spirituellen Übung, Zugang<br />

zu diesen transzendenten Stimmen hat und ganz klar und<br />

präzise und in aller Aufrichtigkeit über die eigene Erfahrung<br />

mit diesen Stimmen sprechen kann.<br />

Die Veränderung dabei ist für jeden im Raum sichtbar und<br />

hat selbst viele große spirituelle Lehrer anderer Traditionen<br />

begeistert - einschließlich die, die anfangs skeptisch waren. Allerdings<br />

wird es immer Skepsis geben bei denen, die diesen<br />

Prozess nicht selbst miterleben oder durchlaufen wollen, ebenso<br />

wie die Ansicht, dass es nicht möglich sei.<br />

Von daher bin ich bereit, alle Skepsis, allen Zweifel und<br />

alle Kritik an dem Prozess auf mich zu nehmen, denn ich habe<br />

das Gefühl, dass er dem, was ich vor 1999 tat, so haushoch<br />

überlegen ist, dass ich ganz einfach nicht zurück kann.<br />

Das torlose Tor passieren<br />

Im Zen sprechen wir vom torlosen Tor, der Barriere zwischen<br />

dem Selbst und dem Transzendenten. Wir sind damit vertraut,<br />

dass es ein torloses Tor ist und dass es keine Tür oder Barriere<br />

gibt, die man passieren muss - doch wie können wir jemandem<br />

helfen, dies zu erkennen?<br />

Westliche Psychologie, insbesondere die Arbeit von Hai<br />

und Sidra Stone, half mir zu erkennen, was das Tor geschlossen<br />

hält. Das Geschenk oder der Schlüssel, den Hai und Sidra<br />

mir gaben, ist die Erkenntnis, dass wir alle einen Hüter haben<br />

oder Wachen, der oder die das Tor versperren. Ich nenne sie<br />

den Kontrolleur und den Beschützer, die zwei Wachen am Tor.<br />

40


Wir brauchen ihre Erlaubnis, um einzutreten und Zugang zu<br />

dem zu erhalten, was jenseits des Tores liegt, innerhalb der<br />

Tempelmauern.<br />

Das magische Wort, das Zauberwort, das uns die Erlaubnis<br />

zum Eintreten gibt, ist natürlich Bitte. Zu fragen ist auch<br />

Teil des magischen Schlüssels. „Frage und dir wird gegeben<br />

werden.” Wir bitten um Eintritt, indem wir sagen: „Bitte,<br />

Kontrolleur, darf ich hereinkommen”, oder „Kontrolleur-<br />

Beschützer, darf ich bitte eintreten, kann ich mit so und so<br />

sprechen ...”<br />

Auf dem traditionellen, uns vertrauten Weg gelangt man<br />

zum Transzendenten, indem man sich bemüht, sich abkämpft<br />

und viel Energie darauf verwendet, von Punkt A nach Punkt<br />

B zu kommen. Sich anstrengen mag im Bereich der relativen<br />

Welt sehr gut funktionieren, jedoch nicht auf dieser Ebene. Ich<br />

erinnere mich noch gut, wie ich 1973 mit meinem ersten Koan<br />

begann. Ich versuchte alles, was bis dahin für mich immer funktioniert<br />

hatte - mich mit Leib und Seele hineinstürzen, mit<br />

meiner ganzen Energie alles geben, um dieses Koan verwirklichen<br />

zu können und mit ihm eins zu werden. Es war, als würde<br />

ich mit dem Kopf gegen eine Wand laufen. Nichts von all dem<br />

funktionierte. Letztendlich erkannte ich, was ich tun musste -<br />

nämlich das Bemühen aufgeben und loslassen. Als ich es erst<br />

einmal schaffte, das Handtuch zu werfen und wirklich aufzugeben,<br />

war ich da. Was gab ich eigentlich auf? Das Probieren<br />

und die Anstrengung, dorthin zu gelangen.<br />

Wie kann man dies anderen eröffnen? Hier kommt der<br />

<strong>Big</strong>-Mind-Prozess ins Spiel. Anstatt versuchen zu müssen,<br />

dorthin zu gelangen oder etwas zu werden, frage ich Sie ganz<br />

einfach: „Könnte ich bitte mit ... sprechen”, und Sie sind in<br />

der Lage, einfach nur als das zu sprechen. Damit schalten wir<br />

das Bemühen vollkommen aus und heben die Anstrengung,<br />

heben Raum und Zeit auf. In dem Moment also, in dem Sie<br />

gefragt werden: „Kann ich bitte mit der Stimme von <strong>Big</strong> Mind<br />

41


sprechen”, oder mit der des Nicht-Suchenden, Nicht-Strebenden<br />

Geistes oder irgendeiner anderen Stimme, sind Sie da.<br />

Denn <strong>Big</strong> Mind ist immer gegenwärtig, immer präsent. Dies<br />

erscheint uns nur deswegen ein solches Rätsel zu sein, weil wir<br />

nicht wissen, wie wir Zugang dazu bekommen können.<br />

In dem Moment aber, in dem wir die Gegensätze von dies<br />

und das, Selbst und andere, ich und du übersteigen, sind wir<br />

da. Jedoch können wir uns zum Transzendenten, obwohl es allgegenwärtig<br />

ist, scheinbar keinen Zugang verschaffen - ganz<br />

einfach, weil uns der Bereich des Suchens, Verlangens und<br />

Strebens am Vertrautesten ist. Wir stecken in dieser Sichtweise<br />

des beschränkten Selbst fest. Unsere wahre Natur ist aber<br />

grenzenlos. Es gibt kein Selbst. Das Selbst ist nur eine Art<br />

Abgrenzung - so wie eine Wasserblase von der Oberflächenspannung<br />

zusammengehalten wird.<br />

In dem Moment, in dem wir darum bitten, mit <strong>Big</strong> Mind<br />

oder dem Nicht-Selbst oder Nicht-Geist zu sprechen, platzt die<br />

Blase, und wir sind außerhalb ihrer Oberfläche oder außerhalb<br />

der Begrenzung des Selbst. Aus dieser Perspektive erkennen<br />

wir, dass das Selbst leer ist, ein Luftloch, oder dass das Selbst<br />

in Wirklichkeit nur ein Konzept ist, einfach nur eine Idee, und<br />

dass es in Wirklichkeit gar kein Selbst gibt. Dieses illusionäre<br />

Selbst ist eine Erscheinungsform des Geistes oder von <strong>Big</strong><br />

Mind.<br />

Benötigen wir das Selbst? Ja, natürlich. Müssen wir uns<br />

deswegen vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die<br />

Woche damit identifizieren? Ganz und gar nicht. Denn wenn<br />

wir mit dem Selbst identifiziert sind, als das Selbst, dann leben<br />

wir in Angst, wir leben in ständiger Sorge, wir leben in<br />

Stress, wir leben in Leiden. Wenn wir aber in der Lage sind,<br />

uns mit dem zu identifizieren, was keine Beschränkungen hat,<br />

mit <strong>Big</strong> Mind - es ist nur ein Name, Sie können ihm viele Namen<br />

geben, universelles Bewusstsein oder was auch immer -,<br />

wenn wir uns nicht länger mit dem Selbst identifizieren, kommt<br />

42


Angst nicht auf. Wenn wir uns mit dem identifizieren, was<br />

unfassbar ist, mit dem, was keinen Namen hat, dann gibt es<br />

absolut keine Furcht. Wir leben angstfrei.<br />

Aber wir sitzen gewöhnlich in unserer eingeschränkten<br />

Selbst-Perspektive fest, die wir als dualistischen Geist bezeichnen<br />

können. (Dies ist nicht mit dem psychischen Zustand zu<br />

verwechseln, den man multiple Persönlichkeit oder dual<br />

nennt.) Wir halten dualistisches Denken für selbstverständlich,<br />

weil wir die meiste Zeit so denken. Wir sehen Dinge dualistisch<br />

- es gibt also immer ein Subjekt und ein Objekt, mich und dich,<br />

mich und die Welt, mich und meine Gedanken. Oder wir sehen<br />

die Dinge in gegensätzlichen Paaren, im Sinne von richtig<br />

und falsch, gut und schlecht, Selbst und andere, schön und<br />

hässlich. Wir wurden dazu erzogen und konditioniert, die Welt<br />

auf diese Art zu sehen.<br />

Manchmal jedoch, wenn wir einen Baum oder einen schönen<br />

Sonnenuntergang erblicken, erleben wir einen Moment,<br />

in dem wir nicht beurteilen, nicht zu uns selbst sagen, dies ist<br />

ein hässlicher Baum oder ein prachtvoller Sonnenaufgang.<br />

Bevor wir uns eine Meinung gebildet haben, sehen wir einfach<br />

nur, ohne Urteil von schön oder hässlich, in einem Moment<br />

von nicht-dualistischem Gewahrsein, von reinem Sehen.<br />

Natürlich müssen wir richtig von falsch unterscheiden<br />

können. Doch wenn wir, wie in der Meditation, innere Ruhe<br />

und einen friedlichen Geist suchen, ist die Unfähigkeit, dualistisches<br />

Denken abzuschalten, ein Hindernis. Dasselbe gilt,<br />

wenn wir einschlafen wollen und den inneren Dialog nicht<br />

abstellen können: Je mehr man versucht, in Schlaf zu fallen,<br />

desto schwieriger wird es. Oder wenn Sie mit Ihrem Auto in<br />

einem Gang feststecken und nicht schalten können: Alle Gänge<br />

sind nur so lange hilfreich, wie man frei zwischen ihnen<br />

wechseln kann. Der nicht-dualistische Geist bietet uns die<br />

Möglichkeit, den inneren Dialog zur Ruhe zu bringen - wenn<br />

dies angemessen ist, wie zum Beispiel beim Einschlafen oder<br />

43


Meditieren. Der dualistische Geist ist dagegen notwendig,<br />

wenn man im Supermarkt vor einer Auswahl von fünfzig verschiedenen<br />

Brotsorten steht und sich entscheiden will.<br />

Gewöhnlich sehen wir nicht von einer nicht-dualistischen<br />

Perspektive aus. Sie entzieht sich uns immer wieder und gleichzeitig<br />

sehnen wir uns danach. Wir sehnen uns danach, näher<br />

an der Wahrheit zu sein, näher an der Wirklichkeit, näher an<br />

Gott, der Natur, unserer wahren Natur, uns selbst und anderen.<br />

Es scheint, als hätten wir den natürlichen Fluss des Universums<br />

zu einem festen Eisblock gefroren und diesen „mein<br />

Selbst”, „mein Ich”, genannt. Als Eisblock versuchen wir dann,<br />

eine Beziehung mit anderen Eisblöcken aufzubauen, und<br />

wünschen uns Intimität und Nähe. Und doch können wir sie<br />

nicht finden, weil wir wie zwei Eisblöcke sind, die sich im<br />

Liebesakt versuchen ... Ich meine, wir kommen zurecht, wir<br />

lieben uns, aber wir bekommen nicht, wonach wir uns wirklich<br />

sehnen - nämlich wahre Intimität. Wir sehen nicht, dass das<br />

Problem nur vom Selbst verursacht wird. Ich bin das Problem!<br />

Wenn ich erst einmal erkenne, dass ich das Problem bin,<br />

habe ich die Macht, etwas zu tun. Bis dahin laufe ich als hilfloses<br />

Opfer umher oder - wie es noch häufiger der Fall ist -<br />

lege als Opfer die Hände in den Schoß und gebe allem und<br />

jedem die Schuld an meinen Problemen. Solange ich nicht<br />

erkenne, dass ich das Problem bin, stehe ich dem Problem<br />

ratlos gegenüber und kann nichts daran ändern.<br />

Wenn ich erst einmal erkenne, dass ich das Problem bin<br />

(die Ausdrucksweise dafür im Zen wäre: Ich bin das Koan),<br />

habe ich auch die Kraft, es zu lösen. Ich kann aufhören, so sehr<br />

mit diesem begrenzten und beschränkten Selbst, das die Ursache<br />

aller Probleme ist, identifiziert zu sein. Und wie soll das<br />

gehen? Ganz einfach: Identifizieren Sie sich stattdessen mit<br />

dem, was über die Grenzen des Selbst hinausgeht. Und was<br />

ist das? Das Nicht-Selbst oder <strong>Big</strong> Mind oder Nicht-Geist oder<br />

das Wahre Selbst, wie immer wir es auch bezeichnen wollen.<br />

44


Sobald ich zum Beispiel mit <strong>Big</strong> Mind identifiziert bin, erkenne<br />

ich, dass alles <strong>Big</strong> Mind ist, dass ich alles bin und alles ich ist.<br />

Alles, vom unendlich Kleinen zum unendlich Großen, bin ich.<br />

Im traditionellen Zen-Training bezeichnen wir diese Erkenntnis<br />

als „Durchbruch der ersten Barriere”. Dies ist die<br />

Befreiung von der begrenzten Perspektive, in der wir das Selbst<br />

als das Zentrum des Universums sehen und daher alles da<br />

draußen als gefährlich und für das Selbst bedrohlich betrachten.<br />

Wenn wir diese Barriere hingegen durchbrechen, hören<br />

wir auf, in einem Zustand von Angst, Sorge und Stress zu leben,<br />

und beginnen, so zu leben, wie wir geschaffen sind, nämlich<br />

frei von Angst, unbegrenzt, ungehindert, für unser Leben<br />

selbst verantwortlich, und ohne allem und jedem die Schuld<br />

für die Situation, in der wir uns befinden, zuzuschieben.<br />

Keine besonderen Voraussetzungen<br />

oder Vorbereitungen sind erforderlich<br />

Das Verblüffende am <strong>Big</strong>-Mind-Prozess ist seine Einfachheit.<br />

Unabhängig von Vorwissen und Training ist er aufgrund der<br />

Direktheit der Frage um Erlaubnis, mit dem Transzendenten<br />

zu sprechen, für jeden so leicht zugänglich.<br />

Als ich anfänglich den Prozess entdeckte, dachte ich, dass<br />

sein Gelingen von einer bestimmten Formel oder Wortwahl<br />

abhinge. Seitdem habe ich gelernt, dass viele Wege nach Rom<br />

führen. Es gibt viele unterschiedliche Methoden, zum Transzendenten<br />

zu gelangen, und mittlerweile denke ich, dass beinahe<br />

alle Wege nach Rom führen und dass mich beinahe jede<br />

Richtung bei der Begleitung anderer nach Hause zurückbringt.<br />

Meines Erachtens liegt dies zum Teil ganz einfach an der<br />

Genialität des Prozesses selbst und zum anderem an dem<br />

Vertrauen, das ich entwickelt habe - und das jeder Facilitator<br />

entwickeln muss -, dass nämlich jeder und jede den Prozess<br />

durchlaufen kann. Es ist ein Unterschied zu glauben, dass jeder<br />

45


es kann, oder wirklich zu wissen, dass es so ist. Diese Gewissheit,<br />

dieses Vertrauen und Zutrauen, dass <strong>Big</strong> Mind für jeden<br />

und jede zu jeder Zeit zugänglich ist, ermächtigt die Teilnehmerinnen<br />

und Teilnehmer wahrlich dazu. Das Einzige, was<br />

sie tun müssen, ist, bereit zu sein, den Prozess zu durchlaufen.<br />

Man muss nichts glauben; man muss nur willens sein, dann<br />

gibt es absolut keinen Grund, warum der Prozess nicht gelingen<br />

sollte. Nochmals, Sie müssen nichts glauben, niemandem<br />

Vertrauen schenken, außer mir in meiner Rolle als Facilitator<br />

oder jedem anderen Facilitator, der die Gewissheit und Überzeugung<br />

hat, dass Sie es tun können. Denn als Facilitator<br />

ermächtige ich Sie, mich zu ermächtigen, Sie zu ermächtigen.<br />

Im Film Jerry-Maguire - Spiel des Lebens gibt es den Ausspruch:<br />

„Hilf mir, dir zu helfen.”<br />

Der Weg des Nicht-Strebens<br />

In einem Meditationszentrum, sei es eins der östlichen oder<br />

westlichen Traditionen, wird einem üblicherweise eine Übung<br />

gegeben. Manchmal bedeutet das einfach, dem Atem zu folgen<br />

und Gedanken und Sinneswahrnehmungen zu benennen<br />

oder den Atem zu zählen oder vielleicht Fragen wie „Wer bin<br />

ich?” eingehend zu betrachten. All diese Übungen haben<br />

gemein, dass sie einem etwas zu tun geben, damit man zu einem<br />

gewünschten Ziel oder Bewusstseinszustand gelangt.<br />

Sehr selten leiten wir jemanden anfänglich im „nur Sitzen”<br />

an. Jedoch bedarf es in den meisten dieser Traditionen<br />

Jahre des Strebens, um zu einem Durchbruch zu kommen<br />

und um letztendlich die Absurdität des Strebens zu erkennen.<br />

Denn genau dieses Suchen und Streben, sei es nach Wahrheit<br />

oder Erleuchtung, ist in der Tat die Barriere, die uns daran<br />

hindert, zu erreichen, was wir anstreben.<br />

All unser Suchen und Streben kommt aus dem Selbst. Oder,<br />

anders gesagt, das Streben ist ein Resultat unseres Verlangens<br />

46


und unserer Habgier. Diese Geisteshaltung ist unersättlich und<br />

nimmt kein Ende. Solange wir suchen, kann uns nichts von<br />

dem, was wir auch finden mögen, je zufriedenstellen; auch<br />

keine Erkenntnis oder spirituellen Errungenschaften, weil wir,<br />

so lange wir in diesem „Gang” feststecken, unersättlich sind.<br />

Wir wollen prinzipiell mehr, und alles, was wir finden, ist „Es”<br />

nicht. Wir wollen einfach ständig nur mehr.<br />

Durch den <strong>Big</strong>-Mind-Prozess können wir unseren „Leerlauf”<br />

finden - den Ort, an dem der Geist in keinem Gang steckt<br />

und nicht verzweifelt mit Suchen beschäftigt ist. Er erlaubt uns<br />

somit, die Gangschaltung unseres Fahrzeuges frei zu handhaben,<br />

vom ersten zum zweiten, zum dritten, zum vierten, sogar<br />

fünften Gang zu schalten, oder wenn nötig, runterzuschalten<br />

oder den Rückwärtsgang einzulegen. Er gibt uns vollkommene<br />

Freiheit. Wenn wir also im Supermarkt stehen, können wir<br />

problemlos in unserem verlangenden, strebenden Geist sein<br />

und suchen, was wir wollen. Doch wenn wir an einer Bushaltestelle<br />

warten oder am Strand von Hawaii sitzen, muss der Geist<br />

nicht in dieser Weise aktiv sein. Der Geist kann in Ruhe und<br />

Frieden still sein, was einen enormen Wert hat.<br />

Wenn wir lernen, in den Leerlauf zu wechseln und friedvoll<br />

und gelassen zu sein, nicht zu streben, nicht so verzweifelt<br />

zu wollen, entdecken wir, was ich den Geist des Nirvana<br />

nenne, den Geist vollkommenen Friedens und unbeschränkter<br />

Freiheit. Wenn Sie sich also auf Ihr Kissen oder Ihren Stuhl<br />

zur Meditation setzen und einfach bitten, mit dem Nicht-Strebenden,<br />

Nicht-Greifenden Geist zu sprechen, und sagen, ja,<br />

ich bin der Nicht-Strebende, Nicht-Greifende Geist - oder,<br />

anders gesagt, Sie identifizieren sich als dieser Geisteszustand,<br />

anstatt unbewusst mit Streben und Wollen -, dann ist das, was<br />

Sie auf Ihrem Kissen oder Ihrem Stuhl tun, wirklich meditieren.<br />

Dies ist die Meditation die wir „einfach nur Sitzen” nennen,<br />

bei der kein Ziel, kein Zweck, keine Absicht und keine<br />

Ambitionen mit dem Sitzen verbunden sind.<br />

47


Dann ist es, als wäre Ihnen zu Beginn der Reise direkt die<br />

richtige Richtung gezeigt worden. Anstatt von Hawaii aus in<br />

Richtung Westen loszuziehen, um nach Salt Lake City zu gelangen,<br />

oder von Hamburg aus nach Westen, um nach Berlin<br />

zu kommen, werden Sie in Richtung Osten geschickt, so dass<br />

Sie, je länger Sie gehen, je länger Sie praktizieren, mehr und<br />

mehr diesen Frieden und diese Freiheit tatsächlich im eigenen<br />

Leben verkörpern können. Die Meditation bringt Sie<br />

wirklich weiter, statt den Weg irgendwie noch mühseliger zu<br />

machen.<br />

Ich glaube, dass es deshalb in traditioneller spiritueller<br />

Übung so viele Menschen gibt, die letztendlich nicht zu einer<br />

offenen, umfassenden Geisteshaltung gelangen (<strong>Big</strong> Mind),<br />

sondern zu einer engen und kleingeistigen und darauf fixiert<br />

sind, Recht zu haben, und dabei versuchen, an dem festzuhalten,<br />

was auch immer sie glauben, in ihrer Praxis erreicht zu<br />

haben. Traurig, aber leider oft wahr! Suzuki <strong>Roshi</strong> spricht<br />

darüber in seinem Buch Zen Geist, Anfänger Geist, wo er sagt,<br />

dass das Ende, oder der Zen-Geist, der Anfänger-Geist ist.<br />

Der Geist des Anfängers ist sehr offen, sehr aufmerksam. Der<br />

Geist des Anfängers ist nicht voll von Ideen und Ansichten,<br />

Wahrheiten und Dogmen. Der Geist des Anfängers ist empfänglich<br />

und hat keine Grenzen. Der Geist des Anfängers ist<br />

nicht nur offen, er ist in der Tat ein Gefäß, ein Gefährt, ein<br />

Kanal oder ein Medium für den Ursprung, die Quelle. Er ist<br />

direkt mit ihr verbunden, wohingegen der Geist des Experten<br />

(oder des langjährigen Zen-Studenten) leicht das Gegenteil<br />

sein kann, sehr begrenzt, eng und dogmatisch. Es tut mir leid,<br />

dies sagen zu müssen, doch ich habe es häufig beobachten<br />

können.<br />

Darum liegt mir so viel daran, dass Menschen, die zu<br />

meditieren beginnen - oder tun sie es bereits, dann so früh wie<br />

möglich -, verstehen, dass es darum geht, sich von seinem herkömmlichen,<br />

suchenden und strebenden Geist zu lösen. Mit<br />

48


dieser Verschiebung der Perspektive des Geistes hin zu <strong>Big</strong><br />

Mind und <strong>Big</strong> Heart oder Nicht-Strebendem, Nicht-Greifendem<br />

Geist, der ohne Ziel und ohne Absicht ist, ist das Sitzen<br />

so viel tiefer. Dann lassen wir unaufhörlich, kontinuierlich los,<br />

halten nicht fest, öffnen uns, öffnen und öffnen und öffnen uns,<br />

so dass der Geist grenzenlos und ohne Beschränkung ist, statt<br />

eng und begrenzt.<br />

Einer der Gründe für mich, dieses Buch herauszubringen,<br />

ist das Gefühl, dass es einem viele Jahre leidvoller Anstrengung<br />

in die falsche Richtung ersparen kann.<br />

Jede und jeder kann es<br />

Nach meiner Erfahrung funktioniert der <strong>Big</strong>-Mind-Prozess bei<br />

jedem Menschen; auch bei solchen, die sich noch nie über<br />

Erleuchtung Gedanken gemacht haben, die einfach so zur Tür<br />

hereinspazieren. Menschen jeglicher Stufe der Bewusstseinsentwicklung<br />

können diesen Prozess leicht und erfolgreich<br />

durchlaufen.<br />

Über die Jahre hinweg konnte ich beobachten, dass auch<br />

Anfänger unmittelbar Zugang zu Einsichten und Erfahrungen<br />

haben, die sich normalerweise erst nach vielen Jahren der<br />

Übung eingestellt hätten. Auch haben sie umgehend ein besseres<br />

Gefühl dafür, wie man meditiert, und ebenso, wie man<br />

die großen Fragen des Lebens angehen und lösen kann. Tatsächlich<br />

werden die Lehren auf diese Weise viel unmittelbarer,<br />

viel tiefer aufgenommen, weil es von innen heraus geschieht,<br />

statt von außen nach innen. Mit anderen Worten,<br />

anstatt die Unterweisungen zu hören und zu versuchen, sie zu<br />

verstehen, spricht man als die Lehre selbst.<br />

Seit jeher entspringt die Lehre der Erfahrung des<br />

Erwachens. Traditionellerweise hört man die Lehren erst und<br />

versucht dann, dahin zu gelangen. Im <strong>Big</strong>-Mind-Prozess sind<br />

Sie aber bereits da. Für mich ist dies die eigentliche Bedeutung<br />

49


der Worte „Ausbilder” und „Facilitator”: jemanden ausbilden<br />

und darin anleiten, mit dem in Verbindung zu treten, was innerlich<br />

schon ist, eine allgegenwärtige Weisheit. Wenn man<br />

erst einmal mit <strong>Big</strong> Mind, oder anders ausgedrückt, mit<br />

transzendenter Weisheit, der Weisheit, die über die Dualität<br />

hinausgeht, identifiziert ist, spricht man aus der Weisheit des<br />

Buddha heraus. Und sobald man mit <strong>Big</strong> Heart identifiziert<br />

ist, werden alle Handlungen zu Aktivitäten eines Bodhisattva:<br />

einer Person, für die andere Wesen wichtiger sind als sie selbst.<br />

Alle Weisheit, die wir in unserer spirituellen Übung erlangen<br />

- sie ist schon da! Dazu muss man kein einziges Buch<br />

lesen. Ich will nicht sagen, dass es nicht gut ist, zu lesen; nur,<br />

es ist nicht notwendig; die ganze Weisheit aller Zeiten, aller<br />

großen spirituellen Lehrerinnen und Lehrer, Mystikerinnen<br />

und Mystiker ist hier und jetzt unmittelbar zugänglich, sobald<br />

wir einfach nur unsere Geisteshaltung ändern. Tausende von<br />

Jahren haben sich Menschen abgemüht, diese Art der Veränderung<br />

des geistigen Zustandes zu erreichen, doch es ist ihnen<br />

entgangen, dass man dabei gegen sich selbst ankämpft,<br />

dass man versucht, sich an den eigenen Haaren herauszuziehen.<br />

Man befindet sich im Suchenden Geist, danach strebend,<br />

aus dem Suchenden Geist herauszukommen, und es will einfach<br />

nicht gelingen.<br />

Oder es gelingt doch, nämlich dann, wenn man sich erschöpft;<br />

Wochen am Stück sitzt, zehn Stunden am Tag, und<br />

man so erschöpft ist, dass man schließlich aufgibt - und da ist<br />

es. Dann wundert man sich, wie man dahin gelangt ist, und<br />

muss das Ganze wiederholen, sich erneut über Wochen pausenlos<br />

abrackern, um dorthin zurück zu gelangen - wenn doch<br />

das Einzige, was man benötigt, das Zauberwort Bitte ist.<br />

Und das funktioniert für uns alle, besonders für uns aus<br />

dem Westen, da wir alle von unserer Mutter das Zauberwort<br />

gelernt haben. Wir behalten diese Weisheit bei - wir bitten<br />

ganz einfach um Erlaubnis: „Dürfte ich bitte mit Nicht-<br />

50


Strebendem, Nicht-Greifendem Geist sprechen” oder mit <strong>Big</strong><br />

Mind oder <strong>Big</strong> Heart oder dem Meister. Irgendwie kann das<br />

Ich dem nicht widerstehen<br />

Wenn jemand zu uns sagt: „Bring mir eine Tasse Kaffee!”,<br />

werden wir es vielleicht tun, jedoch mit Unmut, etwas Ärger,<br />

ein bisschen Feindseligkeit. Vielleicht tun wir's, vielleicht sagen<br />

wir auch: „Wieso, hol sie dir doch selbst.” Doch wenn ich<br />

jemanden freundlich bitte: „Würdest du mir bitte eine Tasse<br />

Kaffee bringen, ich könnte wirklich eine gebrauchen”, sind wir<br />

sofort bereit, aufzuspringen und den Kaffee zu holen. „Hättest<br />

du gern Zucker oder Milch, oder wie möchtest du deinen<br />

Kaffee?” Wenn wir höflich und angemessen gebeten werden,<br />

können wir alle dem nur schwer widerstehen.<br />

Als ich 1972 am Zen-Zentrum von Los Angeles mit dem<br />

Sitzen begann, hörte ich über viele Jahre hinweg von meinen<br />

japanischen Zen Meistern Koryu <strong>Roshi</strong> und Maezumi <strong>Roshi</strong>:<br />

„Töte dich in Zazen! Stirb auf deinem Kissen! Lass den Körper-Geist<br />

fallen!” Auf der einen Seite wollte ich mich natürlich<br />

fügen. Ich war schon immer ein Mensch, der bestrebt ist,<br />

zu gefallen. Auf der anderen Seite dachte ich: „Niemals! Ich<br />

werde mich doch nicht selbst töten. Ich habe nicht vor, hier<br />

und jetzt zu sterben. Ich kann meinen Körper und Geist nicht<br />

ablegen. Wie sollte ich das tun? Wie kann ich mich selbst töten?<br />

Warum sollte ich das wollen? Es wäre das Gleiche, von<br />

mir zu verlangen, aus dem zehnten Stock zu springen. Man<br />

müsste mir einen sehr guten Grund nennen, um das zu tun,<br />

und doch würde ich es wahrscheinlich nicht tun. Nicht aus dem<br />

zehnten Stock. Aus dem ersten - vielleicht.”<br />

Für die meisten von uns aus dem Westen funktionieren<br />

solche Anweisungen einfach nicht. Tun sie es doch, sind wir,<br />

denke ich, irgendwie aus der Art geschlagen. Diejenigen unter<br />

uns, die in den sechziger und siebziger Jahren begannen,<br />

Zen zu studieren, fühlten sich häufig von östlichen Kampfsportarten<br />

und einer gewissen Samurai-Einstellung angezogen<br />

51


und standen darauf, alles zu geben. Ich selbst hatte 1966 mit<br />

Karate begonnen. Doch heutzutage sind die meisten Leute<br />

nicht mehr so naiv und lassen sich nicht so leicht von solch<br />

romantischen Vorstellungen beeinflussen.<br />

Als Abendländer haben wir eine vollkommen andere<br />

kulturelle Erziehung erfahren. Wir leben im 21. Jahrhundert<br />

und sind keine Japaner. Für Japaner war die Frage von Individualität,<br />

Abgrenzung, Unterscheidung und Ich-Identität nie<br />

wirklich von Bedeutung. Es ging eher um die Identifikation mit<br />

dem Kaiser, mit dem Shogun, mit der Gruppe an sich. Im<br />

Westen legen wir unglaublich viel Wert auf unsere Individualität.<br />

Der <strong>Big</strong>-Mind-Prozess ermöglicht uns, sehr tief in uns<br />

selbst zu schauen.<br />

Wenn wir tief in uns hineinschauen, was passiert dann?<br />

Wir lernen uns selbst kennen. Unser Selbst ist das<br />

unergründlichste aller Rätsel. Gewöhnlich sind unsere Augen<br />

und unser Geist nach außen, auf äußere Dinge, gerichtet. Die<br />

Stelle, die wir nicht sehen können, unser „blinder Fleck”, liegt<br />

hinter unseren Augen. Wir sehen nicht, wer es ist, der oder die<br />

schaut, zuhört, sieht, hört, denkt, weiß, fühlt. Über ihn oder<br />

sie wissen wir rein gar nichts.<br />

Der <strong>Big</strong>-Mind-Prozess beruht darauf, nicht mit dem Ich<br />

zu kämpfen. Der Buddha meinte, unser Ich zu meistern sei wie<br />

in einen Kampf mit tausend gegnerischen Kriegern zu ziehen<br />

und sie einhändig zu besiegen. Bevor man einen Krieg auf<br />

diese Art gewinnen kann, muss man offensichtlich erst einmal<br />

viele Schlachten verlieren. Dahingegen ist der von mir gewählte<br />

Ansatz so nicht-kämpferisch wie nur möglich. Was wir tun<br />

- und ich teile Ihnen dies von vorneherein mit -, ist, das Ich<br />

quasi anzuwerben, uns im Kampf zu helfen. Es ist so, als gingen<br />

wir auf den Feind zu und fragten ihn, ob er uns helfen<br />

werde, ihn zu besiegen. Natürlich würde dem kein Feind ohne<br />

etwas trickreicher Nachhilfe oder zumindest etwas Respekt<br />

zustimmen. Ich bitte das Ich also, mir beim Besiegen des Ich<br />

52


zu helfen, indem ich ihm eine Aufgabe zuteile, und damit<br />

scheint es zufriedengestellt zu sein. Das ist das Unglaubliche<br />

daran: Obwohl das Ich weiß, was es tut, wird es mir doch tatsächlich<br />

helfen - mir helfen, um Ihnen zu helfen.<br />

Wenn wir also einfach nur zu der Stimme sprechen, die<br />

die Kontrolle und Aufsicht hat - ich werde sie die oder den<br />

Kontrolleur (oder Kontrolleur-Beschützer) nennen, und sagen:<br />

„Könnte ich bitte mit dem Nicht-Suchenden, Nicht-Strebenden<br />

Geist sprechen?”, wird unsere Antwort lauten: „Klar!”. Dann<br />

ändern wir unsere Körperhaltung, unsere Geisteshaltung.<br />

Die Position ändern und<br />

Distanz zum Selbst schaffen<br />

Durch die Änderung der Körperhaltung können wir unsere<br />

geistige Haltung leichter von unserer fixierten Perspektive des<br />

Suchens und Strebens weg, hin zu einer nicht-strebenden Perspektive<br />

bewegen. Diese physische und auch mentale Änderung<br />

ermöglicht es uns, in der Stimme zu sein, mit der wir<br />

sprechen wollen. Diese Bewegung geht über Zeit und Raum<br />

hinaus, ist außerhalb von Zeit und Raum. Wir sind unmittelbar<br />

dort und können in diesem Bewusstseinsraum einfach sein,<br />

was heißt, dass wir wahrlich Nicht-Suchender, Nicht-Strebender<br />

Geist sind.<br />

Wenn Sie aufgefordert werden, mit einer bestimmten<br />

Stimme zu sprechen, und Sie Ihre Körperposition ändern,<br />

dann identifizieren Sie sich als diese Stimme und sprechen als<br />

diese Stimme in der ersten Person mit Aussagen wie „als Kontrolleur<br />

bin ich ...”. Nun betrachten Sie das Selbst oder Ihr Ich<br />

in der dritten Person und sprechen darüber als „er” oder „sie”<br />

oder „das Selbst”.<br />

Nehmen wir zum Beispiel an, ich spreche als die Stimme<br />

des Kontrolleurs: „Als Kontrolleur versuche ich, die Situation<br />

zu kontrollieren, in erster Linie damit das Selbst oder das Ich<br />

53


überlebt. Meine grundlegende Aufgabe ist, das Überleben des<br />

Selbst zu gewährleisten. Ich muss es vor anderen beschützen<br />

- vor seiner Umwelt, anderen Leuten, anderen Dingen, der<br />

Natur, den Tieren, dem Ozean, der Sonne, sogar vor Essen,<br />

Alkohol und Drogen. All diese Dinge sind potenziell schädlich.<br />

Doch ich muss das Selbst auch vor dem Selbst schützen.”<br />

Wenn ich also meine Position und Perspektive ändere, spreche<br />

ich nicht mehr als ich, sondern über das Ich oder Selbst.<br />

In welcher Stimme ich mich auch befinde, ich spreche immer<br />

über das Selbst in der dritten Person.<br />

Indem wir über das Selbst in der dritten Person sprechen,<br />

schaffen wir zwischen der Stimme, die spricht, und dem Selbst<br />

etwas Distanz. Wie schon seit Buddhas Zeiten, vor zweitausendfünfhundert<br />

Jahren, bekannt ist, ist die Ursache des Leidens<br />

das Anhaften, vor allem am Ich oder Selbst. Leiden wird durch<br />

jegliches Anhaften verursacht, aber am stärksten sind wir dem<br />

Selbst verhaftet. Natürlich hänge ich an meinem Motorrad,<br />

meinem Auto, mehr jedoch noch an meinen Kindern Tai und<br />

Nicole und meiner Frau Stephanie. Doch am stärksten haften<br />

wir unserem Ich an, wenn auch vielleicht nicht ganz so stark<br />

wie an unseren Kindern.<br />

Je mehr Distanz ich zum Selbst schaffe, desto weniger<br />

Energie stecke ich in meine Anhaftung an das Selbst. Offensichtlich<br />

ist es umso einfacher, das Selbst aufzugeben und es loszulassen,<br />

je weniger ich mit ihm identifiziert und ihm verhaftet bin.<br />

Es ist einfacher, das Motorrad eines anderen aufzugeben als<br />

mein eigenes. Je stärker meine Identifikation und Bindung mit<br />

und an etwas ist, desto schwieriger ist es loszulassen. Der Prozess<br />

hin zum Transzendenten findet also sogar statt, wenn wir mit<br />

bekannten dualistischen Stimmen arbeiten, wie zum Beispiel mit<br />

der des Kontrolleurs oder der des Skeptikers oder der Stimme<br />

der Wut, weil wir lernen, uns immer weniger mit dem Selbst zu<br />

identifizieren und uns mehr und mehr als ein Aspekt des Selbst,<br />

als eine Teilpersönlichkeit, sehen.<br />

54


Keine Anstrengung<br />

Ein weiterer Grund für das mühelose Funktionieren dieses<br />

Prozesses ist, dass er durch einen Facilitator angeleitet wird:<br />

entweder in einer Gruppe, persönlich oder durch dieses Buch,<br />

eine DVD oder CD 2. Der Facilitator, in diesem Buch bin ich<br />

das, nimmt Ihnen, dem Leser, der Leserin, alle Anstrengung<br />

ab. Falls ich Sie jetzt bitten würde, mit einer bestimmten Stimme<br />

zu sprechen, zum Beispiel mit der des Kontrolleurs, und<br />

Sie Ihre Position ändern und sagen: „In Ordnung, hier spricht<br />

der Kontrolleur”, dann verlangt dies keinerlei Anstrengung<br />

Ihrerseits. Die Veränderung Ihrer Position liegt nicht nur außerhalb<br />

von Zeit und Raum, sie geht auch über jegliches Bemühen<br />

und jede Anstrengung hinaus. In dem Moment, in dem<br />

Sie sagen: „Ja, Sie sprechen jetzt mit...”, sind Sie da.<br />

Falls Sie sich bemühen und anstrengen, um zu einer Stimme<br />

zu gelangen, was glauben Sie, hindert Sie dann wohl daran?<br />

Ihre Anstrengung! Da Sie angeleitet werden, müssen Sie<br />

sich nicht bemühen. Sie können sich zurücklehnen, entspannen<br />

und ganz einfach genießen. Der Facilitator wird Ihnen den<br />

Weg zeigen.<br />

Man könnte sagen, der <strong>Big</strong>Mind-Prozess schafft die Gelegenheit<br />

einer geführten Einsicht in das Transzendente. Im<br />

Zen verwenden wir für diese Einsicht den japanischen Begriff<br />

kensho, der wörtlich „seine eigene Natur erblicken” bedeutet,<br />

eine Erleuchtungserfahrung also. Doch sind selbst die tief<br />

greifendsten Kensho-Erfahrungen vor Daikensho, der großen<br />

Erleuchtung, noch zeitlich begrenzt, vergleichbar mit dem<br />

kurzzeitigen Öffnen der Blende einer Kamera. Das Schöne am<br />

<strong>Big</strong>-Mind-Prozess ist, dass er es uns ermöglicht, die Blende,<br />

so lange wir wollen, offen zu halten. Anstatt uns einen nur momentanen<br />

und undeutlichen Einblick zu gewähren, wie bei<br />

2 Siehe www.3treasures.org/catalog<br />

55


einem kurz angezündeten und gleich wieder erloschenen<br />

Streichholz in einem dunklen Raum, können wir mit Hilfe des<br />

Prozesses <strong>Big</strong> Mind lange genug sichtbar halten, um uns im<br />

Raum umzusehen und wirklich mit dem Territorium vertraut<br />

zu werden.<br />

Einer der schönsten Aspekte dieses Prozesses ist, dass wir<br />

durch den Umgang mit vielen dieser Stimmen, auch mit den<br />

sogenannten dualistischen Stimmen, also noch bevor wir zum<br />

Transzendenten gelangen, fließender und flexibler werden. Mit<br />

anderen Worten, wir lernen, die Perspektiven zu wechseln,<br />

statt in einer starren Wahrnehmung unserer selbst und der<br />

Welt zu verharren.<br />

Perspektiven ändern<br />

Eine weitere Analogie dazu: Stellen Sie sich vor, dass in jedem<br />

Augenblick seit Ihrer Geburt ununterbrochen hundert Kameras<br />

auf Sie gerichtet sind, die ganzen dreißig, vierzig, fünfzig,<br />

sechzig Jahre Ihres Lebens. Angenommen, Sie würden sich<br />

dafür entscheiden, nur durch ein einziges Objektiv zu schauen,<br />

und Sie würden dann behaupten, dies bin ich, dies ist mein<br />

Selbst, mein Leben, meine Geschichte, so wäre es offensichtlich,<br />

dass dies nur eine von hundert Ansichten ist. Hundert<br />

verschiedene Kamerawinkel ergeben zumindest hundert Perspektiven.<br />

Eine unendliche Anzahl von Kameras ermöglicht<br />

eine unendliche Anzahl von Sichtweisen über diese Geschichte,<br />

dieses Leben und dieses Selbst.<br />

In Wirklichkeit gibt es eine unendliche Anzahl von Perspektiven<br />

- doch wir verhalten uns, als gäbe es nur eine. Wir<br />

sehen uns selbst und die Geschichte unseres Lebens nur aus<br />

dieser einen Perspektive. Das ist Verblendung, das ist verrückt!<br />

Wie könnte dies die einzige Perspektive sein? Doch wir halten<br />

daran fest, und wir sind bereit, dafür in den Krieg zu ziehen.<br />

Wir ziehen in unseren Beziehungen in den Krieg, wir ziehen<br />

56


als Nationen in den Krieg. Was auch immer unsere Ansicht ist,<br />

wird zur einzig richtigen. Wir würden lieber sterben und Recht<br />

behalten, als im Unrecht, aber glücklich sein. Es ist einfach<br />

Irrsinn.<br />

Könnten wir durch jedes dieser hundert Objektive schauen,<br />

hätten wir hundert verschiedene Sichtweisen darüber, wer<br />

wir sind, und wir würden sehen, dass keine Sichtweise die richtige<br />

ist. Anders ausgedrückt, es gibt keine richtige Sichtweise.<br />

Alle Sichtweisen sind begrenzt und beschränkt. Es gibt keine<br />

bestimmte Sichtweise, die die korrekte wäre.<br />

Was bleibt, ist, was der Buddha in seiner ersten Lehre<br />

über den sogenannten Achtfachen Pfad vermittelte, in der er<br />

auch über Rechte Sichtweise sprach. Rechte Sichtweise ist<br />

keine bestimmte, fixierte Sichtweise. Wir müssen erkennen,<br />

dass alle Sichtweisen begrenzt sind und keine die alleinige<br />

Sichtweise sein kann, da jede beschränkt, begrenzt und<br />

fragmentiert ist. In der Tat ist Rechte Sichtweise keine Sichtweise.<br />

Daher ist es so wichtig, von Anfang an zu lernen, die Perspektiven<br />

zu wechseln. Allein dies wird Ihnen in Ihrem Leben<br />

eine gewaltige Hilfe sein. Stellen Sie sich vor, dass Sie beim<br />

nächsten Mal, wenn Sie mit Ihrem Partner, ihrer Partnerin<br />

oder dem Ehegatten Streit haben, Ihre eigene Ansicht loslassen.<br />

Dies eröffnet Ihnen die Möglichkeit zu erkennen, dass es<br />

in der Situation vielleicht auch eine andere Perspektive gibt -<br />

die Sichtweise des oder der anderen. In dem Augenblick, in<br />

dem Sie dies zulassen, sind Sie frei. Sie können sich in die<br />

Sichtweise der anderen Person einfühlen - und dies ist genau<br />

das Gegenteil von dem, was wir gewöhnlich tun. Normalerweise<br />

sind wir in unserer eigenen Perspektive gefangen, und wir<br />

leiden an den Konsequenzen, die unsere eigene fixierte Sichtweise<br />

mit sich bringt.<br />

57


Integriertes Frei-Wirken,<br />

das letztendliche Ziel<br />

Unsere natürliche Tendenz ist Klammern, Anhaften und Festhalten.<br />

Von daher sind wir nicht frei und können nicht frei<br />

wirken. Der Buddha hat diese Tendenz beobachtet und ihr<br />

einen Namen gegeben. Er meinte, wenn der Geist feststeckt,<br />

erlebt man duhkha (dieser Sanskritbegriff wird normalerweise<br />

als Leiden übersetzt). Duhkha bedeutet wörtlich: ein Rad,<br />

dessen Nabe nicht rotiert. Die Achse des Rades dreht sich<br />

nicht; sie bewegt sich nicht. Also was für ein Rad hat man<br />

dann? Ein nutzloses, funktionsloses Rad. Wozu ist ein Rad<br />

aber brauchbar, wenn es sich nicht dreht?<br />

Der Buddha entdeckte und lehrte, wie man das Rad freibekommen<br />

kann. Er nannte dies suhkha, ein befreites, freilaufendes<br />

Rad. Dies ist die Bedeutung von Befreiung und<br />

Nirvana.<br />

Die Fähigkeit, Perspektiven zu wechseln, ist so, als verfüge<br />

man über ein funktionierendes Auto. Ist die Gangschaltung<br />

blockiert, hat man ein nicht-funktionierendes Auto. Selbst<br />

wenn es ein Maserati ist: Ist der erste Gang oder der Rückwärtsgang<br />

blockiert, ist das Auto dysfunktional. Doch sobald<br />

man wieder rauf- und runterschalten und den Rückwärtsgang<br />

einlegen kann, hat man ein funktionsfähiges Gefährt.<br />

Das Gleiche gilt für den Geist oder das Selbst oder unser<br />

Leben. Wenn wir blockiert sind, sind wir dysfunktional; wenn<br />

wir uns befreit haben, haben wir, so lange wir in Bewegung<br />

bleiben können, ein funktionierendes Gefährt.<br />

<strong>Big</strong> Mind ist der eigentliche Zustand des Nichtblockiertseins,<br />

doch können wir auch in dieser Perspektive stecken bleiben.<br />

Im Zen nennen wir dies „im Absoluten stecken bleiben”.<br />

Die Erfahrung von <strong>Big</strong> Mind ist die Loslösung von einer relativen<br />

oder dualistischen Sichtweise. Doch wir können dann in<br />

der absoluten oder nicht-dualistischen Perspektive von <strong>Big</strong><br />

58


Mind stecken bleiben, in der wir keine Grenzen haben und frei<br />

ohne Beschränkungen handeln, wohingegen wir uns in der<br />

dualistischen Sichtweise selbst binden und dazu noch nicht mal<br />

einen Strick benötigen.<br />

In der Tat ist es noch schwieriger, sich von der Nicht-<br />

Dualität als von der Dualität zu lösen. Wenn man sein ganzes<br />

Leben in dem dualistischen Ort des Leidens festgesessen hat<br />

und dann endlich zum nicht-dualistischen Ort, der frei ist von<br />

Leiden, kommt, zu <strong>Big</strong> Mind, ist es natürlich schwierig, dort<br />

nicht hängen zu bleiben. Je tiefer die Erfahrung der nichtdualistischen<br />

Wirklichkeit ist, desto größer kann manchmal das<br />

Anhaften am Nicht-Dualistischen sein. Aber auch davon müssen<br />

wir uns lösen. In Sanskrit ist der Ausdruck dafür neti-neti,<br />

was nicht dies, nicht jenes bedeutet - über die dualistische und<br />

die nicht-dualistische Sichtweise hinausgehen. Und das nenne<br />

ich das Wahre Transzendente. Wenn wir weder im Dualistischen<br />

noch im Nicht-Dualistischen festsitzen, stecken wir<br />

nicht fest, Punktum. Wir sind frei, uns in jede Richtung zu<br />

bewegen.<br />

Diese zeitlose Weisheit ist in uns allen, in jedem und jeder<br />

von uns vorhanden. Sie zu erschließen und verfügbar zu<br />

machen ist das Anliegen dieses Buches. Warum sollte all das<br />

ein Geheimnis von nur einigen wenigen bleiben? Meines Erachtens<br />

ist die Zeit reif dafür, dass das bisher nur Eingeweihten<br />

Zugängliche allgemein zugänglich wird - vielleicht nicht<br />

alles, aber doch ein Großteil -, denn ich bin der Überzeugung,<br />

dass wir an einem Punkt angelangt sind, an dem wir die<br />

Klosterwände niederreißen müssen. Wir müssen alle Wände<br />

und Barrieren niederreißen, die diese Weisheit auf eine auserwählte,<br />

begrenzte Gruppe beschränken, und sie dem<br />

Weltbewusstsein öffnen.<br />

An diesem Punkt der Evolution bleibt uns keine andere<br />

Wahl, als bewusst zu werden. Dies ist eine Zeit der Revolution<br />

und nichts kann uns zurückhalten. Mein Beitrag besteht<br />

59


darin, die Klosterwände niederzureißen, so dass wir die ganze<br />

Welt als Kloster, als unsere Übung und als Tempel ansehen.<br />

Wir alle arbeiten an diesem Sein, diesem uns eigenen Leben.<br />

Dies ist der Tempel, er hat keine Wände.<br />

1 6 BIG MIND


3<br />

WIE SIE MIT<br />

DIESEM BUCH<br />

ARBEITEN<br />

KÖNNEN


In jedem von uns sind unzählige Stimmen oder Aspekte am<br />

Werk. Zur Veranschaulichung ihrer Wirkungsweise können wir<br />

uns eine große Firma mit vielen, vielen Angestellten vorstellen.<br />

Wie viele sind es? Niemand weiß das so genau. Es ist eine<br />

etwas bizarre Situation. Wir haben wahllos irgendwelche Leute<br />

eingestellt, ohne sie vorher über ihren Job oder ihre Position zu<br />

informieren. Wir haben es auch unterlassen, ihnen eine klare<br />

Aufgabenstellung zu geben. Als ob das noch nicht schlimm<br />

genug wäre, haben wir diesen Leuten noch nicht einmal gesagt,<br />

für wen sie arbeiten, wie das Unternehmen heißt und wer der<br />

Boss ist. Dann haben wir sie aufgefordert, sich an die Arbeit zu<br />

machen. Was für eine Art von Firma ist das?<br />

Es ist eine dysfunktionale Firma. Der Buddha entdeckte dies bereits<br />

vor zweitausendfünfhundert Jahren, verwendete jedoch<br />

eine etwas andere Beschreibung. Er sagte, dass wir die Welt<br />

verkehrt herum - „auf den Kopf gestellt” - sähen. Auch wenn<br />

das in Sanskrit oder Pali etwas anders klingen mag, hat es ungefähr<br />

diese Bedeutung. Meines Erachtens ist „dysfunktional”<br />

ein noch besserer Ausdruck. Wir sehen die Welt auf eine<br />

dysfunktionale Art und Weise, und deswegen leiden wir. Eine<br />

Firma, in der niemand seine Berufsbezeichnung, die Aufgabenstellung<br />

noch die Zielsetzung kennt, in der niemand weiß,<br />

was zu tun ist, ist eine Firma, die sich im Chaos befindet und<br />

„leidet”.<br />

63


Wir werden uns nun nach und nach mit den Angestellten<br />

des Unternehmens unterhalten - nicht mit allen, aber doch mit<br />

einer Anzahl von Schlüsselfiguren. Wir werden uns mit allen<br />

einzeln besprechen, uns ihre Ansichten über ihre Arbeit anhören<br />

und mit ihnen ihre Aufgabenstellung und Position klären.<br />

Wir werden ihnen mitteilen, wozu sie in der Firma eingestellt<br />

wurden und welche Leistung wir von ihnen erwarten.<br />

Schließlich werden wir sie dem Vorstandsvorsitzenden vorstellen.<br />

Nach Beendigung all dieser Interviews - und dies wird in<br />

den folgenden zwei Teilen dieses Buches geschehen - werden<br />

alle Angestellten ihre eigentliche Arbeit besser verrichten<br />

können. Das bedeutet, diese Firma - jene nämlich, mit der Sie<br />

dieses Buch in Händen haltend auf dem Stuhl sitzen - wird<br />

künftig eine gut organisierte und funktionierende Firma sein.<br />

Während eines Workshops, spiele ich normalerweise die<br />

Rolle des Facilitators, und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer<br />

sprechen als die verschiedenen Stimmen, die ich anrufe,<br />

indem ich frage: „Könnte ich bitte mit... sprechen.” Jede Person<br />

hat ihre eigene Art, einer Stimme Ausdruck zu verleihen.<br />

Dasselbe wird für Sie bei der Lektüre des Buches gelten.<br />

Die Stimmen im Buch sprechen so, wie die Teilnehmerinnen<br />

und Teilnehmer an Workshops dies typischerweise tun.<br />

Natürlich wird jede Person auf ihre eigene Art antworten, aus<br />

ihrer eigenen Lebenserfahrung heraus und abhängig davon,<br />

was eine bestimmte Stimme in diesem Moment zur Sprache<br />

bringt. Es liegt an Ihnen, diese Stimmen wahrhaftig zum Leben<br />

zu erwecken und ihnen hier und jetzt Ausdruck zu verleihen.<br />

Solange Sie „in der Stimme” bleiben, gibt es keine „falschen”<br />

Antworten. Was jede Person in der Stimme zum Ausdruck<br />

bringt, ist gültig, wahr und vollkommen. Sie können jedoch<br />

auch „aus der Stimme fallen” und statt der Stimme, die<br />

Sie zu sprechen aufgefordert wurden, andere Stimmen sprechen<br />

64


lassen. Mit zunehmender Übung wird es Ihnen jedoch immer<br />

leichter fallen zu erkennen, wenn Sie nicht in der gefragten<br />

Stimme sind, und umso fließender können Sie dann zu der<br />

Stimme zurückkehren, mit der wir sprechen wollten.<br />

Während Sie die Äußerungen der verschiedenen Stimmen<br />

auf den folgenden Seiten lesen, rate ich Ihnen, dabei jeweils<br />

leicht Ihre Körperposition zu ändern, um so Ihren Geist mit<br />

der neu angesprochenen Stimme in Einklang zu bringen. Erlauben<br />

Sie dann der Stimme, sich in der Ihnen entsprechenden<br />

Eigenart zu zeigen und auszudrücken. Achten Sie darauf,<br />

ob Ihnen eine Stimme bekannt oder unbekannt vorkommt und<br />

ob sie sich angenehm anfühlt oder nicht. Manche der Stimmen<br />

haben Sie möglicherweise bisher abgelehnt oder verleugnet,<br />

andere wurden vielleicht noch niemals zum Erwachen gebracht.<br />

Wenn eine Stimme verleugnet wurde, bedeutet dies<br />

nicht, dass es sie nicht gibt. Sie agiert weiterhin, jedoch im<br />

Verborgenen und daher nicht in positiver Art und Weise.<br />

Was Stimmen betrifft, die noch nicht erweckt wurden, wie<br />

zum Beispiel Ihr erleuchteter Geist oder Ihr vorbehaltloses<br />

Mitgefühl für alle Wesen, so kann es sein, dass Sie sich ihrer<br />

Existenz überhaupt nicht bewusst sind. Auch wenn Sie davon<br />

möglicherweise keine Ahnung haben, existieren diese Stimmen<br />

doch in Ihnen und sind hier und jetzt unmittelbar zugänglich.<br />

Sie sind allgegenwärtig, auch wenn sie vollständig vor<br />

Ihrem Bewusstsein verborgen sein mögen.<br />

Zuerst werden wir die sogenannten dualistischen Stimmen<br />

erforschen, auch Teilpersönlichkeiten des Selbst genannt.<br />

Dabei beschränken wir uns auf eine sehr begrenzte Anzahl von<br />

Stimmen, in die wir uns natürlich auch noch sehr viel mehr<br />

vertiefen könnten. Hai und Sidra Stone tun dies innerhalb der<br />

Voice-Dialogue-Arbeit und in ihrem Buch Du bist Viele<br />

(Embracing Our Selves, The Voice Dialogue Manual). Es gibt<br />

noch Tausende anderer Stimmen, die wir erforschen könnten,<br />

doch in diesem Buch und im <strong>Big</strong>-Mind-Prozess arbeiten wir<br />

65


nur mit den Stimmen, die für den Weg zu einem weiseren und<br />

mitfühlenderen Menschsein am Wichtigsten sind.<br />

Die darauf folgende Gruppe von Stimmen, angefangen<br />

mit der Stimme des Weges, besteht hauptsächlich aus nichtdualistischen<br />

Stimmen. Der Weg und <strong>Big</strong> Mind sind im Grunde<br />

genommen nicht-dualistische Stimmen. <strong>Big</strong> Heart und der<br />

Meister kommen von einem nicht-dualistischen Standpunkt,<br />

erkennen jedoch die Dualität oder Unterschiede zwischen<br />

Selbst und anderen.<br />

Den <strong>Big</strong>-Mind-Prozess ausschließlich lesend zu durchlaufen,<br />

bereitet möglicherweise etwas mehr Schwierigkeiten, als<br />

dies mit Hilfe einer CD oder DVD zu tun. Sie werden wahrscheinlich<br />

feststellen, dass Sie das Buch beiseite legen müssen,<br />

sobald Sie sich in eine der Stimmen versetzen. Wenn Sie lediglich<br />

in der Position des Lesers oder der Leserin verbleiben,<br />

werden Sie zwar konzeptionelles Wissen erlangen, aber solange<br />

Sie eine dualistische Subjekt-Objekt Beziehung beibehalten,<br />

ist es schwierig, in die Nicht-Dualität zu gelangen.<br />

Mir gefällt das Wort „anrufen” (engl, invoke). In der<br />

buddhistischen Praxis rufen wir die Buddhas und Vorfahren,<br />

die Buddhas und Bodhisattvas an - und ebenso ist der <strong>Big</strong>-<br />

Mind-Prozess ein Weg der Anrufung, des Herbeirufens und<br />

des „Stimme-Gebens”. Wenn wir zum Beispiel fragen: „Kann<br />

ich bitte mit <strong>Big</strong> Mind sprechen”, bestätigen wir in dem Augenblick,<br />

in dem wir „Ja, ich bin <strong>Big</strong> Mind” sagen, wer wir sind.<br />

Wir rufen <strong>Big</strong> Mind an, bringen dadurch diesen Zustand in die<br />

Gegenwart, ins Jetzt und Hier, und verleihen ihm Stimme. Dies<br />

macht diesen Prozess so zugänglich.<br />

In die Stimme gelangen<br />

Wenn Sie lesen, dass der Facilitator Sie zum Beispiel fragt:<br />

„Könnte ich jetzt mit <strong>Big</strong> Mind sprechen?”, und er dann die<br />

Frage stellt: „Mit wem spreche ich?”, schlage ich vor, dass Sie<br />

66


Ihre physische und mentale Haltung verändern, dann das Buch<br />

beiseite legen und antworten: „Du sprichst mit <strong>Big</strong> Mind.”<br />

Sitzen Sie damit einen Moment still, seien Sie in dieser Stimme,<br />

in diesem Geist, und lassen Sie das auf sich wirken. Auf<br />

diese Weise bestätigen Sie, dass Sie <strong>Big</strong> Mind sind - oder je<br />

nachdem, welche Stimme gerade spricht - und dass Sie sich<br />

als diese Stimme identifizieren. Dies ist einer der wichtigsten<br />

Schritte in diesem Prozess.<br />

Sie sollten wissen, dass Sie dafür keine Zeit brauchen.<br />

Wenn ich mit jemandem arbeite, sage ich: „Könnte ich mit <strong>Big</strong><br />

Mind sprechen? Mit wem spreche ich?” Ich lasse dann keine<br />

Zeit. Denn wenn Sie anfangen, darüber nachzudenken: „Nun,<br />

mit wem spricht er?” oder „Wie komme ich dahin?” oder „Was<br />

bedeutet das?”, dann stecken Sie schon im dualistischen, konzeptionellen,<br />

analytischen Geist fest. Und genau der hindert<br />

Sie daran, ganz zu sein.<br />

Sie müssen sich also nicht fragen: „Wie gelange ich dorthin?”,<br />

„Wie mache ich das?”, „Was meint er?” , „Worüber<br />

spricht er?” Stattdessen antworten Sie, wenn Sie gefragt werden:<br />

„Könnte ich mit... sprechen”, ganz einfach mit: „Ja, du<br />

sprichst jetzt mit...” Verändern Sie in dem Moment Ihre physische<br />

und mentale Haltung. Sobald Sie also lesen: „Könnte<br />

ich mit... sprechen”, ändern Sie Ihre Haltung und damit Ihre<br />

Perspektive. Sie versetzen sich augenblicklich und vertrauensvoll<br />

in die Stimme, die angesprochen wurde. Und Sie sprechen<br />

jetzt, in diesem Moment, als diese Stimme.<br />

Sobald Sie die Veränderung vorgenommen haben, wird<br />

Klarheit da sein. Die Stimme wird für sich selbst sprechen, wird<br />

sich selbst, auf die Fragen des Facilitators antwortend, beschreiben.<br />

Doch Sie werden die Fragen erst dann verstehen<br />

können, wenn Sie den Haltungswechsel vollzogen haben.<br />

Vor dieser Veränderung ist es praktisch unmöglich zu<br />

verstehen. Haben Sie sich dann zu dem neuen Standpunkt hin<br />

bewegt, geht es um Selbstbetrachtung. „Oh, ich bin <strong>Big</strong> Mind.<br />

67


Ich kann keine Begrenzungen finden, keine Schranken. Ich bin<br />

so groß und unermesslich, dass ich grenzenlos bin, ewig und<br />

unendlich, ohne Grenzen, ich bin alle Dinge. Ich umfasse nicht<br />

nur alles (was immer noch leicht dualistisch wäre), ich bin alles.<br />

Ich bin der Baum, ich bin die Wolken, ich bin die Pflanzen.<br />

Ich bin die zwitschernden Vögel. Ich bin die Stimme des<br />

Fernsehers, dem meine Kinder lauschen, während sie auf den<br />

Bildschirm ihres Computers schauen und ein Buch lesen, alles<br />

gleichzeitig.”<br />

Das erfordert keine Anstrengung. Jegliches Bemühen<br />

wäre nur ein Hindernis. Sie bestätigen ganz einfach, dass Sie<br />

die Stimme sind, mit der ich Sie bitte zu sprechen - keine<br />

Anstrengung ist notwendig.<br />

Die Stimme beizubehalten, also in der jeweiligen Stimme<br />

zu bleiben, erfordert allerdings eine gewisse Anstrengung<br />

auf Seiten des Kontrolleurs, denn es ist seine Aufgabe, dem<br />

Facilitator fortwährend den Zugang zu der jeweiligen Stimme<br />

zu gewähren. Vor allem dann, wenn Sie noch unvertraut mit<br />

dem Prozess sind, wird der Kontrolleur sich vermutlich immer<br />

wieder darum bemühen müssen, andere Stimmen fernzuhalten,<br />

insbesondere die des Skeptikers und des Zweiflers. Tatsächlich<br />

ist der Kontrolleur selbst eine der aufdringlichsten und<br />

hartnäckigsten Stimmen. Wenn eine andere Stimme angerufen<br />

wird und ohne Einschränkung und Zensur sprechen darf,<br />

ist dies für den Kontrolleur Grund genug, durchzudrehen und<br />

die Kontrolle übernehmen zu wollen.<br />

Er hat das Gefühl, dass alles außer Kontrolle gerät, da<br />

nun genau das hochkommen und vorbeiziehen kann, was er<br />

all die Jahre mit so viel Mühe unter Kontrolle gehalten hat.<br />

Doch wenn wir dem Kontrolleur einen Job geben, nämlich zu<br />

kontrollieren, ist er ganz glücklich. Solange er etwas zu tun,<br />

etwas zu kontrollieren hat, ist er zufrieden. Also geben wir<br />

ihm eine Aufgabe. Wir sagen, kontrolliere jetzt all die anderen<br />

Stimmen, deine eigene - die Stimme des Kontrolleurs -<br />

68


eingeschlossen, und halte sie von der Bildfläche fern, verschaffe<br />

mir einen klaren und freien Zugang zu der Stimme,<br />

mit der ich sprechen will. Sobald der Kontrolleur etwas zu tun<br />

hat, ist er glücklich.<br />

Ich hoffe, Ihnen deutlich gemacht zu haben, dass der <strong>Big</strong>-<br />

Mind-Prozess Fertigkeiten umfasst, die erlernt, geübt und<br />

gemeistert werden können. Lassen Sie uns jetzt den <strong>Big</strong>-Mind-<br />

Prozess in der Praxis ausprobieren.<br />

WIE SIE: MIT DIESEM BUCH ARBEITEN KÖNNEN 69


4<br />

STIMMEN<br />

DES SELBST


Der Beschützer<br />

FACILITATOR: Würdest du mir bitte erlauben, mit der<br />

Stimme des Beschützers zu sprechen?<br />

BESCHÜTZER: Ich bin der Beschützer.<br />

FACILITATOR: Könntest du mir deine Tätigkeit beschreiben,<br />

welche Funktion du hast und welche Ziele du verfolgst?<br />

BESCHÜTZER: Nun ja, offensichtlich lässt mein Name schon<br />

darauf schließen, dass es meine Arbeit ist, zu beschützen. Wenn ich<br />

es genauer betrachte, so versuche ich, das Selbst zu beschützen. Dies<br />

ist meine Hauptaufgabe.<br />

FACILITATOR: Wovor beschützt du das Selbst?<br />

BESCHÜTZER: Ich muss das Selbst vor anderen schützen -<br />

vor anderen Menschen, vor Gefahren und vor lebensbedrohlichen<br />

Dingen. Ich muss seinen Körper, seine Gesundheit und sein Wohlbefinden<br />

schützen. Ich muss auch sein Selbstbild schützen: wer er<br />

ist und wie er sich selbst sieht. Ich muss sogar seine Ideen und<br />

Ansichten schützen, seinen Glauben, seine Ideologien und seine<br />

Meinungen, auch die über ihn selbst. Ich habe eine Menge zu tun.<br />

Wenn ich es genau betrachte, so kann jeder da draußen schädlich<br />

sein. Ich kann sogar sagen, dass die Menschen, die ihm am nächsten<br />

stehen, ihn potenziell am meisten verletzen können. Sie haben<br />

die besten Möglichkeiten und die Mittel dazu: einfach nur eine<br />

abweisende Geste, eine kritische Anspielung oder ihn einfach mal<br />

übersehen oder kritisieren. Ich habe alle Hände voll zu tun, meine<br />

Aufgabe ist sehr anspruchsvoll,<br />

73


und ich erledige meinen Job nicht immer so einwandfrei.<br />

Er wird von anderen immer noch ziemlich oft verletzt.<br />

Ich sehe auch, dass ich seine Familie beschützen muss,<br />

seine Kinder, seine Frau; seine Haustiere, den Hund und<br />

die Katze. Ich muss andere Leute, die ihm nahestehen, beschützen.<br />

Ich gebe auf seinen Besitz acht - ich muss sicherstellen,<br />

dass sein Auto nicht gestohlen wird und dass niemand<br />

in sein Haus einbricht. Schon allein damit, ihn und<br />

die, die ihm nahestehen, zu beschützen, bin ich voll beschäftigt.<br />

FACILITATOR: Und wie machst du das, beschützen?<br />

BESCHÜTZER: Vor allem errichte ich Mauern, Blockaden<br />

und Barrieren. Ich baue sie um das herum, was er als sich<br />

selbst oder als das Seine betrachtet. So schütze ich ihn vor<br />

der Umgebung, vor Leuten und Sachen, die anders sind als<br />

er, nicht er selbst, nicht seins. Manchmal kann dies ein sehr<br />

enger Schutzwall sein, gerade mal seinen Körper oder seine<br />

Vorstellung von sich umfassend. Doch manchmal zieht<br />

sich die Abgrenzung um das ganze Land oder um seine<br />

Religion, seine Tradition, seine Familie, Freunde, je nachdem.<br />

Ich passe diese Barrieren und Grenzen also an; und<br />

falls irgendjemand doch durchdringt, verstärke ich die<br />

Mauern und baue sie noch höher und massiver. Wenn es<br />

sein muss, füge ich meiner Festung noch ein Dach hinzu.<br />

FACILITATOR: Danke, dass du dies mit uns teilst. Gibt es<br />

neben all diesen Aufgaben, ihn, seine Familie, sein Leben,<br />

seinen Besitz, seinen Glauben und seine Ideologie zu schützen,<br />

noch etwas anderes, was du schützen musst?<br />

BESCHÜTZER: Wenn ich darüber nachdenke, so muss ich ihn<br />

auch vor sich selbst schützen. Er hat viele alte Gewohnheiten<br />

und Muster, und falls ich nicht aufpasse, gerät er durch<br />

sie in Schwierigkeiten. Ich kann nicht darauf vertrauen, dass<br />

er tut, was für ihn am besten ist. Es kommt immer wieder vor,<br />

dass er sich aufgrund seiner alten Gewohnheiten, aufgrund<br />

74


seiner Begierden und Leidenschaften idiotisch verhält.<br />

Manchmal ist er so gierig, dass er Dingen hinterherläuft, die<br />

ihm, würde ich ihn nicht davon abhalten, letztendlich<br />

Schmerz zufügen würden. Nochmals, ich bin nicht immer<br />

nur erfolgreich, doch ich bin immer da und versuche zumindest,<br />

ihn so gut wie möglich vor sich selbst zu schützen.<br />

FACILITATOR: Hast du noch andere größere Aufgaben als<br />

Beschützer?<br />

BESCHÜTZER: Ja! Ich muss auch andere vor ihm schützen.<br />

Wiederum ein Vollzeitjob, rund um die Uhr. Manchmal sind<br />

ihm andere total egal, vor allem, wenn er eifersüchtig oder<br />

verbittert ist. Auch wenn er vollkommen von sich selbst eingenommen<br />

oder voller Wut ist, kann er sich wie ein Trottel<br />

verhalten. Er wird dann unverschämt, ausfallend und beleidigend<br />

und manchmal sogar richtig gemein. Er verfällt so<br />

leicht in einen alten Trott und erzählt dann dummes Zeug.<br />

Zum Beispiel findet er es toll, witzig zu sein und andere auf<br />

den Arm zu nehmen. Doch kann sein Humor manchmal<br />

auch sehr verletzend und beleidigend sein. Ich muss also<br />

ständig auf der Hut sein. Er hat in seinem Leben schon einige<br />

Leute verletzt, die ihn angegriffen hatten, weil seine Wut die<br />

Oberhand gewann. Wenn er wütend ist oder auch, wenn er<br />

glaubt, einfach nur lustig zu sein, ist er zu allem Möglichen<br />

imstande, das andere verletzen kann. Also, andere vor ihm<br />

zu schützen ist eine meiner anspruchsvollsten Aufgaben.<br />

FACILITATOR: Wie führst du deinen Job sonst noch aus?<br />

BESCHÜTZER: Nun ja, außer dass ich Mauern oder Abgrenzungen<br />

errichte, arbeite ich auch mit ein paar anderen<br />

Aspekten des Selbst Hand in Hand, zum Beispiel mit dem<br />

Kontrolleur, der Angst, dem Skeptiker und der Wut. Um<br />

meine Arbeit als Beschützer gut verrichten zu können, bin<br />

ich auf die Hilfe dieser anderen Stimmen angewiesen. Ich<br />

habe also ein ganzes Team zur Verfügung, dessen Hilfe ich<br />

in Anspruch nehmen kann.<br />

75


Der Kontrolleur<br />

FACILITATOR: Kann ich bitte mit der Stimme der Kontrolle<br />

sprechen, dem Kontrolleur?<br />

KONTROLLEUR: Ja, du sprichst mit dem Kontrolleur.<br />

FACILITATOR: Was ist deine Aufgabe, dein Job - wie würdest<br />

du dich selbst beschreiben?<br />

KONTROLLEUR: Ich bin hier, um zu kontrollieren. Ich arbeite<br />

sehr eng mit dem Beschützer zusammen. Tatsächlich<br />

liegt der Zweck meiner Kontrolle vor allem darin zu beschützen.<br />

Ich beschütze ihn, das Selbst, vor anderen. Alles<br />

da draußen ist potenziell schädlich und gefährlich, und ich<br />

muss deshalb sehr wachsam sein und gut acht geben. Ich<br />

verlasse mich natürlich auch auf andere Stimmen, wie zum<br />

Beispiel auf die Stimme der Angst. Aber ich muss dennoch<br />

Situationen kontrollieren.<br />

FACILITATOR: Falls du könntest, was würdest du dann kontrollieren?<br />

KONTROLLEUR: Wenn es nach mir ginge, würde ich gerne<br />

alles und jeden kontrollieren. Es wäre geradezu ideal, wenn<br />

ich jedermanns Handlungen kontrollieren könnte, jedermanns<br />

Gefühle, Gedanken und Emotionen: wie sie sich ausdrücken<br />

und wie sie sich dem Selbst gegenüber verhalten.<br />

Falls ich könnte, würde ich die Umwelt kontrollieren, das<br />

Wetter, die Bewölkung und den Sonnenschein - offensichtlich<br />

würde ich gerne alles und jeden kontrollieren.<br />

FACILITATOR: Behauptet man darum, dass du ein „Kontroll-<br />

Freak” bist?<br />

KONTROLLEUR: Das könnte man wohl so sagen. Doch das<br />

ist mein Job, meine Bestimmung. Meine Arbeitsplatzbeschreibung<br />

lautet: kontrollieren.<br />

FACILITATOR: Was ist deine größte Angst?<br />

KONTROLLEUR: Nun, das ist, denke ich, offensichtlich.<br />

Meine größte Angst ist, außer Kontrolle zu geraten - die<br />

Kontrolle zu verlieren.<br />

76


FACILITATOR: Wodurch könnte das passieren?<br />

KONTROLLEUR: Sicherlich durch seine Emotionen. Ich habe<br />

früher schon mal die Kontrolle verloren: wenn jemand etwas<br />

tat, das ihn rasend machte, und da bekommt man es<br />

dann mit der Angst zu tun. Wozu er fähig ist - ich meine,<br />

andere sind vielleicht zu ähnlichen Grausamkeiten fähig!<br />

Wenn ich Kontrolle über seine Wut oder seinen Zorn verliere,<br />

könnte es gefährlich werden. Ich muss „den Deckel<br />

drauf lassen” und die Gefühle unter Kontrolle halten. Es<br />

gab eine Zeit, in der ich mich nicht so sehr bemüht habe,<br />

die Kontrolle zu behalten, und das war weder für ihn noch<br />

für andere so gut.<br />

Wut muss ich also wirklich in Schach halten. Eifersucht<br />

ist noch so ein Kandidat. Schau doch nur, wozu Menschen<br />

fähig sind, wenn Eifersucht die Oberhand gewinnt. Daher<br />

muss ich auch die Eifersucht unbedingt in Schach halten.<br />

Über lange Zeit hinweg habe ich ganz einfach nicht zugelassen,<br />

dass er eifersüchtig wird. Verboten! Ende der Diskussion!<br />

Ich nahm die Stimme der Eifersucht und verleugnete<br />

sie ganz einfach; ich hab sie so weit weg gepackt, dass<br />

er auf nichts oder niemanden mehr eifersüchtig wurde. Nun,<br />

vielleicht wurde er schon eifersüchtig, aber ich ließ es ihn<br />

nicht fühlen - aufgrund meiner Kontrolle war er sich der<br />

Eifersucht nicht bewusst.<br />

Ich muss auch kontrollieren, was er sagt. Früher war es<br />

noch schlimmer. Er konnte die lächerlichsten und empörendsten<br />

Dinge sagen, ohne vorher nachzudenken. Doch im<br />

Laufe der Zeit - vielleicht durch Übung und Meditation -<br />

bin ich besser darin geworden, ihn aufzuhalten, so dass<br />

manches erst gar nicht mehr über seine Lippen kommt. Ab<br />

und zu bin ich natürlich weniger erfolgreich, und manche<br />

Dummheiten gehen mir einfach durch.<br />

Der Lieblingsausspruch seiner Mutter war: „Ich sag, was<br />

mir in den Sinn kommt.” Ich bemühe mich darum, dass er<br />

77


in dieser Hinsicht nicht in ihre Fußstapfen tritt. Er kann sehr<br />

verletzend sein, was wiederum Auswirkungen auf ihn hat.<br />

Offensichtlich muss ich auch seine Handlungen kontrollieren.<br />

Er hat viel über Karma gelernt, und, wie Sie wissen,<br />

Handlung, Rede, sogar Gedanken können Karma kreieren.<br />

Also muss ich sie alle kontrollieren. Dieser Tage bemerke<br />

ich, dass bestimmte Gedanken, die er früher hatte, nicht<br />

mehr auftauchen - ziemlich aggressive und gemeine Gedanken.<br />

In diesem Fall erfülle ich meine Aufgabe: Ich halte ihn<br />

von einer bestimmten Ansicht oder Perspektive ab, die<br />

Dinge zu sehen.<br />

Früher hat er mir meine Eingriffe wirklich übel genommen.<br />

Als er 1971 mit der Zen-Meditation begann, betrachtete<br />

er mich als Hindernis und wollte mich loswerden. Eigentlich<br />

gelang ihm dies ziemlich gut, und ehrlich gesagt<br />

verlor er ohne mich manchmal ganz schön die Kontrolle.<br />

Tatsache ist: Je mehr ich verdrängt werde, desto mehr<br />

ist das Selbst außer Kontrolle, und meiner Ansicht nach ist<br />

das nicht gesund. Ich denke, dass ich ein sehr, sehr wichtiger<br />

Aspekt von ihm bin. Falls er mir erlaubt, meine Arbeit<br />

zu tun - und das heißt, zu kontrollieren -, kann ich vielleicht<br />

lernen, es etwas besser zu machen und klüger zu handeln.<br />

Falls er mich meine Funktion des Kontrollierens so wahrnehmen<br />

lässt, wie es sein sollte, wird ihn das meines Erachtens<br />

nach glücklicher und ausgeglichener machen, und die<br />

Leute um ihn herum genauso. Wenn er jedoch versucht,<br />

mich auszulöschen - ich meine, er hat das schon mal getan,<br />

er hat versucht, mich loszuwerden, mich zu zerstören, sogar<br />

meine bloße Existenz zu leugnen -, ja, dann kann er<br />

wirklich außer Kontrolle geraten.<br />

FACILITATOR: Was brachte ihn dazu, dich als Hindernis zu<br />

sehen?<br />

KONTROLLEUR: Aus seiner Sichte hatte er seine ersten spirituellen<br />

Erfahrungen 1971 der Tatsache zu verdanken,<br />

78


dass ich irgendwie nicht so präsent war. Als er da in der<br />

Wüste saß, fiel ich, aus welchem Grund auch immer, aus,<br />

und er konnte diese tief greifenden Erfahrungen machen.<br />

Daraufhin empfand er mich als Hindernis in seiner Meditation.<br />

Irgendwie hatte er diese Idee aufgeschnappt - ich<br />

weiß nicht, ob es von seiner Therapie kam (er befasste sich<br />

seit Mitte der sechziger Jahre mit Gestalttherapie und anderen<br />

Dingen). Inzwischen hat er gelernt, dass ich für seine<br />

Meditation sehr hilfreich sein kann, weil ich die Situation<br />

zu kontrollieren vermag, so dass er Zugang zu einem sehr<br />

ruhigen, stillen Geist hat. Doch zu Anfang schien er zu glauben,<br />

mich erst irgendwie loswerden zu müssen, um dorthin<br />

zu gelangen, wo er hinwollte. Daher die Idee, mich für immer<br />

und alle Zeit auslöschen zu wollen - und das ist nicht<br />

sehr klug.<br />

FACILITATOR: Schätzt dich das Selbst?<br />

KONTROLLEUR: Jetzt, ja. Er weiß, dass er mich benötigt und<br />

dass ich für ihn eine wichtige Aufgabe erfülle.<br />

FACILITATOR: Kontrolleur, ich möchte dich um einen Gefallen<br />

bitten. Ich nehme an, dass mir deine Unterstützung<br />

sicherlich helfen wird, mit anderen Stimmen zu sprechen.<br />

Wenn ich also mit anderen Stimmen spreche, könntest du<br />

mir dann einen freien Zugang zu jeder von ihnen geben und<br />

das tun, was du am besten kannst - kontrollieren? Ich bitte<br />

dich, alle Stimmen, mit denen ich nicht spreche - dich selbst<br />

eingeschlossen -, still und fern ab zu halten. Als Facilitator<br />

benötige ich deine Mithilfe und deinen Beistand, so dass<br />

jede Stimme klar und deutlich und ohne große Unterbrechungen<br />

durchkommt.<br />

Falls du etwas sagen oder in die Diskussion einsteigen<br />

willst, möchte ich dich bitten, einfach nur die Stimme, die<br />

das Bedürfnis hat, zu sprechen, kenntlich zu machen - sei<br />

es du selbst oder eine andere Stimme. Manchmal kann das<br />

die Stimme der Angst sein oder die des Skeptikers oder<br />

79


sogar die des Widerstands: eine Stimme, die sich bedroht<br />

fühlt oder das Bedürfnis verspürt, sich zu Wort zu melden.<br />

Falls das so ist, bitte lass es mich ganz einfach wissen, und<br />

ich werde dein Bedürfnis oder das der anderen anerkennen.<br />

Ich nehme an, dass es nutzlos wäre, ohne deine Hilfe fortzufahren.<br />

Stimmt das?<br />

KONTROLLEUR: Ja. Das ist offensichtlich wahr. Falls ich dich<br />

nicht mit einer Stimme sprechen lassen will, wird es dir auch<br />

nicht gelingen. Ich kann dich vollkommen blockieren.<br />

FACILITATOR: Gut. Kann ich nun bitte mit der Stimme des<br />

Skeptikers sprechen?<br />

KONTROLLEUR: Ja, das ist in Ordnung.<br />

Der Skeptiker<br />

FACILITATOR: Mit wem spreche ich?<br />

SKEPTIKER: Ich bin der Skeptiker. Warum willst du mit mir<br />

sprechen? Was steckt dahinter?<br />

FACILITATOR: Ich möchte ganz einfach etwas mehr über<br />

deine Rolle und dein Aufgabenfeld erfahren.<br />

SKEPTIKER: Ich bin mir nicht sicher, warum du das wissen<br />

willst, doch grundsätzlich ist es meine Aufgabe, skeptisch zu<br />

sein. Ehrlich gesagt, ist das Selbst - er - wirklich naiv und<br />

töricht. Ohne mich würde er auf eine Schwindelei nach der<br />

anderen hereinfallen. Wahrscheinlich würde er sich irgendeinem<br />

Kult anschließen. Ohne mich wäre der Kerl jetzt<br />

bestimmt schon total pleite oder, noch schlimmer, vielleicht<br />

sogar tot. Er ist zu leichtgläubig, total vermessen und hat<br />

gar kein Unterscheidungsvermögen. Er ist auch nicht besonders<br />

gerissen, und intelligent ist er auch nicht. Ich kann eine<br />

Betrügerei auf Kilometer Entfernung riechen. Ich bin wahrscheinlich<br />

der Intelligenteste und sicherlich der Gerissenste<br />

aus dem ganzen Aufgebot an Stimmen. Und, oh ja, ich<br />

bin sehr wichtig für ihn.<br />

80


FACILITATOR: Was macht dich denn jetzt in diesem Augenblick<br />

skeptisch?<br />

SKEPTIKER: Zunächst einmal: du. Ich vertraue dir nicht. Ich<br />

bin mir nicht sicher, worauf du hinauswillst. Ich kann nicht<br />

glauben, dass das, was du uns erzählst, wahr ist. Ich bezweifle<br />

auch seine Fähigkeit, irgendwas davon zu kapieren. Auch<br />

über sein Vermögen, erleuchtet zu sein, habe ich so meine<br />

Zweifel - und falls er Erleuchtung erlangt hätte, wäre ich<br />

wirklich skeptisch, ob das irgendeine Bedeutung für sein<br />

Leben hat - oder, wenn wir schon dabei sind - dass es sich<br />

auf ihn oder andere positiv auswirkt.<br />

Ich bin sehr skeptisch gegenüber diesem ganzen Getue<br />

um nicht-dualistische Erfahrung und dass das so schnell gehen<br />

soll. Ich glaube, dass jegliche echte Erleuchtungserfahrung<br />

viel harte Arbeit bedeutet und man dafür jahrelang<br />

ernsthaft üben und in sich gehen muss. Ich habe also<br />

kein Vertrauen in diese Methode, und auch nicht in den<br />

Prozess, nicht in dich, nicht in ihn. Ich denke, du müsstest<br />

mir das schon beweisen, damit ich weniger skeptisch bin als<br />

zu diesem Zeitpunkt.<br />

Ich bin auch wirklich skeptisch, dass er die Fähigkeit besitzt, irgendetwas<br />

von dem hier zu erfahren. Es scheint so jenseits aller Vorstellung<br />

und allen Verstehens zu sein. Ich meine, was ist mit all den<br />

verschiedenen Wirklichkeiten? Damit, eine Erfahrung des Erwachens<br />

zu schaffen? Ich bezweifle, dass es seinem Leben oder ihm auch nur<br />

irgendetwas bringt - von anderen sprechen wir erst gar nicht. Ich meine,<br />

er ist so ichbezogen. Ich bezweifle, dass er jemals echtes Mitgefühl<br />

haben könnte. Er ist so total nur auf sich selbst konzentriert: Es dreht<br />

sich alles nur um „mich mich mich mich”. Ich bin sehr skeptisch,<br />

dass er jemals diese angeblich selbstlose, altruistische Person ohne<br />

Ego sein wird, die er, so denke ich, gerne wäre. Das Erste, an das er<br />

morgens beim Aufwachen denkt, ist an sich selbst, und das<br />

81


Letzte, an das er vor dem Schlafengehen denkt, ist an sich<br />

selbst. So ziemlich den ganzen Tag hindurch dreht es sich<br />

nur um ihn.<br />

Ich zweifle an seiner Fähigkeit, sich zu wandeln. Er versucht<br />

seit Jahrzehnten, sich zu verändern, aber ehrlich gesagt,<br />

sehe ich nicht viel Verbesserung. Ich bin mir sicher,<br />

dass seine Kinder - seine Tochter sitzt gerade neben ihm<br />

am Strand -, dass sie mit mir übereinstimmt. Seine Frau bestimmt<br />

auch.<br />

Als Skeptiker bezweifle ich sogar meine Fähigkeit,<br />

vollkommen skeptisch zu sein. Ehrlich gesagt habe ich so<br />

meine Bedenken, dass er irgendwie herausragend sein<br />

könnte - noch nicht einmal als großer Skeptiker. Er ist ganz<br />

einfach ein so normaler, alltäglicher Mensch, wie könnte er<br />

irgendetwas Großartiges vollbringen? Also sogar meine Fähigkeit,<br />

echt skeptisch zu sein, ist fraglich - ich bin da skeptisch.<br />

FACILITATOR: Nun, ich schätze sehr, dass du so ehrlich und<br />

geradeheraus mit mir bist. Dafür vielen Dank. Würdest du<br />

jetzt so freundlich sein und mich fortfahren lassen, so dass<br />

ich mit einer anderen Stimme sprechen kann - außer du<br />

willst uns noch mehr mitteilen?<br />

SKEPTIKER: Nun, ich bin skeptisch, aber ich habe momentan<br />

nichts weiter zu sagen. Doch ich möchte mir die Möglichkeit<br />

bewahren, mich einzuschalten, falls ich es für notwendig<br />

halte.<br />

FACILITATOR: Natürlich, das wäre in Ordnung. Lass mich<br />

bloß wissen, wann immer du etwas sagen willst.<br />

SKEPTIKER: Damit bin ich zufrieden, mehr oder weniger. Ich<br />

bin immer noch skeptisch, ob das Ganze irgendeine Bedeutung<br />

hat oder für irgendwas gut sein soll, aber bitte schön -<br />

versuche es!<br />

82


Die Angst<br />

FACILITATOR: In Ordnung. Könnte ich nun bitte mit der<br />

Stimme der Angst sprechen?<br />

ANGST: Ja, du sprichst mit der Stimme der Angst.<br />

FACILITATOR: Was ist deine Aufgabe?<br />

ANGST: Ist das nicht offensichtlich? Es ist meine Aufgabe,<br />

mich zu fürchten - und es gibt so vieles, vor dem man Angst<br />

haben muss. Dinge entziehen sich ständig meiner Kontrolle<br />

und verändern sich unaufhörlich. Ich kann nichts finden,<br />

auf das ich mich letztendlich stützen oder verlassen könnte.<br />

So viel „da draußen” bereitet mir Angst. So wie ich es<br />

sehe, kann alles und jeder ihm jeden Augenblick wehtun.<br />

Er ist so verletzlich, und ich bin mir seiner Verletzlichkeit<br />

bewusst. Ich bin mir bewusst, wie wertvoll und zerbrechlich<br />

das Leben ist. In einem einzigen Augenblick kann es vorbei<br />

sein. Ich bin mir auch bewusst, dass wir auf dieser Murmel,<br />

genannt Planet Erde, herumfliegen und ihr jeden Augenblick<br />

etwas zustoßen könnte. Ich meine, niemand sitzt<br />

am Steuer und niemand fährt oder lenkt dieses Teil. Es fliegt<br />

ganz einfach da draußen im Weltall herum. Jeden Moment<br />

könnte etwas mit der Erde zusammenkrachen, was hunderten<br />

von Nuklearexplosionen entspräche. Ich bin wie gelähmt<br />

vor Angst.<br />

Wenn ich wirklich darüber nachdenke, wie verängstigt<br />

ich bin, muss ich zugeben, dass ich mich eigentlich rund um<br />

die Uhr fürchte. Und ich habe natürlich guten Grund dazu.<br />

Zuerst einmal ist er ziemlich unverantwortlich. Er liebt es,<br />

mit seinem Auto schneller zu fahren, als die Geschwindigkeitsbegrenzung<br />

vorgibt. Er fährt für sein Leben gerne mit<br />

seinem Motorrad und geht dabei Risiken ein. Er spielt gerne<br />

mit der Gefahr, und ich muss ihn ständig warnen, dass er<br />

sich auf gefährlichem Terrain bewegt. Er könnte alles, was<br />

ihm nahesteht, verlieren. Er könnte viele geliebte Menschen<br />

83


verlieren, sein eigenes Leben und seinen Besitz. Ich meine,<br />

vor ein paar Tagen erst hat er seine sehr teuere Brille<br />

verloren. Gerade eben, als er versucht hat, etwas auf seinem<br />

Computer zu speichern, hat er es verloren - die Arbeit<br />

eines ganzen Morgens gelöscht.<br />

Ich muss sehr wachsam und ständig auf der Hut sein.<br />

Würde ich ihm nicht beistehen, er würde die dümmsten Dinge<br />

tun, die man sich nur vorstellen kann. Ich denke, dass er<br />

sogar aus einem Flugzeug springen würde, und ohne mich<br />

wahrscheinlich noch ohne Fallschirm. Verrückt!<br />

FACILITATOR: Was hält er von dir? Wie sieht er dich?<br />

ANGST: Ah, er hasst mich. Falls er könnte, würde er mich gern<br />

ganz loswerden. Er würde mich auslöschen und völlig zerstören.<br />

Solange ich mich erinnern kann, sitzt er mir im<br />

Nacken. Er hat das Gefühl, dass ich ihn davon abhalte, wirklich<br />

Spaß zu haben und Risiken einzugehen. Ich bin der<br />

Grund seiner Verspannungen und seiner andauernden Beunruhigung.<br />

Er glaubt vielleicht sogar, dass ich hinter dem<br />

Krebs stecke, den er vor ein paar Jahren hatte - weil ich ihm<br />

zu viel Stress bereite. In Wahrheit mache ich das nur, weil<br />

er mir nicht zuhört.<br />

Würde er ganz einfach nur auf mich hören, müsste ich<br />

ihm keinen Stress und keine ständigen Sorgen verursachen.<br />

Würde er mir etwas Beachtung schenken und mir etwas<br />

mehr zuhören, könnte ich mich entspannen. Aber so wie es<br />

momentan aussieht, bin ich in ständiger Angst davor, dass<br />

er nicht auf mich hört. Aus meiner Sicht geht er ständig ein<br />

Risiko ein. Er ist die Art von Idiot, die aus zehn Metern<br />

Höhe in ein Schwimmbecken springt - und vorher noch<br />

nicht mal schaut, ob auch Wasser drin ist. Er hat sein Leben<br />

lang so gehandelt. Es ist doch kein Wunder, dass ich ihm<br />

nicht vertraue.<br />

Wenn er mich nicht hätte, wäre er jetzt bestimmt schon<br />

tot. Dessen bin ich mir sicher. Keine Chance, dass er ohne<br />

84


mich so lange überlebt hätte. Ich war immer für ihn da. Na<br />

ja, manchmal vielleicht mehr, als er das je wollte, doch ohne<br />

mich ist er total unerschrocken und furchtlos, und es wäre<br />

vollkommen idiotisch, ja, ausgesprochen dumm von mir,<br />

nicht mehr auf ihn aufzupassen.<br />

Eine meiner größten Ängste - neben der Angst, dass er<br />

seine Identität, seine Ansichten, seine Ideen und Meinungen<br />

verliert - ist, dass er sein Selbst verliert. Er hat sein<br />

ganzes Leben daran gearbeitet, sein Ich aufzubauen - sein<br />

sogenanntes Selbst - und es macht mir Angst, es zu verlieren;<br />

vor allem, weil er, oder wir, so viel darin investiert<br />

haben. Stell dir nur mal vor, mehr als sechzig Jahre. Also,<br />

natürlich entsteht da viel Angst, mit all dem Gerede darüber,<br />

das Selbst zu verlieren und das Ich zu vergessen.<br />

Ehrlich gesagt, fühle ich mich bei einigen der psychologischen<br />

Lehren, die besagen, dass wir erst ein Selbst haben<br />

und aufbauen müssen, viel sicherer. Ich befürchte, dass<br />

er nicht bereit dazu ist, es zu verlieren, geschweige denn es<br />

zu töten. Töten macht mir wirklich Angst - es scheint so gewalttätig,<br />

so brutal - allein schon die Idee, es loszulassen!<br />

Wo wäre er denn ohne sein Ich oder Selbst. Wer würde dann<br />

beurteilen, wer würde richtig und falsch unterscheiden können?<br />

Und wer würde angebrachtes Verhalten von unangebrachtem,<br />

angemessene Sprache von unangemessener unterscheiden?<br />

Ohne sein Selbst wäre er, ich weiß nicht -<br />

wahrscheinlich dysfunktional. Also, da gibt's viel, wovor ich<br />

Angst haben kann.<br />

Als Angst habe ich wirklich Angst vor allem, was mit<br />

Verlust zu tun hat. Ich habe Angst, er könnte seine Kinder<br />

und seine Frau verlieren, ihm nahestehende Menschen,<br />

seine Beziehungen, sein Leben. Ich fürchte mich vor jeder<br />

Art von Verlust, sogar vor dem Verlust seines Blackberry.<br />

Es gibt so viel, vor dem man Angst haben kann, und wie<br />

leicht verliert man nicht etwas. Auch Veränderungen gehen<br />

85


mit einem Verlust des Gekannten, mit einem Verlust von<br />

Stabilität und Sicherheit einher, die bestimmte Dinge dem<br />

Selbst geben. Ich denke, dass vieles, was mich ausmacht, mit<br />

der Angst vor Verlust zu tun hat.<br />

Jetzt habe ich Angst davor, was du mich als Nächstes<br />

fragen wirst. Schon was wir hier bis jetzt besprochen haben,<br />

ist Angst einflößend. Ich habe jetzt bereits das Gefühl, dass<br />

mir das alles entgleitet. Ich bin mir auch gar nicht mehr so<br />

sicher, wer ich eigentlich bin. Sage ich das Richtige, gebe<br />

ich korrekte Antworten oder bin ich zu dumm, diesen<br />

Prozess wirklich zu verstehen und alles richtig zu machen?<br />

Ich bin mir unsicher und in mir kommt momentan ganz einfach<br />

viel Angst auf.<br />

FACILITATOR: Würdest du mir erlauben, mit einer anderen<br />

Stimme zu sprechen?<br />

ANGST: Ich ängstige mich, aber naja. Welche Stimme?<br />

Wut<br />

FACILITATOR: Würdest du mir bitte erlauben, mit der Stimme<br />

der Wut zu sprechen?<br />

WUT: Wut hier! Was willst du?<br />

FACILITATOR: Ich wollte nur von dir hören, etwas über dich<br />

erfahren, vielleicht was dein Aufgabenfeld ist, deine Rolle<br />

und wie du dich selbst siehst.<br />

WUT: Wozu, zum Teufel? Dass du mich fragst, macht mich<br />

schon wütend. Wozu willst du mit mir sprechen? Ich weiß,<br />

dass er mich nicht sehr schätzt. Doch sicherlich gebe ich ihm<br />

Energie, so sehe ich das. Es gibt so viel, worüber man wütend<br />

sein kann. Ich sage dir, zuallererst bin ich ständig auf<br />

ihn wütend. Er fällt immer wieder in alte Muster zurück.<br />

Verstehst du, der Kerl ist jetzt zweiundsechzig, da würde<br />

man doch meinen, dass er es mittlerweile besser wissen<br />

müsste. Man würde denken, dass er die Situation besser im<br />

86


Griff hätte. Es macht mich rasend, dass er immer wieder in<br />

seine tief verwurzelten Verhaltensmuster zurückfällt. Er<br />

lässt es zu, dass Leute ihn ausnutzen, und dies schon seit<br />

langem. Als er jung war, hatte er vielleicht nicht wirklich<br />

eine Wahl - aber er fällt noch heute in seine alten, eingefahrenen<br />

Muster zurück, und es nervt mich, wenn er sich<br />

wie ein Weichei verhält.<br />

Ich ärgere mich auch über andere. Wirklich, Leute sind<br />

so mit sich selbst beschäftigt, so egozentrisch. Sie zeigen keine<br />

Empfindsamkeit und scheinen auch überhaupt kein Einfühlungsvermögen<br />

für seine Situation oder die von irgendjemand<br />

anderem zu haben. Schau dir die Welt doch mal an -<br />

ein fürchterlicher Zustand. Die Menschen sind nicht fähig,<br />

miteinander auszukommen. Alle handeln so unbewusst -<br />

ohne jegliche Weisheit oder jedes Mitgefühl. Wenn ich mir<br />

die Welt da draußen so betrachte, so scheint es, dass jeder<br />

ganz einfach völlig egozentrisch und auf sich bezogen ist und<br />

eigentlich niemand zu einer wahren Wandlung bereit ist.<br />

FACILITATOR: Wie dienst und nützt du ihm?<br />

WUT: Grundsätzlich gebe ich ihm viel Energie. Über die Jahre<br />

hinweg hat er gelernt, nicht mehr auf all den Mist hereinzufallen.<br />

Manchmal versteht er es sogar, mich auf eine<br />

sehr kluge Art einzusetzen. So schafft er es, Illusionen zu<br />

zerstreuen oder jemanden wach zu rütteln. Es ist wahr, dass<br />

ich in jungen Jahren ganz einfach auf vieles wütend war.<br />

Jetzt scheint er mich etwas klüger einzusetzen. Ich ärgere<br />

mich über verschiedene Dinge: die Unwissenheit und<br />

Ignoranz der Leute, ihre Verblendung oder aus meiner Sicht<br />

auch ihre Dummheit. Ich ärgere mich über ihre Ichbezogenheit.<br />

Sogar, wenn ich sehe, dass Leute wirklich feststecken<br />

und nicht bereit sind, zuzuhören, bin ich alarmiert. Menschen<br />

scheinen sich so leicht in ihrem Verständnis oder ihrer<br />

Sichtweise zu verfangen, und das macht mich aufmerksam<br />

und wütend.<br />

87


Das Beschädigte Selbst<br />

FACILITATOR: Ich würde jetzt gerne mit einer anderen Stimme<br />

sprechen. Kann ich bitte mit dem Beschädigten Selbst<br />

sprechen?<br />

BESCHÄDIGTES SELBST: Ich bin das Beschädigte Selbst.<br />

FACILITATOR: Was ist deine Aufgabe?<br />

BESCHÄDIGTES SELBST: Ich bin beschädigt. Ich weiß nicht,<br />

ob ich sagen kann, eine wirklich nützliche Aufgabe zu haben.<br />

Ich bin ganz einfach nur beschädigt. Viel Schlechtes ist<br />

im Lauf der Jahre passiert, und ich bin es, der all den Schaden<br />

auf sich nimmt. Ich bin gebrochen, vielleicht sogar zugrunde<br />

gerichtet - sicherlich aber beschädigt.<br />

FACILITATOR: Wann hat all das begonnen?<br />

BESCHÄDIGTES SELBST: Lange bevor ich mich erinnern<br />

kann. Wahrscheinlich im Mutterleib, vielleicht sogar davor<br />

- ich weiß es nicht. Doch solange ich mich erinnern kann,<br />

wurde mir Schaden zugefügt. Das Leben hat mich beschädigt.<br />

Ich kann mich auch nicht an alles erinnern - ich wurde<br />

bei meiner Geburt geschädigt. Seine Mutter lag zweiundsiebzig<br />

Stunden in den Wehen. Scheinbar konnte er sich<br />

nicht entscheiden, ob er raus oder drin bleiben wollte. Es<br />

hat sie fast das Leben gekostet. Und all das hat mich beschädigt.<br />

Ich scheine derjenige zu sein, der als Zielscheibe bereit<br />

steht, egal aus welcher Richtung der Schuss kommt. Ich weiß<br />

nicht, ob ich dies absichtlich tue. Ich glaube nicht. Ich denke,<br />

dass es ganz einfach nur mein Job ist. Es ist, was ich tue.<br />

Ich denke nicht, dass ich dafür irgendein Verdienst in Anspruch<br />

nehmen kann. Aber ich bin immer derjenige, der die<br />

Kugel abfängt. Es scheint immer mich zu treffen. Ich kann<br />

tausende Kilometer von dem Schaden entfernt sein, und<br />

doch erreicht er mich - sogar via Zeitung oder Fernsehen<br />

oder am Telefon.<br />

88


Immer bin ich es, der getroffen wird; und wenn ich nun<br />

so darüber nachdenke, scheint niemand anders je Schaden<br />

zugefügt zu werden. Immer nur mir! Der Rest seiner Stimmen<br />

kommt anscheinend ungeschoren davon. Man könnte<br />

vermutlich sagen, ich sei ein Märtyrer - doch das bin ich<br />

nicht. Aber es trifft immer mich. Alle anderen scheinen<br />

unversehrt zu bleiben.<br />

FACILITATOR: Nun ja, falls du nicht all den Schaden auf dich<br />

nehmen würdest, würden sie doch wohl beschädigt werden.<br />

BESCHÄDIGTES SELBST: Ja, ich denke du hast Recht. Das<br />

ist wohl das Gute daran. Tatsächlich erleiden andere Stimmen<br />

keinen Schaden, weil ich da bin. Sie sind alle noch<br />

genauso rein und perfekt wie am ersten Tag. Das ist eine<br />

Art Trost. Ich glaube, so kann man es auch sehen. Ich glaube,<br />

dass ich doch einen Zweck erfülle - und dadurch fühle<br />

ich mich etwas besser - angesichts all der Schmerzen, die<br />

ich erlitten habe. Das ist eigentlich recht schön: festzustellen,<br />

dass ich einen Zweck erfülle. Ich bin also letztendlich<br />

doch nicht so schlecht. Weil ich da bin, kann das Selbst den<br />

Schmerz anderer beschädigter Selbste fühlen. Und da ich<br />

das Beschädigte Selbst bin, ist und bleibt das Selbst unbeschädigt.<br />

Das Selbst ist perfekt, vollkommen und ganz,<br />

wegen mir.<br />

Weißt du, wo mich der Kerl aufbewahrt? Im Verlies, also<br />

im Untergeschoss. Er sperrt mich im Keller ein. Er ist nicht<br />

wirklich glücklich mit mir, und ehrlich gesagt finde ich, dass<br />

er seine Einstellung ändern muss. Er betrachtet mich als<br />

verwundet - und als beschädigte Ware. Er versucht mich,<br />

vor jedermann zu verstecken. Er scheint sich einzig an mir<br />

zu erfreuen, wenn die Stimme des Opfers anderen meine<br />

Geschichte erzählt - und das fügt mir noch mehr Schaden<br />

zu. Das Opfer scheint allen Verdienst einzustreichen. Es<br />

benutzt meine Beschädigung, macht eine große Geschichte<br />

daraus und sorgt dann dafür, dass er jedem leid tut.<br />

89


FACILITATOR: Sag mir, wirst du als das Beschädigte Selbst<br />

je gut versorgt sein, wird dein Schaden jemals behoben sein?<br />

BESCHÄDIGTES SELBST: Nun ... nein. Wäre mein Schaden behoben,<br />

wäre ich nicht mehr das Beschädigte Selbst. Und es ist mein<br />

Job, das Beschädigte Selbst zu sein; ich werde nie wieder hergestellt<br />

sein, und das ist Ordnung.<br />

FACILITATOR: Falls es dir nichts ausmacht, Beschädigtes<br />

Selbst, würde ich jetzt gerne mit einer anderen Stimme sprechen.<br />

BESCHÄDIGTES SELBST: Jetzt, wo ich gerade in Fahrt gekommen<br />

bin, und da lässt du mich fallen. Nun fühle ich mich von<br />

dir beschädigt. Tatsächlich hat er wahrscheinlich mehr Schaden<br />

als irgendjemand anders da draußen verursacht - er, das<br />

Selbst, <strong>Genpo</strong> - hat mir wahrscheinlich mehr als irgendjemand<br />

anders Schaden zugefügt.<br />

Das Opfer<br />

FACILITATOR: Nun, das tut mir leid. Doch ich würde gerne<br />

fortfahren. Würdest du mich bitte mit dem Opfer sprechen<br />

lassen?<br />

OPFER: Was möchtest du denn von mir wissen?<br />

FACILITATOR: Wer bist du, was bist du? Was ist deine Rolle,<br />

deine Aufgabe? Wie würdest du deine Tätigkeit beschreiben?<br />

OPFER: Ich will sagen, dass man mich sehr oft verletzt hat -<br />

aber nachdem ich gehört habe, was das Beschädigte Selbst<br />

zu sagen hatte, verstehe ich, dass nicht ich es bin, das beschädigt<br />

wurde. Ich denke, dass ich dem Selbst diene, indem<br />

ich Anteilname wecke. Ich erzähle seine Geschichte.<br />

Ich lasse jeden wissen, dass ihm Schaden zugefügt wird, dass<br />

ihm Schaden zugefügt wurde und dass ihm weiterhin Schaden<br />

zugefügt werden wird. In Wahrheit wird er immer beschädigt<br />

werden. Die Welt ist verletzend, und er, das Selbst,<br />

90


leidet ständig, und darum ist kein Ende in Sicht. Ich denke,<br />

dass - ich weiß nicht, ob ich nun er oder wir sagen soll -<br />

also dass wir, als wir aufgewachsen sind, viel durchgemacht<br />

haben. Ich bin als Opfer zuständig für die Geschichten, und<br />

ich erzähle sie jedem, der zuhört.<br />

Ich kann wirklich nachempfinden, was andere Opfer<br />

mitmachen. Mein Einfühlungsvermögen erstreckt sich insbesondere<br />

auf Kinder, die zu Opfern gemacht wurden, und<br />

auch auf brutal behandelte Frauen und Männern. Es ist<br />

wirklich beidseitig. Ich denke, dass Frauen genauso zu Missbrauch<br />

imstande sind wie Männer. Natürlich fühle ich mich<br />

als Opfer.<br />

FACILITATOR: Nun, siehst du denn nicht, dass keine Macht<br />

dahinter steckt, Opfer zu sein?<br />

OPFER: Macht?! Das ist mir egal. Ich bin nicht an Macht interessiert.<br />

Mir geht es darum, die Wahrheit zu sagen, meine<br />

Geschichte zu verbreiten und etwas Anteilnahme zu bekommen.<br />

Es ist so hart und schwierig, dieses ganze Leben.<br />

Ich erzähle meine Geschichte; vielleicht schmücke ich sie<br />

manchmal ein bisschen aus. Ich mache Vorwürfe, ich fordere<br />

Gerechtigkeit, und ich sorge sogar dafür, dass sich<br />

andere schuldig fühlen, falls mir das hilft, Aufmerksamkeit<br />

und Mitgefühl auf mich zu ziehen. Aber ich bin nicht auf<br />

Macht aus, das ist nicht meine Art.<br />

Ich sehe, dass er immer wieder verraten und betrogen<br />

wurde. Seien es seine Eltern, frühere Beziehungen, Leute,<br />

für die er oder die für ihn gearbeitet haben, oder sogar seine<br />

Studentinnen und Studenten - immer wieder lassen sie<br />

ihn hängen oder machen alles so kompliziert. Er gibt sich<br />

wirklich die größte Mühe, ein anständiger Mensch zu sein,<br />

und ständig wird er hin- und hergeschubst. Da draußen laufen<br />

viele Trottel rum, mit allerlei Meinungen und vielen<br />

Ideen, und ehrlich gesagt, sind einige davon ziemlich bescheuert.<br />

91


Wahrheitsgemäß bin ich nicht das Beschädigte Selbst, aber<br />

manchmal ist es verwirrend - vielleicht, weil ich mit dem Beschädigten<br />

Selbst eine so intime Beziehung habe -, denn jeder Schaden<br />

scheint mich mehr und mehr zum Opfer zu machen. Also ich denke,<br />

je mehr das Beschädigte Selbst beschädigt wird, desto mehr fühle ich<br />

mich als Opfer. Ich fühle mich als Opfer, und mehr kann ich darüber<br />

auch nicht sagen.<br />

Das Verletzliche und Unschuldige Kind<br />

FACILITATOR: Kontrolleur, kann ich jetzt bitte mit dem<br />

Verletzlichen und Unschuldigen Kind sprechen?<br />

VERLETZLICHES UND UNSCHULDIGES KIND: Ja. FACI-<br />

LITATOR: Also mit wem spreche ich? VERLETZLICHES<br />

UND UNSCHULDIGES KIND: Du sprichst<br />

mit dem Verletzlichen und Unschuldigen Kind. FACILI-<br />

TATOR: Warum kennt man dich als das Verletzliche<br />

und Unschuldige Kind?<br />

VERLETZLICHES UND UNSCHULDIGES KIND: Weil ich so<br />

vollkommen verletzlich und unschuldig bin. Ich habe keine Wände<br />

oder Schutzmauern um mich, keine Blockaden. Ich füge dem, was<br />

ich sehe, nichts hinzu. Alles macht mich neugierig.<br />

Ich sehe die Welt mit total neuen Augen und einem frischen Blick.<br />

Wenn ich in die Welt schaue, so ist es, als sähe ich sie zum ersten<br />

Mal. Alles erscheint mir magisch. Ich bin ungeschützt, und doch ist<br />

alles einfach perfekt, so wie es ist. Ich bin die Stimme, die vor dem<br />

Bedürfnis nach Schutz besteht und vor irgendwelchen Mauern.<br />

Das Selbst hatte mich über viele Jahre hinweg vergraben. 1983<br />

hat er sich bei mir gemeldet, als er mit Hai und Sidra Stone arbeitete,<br />

doch es hat nochmals zwanzig Jahre gedauert, bevor er mich wirklich<br />

rausließ. Ich habe ihm<br />

92


Spaß, Kreativität, Spontaneität, Vergnügen und Freude gebracht.<br />

Ich vertraue vollkommen, ich bin unschuldig, offen und<br />

frei, und die Welt erscheint mir wundersam. Ich fühle mich<br />

mit mir selbst im Frieden und total zuhause. Ich habe keine<br />

Einschränkungen und keine Grenzen. Hier zu sein ist<br />

aufregend, voller Kreativität und Spiel. Für mich ist alles<br />

unglaublich.<br />

Der Dualistische Geist<br />

FACILITATOR: Kontrolleur, darf ich jetzt mit einer anderen<br />

Stimme sprechen? Bitte lass mich mit dem Dualistischen<br />

Geist sprechen.<br />

DUALISTISCHER GEIST: Ich bin der Dualistische Geist. Ich<br />

sehe die Dinge dualistisch, im Sinne von gut und schlecht,<br />

Selbst und andere, ich und du. Ich sehe alles in Gegensatz-<br />

Paaren. Darum nennt man mich dualistisch. Ich kann analysieren,<br />

ich kann urteilen, abwägen, unterscheiden. Ich bin<br />

imstande, schöpferisch zu sein. Ich bin der Geist, der Brücken<br />

und Gebäude baut, Flugzeuge, Raketen. Ich bin der<br />

große Architekt, der große Analytiker, der große Erfinder.<br />

Ich bin in dieser Welt unabkömmlich, und ich bin dem Selbst<br />

sehr nahe, wenn nicht sogar mit ihm identisch.<br />

Das Selbst und ich sind im Grunde genommen nicht zu<br />

unterscheiden. Ich glaube, dass es in der Tat ohne mich kein<br />

Selbst gäbe. Ohne mich gäbe es keine Moral, keine Ethik;<br />

kein Recht im Vergleich zu Unrecht, kein Gut im Vergleich<br />

zu Schlecht. Ohne mich wäre er nicht imstande, solche in<br />

dieser Welt so lebensnotwendigen Unterscheidungen zu<br />

treffen.<br />

Ich bin für ihn von entscheidender Bedeutung. Ohne<br />

mich würde er noch nicht einmal wissen, wo er aufhört und<br />

jemand anders beginnt. Alle Grenzlinien wären weg - und<br />

93


wo wäre diese Welt, ohne ihre Grenzen, ohne Einschränkungen?<br />

Ich bin es, der seine Grenzen und die der anderen<br />

erkennen kann.<br />

Verlangen<br />

FACILITATOR: Lass mich jetzt bitte mit der Stimme des Verlangens<br />

sprechen.<br />

VERLANGEN: Ich bin die Stimme des Verlangens, und ich<br />

verlange, ich wünsche, ich möchte. Ich möchte Dinge, die<br />

ihm Vergnügen bringen, Befriedigung, Freude, Glücksgefühle.<br />

Ich will immer noch mehr. Das ist mein Job, das ist<br />

meine Rolle. Ohne mich würde er heute wahrscheinlich<br />

noch nicht einmal existieren. Die Menschheit, so wie wir sie<br />

kennen, würde ohne mich nicht bestehen. Ich bin es, der sich<br />

aufwärmen will, wenn es kalt wird, der sich abkühlen will,<br />

wenn es warm ist, der essen will, wenn er Hunger hat, und<br />

schlafen will, wenn er müde ist. Ich bin wahrlich absolut unentbehrlich.<br />

Wirklich zu Unrecht habe ich einen schlechten Ruf, vor<br />

allem bei den Religionen. Die sehen mich immer nur als unkontrollierbar<br />

und unaufhörlich nach mehr, größer und<br />

besser verlangend. In manchen Traditionen, so auch in der<br />

buddhistischen, behauptet man, ich sei die Ursache allen<br />

Leidens. Doch Tatsache ist, dass er ohne mich kein Leben<br />

hätte. Es gäbe kein Selbst. Also ich fühle mich wirklich zu<br />

Unrecht angeklagt.<br />

Es ist wahr, ich bin niemals zufrieden, ich bin unersättlich,<br />

aber das ist mein Job: immer noch mehr wollen, besser,<br />

größer. Wo wäre denn dieser Planet, diese Menschheit<br />

ohne mich? Ich bin es, der danach verlangt, auf den Mond<br />

zu fliegen. Ich bin es, der von einem zum anderen Ort will,<br />

immer noch schneller und sicherer. Ich bin es, der alles, was<br />

wir in dieser modernen Welt kennen, ermöglicht.<br />

94


FACILITATOR: Was hält das Selbst von dir?<br />

VERLANGEN: Das Selbst und ich gehen Hand in Hand. Die<br />

meiste Zeit schätzt mich das Selbst, weil ich ihn wissen lasse,<br />

was er will. Manchmal findet er aber auch, dass ich ihm<br />

mit meiner Unersättlichkeit Probleme bereite. Jedes Mal<br />

wenn er eine neue Harley Davidson erblickt, will ich sie<br />

haben. Jedes Mal, wenn er ein Haus mit einer besseren<br />

Aussicht sieht oder eins, das näher am Wasser liegt oder<br />

irgendwie wünschenswerter ist, dann will ich es. Dann leidet<br />

er darunter, weil er es sich nicht leisten kann oder weil<br />

es für sein Leben nicht wirklich wesentlich ist. Also manchmal<br />

schätzt er mich, und manchmal gehe ich ihm auf die<br />

Nerven.<br />

Jedoch hätte er ohne mich kein Verlangen danach, sich<br />

zu bessern, Fortschritt und Klarheit in sein Leben zu bringen,<br />

das Leben mehr zu schätzen. Ich bin es, der immerfort<br />

danach verlangt, dass er über sich selbst und über seine<br />

scheinbaren Grenzen hinausgeht. Ich bin es, der ihn dahin<br />

gebracht hat, wo er heute steht - weil ich niemals zufrieden<br />

bin und fortwährend mehr Klarheit schaffen will und auch<br />

immerzu anderen helfen will. Ich wünsche so sehr, das<br />

Bewusstwerden und Erwachen dieses ganzen Planeten zu<br />

erleben und dass die Menschen sich nicht gegenseitig umbringen<br />

und sich kein Leid zufügen. Ich bin mit Kriegen,<br />

Armut und Hunger nicht zufrieden und begnüge mich nicht<br />

mit all dem Elend, das so viel Unheil und Leiden für alle<br />

Wesen schafft. Ich bin derjenige, der will, dass er diesen<br />

Planeten rettet. Ich bin unbedingt und absolut notwendig.<br />

Der Suchende, Strebende Geist<br />

FACILITATOR: Kann ich jetzt bitte mit dem Suchenden, Strebenden<br />

Geist sprechen?<br />

95


SUCHENDER, STREBENDER GEIST: Suchender, Strebender<br />

Geist hier.<br />

FACILITATOR: Nun, was ist deine Rolle?<br />

SUCHENDER, STREBENDER GEIST: Im Grunde genommen<br />

suche und strebe ich nach dem, was das Verlangen verlangt.<br />

Falls er etwas wünscht und verlangt, so bemühe ich mich<br />

darum. Falls kein Schokoladeneis im Kühlschrank ist, so<br />

gehe ich zum Supermarkt und hole es für ihn - auch wenn<br />

es beinahe Mitternacht ist. Ich strebe nach so allerlei: mehr<br />

Vergnügen, mehr Zufriedenheit. Ich strebe nach mehr Einfühlungsvermögen,<br />

mehr Mitgefühl und mehr Verständnis.<br />

Verglichen mit schlichtem Verlangen könnte man mich als<br />

eine höhere Form des Bewusstseins sehen. Verlangen ist unersättlich<br />

und möchte ganz einfach alles, alles was ihm Vergnügen<br />

und Freude bereitet. Ich strebe das auch an; aber<br />

ich strebe auch nach Dingen, die, so denke ich, für diesen<br />

Planeten und für die Menschheit von essenzieller Bedeutung<br />

sind.<br />

Verlangen verlangt einfach nur, aber es hat keine Antriebskraft.<br />

Ich bin die Handlung, ich bin es, der rausgeht<br />

und es holt. Verlangen will einfach nur. Ich mache mich auf<br />

den Weg und finde, was er will.<br />

Das Problem ist, dass auch ich niemals mit dem, was ich<br />

finde, zufrieden bin. Ich strebe und suche einfach nach<br />

mehr. Noch bevor er das Schokoladeneis aufgegessen hat,<br />

halte ich schon Ausschau, nach etwas anderem, etwas zu<br />

trinken oder Schlaf, was auch immer.<br />

Der Geist, der nach Dem Weg strebt<br />

FACILITATOR: Darf ich jetzt bitte mit dem Geist sprechen,<br />

der nach Dem Weg strebt?<br />

NACH DEM WEG STREBEN: Ich bin der Geist, der nach Dem<br />

Weg strebt.<br />

96


FACILITATOR: Was bedeutet das?<br />

NACH DEM WEG STREBEN: Es bedeutet, dass ich nach Dem<br />

Weg strebe - dem Weg im großen Sinne. Man könnte auch<br />

sagen, dass ich auf der Suche nach Wahrheit, Verständnis<br />

und Erleuchtung bin. Ich suche Frieden, Glückseligkeit,<br />

Erfüllung, unkonditionierte Zufriedenheit und Freude. Ich<br />

strebe nach den höheren Wahrheiten des Lebens. Ich strebe<br />

nicht einfach nur irgendwas an; ich strebe nach den höchsten<br />

Zielen der Menschheit: Selbstverwirklichung, Erleuchtung,<br />

umfassende Erleuchtung.<br />

FACILITATOR: Bist du jemals zufrieden?<br />

NACH DEM WEG STREBEN: Nein! Längs des Weges kommt<br />

immer noch ein höherer Berg, der erklommen werden will;<br />

immer tiefere Tiefen, die danach rufen, ergründet zu werden;<br />

immer mehr Klarheit, die es zu erstreben gilt. Der Weg<br />

ist unerschöpflich, und ich strebe nach dem, was unerschöpflich,<br />

sogar unerreichbar, ist. Ich strebe danach, obwohl ich<br />

weiß, dass es unerreichbar ist. Ich werde nie damit aufhören,<br />

nach Dem Weg zu streben.<br />

Ich gebe seinem Leben eine Richtung. Ich gebe seinem<br />

Leben Sinn und Zweck. Ohne mich würde er wahrscheinlich<br />

ständig nur auf Wohlergehen für sich selbst und vielleicht<br />

noch für seine Familie aus sein. Doch ich ermögliche<br />

es ihm, bis in alle Ewigkeit nach der höchsten Wahrheit zu<br />

streben, die der Menschheit nur möglich ist zu erkennen.<br />

Ich verhindere auch, dass er bei seinen Funden hängen<br />

bleibt. Denn wenn er etwas findet, will er es sich gemütlich<br />

machen und das, was er gefunden hat, genießen. Man<br />

könnte es mit dem Besteigen eines Berges vergleichen.<br />

Noch bevor er am Gipfel ankäme, würde er zufrieden bei<br />

einer schönen Aussicht rasten. Er könnte ebenso dort bleiben,<br />

doch ich treibe ihn weiter. Ohne mich würde er seine<br />

Reise nicht fortsetzen. Für seinen Aufstieg zum Gipfel der<br />

höchsten Wahrheit bin ich von essenzieller Bedeutung.<br />

97


FACILITATOR: Gibt es Momente, in denen er dich als störend<br />

oder problematisch empfindet?<br />

NACH DEM WEG STREBEN: Ja, aber nur wenn er bleiben will,<br />

wo er ist. Wenn er einfach nur die Früchte seiner Arbeit<br />

genießen will, gebe ich ihm einen kleinen Stoß. Ich erinnere<br />

ihn, dass es noch mehr zu erreichen gibt und dass weitere,<br />

höhere Ziele warten. Wenn er sich ausruhen will, auf der<br />

faulen Haut liegen oder nur so rumhängen will, dann bewege<br />

ich ihn zum Sitzen, zum Meditieren, und sorge dafür,<br />

dass er weiterhin Fortschritte macht.<br />

FACILITATOR: Schätzt er das im Großen und Ganzen?<br />

NACH DEM WEG STREBEN: Insgesamt, ja. Denn bevor ich in<br />

Erscheinung trat - mit anderen Worten, bevor ich erwacht<br />

war, also nicht vor seinem sechsundzwanzigsten Lebensjahr<br />

- war sein Leben im Grunde genommen ohne Sinn und<br />

Zweck. Sein Leben war allein auf Sicherheit und Ruhm ausgerichtet.<br />

Er suchte nach Reichtum, und er wollte als Sportler<br />

berühmt werden. Als ich erwachte oder als er sich meiner<br />

Gegenwart bewusst wurde, nahm sein Leben eine Wende<br />

um hundertachtzig Grad. Seit diesem Zeitpunkt bin ich ein<br />

wichtiger Teil seines Lebens - wahrscheinlich der wichtigste<br />

unter all den Stimmen, mit denen du bis jetzt gesprochen hast.<br />

FACILITATOR: Wo warst du vor seinem sechsundzwanzigsten<br />

Lebensjahr?<br />

NACH DEM WEG STREBEN: Ich war wahrscheinlich verborgen,<br />

schlummernd. Er war sich meiner nicht bewusst. Ich<br />

denke, dass ich einzig im Strebenden Geist zum Vorschein<br />

kam: danach strebend, zu gewinnen, an den Olympischen<br />

Spielen teilzunehmen, einer der besten zehn Amerikaner<br />

zu sein, ein Top-Athlet. Er strebte, strebte, strebte, aber<br />

nicht nach der Wahrheit, nicht nach Erleuchtung, weil ich<br />

nicht gegenwärtig war. Der Zeitpunkt, an dem er sein erstes<br />

Erwachen erlebte, war auch der Zeitpunkt, an dem ich<br />

in sein Leben trat.<br />

98


FACILITATOR: Hätte er die Erfahrung dieses ersten Erwachens haben<br />

können, wenn du nicht da gewesen wärest?<br />

NACH DEM WEG STREBEN: Das weiß ich nicht so genau, weil ich<br />

nicht da war. Ich wurde in dem Moment geboren, in dem er diese Erfahrung<br />

des Erwachens auf dem Berg in der Wüste hatte. Ich bin der<br />

Geist, der nach Dem Weg strebt, und davor strebte er nicht wirklich<br />

nach dem Weg, zumindest war er sich dessen nicht bewusst. Falls ich<br />

also doch da war, dann ziemlich versteckt.<br />

Dem Weg folgen<br />

FACILITATOR: Darf ich mit der Stimme sprechen, die Dem<br />

Weg folgt.<br />

DEM WEG FOLGEN: Ja, du sprichst mit der Stimme, die Dem<br />

Weg folgt.<br />

FACILITATOR: Könntest du mir verraten, was deine Rolle<br />

und deine Aufgabe ist, denn ich verstehe sie nicht so ganz.<br />

DEM WEG FOLGEN: Ich unterscheide mich von dem Geist,<br />

der strebt und sucht, und dem, der nach Dem Weg strebt. Meine<br />

Aufgabe ist es, Dem Weg zu folgen. Dem Weg kann ich nur folgen,<br />

wenn ich ihn sehe oder zumindest einen flüchtigen Blick auf ihn werfen<br />

und die Richtung erkennen konnte, die er nimmt. Und tatsächlich<br />

überlasse ich mich Dem Weg, so dass ich ihm folgen kann.<br />

Würde ich dem Selbst erlauben, seinen eigenen Weg zu gehen, würde<br />

er mich querbeet ziellos umherführen. Aber als die Stimme, die<br />

Dem Weg folgt, habe ich eine sehr deutliche und erkennbare Richtung,<br />

einen Pfad, eine Spur, die ich verfolge. Eigentlich ist es egal,<br />

ob ich nur ein paar Fußspuren erkenne oder den ganzen Weg vor mir<br />

sehe - solange ich eine Ahnung habe, wohin der Weg geht, kann ich<br />

ihm auch folgen.<br />

99


Ich bin eine sehr wichtige Stimme. Dank meiner Anwesenheit<br />

kann er vieles loslassen, wie zum Beispiel seinen eigenen<br />

Willen, seine Meinungen und gewohnheitsmäßigen<br />

Neigungen und Überzeugungen, die auf Dem Weg ein Hindernis<br />

darstellen könnten.<br />

FACILITATOR: Wie hast du dich entschieden, welchem Weg<br />

du folgst?<br />

DEM WEG FOLGEN: Erst war ich mir nicht so im Klaren, welchem<br />

Weg ich folgen wollte. Sogar nach seiner Erfahrung<br />

in der Wüste 1971 erkundete er noch verschiedene Wege<br />

und Richtungen. Er lebte und praktizierte am Zen-Zentrum<br />

von Los Angeles. Er fuhr manchmal nach Ojai, um<br />

Krishnamurti sprechen zu hören. Er ging zu Swami<br />

Satchidananda, um Yoga zu studieren. Er las auch die Bücher<br />

vieler christlicher Mystiker wie zum Beispiel Thomas<br />

Merton, Psychologen wie Abraham Maslow, Erich Fromm,<br />

Carl Gustav Jung, die Autobiografie von Yogananda. Ich<br />

hätte mich für jeden dieser Wege entscheiden können.<br />

Es gibt viele Wege. Ich will nicht sagen, dass sie alle an<br />

denselben Ort führen, doch etliche Wege helfen uns dabei,<br />

ein besserer Mensch zu werden: liebevoller, verständnisvoller,<br />

mit mehr Mitgefühl und Einfühlungsvermögen. Natürlich<br />

ist der Weg nicht Eigentum des Buddhismus oder irgendeiner<br />

anderen Religion oder Tradition. Es muss noch<br />

nicht einmal unbedingt ein spiritueller Weg sein. Offensichtlich<br />

hat jeder sein eigenes Karma. Man sieht nicht, was dieses<br />

Karma ist, bis man im Nachhinein zurückblickt. Er landete<br />

letztendlich auf dem Zen-Weg, das war offensichtlich<br />

sein Karma. Doch das bedeutet nicht, dass jeder Buddhist<br />

werden oder Zen üben muss. Manche gehen ihren Weg<br />

durch Therapie, andere durch Schulung des Bewusstseins,<br />

manche Leute durch Yoga, andere durch Sport; manche, indem<br />

sie in die Kirche gehen oder durch ihre Religion oder<br />

Spiritualität, welche diese auch immer sei.<br />

100


Ich denke, dass es auf all diesen Pfaden möglich ist, zu<br />

einem liebevolleren und mitfühlenderen Menschen zu werden.<br />

Alle großen religiösen Traditionen lehren dies. Es geht<br />

darum, die Lehren in die Praxis umzusetzen. Dies ist ein<br />

wichtiger Teil dessen, was „Folgen des Weges” beinhaltet,<br />

wie auch immer die Lehren sein mögen, also zu einem anständigen,<br />

liebevollen Menschen zu werden.<br />

STIMM I N DI. S S I L,BST 1 0 1


5<br />

NICHT-<br />

DUALISTISCHE<br />

UND<br />

TRANSZENDENTE<br />

STIMMEN<br />

103


Der Weg<br />

FACILITATOR:Könnte ich jetzt mit Dem Weg sprechen? (Ich<br />

empfehle Ihnen, Ihre Haltung so zu ändern, dass Sie aufrecht<br />

sitzen.)<br />

DER WEG: Ich bin Der Weg.<br />

FACILITATOR: Was bedeutet das? Wie fühlt es sich an, Der<br />

Weg zu sein? (Ich rate Ihnen, dass Sie erst einmal einen<br />

Moment still sitzen, nachdem Sie sich selbst als „Ich bin Der<br />

Weg” bestätigt haben.)<br />

DER WEG: Als Der Weg fühle ich mich, als sei ich angekommen.<br />

Ich bin, wonach er sein ganzes Leben lang gesucht hat,<br />

auch wenn er sich dessen vielleicht selbst nicht bewusst war.<br />

Es gibt nichts zu tun, nirgendwo hinzugehen, nichts zu erstreben,<br />

nichts zu verlangen. Ich bin einfach nur vollständig<br />

hier, gegenwärtig und erwacht. Ich bin Gegenwärtigkeit.<br />

Ich bin Der Weg, die Wahrheit und das Licht. Ich. Ich bin!<br />

Ich weiß, es klingt etwas arrogant, aber es ist kein Selbst<br />

oder Ich darin involviert.<br />

Ich bin Der Weg - ich bin, was vor der Geburt oder dem<br />

Ursprung des Selbst war. Ich bin der Urgrund und die Quelle.<br />

Ich habe keine Grenzen und absolut keine Beschränkungen.<br />

Ich übersteige sowohl Raum als auch Zeit. Ich bin die Sonne,<br />

der Mond, der blaue Himmel, die weißen Wolken, die Palmen,<br />

die Blumen, die Vögel. Es gibt nichts, was ich nicht<br />

bin. Es gibt keine Trennungen und keine Unterscheidung.<br />

Ich bin einfach nur reine Liebe, vorbehaltloses, unkonditioniertes<br />

Sein. Ich bin Sein an sich - nicht Werden.<br />

109


Es gibt keinen Weg hin zu mir, außer einfach nur, ich<br />

zu sein. Bei mir gibt es kein Ankommen, denn es geht nicht<br />

um Kommen oder Gehen. Ich bin ungeboren und unsterblich.<br />

Ich bin farblos, und doch erscheine ich als jede Farbe.<br />

Ich bin formlos, und doch ist jede Form nichts anderes als<br />

ich.<br />

Menschen streben nach mir, aber eben jenes Streben<br />

verhindert, dass sie ich sind oder mich entdecken - denn sie<br />

sind schon immer ich gewesen. Sogar das Streben selbst bin<br />

ich. Ich trete als alles in Erscheinung, Suchen und Streben<br />

eingeschlossen. Jedoch kann man mich nicht finden, wenn<br />

man mich sucht und im Modus des Suchens ist, denn ich bin<br />

nicht-suchend, nicht-strebend. Nicht-Strebender Geist ist in<br />

der Tat ein anderer Name für mich, da ich kein Verlangen<br />

und keine Wünsche habe und es nichts gibt, wonach ich<br />

suche. Man versucht, mich gedanklich zu begreifen oder<br />

durch konzeptuelles Denken zu erfassen - aber ich bin unerreichbar<br />

und ungreifbar, weil ich der Nicht-Denkende<br />

Geist bin, der über Denken und Nicht-Denken hinausgeht.<br />

Ich bin der Geist reiner Meditation, des „einfach nur Sitzens”.<br />

Es gibt nichts, das ich nicht bin, und doch kann man<br />

mich nicht finden, wenn man nach mir sucht. Ich bin Der<br />

Weg.<br />

<strong>Big</strong> Mind<br />

FACILITATOR: Ich würde dir gerne einen anderen Namen geben.<br />

Eigentlich ist es immer noch du, Der Weg. Doch indem<br />

ich dir einen anderen Namen gebe, betrachten wir dich aus<br />

einer anderen Perspektive - wie verschiedene Variationen über<br />

ein Thema. Darf ich jetzt bitte mit <strong>Big</strong> Mind sprechen?<br />

BIG MIND: Ich bin <strong>Big</strong> Mind.<br />

FACILITATOR: Als <strong>Big</strong> Mind, was nimmst du da wahr, wes<br />

sen bist du dir bewusst? Wie groß bist du?<br />

106


BIG MIND: Ich bin endlos, ich bin ewig, ich bin unendlich. Es<br />

gibt nichts, was über mich hinausgeht oder außerhalb von<br />

mir liegt. Es gibt nichts, was ich nicht bin. Ich bin Der Weg -<br />

ich bin mir nur deutlicher bewusst, wie ewig und endlos ich<br />

bin: ohne Anfang und ohne Ende, völlig ohne Grenzen,<br />

völlig ohne Einschränkungen.<br />

Ich sehe die Dinge ganz einfach so, wie sie sind. Ich<br />

richte nicht, ich bewerte nicht, ich verurteile nicht. Alles ist<br />

in seiner Erscheinungsform vollkommen perfekt und vollendet.<br />

Es gibt kein Richtig oder Falsch, es gibt kein Gut oder<br />

Schlecht, es gibt kein Selbst und keine anderen, es gibt kein<br />

Erleuchtet oder Verblendet. Alles ist absolut, was es ist:<br />

perfekt und vollständig.<br />

Ich habe keine Angst, weil es nichts gibt, was von mir<br />

getrennt wäre und mich verletzen könnte - nichts kann mich<br />

schädigen und nichts mich beeinträchtigen. Falls es einen<br />

Atomkrieg gäbe, würde mich das nicht berühren. Ich bin der<br />

Krieg selbst, ich bin die atomaren Explosionen, ich bin die<br />

sterbenden Menschen, ich bin die Überlebenden. Ich bin<br />

diejenigen, die getroffen und zu Opfern werden, und ich bin<br />

diejenigen, die die Bomben abwerfen.<br />

Es gibt nichts und niemand, das ich nicht bin. Ich bin<br />

der Beste der Besten, und ich bin auch das Böseste allen<br />

Bösens. Ich bin sowohl ein Heiliger als auch eine Sünderin.<br />

Nichts ist von mir getrennt oder von mir abgesondert, nichts<br />

ist nicht ich. Jetzt gerade bin ich die Vögel im Baum, wie<br />

sie zwitschern und mit den Flügeln schlagen. Ich bin die<br />

Kokosnüsse, die in der Palme hängen. Ich bin die Palme.<br />

Ich bin der Raum um die Palme herum, und ich bin das<br />

Innere der Palme - die Maserung, die Zellen, die einzelnen<br />

Atome.<br />

Ich kenne keinen Anfang und kein Ende, keine Geburt<br />

und daher auch keinen Tod. Ich bin ungeboren und daher<br />

auch unsterblich. Ich bin der ungeborene Geist. Ich bin der<br />

107


eine Geist. Ich habe weder Vorlieben noch Abneigungen.<br />

Ich gebe keiner Spezies den Vorzug: Ich mag Menschen<br />

nicht lieber als Vögel und Säugetiere nicht lieber als Insekten.<br />

Für mich ist alles einfach nur ein Ausdruck, eine Erscheinung<br />

und eine Erweiterung meiner selbst. Es ist alles<br />

ich.<br />

FACILITATOR: Wie ist deine Beziehung zum Selbst?<br />

BIG MIND: Das Selbst ist begrenzt. Das, was wir normalerweise<br />

als Geist bezeichnen, hat Grenzen, hat Beschränkungen:<br />

Er wird durch seine Identifikation mit dem, was wir das<br />

Selbst oder Ich nennen, begrenzt. Das Selbst ist ein Begriff,<br />

ein Konzept, eine Idee. Aus meiner Sicht ist das Selbst einfach<br />

eine Erscheinungsform von mir, allerdings eine begrenzte.<br />

Doch ich urteile nicht über das Selbst. Es ist vollkommen<br />

perfekt, so wie es ist.<br />

FACILITATOR: Kann das Selbst, der „kleine Geist”, dich begreifen,<br />

kann er dich erfassen?<br />

BIG MIND: Nein, der kleine Geist kann mich nicht verstehen,<br />

nicht begreifen, noch nicht einmal kennen. Damit ich da<br />

sein kann, muss die Blase, die der kleine Geist bildet, platzen.<br />

Mit anderen Worten: Wenn der kleine Geist da ist, bin<br />

ich nicht offenbar. Obwohl ich immer da bin, allgegenwärtig<br />

bin, kann mich das Selbst nicht sehen, weil es sich selbst<br />

und seine Fähigkeit, mich zu erkennen, begrenzt hat. Es<br />

kann mich nicht erfassen.<br />

Das Selbst ist eine Illusion. Es ist eine Erscheinungsform<br />

von mir, die mich und das Wunder genannt Leben würdigen<br />

kann. Jedoch ist es von Natur aus sich selbst völlig verhaftet<br />

und nur auf Selbsterhaltung aus. Es ist so, als würden<br />

wir eine Blase um ein Luftloch bilden, und dieses Luftloch<br />

begreift sich dann als solide und wirklich vorhanden. Doch<br />

für mich bleibt es nur eine Luftblase: Sie ist leer. Für das<br />

Selbst ist es nur schwer mit der eigenen sogenannten Existenz<br />

zu vereinbaren, sich in diesem Licht (als Leere) zu<br />

108


etrachten. Aus meiner Sicht ist das Ganze ein bisschen<br />

albern. Mich durch die Augen meiner Schöpfungen zu sehen<br />

ist jedoch die einzige Möglichkeit, um mich selbst, <strong>Big</strong><br />

Mind, wirklich schätzen und würdigen zu können.<br />

In gewisser Weise bedeute ich den Tod des Selbst: Ich<br />

bin das Ende des begrenzten, eingeengten Selbst. Wenn die<br />

Blase platzt, bin nur ich. Ich bin wie der Ozean, wie das<br />

Meer. Das Selbst hat Angst davor zu platzen - mit anderen<br />

Worten zu sterben. Aber es muss sich vor nichts fürchten,<br />

denn wenn das Selbst körperlich stirbt oder wenn das Ich<br />

stirbt, dann bin ich da in meiner Allgegenwärtigkeit. Ich bin<br />

ungeboren und unsterblich. Ich bin immer hier. Selbst wenn<br />

die ganze Welt explodieren würde, werde ich noch sein. ICH<br />

BIN.<br />

FACILITATOR: Hast du als <strong>Big</strong> Mind jemals Angst, oder gibt<br />

es etwas, wovor du dich fürchtest?<br />

BIG MIND: Ich habe absolut keine Angst. Es gibt nichts außerhalb<br />

von mir, also auch nichts zu fürchten.<br />

<strong>Big</strong> Heart<br />

FACILITATOR: Kann ich jetzt bitte mit <strong>Big</strong> Heart sprechen?<br />

BIG HEART: Du sprichst mit <strong>Big</strong> Heart.<br />

FACILITATOR: In welcher Hinsicht gleichst du beziehungsweise<br />

unterscheidest du dich von <strong>Big</strong> Mind?<br />

BIG HEART: Ich bin genauso umfassend, genauso grenzenlos,<br />

genauso ewig. Ich bin genauso unermesslich wie <strong>Big</strong><br />

Mind. Jedoch fühle ich. Ich sorge mich. Ich bin das Herz.<br />

Im Gegensatz zu <strong>Big</strong> Mind liebe ich und sorge mich um alle<br />

Wesen.<br />

<strong>Big</strong> Mind ist einfach nur gewahr und eher gleichgültig.<br />

Für <strong>Big</strong> Mind ist alles absolut vollkommen, genau so wie es<br />

ist. Ich hingegen unterscheide. Wenn ich Leiden sehe, will<br />

ich es beenden. Wenn ich Schmerz sehe, will ich diesen<br />

109


Schmerz lindern. Wenn ich Ungerechtigkeit sehe, will ich<br />

Gerechtigkeit herstellen. Wenn ich Verbrechen, Mord und<br />

Gewalt sehe, will ich etwas daran ändern.<br />

Ich bin Handlung und Tat. <strong>Big</strong> Mind ist Nicht-Tun. <strong>Big</strong><br />

Mind ist einfach nur. Ich handle, und meine Absicht ist es,<br />

das Leiden aller Wesen dieser Welt zu lindern. In Indien<br />

habe ich den Namen Avalokitesvara Bodhisattva, die Chinesen<br />

nennen mich Kwan Yin, die Tibeter Chenrezig. Auf<br />

Japanisch bin ich Kanzeon oder Kannon. Andere Kulturen<br />

und spirituelle Traditionen haben mir andere Namen gegeben.<br />

Ich manifestiere mich in dieser Welt in genau der Form,<br />

die gerade gebraucht wird, um Leiden zu lindern und allen<br />

Wesen vorbehaltlose Liebe zu bringen.<br />

Yin oder Weibliches Mitgefühl<br />

FACILITATOR: Darf ich jetzt bitte mit deinem Yin-Aspekt<br />

sprechen, also deiner weiblichen Seite?<br />

WEIBLICHES MITGEFÜHL: Ich bin das weibliche Mitgefühl.<br />

Ich möchte Geborgenheit und Halt geben, liebevoll umarmen.<br />

Ich kann mit anderen mitfühlen und ich fühle ihren<br />

Schmerz als meinen eigenen. Ich kann zwischen mir und<br />

anderen unterscheiden, und doch ist ihr Schmerz mein<br />

Schmerz.<br />

In <strong>Big</strong> Mind gibt es keine Unterscheidungen, welcher<br />

Art auch immer. Ich identifiziere mich mit allen Wesen und<br />

sehe auch die Notwendigkeit, allen Wesen im Dienste des<br />

Erwachens behilflich zu sein. Ich bin die große Mutter. Ich<br />

bin die große Heilerin. Nach mir und nach meinem Mitgefühl<br />

hat das Beschädigte Selbst gesucht, weil ich es trösten,<br />

halten und umarmen kann. Ich bin diejenige, die das kann.<br />

Es ist vollkommen natürlich für mich, das Selbst und alle<br />

Selbste, ganz einfach vorbehaltlos zu lieben, um ihrer selbst<br />

und ihrer Leiden wegen. So bin ich.<br />

110


Yang oder Männliches Mitgefühl<br />

FACILITATOR: Könnte ich jetzt bitte mit Yang oder Männlichem<br />

Mitgefühl sprechen?<br />

MÄNNLICHES MITGEFÜHL: Ich bin Yang, das männliche<br />

Mitgefühl. Ich bin es, der sieht, was getan werden muss, und<br />

ich handle. Falls notwendig, setze ich Grenzen. Falls er faul<br />

oder unbedacht ist, so kann ich ihm auch mal einen Tritt in<br />

den Allerwertesten geben. Ich zeige ihm die Richtung und<br />

treibe ihn auf dem rechten Weg an. Ich ermutige ihn und<br />

werde sogar seine Verblendungen, seine Illusionen, sein<br />

Unwissen und seine Dummheit zerschlagen, falls das sein<br />

muss. Ich bin schonungsloses Mitgefühl. In meiner Liebe<br />

kann ich hart sein. Ich handle mit Bestimmtheit. Wenn ich<br />

trenne, trenne ich sauber und entschieden. Ich bin ein Chirurg.<br />

Ich bin Inspirator und Motivator.<br />

Yin/Yang-Mitgefühl (Integriertes Weibliches/ Männliches<br />

Mitgefühl)<br />

FACILITATOR: Könnte ich jetzt bitte mit dem Integrierten<br />

Weiblichen/Männlichen Mitgefühl sprechen?<br />

YIN/YANG MITGEFÜHL: Ich bin Integriertes Weibliches/<br />

Männliches Mitgefühl oder <strong>Big</strong> Heart. Es stehen mir sowohl<br />

Yin als auch Yang zur Verfügung. Situationen ändern sich<br />

ständig, und in jeder gegebenen Situation verwende ich das<br />

entsprechend Erforderliche.<br />

Ich bin immer mitfühlend: manchmal auf eine sehr sanfte,<br />

weibliche Art, sorgend und unterstützend und manchmal<br />

auf sehr männliche Weise, schonungslos und bestimmt.<br />

Um meine Arbeit zu tun, habe ich immer das erforderliche<br />

Werkzeug zur Hand. Ich bin vollkommen integriert. Ich bin<br />

Integriertes Weibliches/Männliches Mitgefühl. Ein anderer<br />

Name für mich ist <strong>Big</strong> Heart.<br />

111


Aus meiner Sicht ist <strong>Big</strong> Mind Weisheit, eine nicht-diskriminierende,<br />

nicht-unterscheidende Weisheit, und ich als<br />

<strong>Big</strong> Heart bin Mitgefühl. Weisheit ohne mich ist keine<br />

wahre Weisheit. Mit anderen Worten, wenn Weisheit ohne<br />

Mitgefühl wirkt, ist es nicht wahre Weisheit. Wenn meine<br />

Yang- oder männliche Seite handelt, so mag das nicht sehr<br />

mitfühlend erscheinen. Es kann sogar erbarmungslos wirken.<br />

Ich kann hart sein, und doch handle ich aus Liebe.<br />

Ohne mich, ohne integriertes Mitgefühl, gibt es also keine<br />

echte Weisheit, und umgekehrt: Ohne <strong>Big</strong> Mind gibt es kein<br />

wahres Mitgefühl. Ohne die Weisheit von <strong>Big</strong> Mind wäre<br />

es kein wirkliches Mitgefühl. So sind wir also vollkommen<br />

eins und doch zwei verschiedene Aspekte des Einen.<br />

Wenn man das Yin/Yang Symbol betrachtet, so ist Yang <strong>Big</strong><br />

Mind und ich bin Yin, <strong>Big</strong> Heart oder Integriertes Yin/Yang<br />

Mitgefühl. Doch ich enthalte auch Weisheit - das ist der<br />

weiße Punkt - und in <strong>Big</strong> Mind ist ebenso Mitgefühl. Dies<br />

bedeutet: Weisheit enthält Mitgefühl und Mitgefühl enthält<br />

Weisheit, sie fließen ineinander. Dieses „Ständig-im-Fluß-<br />

Sein” ist durch die geschwungene Grenze dargestellt.<br />

<strong>Big</strong> Mind und <strong>Big</strong> Heart sind eins, und doch sind wir<br />

zwei Aspekte. Im Chinesischen und Japanischen werden wir<br />

tatsächlich mit nur einem Wort ausgedrückt. Im Japanischen<br />

ist dies shin (Herz-Geist). Doch in der westlichen Welt (und<br />

112


im Englischen beziehungsweise im Deutschen) ist eine<br />

Unterscheidung insofern hilfreich, als sie verdeutlicht, dass<br />

ich, Integriertes Mitgefühl oder <strong>Big</strong> Heart, der Yin-Aspekt<br />

des Yin/Yang Symbols bin, und <strong>Big</strong> Mind den Yang-Aspekt<br />

darstellt.<br />

Weil ich Weisheit enthalte, kann ich als integrierte Weisheit<br />

und integriertes Mitgefühl sprechen. Dies bedeutet,<br />

dass ich aus meiner großen Weisheit heraus, welche die<br />

Perfektion und Vollkommenheit aller Dinge sieht, die Notwendigkeit<br />

zu handeln wahrnehmen kann. Bei Ungerechtigkeit<br />

oder Leiden, das es zu lindern gilt, bin ich imstande,<br />

einzugreifen.<br />

Der Meister<br />

FACILITATOR: Ich würde jetzt gerne mit dem Meister sprechen.<br />

MEISTER: Ich bin der Meister.<br />

FACILITATOR: Also, erzähle mir von dir.<br />

MEISTER: Ich trage die Verantwortung. Ich bin der Firmenchef,<br />

der Kapitän des Schiffs, der Dirigent, der Grundstücksbesitzer.<br />

Ich bin der Boss. Ich bin der Meister. Ich bin<br />

für dieses ganze Schiff, das gesamte Unternehmen, verantwortlich.<br />

All die verschiedenen Stimmen arbeiten für mich<br />

(sie sind wie meine Angestellten), mit Ausnahme von <strong>Big</strong><br />

Mind und <strong>Big</strong> Heart, die tatsächlich mir Richtung geben und<br />

mir den Weg weisen. In der Tat bin ich <strong>Big</strong> Mind, <strong>Big</strong> Heart:<br />

Ich bin deren Erscheinungsform. Wenn <strong>Big</strong> Mind handelt,<br />

so immer mit Mitgefühl. Ich bin dieses Handeln.<br />

Ich trage für alles die Verantwortung. Wenn sich eine<br />

Stimme über ihre Aufgabe und ihren Zweck nicht im Klaren<br />

ist, ist es an mir, ihr zu dieser Klarheit zu verhelfen. Falls<br />

sie faul ist, ist es mein Job, sie zu motivieren. Falls sie sich<br />

überarbeitet, bin ich dafür verantwortlich, dass sie es etwas<br />

109


langsamer angehen lässt, sich genügend erholt, gut ernährt<br />

und sich auf die richtige Art fit hält. Als Kapitän des Schiffs<br />

trage ich also die volle Verantwortung.<br />

Auch der Kontrolleur und der Beschützer arbeiten für<br />

mich. Sie sind nicht die Unternehmensleitung. Falls eine<br />

Stimme nicht weiß, für wen sie arbeitet, so ist es meine Verantwortung,<br />

dies klarzustellen. Auch wenn der Kontrolleur<br />

denkt, er sei der Direktor, habe ich ihn für einen sehr spezifischen<br />

Job eingestellt: die Kontrolle zu halten. Ich bin der<br />

Boss.<br />

FACILITATOR: Bist du der Boss des Selbst?<br />

MEISTER: Ich bin der Boss der ganzen Firma. Dies bedeutet<br />

nicht, dass ich der Boss oder Meister anderer Leute wäre -<br />

aber ich bin der Meister dieses ganzen Unternehmens hier,<br />

das sich aus all den verschiedenen Stimmen des Selbst zusammensetzt.<br />

Bevor das Selbst zu meiner Gegenwart erwachte, wusste<br />

es nicht, wer die wahre Verantwortung trug. Es war, als wäre<br />

der Haushaltsvorstand für lange Zeit von Zuhause weggeblieben<br />

und hätte dem obersten Dienstboten - dem Kontrolleur<br />

- die Verantwortung übertragen. Nach einiger Zeit<br />

begann der zu glauben, dass es sein Haus sei und er selbst<br />

der Meister. Aber dies ist er nicht. Natürlich war es bei<br />

meiner Rückkehr mein Job, dem Kontrolleur seine rechtmäßige<br />

Position zu weisen, nämlich als Kontrolleur und<br />

nicht als Meister.<br />

Integrierter Frei-Wirkender Mensch<br />

FACILITATOR: Kann ich jetzt bitte mit dem sprechen, der sich<br />

bewusst dafür entscheidet, Mensch zu sein? Ich nenne dies<br />

die Stimme des Integrierten Frei-Wirkenden Menschen.<br />

INTEGRIERTER FREI-WIRKENDER MENSCH: Ja, ich bin der<br />

Integrierte Frei-Wirkende Mensch.<br />

1 0 6 BI G M I N D


FACILITATOR: Bitte erzähl mir von dir.<br />

INTEGRIERTER FREI-WIRKENDER MENSCH: Als integrierter<br />

frei-wirkender Mensch entscheide ich mich wahrhaft<br />

dafür, zu sein, was ich bin: ein Mensch. Dies bedeutet auch,<br />

dass ich als Mensch leide und Schmerz empfinde. Ich habe<br />

allerlei Emotionen: Traurigkeit und Kummer, Freude, Fröhlichkeit,<br />

Ausgelassenheit, Dankbarkeit - und ich leide.<br />

Zuvor hatte ich die Tatsache, ein Mensch zu sein, nicht<br />

wirklich angenommen. Ich denke, ich habe mich gesträubt;<br />

sogar versucht, mein Menschsein zu verleugnen, und ich<br />

hatte irgendwie das Gefühl, dass es nicht meine Wahl war.<br />

Folglich gab ich anderen Leuten und anderen Dingen die<br />

Schuld an meiner Situation und meinem Leiden.<br />

Indem ich mich willentlich dafür entscheide, Mensch zu<br />

sein, finde ich, dass ich nun annehmen kann, was und wer<br />

ich bin - dass ich im Falle von Leiden Leiden annehmen<br />

kann und Schmerz im Falle von Schmerz. Ich kann Traurigkeit<br />

und Kummer umfassen. Wenn es an der Zeit ist, betrübt<br />

zu sein, so bin ich einfach betrübt. Wenn es an der Zeit<br />

ist, glücklich zu sein, so bin ich einfach glücklich. Und wenn<br />

ich Freude empfinde, so empfinde ich einfach nur Freude.<br />

Alles ist so einfach und perfekt. Ich fühle, dass die Art und<br />

Weise meines Wirkens vollkommen mit den jeweiligen Umständen<br />

- wie sie auch sein und wie sie auch entstanden sein<br />

mögen - übereinstimmt.<br />

Anders ausgedrückt, ich reagiere auf Situationen angemessen<br />

und erkenne, dass sie sich ständig ändern. Je nachdem<br />

ändern sich damit auch meine Rolle und meine Position<br />

in einer gegebenen Situation fortwährend. Ich sehe also,<br />

dass ich bin, was ich bin, und das ist vollkommen in Ordnung.<br />

Wenn es an der Zeit ist, zu reagieren, reagiere ich<br />

einfach. Wenn die Zeit dafür noch nicht reif ist, tue ich<br />

nichts - und zwar ungehindert. Was das Integriertsein anbelangt,<br />

so gibt es nichts zu integrieren. Ich bin jetzt schon<br />

109


vollständig integriert. Was sich auch manifestiert und was<br />

auch erscheint, wird im Laufe der Zeit auf sehr natürliche<br />

Weise integriert. Alles geschieht auf sehr organische Art<br />

und Weise.<br />

Indem ich mich bewusst dafür entscheide, ein Mensch<br />

zu sein, empfinde ich mich nicht als Opfer: nicht als Opfer<br />

dieses Körpers noch dieses Lebens oder meiner Beschränkungen.<br />

Ich habe den Eindruck, dass ich sowohl mein uneingeschränktes<br />

Potenzial als auch die Tatsache, dass ich Beschränkungen<br />

habe, umfassen kann. Ich werde niemals ein<br />

großer Pianist sein. Ich werde auch niemals ein großer Surfer<br />

sein. Wahrscheinlich werde ich niemals ein Flugzeug<br />

steuern. Nicht, dass ich diese Dinge nicht lernen könnte,<br />

doch bringe ich dafür nicht genug Interesse auf. Ich fühle<br />

mich jedoch vollkommen frei zu sein, wer und was ich bin,<br />

und dies ist eine wahre Befreiung.<br />

Ich erschien zu dem Zeitpunkt, als das Selbst eine<br />

bewusste Entscheidung traf, mit dem Leiden der ganzen<br />

Welt eins zu sein. Dies kostete durchaus etwas Anstrengung.<br />

Ich bin vollkommen integriert und integriere ständig, in<br />

jedem Moment. Mein Wirken ist frei und ungehindert, ohne<br />

Lücke zwischen Handlung und Reaktion. Mein Wirken<br />

muss nicht erst durch den Verstand gesteuert werden. Ich<br />

bin mit allen Dingen eins.<br />

Ich ignoriere das Gesetz von Ursache und Wirkung<br />

nicht. Ich gerate weder in die Falle, frei und ungezügelt zu<br />

handeln, noch befolge ich blind Regeln und Vorschriften.<br />

Mein Leben ist dem Erwachen aller Wesen gewidmet, und<br />

ich arbeite daran, die Bewusstseinsebene dieses ganzen Planeten<br />

zu erhöhen.<br />

FACILITATOR: Du klingst wie <strong>Big</strong> Mind und <strong>Big</strong> Heart zusammengenommen.<br />

Schließt du sowohl Dualität als auch<br />

Nicht-Dualität ein?<br />

116


INTEGRIERTER FREI-WIRKENDER MENSCH: Ich schließe<br />

alle Aspekte des Selbst ein: sowohl alle dualistischen Stimmen<br />

als auch <strong>Big</strong> Mind, die Nicht-Dualität, das Nicht-Selbst<br />

- und ich transzendiere sie. Man nennt mich auch den Meister<br />

oder das Einzigartige Selbst. Tatsächlich bin ich vollkommen<br />

einzigartig. In der ganzen Welt gibt es niemanden,<br />

der oder die genau so ist wie ich. Ich habe kein Bedürfnis,<br />

etwas zu beweisen oder etwas Besonderes zu sein, da ich<br />

bereits besonders und einzigartig bin.<br />

Man kennt mich auch als das natürliche Selbst oder als<br />

den alltäglichen Geist. Ich muss nichts vorgeben und auch<br />

keine Fassade aufbauen. Ich bin natürlich und in keiner<br />

Weise anmaßend. Ich bin vorbehaltlos voller Freude. Mein<br />

Glücklichsein ist nicht von Bedingungen oder Umständen<br />

abhängig. Ich bin eins mit egal welchem Gefühl oder welcher<br />

Emotion. Ich bin der Geist Großer Freude und der<br />

Geist der Wertschätzung und Dankbarkeit.<br />

Ich schätze alles Leben und bin allem vorbehaltlos dankbar,<br />

und doch habe ich die Fähigkeit, angemessenes von unangemessenem<br />

Handeln zu unterscheiden, richtig von<br />

falsch, entsprechend der jeweiligen Situation und den Umständen.<br />

Dies bedeutet, dass meine Reaktion auf eine gegebene<br />

Situation von vier Variablen abhängt: meiner Position,<br />

der Zeit, dem Ort und dem Ausmaß. Situationen sind<br />

in ständigem Wandel begriffen, und ich handle dementsprechend.<br />

Ich stelle mich den Problemen und erfahre das Auf<br />

und Ab im Leben als relatives Selbst mit der Weisheit und<br />

der Perspektive von <strong>Big</strong> Mind. Ich bin das Wahre Transzendente.<br />

117


Große Freude<br />

FACILITATOR: Dürfte ich mit der Stimme der Großen Freude<br />

sprechen?<br />

GROSSE FREUDE: Große Freude hier.<br />

FACILITATOR: Erzähle mir von dir.<br />

GROSSE FREUDE: Ich bin vorbehaltlos voller Freude. Ich<br />

liebe das Leben. Ich liebe alles, was mit dem Leben einhergeht.<br />

Ich wecke die Lebensgeister, ich muntere auf, und<br />

eigentlich ist es unglaublich, dass es für ihn so leicht ist, zu<br />

mir Zugang zu finden. Ich bin immer genau hier. Ich denke<br />

nicht, dass ihm davor je bewusst war, dass ich all-gegenwärtig<br />

bin.<br />

Er kann sich in allerlei Emotionen, Gefühlen und Gedanken<br />

verfangen, und doch bleibt der Zugang zu mir immer<br />

frei. Das Einzige, was er tun muss, ist, seine Haltung<br />

leicht zu ändern, und schon bin ich da. Ich bin voller Freude,<br />

Ausgelassenheit und Aufregung, Glück, Munterkeit und<br />

Verspieltheit. Das Leben ist wundersam. Und ich bin mir<br />

bewusst, dass es Leiden und Schmerz gibt - aber ich bin<br />

nicht an Bedingungen gebunden und nicht von ihnen abhängig.<br />

Ich bin ganz einfach nur vorbehaltlose Große Freude.<br />

FACILITATOR: Wie siehst du, als Große Freude, Leiden?<br />

GROSSE FREUDE: Ich ignoriere es nicht. Ich sehe das Leiden<br />

ganz einfach nur als die gegenwärtige Manifestation von<br />

dem, was jetzt genau ist - und ich bin imstande, es zu enthalten<br />

und zu umfassen. Obwohl dies etwas seltsam klingen<br />

mag, aber es ist für mich so, als befände sich das Leiden in<br />

diesem weiten Himmel, und ich bin dieser weite Himmel.<br />

Ich leugne nicht, dass es Leiden gibt, ich verstecke das Leiden<br />

auch nicht; ich versuche nicht, es zu ignorieren oder zu<br />

vermeiden. Ich bin in der Lage, es zu erfahren und immer<br />

noch größer zu sein als dieses Leiden.<br />

118


Ich bin wie <strong>Big</strong> Mind und <strong>Big</strong> Heart zusammen, als eins,<br />

integriert. Einerseits sehe ich die vollkommene Perfektion,<br />

vollständig und leer. Andererseits fühle ich dieses Leiden<br />

auch völlig, aber ich erhebe mich darüber. Wenn man sich<br />

ein Dreieck vorstellt, <strong>Big</strong> Mind als einen Eckpunkt nimmt<br />

und <strong>Big</strong> Heart als den anderen, so bin ich an der Spitze des<br />

Dreiecks. Ich bin freudvoll. Ich bin voller Freude darüber,<br />

wie die Dinge sind, und über das Leben, und ich kann sogar<br />

inmitten von Leiden freudvoll sein. Sonderbar!<br />

Wenn er mit mir in Kontakt ist, bringe ich ihm, glaube ich,<br />

viel Freude. Ohne mich ist er freudlos. Es ist wirklich sehr<br />

schade, wenn er meine Existenz nicht kennt.<br />

Große Dankbarkeit und Wertschätzung<br />

FACILITATOR: Gut, könnte ich dann mit einer anderen Stimme<br />

sprechen?<br />

GROSSE FREUDE: Natürlich, nur zu!<br />

FACILITATOR: Ich würde gerne mit der Stimme Großer<br />

Dankbarkeit und Wertschätzung sprechen.<br />

GROSSE DANKBARKEIT UND WERTSCHÄTZUNG: Jawohl,<br />

mein Herr, hier ist Große Dankbarkeit und Wertschätzung.<br />

FACILITATOR: Erzähle mir von dir.<br />

GROSSE DANKBARKEIT UND WERTSCHÄTZUNG: Nun, ich<br />

bin dankbar und schätze dieses Leben, diese Welt und dieses<br />

Universum sehr. Ich bin dankbar für seine Familie, seine<br />

Kinder, seine Frau, seine Lehrer, Freunde, Verwandten,<br />

dankbar für die Welt und alle Menschen. Meine Dankbarkeit<br />

erstreckt sich auch auf seine Vorfahren. Ich fühle ganz<br />

einfach Dankbarkeit und Wertschätzung dafür, wie die<br />

Dinge sind. Ich bin voller Dankbarkeit und Wertschätzung.<br />

FACILITATOR: Gibt es Dinge, für die du nicht dankbar bist?<br />

GROSSE DANKBARKEIT UND WERTSCHÄTZUNG: Nun,<br />

das bin dann nicht ich - das ist dann er, denn ich bin für alles<br />

119


dankbar. Jedoch gibt es in der Tat bestimmt Dinge, für die<br />

er nicht dankbar ist. Du musst ihn nur fragen! Aber ich, ich<br />

bin für alles dankbar - sogar für die schweren Zeiten. Vielleicht<br />

sogar im Besonderen für die harten Zeiten und die<br />

Schwierigkeiten, weil ich sehe, wie er dann wächst und wie<br />

auch andere über ihre Schwierigkeiten hinauswachsen.<br />

Manchmal scheint es absolut notwendig zu sein, schwere<br />

Zeiten zu durchleben, und ich schätze das. Ich erkenne und<br />

schätze, dass er bekommt, was er braucht. Er bekommt nicht<br />

immer das, was er will - aber er scheint das, was er bekommt,<br />

zu wollen.<br />

Dies ist das Schöne daran, das „Geheimnis”: sich zu<br />

wünschen, was man bekommt, anstatt zu versuchen, das zu<br />

bekommen, was man sich wünscht - denn dies ist ein nie endendes<br />

Gefecht und noch dazu eins, bei dem wir auf der<br />

Verliererseite stehen. Anscheinend bekommen wir jedoch<br />

immer, was wir brauchen. Wenn wir uns also das wünschen,<br />

was wir bekommen, dann ist es, als wünschten wir uns, was<br />

wir brauchen.<br />

Gesund essen zum Beispiel, statt sich mit Junkfood voll<br />

zu stopfen! An Junkfood findet er vielleicht kurzzeitigen<br />

Genuss, doch letztendlich ist er mit sich selbst nicht glücklich,<br />

weil er weiß, dass es ihm nicht gut tut. Junkfood ist<br />

ungesund, er nimmt zu, und es verdirbt seine Zähne. Letztendlich<br />

geht es ihm mit gesundem Essen besser.<br />

Also, all die Erfahrungen, die er braucht, um sich zu entwickeln,<br />

seinen Horizont zu erweitern, über sich selbst hinauszugehen,<br />

sind positiv. Aus meiner Sicht kann er für<br />

diese Erfahrungen viel Freude, Wertschätzung und Dankbarkeit<br />

empfinden.<br />

FACILITATOR: Hast du dich als Große Dankbarkeit und<br />

Wertschätzung im Laufe der Jahre verändert?<br />

GROSSE DANKBARKEIT UND WERTSCHÄTZUNG: Nun, ich<br />

bin jetzt viel präsenter. Vor seiner ersten Erfahrung des<br />

120


Erwachens war sein Leben sicherlich nicht von Dankbarkeit<br />

oder Wertschätzung erfüllt. Natürlich schätzte er bestimmte<br />

Aspekte seines Lebens und auch andere Leute - doch mit<br />

großem Vorbehalt. Wenn er gewann, wie zum Beispiel beim<br />

Wasserball oder bei Schwimmveranstaltungen, dann war er<br />

glücklich. Wenn er verlor, dann weniger. Hatte er gute<br />

Noten, so war er glücklich - hatte er schlechte Noten, so war<br />

er nicht so glücklich. Wie er sich fühlte, war sehr an Bedingungen<br />

geknüpft.<br />

Alles ist unbeständig und vorübergehend, doch gibt es<br />

jetzt mehr Minuten in einer Stunde, mehr Stunden am Tag,<br />

mehr Tage in der Woche, mehr Wochen im Monat, in denen<br />

er voller Freude, Dankbarkeit und Wertschätzung ist.<br />

FACILITATOR: Und das hängt nicht davon ab, dass er nun<br />

eher bekommt, was er sich wünscht - ist es eher so, dass er<br />

sich an dem, was er bekommt, erfreuen kann?<br />

GROSSE DANKBARKEIT UND WERTSCHÄTZUNG: Genau:<br />

Er erfreut sich an dem und wünscht sich das, was er bekommt!<br />

Jetzt erkennt er, dass alles, was in Erscheinung tritt,<br />

Wirklichkeit ist und man von allem lernen kann. Anders ausgedrückt,<br />

er kann das, was passiert, entweder ignorieren<br />

oder leugnen oder aber davon lernen. Ignorieren oder Leugnen<br />

bringt keine Erfüllung. Wenn er jedoch von allem und<br />

jedem lernt - wenn alles Lehre ist und jeder ein Lehrer, so<br />

bin ich als Dankbarkeit und Wertschätzung in seinem Leben<br />

gegenwärtiger.<br />

Der Große Narr, der Große Joker<br />

FACILITATOR:Lass mich bitte mit dem Großen Narren sprechen,<br />

dem Großen Joker.<br />

GROSSER NARR: Ich bin der Große Narr, der Große Joker.<br />

Meine Torheit oder mein Sein ist nicht dergestalt, wie sich<br />

die meisten Leute einen Narren vorstellen. Ich bin das<br />

109


Transzendente. Ich verkörpere die Freiheit des Selbst und<br />

das, was über das Selbst hinausgeht - und ich übersteige<br />

auch das. Eine andere Umschreibung für mich ist das Wahre<br />

Transzendente oder <strong>Big</strong> Heart oder Integrierter Frei-<br />

Wirkender Mensch: Dies ist die Ebene, auf der ich mich bewege.<br />

Die Menschen nennen mich den Großen Narren, weil<br />

ich so frei und unbefangen bin, wodurch mein Auftreten<br />

vielleicht töricht erscheinen könnte. Wie dem Joker im<br />

Kartenspiel steht es auch mir völlig frei, jede Karte zu sein<br />

- sei es das Ass, die Eins, der König oder die Königin - ich<br />

bin für alle Karten einsetzbar und diese Eigenschaft macht<br />

mich, den Großen Narren, aus. Manchmal gebrauche ich die<br />

Begriffe Joker und Großer Narr austauschbar. Ich habe die<br />

Fähigkeit, jede der einzelnen Stimmen zu verkörpern.<br />

In mir steckt viel Kraft, und natürlich ruft das bei Menschen<br />

Angst hervor. Wie zum Beispiel auch Betrunkene und Verrückte<br />

anderen Menschen Angst machen, weil sie so unberechenbar<br />

sind. Auch Kinder können Leuten aufgrund ihrer<br />

Unberechenbarkeit Angst machen, und Zen-Meister<br />

ebenso!<br />

In jedem Moment kann ich nach Belieben alles sein, und<br />

manchmal ist das Furcht erregend, weil Menschen sich in<br />

der Tat vor Freiheit und Befreiung fürchten. 1986, während<br />

eines der zahlreichen Retreats, die er in Polen leitete, sagte<br />

er zu den Teilnehmern: „Wir werden keinen Zeitplan<br />

aufstellen, ihr könnt tun, was immer ihr wollt, ihr seid frei.<br />

Wir sind eine Woche hier, genießt eure Zeit, sitzt, so viel<br />

ihr wollt, macht, was immer ihr wollt, ihr seid vollkommen<br />

frei.” Und die Leute sind ausgerastet! Wirklich.<br />

Nach einer Weile begannen sie, ihn inständig zu bitten, er<br />

solle ihnen Struktur geben, Vorschriften, ihnen sagen, was<br />

sie tun sollten. „Ihr seid hier in Polen”, sagte er zu ihnen,<br />

„ihr kämpft für eure Freiheit. Ich gebe sie euch, hier, im<br />

122


Rahmen dieses Retreats. Wir sind an einem Fluss, fernab<br />

von jeder Zivilisation, vollkommen frei”, und dennoch flippten<br />

sie aus. Sie wollten Freiheit - aber zugleich machte ihnen<br />

Freiheit am meisten Angst.<br />

Mit anderen Worten, unser größter Wunsch im Leben<br />

ist zugleich auch unsere größte Angst - und das macht es<br />

so schwierig! Wir wollen frei sein, so wie ich es bin, der<br />

Joker, der Große Narr, und doch fürchten wir uns vor dieser<br />

Freiheit, denn wir haben Angst, für einen Narren gehalten<br />

zu werden und uns zu blamieren. Wir haben Angst davor,<br />

nicht mehr ständig besorgt zu sein, wie andere uns<br />

sehen, um unser Erscheinungsbild, um unsere Fassade.<br />

Deshalb haben wir eine so dicke Fassade. Wir haben Angst,<br />

Leute könnten die Wahrheit sehen - dass wir der Große<br />

Narr, der Große Joker sind. Eigentlich sind wir alle nur Narren!<br />

123


6<br />

DREIECKE:<br />

DUALISTISCH<br />

UND NICHT-<br />

DUALISTISCH<br />

UMFASSEN<br />

UND<br />

ÜBERSTEIGEN<br />

125


Wenn wir zu Beginn über das Selbst hinausgehen,<br />

neigt das Ich dazu, sich diese Erfahrung des<br />

Transzendenten zu eigen machen zu wollen, und<br />

wir bleiben dann leicht im sogenannten Absoluten stecken.<br />

Dies ist nichts Neues und kommt schon seit Jahrtausenden vor.<br />

Lehrer haben ihre Schülerinnen und Schüler immer darin unterstützt,<br />

wenn nicht sogar angetrieben, auch über diese Phase<br />

hinauszugehen und die relative Sichtweise mit einzubeziehen<br />

- also anders ausgedrückt, das dualistische Selbst.<br />

Es hat einen guten Grund, warum Meister von alters her<br />

ihre Schülerinnen und Schüler dazu ermutigt haben, sich vom<br />

Absoluten rasch weiter zu bewegen: Wenn wir dort sind, sehen<br />

wir die Gefahr nicht, die das Verweilen im Absoluten in<br />

sich birgt. Denn im Absoluten scheinen wir Ursache und Wirkung<br />

zu missachten, und es fehlt uns an Abgrenzungen, da die<br />

Erfahrung über Grenzen und Beschränkungen hinausgeht.<br />

Jedoch können wir dies nur in unserem alltäglichen oder konventionellen,<br />

dualistischen Geist so sehen - bevor wir ins<br />

Absolute eintreten oder nachdem wir es losgelassen haben.<br />

Während wir dort feststecken - ich selbst tat dies mindestens<br />

acht Jahre lang -, sehen wir die Probleme nicht, die das mit<br />

sich bringt.<br />

Es ist also wahrhaft wichtig, dass wir dort nicht bleiben.<br />

Ein Großteil dieses Buches wurde in der Hoffnung geschrieben,<br />

Ihnen und anderen Menschen die Bewegung ins Transzendente<br />

und dann über das Transzendente hinaus zu ermöglichen;<br />

127


das Transzendente zu umfassen und dabei weder an der dualistischen<br />

noch an der nicht-dualistischen Perspektive zu haften.<br />

Im folgenden Abschnitt möchte ich mit Ihnen einen noch<br />

ziemlich neuen Ansatz teilen. Er wird uns hier im Westen helfen,<br />

den Gehalt einer in jeglicher Hinsicht gesunden spirituellen<br />

Übung genauer zu begreifen.<br />

Das Wahre Selbst<br />

Enthält und übersteigt sowohl Dualität<br />

als auch Nicht-Dualität<br />

Dualität,<br />

oder das kleine Selbst<br />

Nicht-Dualität,<br />

<strong>Big</strong> Mind<br />

Dieses Diagramm drückt in einem Bild aus, wozu man ansonsten<br />

vieler Worte bedürfte. Sie sehen ein Dreieck, in dem eine<br />

Person sitzt. Das rechte Knie repräsentiert, was wir das dualistische<br />

oder das kleine Selbst nennen können - und dies schließt<br />

all die Stimmen ein, als die wir schon gesprochen haben, und<br />

noch viele mehr, die in diesem Buch noch nicht zur Sprache<br />

kamen. Das linke Knie steht für das Transzendente oder den<br />

Raum des <strong>Big</strong> Mind, den wir auch das Absolute nennen können.<br />

Die Spitze des Dreiecks, also der Kopf der sitzenden Person,<br />

umfasst in unserer Betrachtung sowohl Dualität als auch<br />

128


Nicht-Dualität und übersteigt beide - sie enthält sie also und<br />

geht doch darüber hinaus. Somit wird auch unser Anliegen<br />

deutlich: Wir wollen sowohl das rechte als auch das linke Knie<br />

umfassen, in der Tat den ganzen Menschen, unser gesamtes<br />

Menschsein. Dann ist jeder Aspekt von uns darin enthalten<br />

und wird nicht verleugnet - und er wird gleichzeitig transzendiert,<br />

in dem Sinne, dass wir nicht an einer bestimmten Stimme<br />

oder Sichtweise haften, sondern dass wir alle Sichtweisen und<br />

alle Stimmen umfassen und uns vom Standpunkt des vollständig<br />

integrierten Menschen ausdrücken - auch der Meister,<br />

Integriertes Yin/Yang Mitgefühl oder <strong>Big</strong> Heart genannt.<br />

In jedem Moment verändert sich alles ständig. In jedem<br />

Moment sind wir alles, wir sind das Ganze. Nur, worauf richten<br />

wir unsere Aufmerksamkeit? Auf welchen Teil des Körpers -<br />

vor allem, wenn er weh tut? Wenn Sie Bauchschmerzen haben,<br />

worauf richtet sich dann Ihre Aufmerksamkeit? Was leidet die<br />

meiste Zeit? Das kleine Selbst. <strong>Big</strong> Mind leidet nicht. Er übersteigt<br />

Schmerz und Leiden. Also, worauf ist unsere Aufmerksamkeit<br />

wohl die meiste Zeit gerichtet? Auf das kleine Selbst.<br />

Was muss man aber tun, um „das Ganze” zu sein? Absolut<br />

nichts. Übung ist dafür absolut nicht nötig. Übung ist nur<br />

von Bedeutung, wenn wir diese Tatsache mehr und mehr würdigen<br />

und verstehen wollen. Das ist alles. Sie waren immer<br />

schon das ganze Sein. Sie haben dieses Buch als das Ganze,<br />

als alles, begonnen, und wenn Sie es niederlegen, werden Sie<br />

immer noch alles sein. Sie werden ganz einfach nur tiefere<br />

Erkenntnis und Dankbarkeit entwickelt haben. Sie können<br />

nichts anderes als dies sein. Sie sind immer an der Spitze des<br />

Dreiecks. Sie sind immer das verblendete Selbst, und Sie sind<br />

immer erwacht. Lassen Sie uns nun dieses Dreieck mit Hilfe<br />

der Stimmen weiter erforschen.<br />

D K I I I ( KT : D U A L I S T I S C H U N D N I C H T - D U A L I S T I S C H UMFASSE N U N D Ü B E R S T E I G E N 1 2 9


Das Selbst<br />

FACILITATOR: Könnte ich jetzt bitte mit dem Selbst sprechen?<br />

DAS SELBST: Ja, du sprichst mit dem Selbst.<br />

FACILITATOR: Würdest du mir von dir erzählen?<br />

DAS SELBST: Nun, ich bin das Selbst. Ich bin dieser Körper,<br />

dieser Geist. Ich bin meine Gedanken, ich bin meine Vorstellungen,<br />

ich bin meine Überzeugungen und Konzepte, ich<br />

bin alles, was ich „mein” nenne. Meine grundlegende Zielsetzung<br />

im Leben ist natürlich, als ich selbst zu überleben.<br />

Wenn ich die Welt so betrachte, ist sie ein Furcht erregender<br />

Ort. Ich halte mich für sehr verwundbar und laufe stets<br />

Gefahr, zerstört oder verletzt zu werden.<br />

Was gibt's viel zu sagen? Ich bin's. Ich habe zwei Kinder<br />

und eine Frau. Ich bin Lehrer. Ich wurde am 3. Juni 1944<br />

geboren. Ich habe Höhen und Tiefen bewältigt, hatte so<br />

meine Schwierigkeiten - gute Zeiten, schlechte Zeiten - und<br />

habe sowohl wunderschöne als auch schreckliche Erfahrungen<br />

gemacht. Ich bin es, der über den Tod von Nahestehenden<br />

getrauert hat, auch den von meiner kleinen Hündin<br />

Tiby. Ich bin es, der große Freude und großes Leid erfahren<br />

hat. Ich bin ein Meter achtzig groß und wiege um die<br />

fünfundachtzig Kilo. Was würdest du sonst noch gerne von<br />

mir wissen?<br />

FACILITATOR: Nun, hast du Bedürfnisse, benötigst du Dinge?<br />

DAS SELBST: Durchaus. Ich benötige ausreichendes Essen,<br />

angemessene Bewegung und saubere Luft zum Atmen. Ich<br />

liebe den blauen Himmel und die weißen Wolken. Ich liebe<br />

es, am Wasser zu sein. Manchmal sehne ich mich nach<br />

schönen Dingen. Ich wünsche mir ein glückliches und erfülltes<br />

Leben.<br />

130


Nicht-Selbst<br />

FACILITATOR: Jetzt hätte ich gerne deine Erlaubnis, mit dem<br />

Nicht-Selbst zu sprechen. Selbst wenn du nicht verstehst,<br />

was das bedeutet, bitte ich dich, mich einfach mit dem Nicht-<br />

Selbst sprechen zu lassen und dann werden wir herausfinden,<br />

wer du bist.<br />

NICHT-SELBST: Nicht-Selbst hier.<br />

FACILITATOR: Könntest du mir von dir erzählen? Wer bist<br />

du oder vielmehr, was bist du nicht?<br />

NICHT-SELBST: Nun, ich bin nicht das Selbst. Ich bin nicht<br />

der Körper, nicht der Geist, nicht die Gedanken, Konzepte,<br />

Sinnesempfindungen, Ansichten, Ideen, Meinungen,<br />

Rechtfertigungen des Selbst. Ich bin nicht die Ziele, die Erkenntnisse,<br />

die Überzeugungen, ich bin nicht das ganze<br />

Glaubenssystem des Selbst. Ich bin nicht sein Fleisch, sein<br />

Blut, seine Knochen, Haut, Organe und so weiter.<br />

FACILITATOR: Was bist du dann?<br />

NICHT-SELBST: Ich bin alle Dinge. Ich bin der gesamte Raum<br />

und alle Zeit, alle Wesen - das Selbst eingeschlossen, jedoch<br />

nicht auf das Selbst beschränkt. Ich habe keinen Anfang und<br />

auch kein Ende, keine Geburt, keinen Tod. Ich bin ungeboren<br />

und unsterblich. Tatsächlich sehe ich nicht viel Unterschied<br />

zwischen mir und <strong>Big</strong> Mind - ich bin <strong>Big</strong> Mind,<br />

ich bin Der Weg. Ich bin der weite offene Himmel, ich bin<br />

die Wolken an diesem Himmel, ich bin die Bäume, ich bin<br />

die Vögel, ich bin alle Dinge. Ich kann sehen, dass das Selbst<br />

seine Wünsche, sein Verlangen und seine Bedürfnisse hat.<br />

Das Selbst ist begrenzt und auf eine bestimmte Form beschränkt,<br />

auf Körper, Größe und Gewicht. Ich bin unbegrenzt<br />

und unbeschränkt. Ich gehe über das Selbst hinaus,<br />

und doch umfasse ich das Selbst.<br />

FACILITATOR: Ich würde jetzt gerne mit einer dritten Stimme<br />

sprechen. Stell dir ein Dreieck vor, wie bei dem Diagramm<br />

131


Einzigartiges Selbst<br />

Alltäglicher Geist ist der We g<br />

Das Selbst<br />

Alltäglicher Geist<br />

Nicht-Selbst<br />

Der We g<br />

oben, wobei sich das Selbst an der linken und das Nicht-<br />

Selbst an der rechten Seite des Dreiecks befindet. Ich möchte<br />

nun zu dem sprechen, das sowohl das Selbst als auch das<br />

Nicht-Selbst umfasst.<br />

Es kann hilfreich sein, sich das Selbst und das Nicht-Selbst<br />

nebeneinander auf zwei Stühlen sitzend vorzustellen. Ich<br />

möchte jetzt mit dem sprechen, der hinter diesen beiden<br />

132


Stühlen und höher steht, also an der Spitze des Dreiecks.<br />

Du enthältst also das Selbst und das Nicht-Selbst und übersteigst<br />

sie. Ich werde dich das Einzigartige Selbst nennen.<br />

Ich bitte also um Erlaubnis, mit dem zu sprechen, was ich<br />

das Einzigartige Selbst nenne.<br />

Das Einzigartige Selbst<br />

(Selbst und Nicht-Selbst übersteigend)<br />

FACILITATOR: Gut, wer bist du?<br />

EINZIGARTIGES SELBST: Ich bin das Einzigartige Selbst.<br />

FACILITATOR: Erzähle mir bitte, wie es ist, das Einzigartige<br />

Selbst zu sein.<br />

EINZIGARTIGES SELBST: Als das Einzigartige Selbst bemerke<br />

ich, dass ich absolut einzigartig bin. „Absolut” ist hier das<br />

Schlüsselwort. Es gibt niemand anderen, die oder der so ist<br />

wie ich. Ich umfasse sowohl das Selbst als auch das Nicht-<br />

Selbst.<br />

Auf einmal habe ich große Wertschätzung für den, der<br />

ich bin. Ich bin Der Weg und ich bin die Manifestation des<br />

Weges. Ich bin der Schöpfer und die Schöpfung. Ich bin<br />

vollkommen perfekt, so wie ich bin, und doch benötige ich<br />

viel Arbeit. Es ist ein niemals endender Prozess der Entfaltung,<br />

und doch bin ich voller Freude darüber, sein zu können,<br />

wer und was ich bin. Ich scheine in keinen besonderen<br />

Konflikt verwickelt zu sein, doch falls es einen Konflikt gibt,<br />

so umfasse ich ihn. Mit meinem eigenen Schmerz und Leiden<br />

bin ich eins, und doch arbeite ich gewissenhaft daran,<br />

Leiden zu lindern. Es ist wunderbar, einfach nur der zu sein,<br />

der ich bin. Ich habe keinerlei Bedürfnis, jemand oder<br />

etwas anderes zu sein.<br />

Ich bin weder der dualistischen noch der nicht-dualistischen<br />

Sichtweise verhaftet. Ich bin reif und weise genug,<br />

um sowohl meine Begrenzungen als auch meine Grenzen-<br />

133


losigkeit zu erkennen. Ich bin nicht nur eine bestimmte Perspektive;<br />

ich bin alle Perspektiven, und zu jedem Zeitpunkt,<br />

eine gegebene Perspektive. Ich erkenne, dass sowohl das<br />

dualistische als auch das nicht-dualistische Selbst jeweils nur<br />

eine Teilsicht darstellen und jedes für sich unvollständig ist.<br />

Nur mit dem jeweils anderen ist das einzelne vollständig.<br />

Ich sehe auch, dass ich, wie so viele andere spirituell Gesinnte,<br />

in der Vergangenheit oft dem Absoluten verhaftet<br />

war und so dem Nicht-Selbst den Vorzug gab und das Nicht-<br />

Selbst dem Selbst, das Absolute dem Relativen und das<br />

Nicht-Leiden dem Leiden vorgezogen habe. Ich enthalte<br />

jedoch sowohl Dualität als auch Nicht-Dualität. Ich bin ein<br />

völlig natürlicher Bewusstseinszustand - eine natürliche Art<br />

des Seins. Ich umfasse sowohl nicht-zwei als auch nicht-eins<br />

und bewege mich entsprechend der Situation frei von einem<br />

zum anderen. Ich strebe weder nach Erleuchtung, noch<br />

versuche ich, mich von Verblendung zu lösen. Für mich<br />

besteht kein Grund, einen erwachten Zustand einem verblendeten<br />

Zustand vorzuziehen. Dualistisch sein ist in Ordnung,<br />

nicht-dualistisch sein ist in Ordnung. Keine Vorliebe<br />

haben ist der Vollkommene Weg - und für mich ist es auch<br />

kein Problem, eine Vorliebe zu haben. Ich esse lieber Schokoladeneis<br />

als Vanille, lieber dunkles als weißes Brot, und<br />

ich habe keine Vorlieben für oder gegen Vorlieben.<br />

Das Selbst können wir als alltäglichen oder herkömmlichen<br />

Geist bezeichnen. Das Nicht-Selbst wird manchmal<br />

auch Der Weg genannt. Als das Einmalige Selbst enthalte<br />

ich den alltäglichen Geist und den Weg. Im Zen bezeichnen<br />

wir dies manchmal als „der Alltagsgeist ist der Weg”,<br />

womit darauf hingewiesen wird, dass dieses Selbst den alltäglichen<br />

Geist und den Weg enthält und doch übersteigt.<br />

Wenn ich zum Beispiel mit dem Auto fahre, dann bin<br />

ich mir des Verkehrs bewusst, der Autos vor und der Autos<br />

hinter mir. Zugleich kann ich auch eine Unterhaltung mit<br />

134


anderen Mitfahrenden führen. Als das Einzigartige Selbst<br />

stecke ich weder im Denken, in der Stimme des Selbst noch<br />

in der absoluten Perspektive fest. Es ist ein sehr natürlicher<br />

Zustand panoramischen Gewahrseins verbunden mit der<br />

Fähigkeit, sich völlig auf die vorliegende Aufgabe zu konzentrieren.<br />

Wir alle befinden uns immer in diesem Zustand.<br />

Dies ist die Bedeutung von „Alltagsgeist ist der Weg”.<br />

FACILITATOR: Vielen Dank, dass du uns an all dem teilhaben<br />

ließest. Mit deiner Erlaubnis würde ich gerne fortfahren.<br />

Angst<br />

FACILITATOR: Dürfte ich jetzt mit der Stimme der Angst<br />

sprechen?<br />

ANGST: Hier spricht Angst.<br />

FACILITATOR: Erzähl mir, warum du Angst hast.<br />

ANGST: Ich muss das Selbst beschützen. Ich sehe in die Welt<br />

hinaus, und alles, was ich sehe, ist nicht ich. Daher lebe ich in<br />

ständiger Angst, dass all diese Nicht-Ichs - und es gibt unendlich<br />

viele davon - mich verletzen oder zerstören könnten.<br />

Sie könnten diesem Körper und auch meinen Ideen, meinen<br />

Uberzeugungen und meiner Art, mir die Dinge zusammenzureimen,<br />

Schaden zufügen. Alles da draußen ist potenziell<br />

gefährlich und könnte mich möglicherweise verletzen<br />

oder sogar zerstören.<br />

Ich fürchte mich vor Veränderung, und ich fürchte mich<br />

davor, dass Dinge sich nicht ändern. Ich habe Angst zu sterben,<br />

und ehrlich gesagt habe ich auch Angst zu leben. Ich<br />

habe Angst vor dem Leiden und vor dem Schmerz, der dem<br />

Tod vorausgeht. Ich fürchte mich vor dem, was nach dem<br />

Tod passieren könnte, und auch davor, dass nichts geschehen<br />

könnte. Ich habe Angst vor dem Alleinsein und auch<br />

135


vor Beziehungen. Ehrlich gesagt habe ich ganz einfach nur<br />

Angst.<br />

FACILITATOR: Jetzt würde ich gerne mit Nicht-Angst sprechen.<br />

Nicht-Angst<br />

NICHT-ANGST: Ich bin Nicht-Angst.<br />

FACILITATOR: Warum hast du keine Angst - oder warum bist<br />

du Nicht-Angst?<br />

NICHT-ANGST: Weil es kein Selbst gibt. Wenn es kein Selbst<br />

gibt, wenn <strong>Big</strong> Mind gegenwärtig ist, besteht kein Grund zur<br />

Angst, denn alles bin ich. Nur bei einer Trennung von Selbst<br />

und anderen, von Subjekt und Objekt, kommen Bedrohung<br />

und Angst auf. Doch als Nicht-Angst besteht für mich absolut<br />

kein Grund, vor irgendetwas Angst zu haben, denn<br />

nichts kann mich verletzen, nichts kann mich zerstören -<br />

nichts kann mir in irgendeiner Weise Schaden zufügen, und<br />

ich kann nichts verlieren, weil ich alles bin.<br />

Warum Angst für das Selbst ein so großes Thema ist,<br />

rührt daher, dass das Selbst verschwinden kann: Es kann<br />

sterben, getötet oder verletzt werden und es kann verlieren,<br />

was es besitzt. Ich habe nichts, also kann ich auch nichts verlieren.<br />

Ich bin nichts, also kann ich nicht weniger sein als<br />

das. Ich bin schon null, Nicht-Sein. Daher kommt in mir<br />

absolut keine Angst auf. Krankheit, Verletzung und Verlust<br />

belasten oder berühren mich nicht. Das alles findet im Bereich<br />

eines Selbst, eines Körpers und eines Geistes statt. Ich<br />

gehe darüber hinaus, ich transzendiere dies alles.<br />

FACILITATOR: Kann ich jetzt mit der Stimme sprechen, die<br />

Angst und Nicht-Angst umfasst und beide übersteigt? Nennen<br />

wir es das Wahre Selbst.<br />

136


Das Wahre Selbst<br />

(Angst und Nicht-Angst übersteigend)<br />

WAHRES SELBST: Gut. Ich bin die Stimme, die Angst und<br />

Nicht-Angst übersteigt.<br />

FACILITATOR: Was bedeutet das?<br />

WAHRES SELBST: Nun, das bedeutet, dass ich mich fürchte,<br />

wenn es angebracht ist, sich zu fürchten. Es bedeutet, dass<br />

ich Angst als normale Funktionsweise eines menschlichen<br />

Wesens verstehe. Angst ist eine Warnung vor möglicher Gefahr,<br />

und ich sollte daher acht geben und mir mit Achtsamkeit<br />

der Situation bewusst sein.<br />

Ich bin auch Nicht-Angst, was bedeutet, dass ich mich<br />

nicht davor fürchte, Angst zu haben. Ich habe keine Angst<br />

davor, ein Mensch zu sein, der Angst vor dem Leiden hat<br />

oder Unterscheidungen trifft oder andere als nicht-ich sieht,<br />

obwohl ich mir immer des Ortes der Einheit bewusst bin<br />

und von dort aus handle. Dies bedeutet, dass ich im Nicht-<br />

Selbst tief verankert bin und doch als ein reifes, weises und<br />

mitfühlendes Selbst wirke.<br />

Der Dualistische Geist<br />

FACILITATOR: Jetzt würde ich gerne mit dem Dualistischen<br />

Geist sprechen.<br />

DUALISTISCHER GEIST: In Ordnung, ich bin der Dualistische<br />

Geist.<br />

FACILITATOR: Warum nennen wir dich dualistisch? Warum<br />

bezeichnen wir dich als den Dualistischen Geist?<br />

DUALISTISCHER GEIST: Weil ich Dinge auf eine dualistische<br />

Art betrachte. Ich meine, daran ist nichts verkehrt, ich sehe<br />

Dinge ganz einfach nur im Sinne von richtig und falsch, gut<br />

137


und schlecht, selbst und andere, ich und du. So ist es einfach!<br />

Was mich betrifft, ist dies die Wirklichkeit. Ich bin<br />

nicht dieser Baum. Es wäre verblendet zu denken, dass dieser<br />

Baum ich sei.<br />

Also von meinem Standpunkt aus bin ich echt und wirklich:<br />

Ich bin, was wirklich ist. Ich sehe mich, dieses Leben<br />

und <strong>Genpo</strong>, als real. Ich sehe, dass Dinge entweder richtig<br />

oder falsch sind. Sie sind entweder gut oder schlecht. Natürlich<br />

gibt es grau, ich meine, es gibt Grauzonen. Aber es<br />

ist von wesentlicher Bedeutung, dass wir deutliche Unterschiede<br />

machen können. Wohin hätten wir es denn als Gattung,<br />

als Menschen, gebracht - und dies bezieht sich auf alle<br />

Ebenen: wissenschaftlich, moralisch, ethisch, spirituell, ökonomisch<br />

-, könnten wir gut von schlecht, richtig von falsch,<br />

dieses von jenem, ich und du nicht unterscheiden? Wenn ich<br />

mich selbst nicht von dir unterscheiden könnte oder mich<br />

von meiner Kleidung, wie könnte ich dann wissen, was ich<br />

tun sollte? Also, ich bin die Wirklichkeit.<br />

Ich bin für das Überleben der Spezies unerlässlich, und<br />

natürlich habe ich allerlei Verlangen. Wie würde ich mir<br />

denn ohne Verlangen etwas zu essen suchen, wenn ich Hunger<br />

habe? Wie würde ich mir ein Dach über dem Kopf suchen,<br />

wenn ich es brauche? Wie wäre ohne mein sexuelles<br />

Verlangen Fortpflanzung möglich? Das sind alles ganz<br />

grundlegende Dinge, und es wäre lächerlich, etwas anderes<br />

zu behaupten. Alles andere ist doch vollkommen verrückt<br />

und verblendet: Ich kann mir so traurige Gestalten schon<br />

vorstellen, die ihr Leben nicht auf mir, dem dualistischen<br />

Denken, dem dualistischen Geist, gründen. Weißt du, ich<br />

kenne solche Leute, die sich vormachen, sie seien nichtdualistisch<br />

oder sie seien irgendwie über etwas hinausgegangen,<br />

ins Transzendente - und ich halte die für gefährlich!<br />

Mit denen will ich nichts zu tun haben.<br />

138


FACILITATOR: Denkst du, sie sind verblendet?<br />

DUALISTISCHER GEIST: Absolut! Das sage ich doch. Nicht<br />

nur verblendet, gefährlich! Sie machen mir Angst, denn<br />

wenn sie Sachen nicht dualistisch betrachten, wie sollen sie<br />

dann richtig von falsch unterscheiden können? Wie sollen<br />

sie dann darüber urteilen können, was gut und schlecht, was<br />

gut und gesund und was schlecht für sie selbst und für andere,<br />

für ihre Kinder und die Welt, ist? Meiner Ansicht nach<br />

stellen sie eine Bedrohung dar.<br />

Ehrlich gesagt, ich würde sie eigentlich am liebsten einfach<br />

loswerden, nur, das wäre falsch. Die intelligenteste<br />

Lösung wäre wohl, wenn wir uns irgendwie vor solchen<br />

Leuten schützen könnten. Sie sind gefährlich, wirklich.<br />

Wie schon gesagt, möchte ich mich natürlich fortpflanzen,<br />

damit die Menschheit überleben kann. Ich brauche es, Verlangen<br />

zu haben, nach Dingen zu streben, zu erfinden und<br />

zu entdecken. Ich muss kreativ sein und erschaffen. Ich bin<br />

eine kreative Kraft - und wenn man keine Unterscheidungen<br />

treffen kann, wie sollte man dann eine Farbe von einer<br />

anderen oder eine Form von einer anderen unterscheiden<br />

können? Das erscheint mir einfach verrückt. Was mich betrifft,<br />

grenzt sogar das, was in diesem Buch vorgestellt wird,<br />

an Geistesgestörtheit. Wir müssen richtig von falsch unterscheiden<br />

können. So ist es einfach!<br />

Ich will nichts mehr von diesen Typen, die sich mit nichtdualistischer<br />

Wirklichkeit verbinden, hören. Sie machen<br />

mich wütend. Ich kann mich im Moment über solchen Unsinn<br />

wirklich aufregen: Nicht-Dualität, Transzendenz. Ich<br />

hasse solche Leute. Ich denke, dass sie wahrhaft eine Gefahr<br />

und eine Bedrohung für unsere Welt darstellen. Sie<br />

kennen weder Moral noch Ethik. Sie machen den Eindruck,<br />

als hätten sie keine Grenzen, und sie respektieren auch meine<br />

Grenzen nicht. Beim Sprechen kommen sie zu dicht ran<br />

139


und sie haben Mundgeruch - und sie sind Angst einjagend,<br />

wirklich Angst einjagend. So, da hast du's!<br />

FACILITATOR: Vielleicht sollte ich als Nächstes besser mit<br />

dem Kontrolleur sprechen.<br />

NICHT-DUALISTISCHER GEIST: Gut, ich habe kein Problem<br />

damit, dich mit dem Kontrolleur sprechen zu lassen. Aber<br />

falls du mit einer der transzendenten Stimmen sprechen<br />

wolltest, würde ich das im Moment nicht zulassen - auf<br />

keinen Fall, da führt absolut kein Weg hin! Ich möchte damit<br />

nichts zu tun haben.<br />

FACILITATOR: In Ordnung. Würdest du mich jetzt bitte mit<br />

dem Kontrolleur sprechen lassen?<br />

KONTROLLEUR: Gut. Du sprichst mit dem Kontrolleur.<br />

FACILITATOR: Also, wie geht's dir?<br />

KONTROLLEUR: Nun, mir geht's ganz gut. Offensichtlich war<br />

diese letzte Stimme mit der Richtung, die du einschlägst,<br />

nicht so ganz einverstanden. Für mich war es schwierig, weil<br />

er sich ziemlich bloßgestellt hat und es deutlich ist, wie verärgert<br />

und verhasst ihm diese ganze Angelegenheit ist. Ich<br />

denke, dass er sich wirklich bedroht fühlt und deswegen<br />

muss ich ihn beschützen. Ich habe aber auch das Bedürfnis,<br />

das Nicht-Dualistische zu beschützen.<br />

FACILITATOR: In Ordnung, ich möchte dich um Erlaubnis<br />

fragen - und ich kann verstehen, wenn dir das nicht recht<br />

ist -, aber ich würde jetzt gern mit dem Nicht-Dualistischen<br />

Geist sprechen.<br />

KONTROLLEUR: Gut, ich habe meine Bedenken, aber ich<br />

erlaube es dir. Vielleicht kann es ein bisschen ausgleichend<br />

wirken.<br />

140


Der Nicht-Dualistische Geist<br />

FACILITATOR: Okay, und du bist?<br />

NICHT-DUALISTISCHER GEIST: Ich bin der Nicht-Dualistische<br />

Geist.<br />

FACILITATOR: Bitte erzähle mir von dir.<br />

NICHT-DUALISTISCHER GEIST: Nun, ich bin nicht dualistisch.<br />

Offensichtlich sehe ich Dinge nicht auf eine dualistische<br />

Weise. Ich sehe sie nicht im Sinne von Selbst und<br />

andere. Ich treffe diese Art der Unterscheidungen nicht.<br />

Alles bin ich. Ich weiß, dass der Dualistische Geist dies nicht<br />

versteht und alles sehr fragmentiert sieht. Doch ich bin dies<br />

alles: jedes Wesen und jedes Ding, sogar der blaue Himmel<br />

und die weißen Wolken, die Sonne und das Meer. Die Vögel<br />

bin ich. Die Blumen bin ich. Die Insekten bin ich. Die<br />

Mücken bin ich. Ich unterscheide nicht zwischen Selbst und<br />

anderen. Das ist nicht wirklich. Wirklichkeit ist eins - Einheit.<br />

Wir sind alle gleich, wir sind alle eins. Das ist Wirklichkeit.<br />

Dies ist die Absolute Wirklichkeit.<br />

Die dualistische Stimme, die soeben gesprochen hat,<br />

denkt, dass sie wirklich sei - aber das ist nur die scheinbare<br />

Wirklichkeit, die ihm aus seinem dualistischen Geist heraus<br />

erscheint und die er aufgrund seiner Dualität geschaffen<br />

hat. In Wirklichkeit bin ich, der Nicht-Dualistische<br />

Geist, natürlich alles. Ich bin sogar der Dualistische Geist.<br />

Ich umfasse ihn also, doch er umfasst mich mit Sicherheit<br />

nicht. Darüber besteht kein Zweifel. Doch auch das ist in<br />

Ordnung, denn so ist er ganz einfach. Ich verstehe das, aber<br />

er ist doch sehr begrenzt: seine Perspektive ist sehr begrenzt<br />

und daher sehr begrenzend. Er würde mich gern loswerden,<br />

was er natürlich nicht kann. Er kann vielleicht ein paar von<br />

denen loswerden, die mich verkörpern. Doch mich kann er<br />

nicht loswerden. Ich bin das, was ungeboren ist, und daher<br />

bin ich unsterblich und unberührbar. Bevor irgendetwas<br />

141


geschaffen wird - das bin ich. Ich bin die gesamte Schöpfung.<br />

Ich bin alles, was entsteht und in Erscheinung tritt.<br />

Ich bin das Ungeborene und ich bin auch das Geborene.<br />

Mit anderen Worten: Genau dieser Körper ist das<br />

Ungeborene. Er erscheint als das Geborene, ist aber das<br />

Ungeborene. Diese Form ist also das Formlose. Dieser<br />

Geist ist Nicht-Geist. Dieser Körper ist kein Körper. Dieses<br />

Selbst ist kein Selbst. Das ist ganz einfach die Wirklichkeit.<br />

Die steht nicht zur Diskussion. So ist es einfach.<br />

Bevor wir zu denken beginnen, sind die Dinge ganz einfach<br />

so, wie sie sind. Alle Erscheinungsformen sind ganz einfach<br />

Erscheinungsformen von mir, dem Nicht-Dualistischen<br />

Geist, dem Ungeborenen oder <strong>Big</strong> Mind. Buddhisten nennen<br />

mich Buddha-Geist. Andere Religionen und Kulturen<br />

geben mir andere Namen. Mystiker vieler spiritueller Traditionen<br />

haben um mein Sein gewusst (ich will nicht sagen,<br />

um meine Existenz, da ich weder existiere noch nicht existiere,<br />

ich übersteige existieren und nicht-existieren), sie<br />

kannten mich, sie waren mit mir in Kontakt.<br />

Also in mir ist natürlich keine Angst. Angst kommt in<br />

mir nicht auf. Es gibt auch kein Verlangen, weil es nichts<br />

zu verlangen gibt: nichts ist einzeln, getrennt und abgespalten.<br />

Also ist in mir auch kein Suchen und Streben. Warum<br />

sollte ich nach etwas suchen? Ich habe alles. Ich bin alles.<br />

Es wäre lächerlich, an Streben zu denken. Ich gehe über<br />

Raum und Zeit hinaus, also wohin sollte ich mich wenden?<br />

Die Vorstellung, über andere wütend zu sein ... über welche<br />

anderen sprechen wir? Wer wäre wütend auf was oder wen?<br />

Ich meine, es gibt kein Ich, kein Selbst, keine anderen.<br />

Also gibt es auch keine Verblendung. Es gibt kein Verlangen.<br />

Es gibt keine Gier. Es gibt kein Suchen und kein Streben.<br />

Es gibt keine Abneigung, und es gibt keinen Hass. Ich<br />

übersteige all dies. Sie sind Erscheinungsformen von mir<br />

und offensichtlich sind sie ich. Doch ich bin nicht sie. Ich<br />

142


umfasse die Angst, ich umfasse die Wut, ich umfasse die Anhaftung,<br />

ich umfasse all jene Dinge, doch sie erreichen mich<br />

nicht. Sie berühren mich nicht. In keinem Fall können sie<br />

mich umfassen, doch ich umfasse sie.<br />

FACILITATOR: Vielen Dank. Kontrolleur, ich würde jetzt<br />

gerne mit einer anderen Stimme sprechen.<br />

KONTROLLEUR: In Ordnung. Du hast meine Erlaubnis, ich<br />

bin der Kontrolleur.<br />

Das Wahre Selbst<br />

(Dualität und Nicht-Dualität übersteigend)<br />

FACILITATOR: Ich würde gerne mit der Stimme sprechen, die<br />

den Dualistischen und den Nicht-Dualistischen Geist sowohl<br />

umfasst als auch übersteigt. Also, darf ich bitte mit dem<br />

sprechen, was ich das Wahre Selbst nenne?<br />

Wahres Selbst<br />

Dualität<br />

Nicht-Dualität<br />

WAHRES SELBST: Ich bin das Wahre Selbst. Mit anderen<br />

Worten, ich bin das wahrlich Transzendente. Das Nicht-<br />

Dualistische ist immer noch nicht wirklich das Transzendente,<br />

da es sich selbst irgendwie als besser oder größer<br />

143


als das Dualistische sieht, was an sich immer noch sehr<br />

dualistisch ist.<br />

Normalerweise nennen wir den Dualistischen Geist unwissend<br />

und verblendet, weil er glaubt, einzeln und abgesondert<br />

zu sein. Der Nicht-Dualistische Geist ist ebenso verblendet,<br />

weil auch er unvollständig und unwissend ist -<br />

ignorant, weil er ignoriert. Er ignoriert das Gesetz von<br />

Ursache und Wirkung, und das ist gefährlich: als stecke man<br />

seinen Kopf in den Sand. Bei Ignoranz geht es nicht nur<br />

darum, nicht zu wissen - Ignoranz bedeutet das Ignorieren<br />

von dem, was wahr ist, was ist. In der Tat kann Nicht-Wissen<br />

eine große Weisheit bedeuten, denn Nicht-Wissen ist<br />

offen und ohne Standpunkt.<br />

Ich bin das Wahre Selbst, das wahrlich Transzendente,<br />

was bedeutet, dass ich Dualität und Nicht-Dualität wirklich<br />

umfasse. Ich fühle mich wohl, vollkommen wohl mit beiden,<br />

als beide, alle beide seiend. Du musst verstehen, dass das<br />

Nicht-Dualistische wirklich ausgezeichnet ist, um damit auf<br />

einem Meditationskissen zu sitzen, aber nimm es mit auf<br />

den Markt, und es hat Schwierigkeiten, weißes von dunklem<br />

Brot zu unterscheiden, Brötchen von Gebäck. Es hat<br />

da wirklich eine schwere Zeit, so ohne Verlangen und ohne<br />

Streben.<br />

Ich umfasse Verlangen und Streben und Angst und Unterscheidungen.<br />

Ich umfasse sie alle, aber ich bin durch sie<br />

nicht gebunden. Ich bin ihnen nicht verhaftet. Ich kann nach<br />

etwas verlangen und das Verlangen loslassen, falls es nicht<br />

erfüllt wird. Ich kann daran denken, sagen wir mal, diesen<br />

ganzen Planeten auf eine höhere Ebene des Bewusstseins<br />

zu bringen, und falls es in diesem Leben nicht geschieht,<br />

dann ist es eben so. Zumindest ist es die Anstrengung und<br />

die Arbeit im Laufe dieses Lebens wert. Ich erkenne, dass<br />

die Fortschritte, die ich in diesem Leben mache, von anderen<br />

fortgeführt werden können, weil all die anderen, die<br />

144


nach mir kommen, auch ich sind - und doch sind sie nicht<br />

ich. Ich habe keine Schwierigkeiten, zwischen dualistisch<br />

und nicht-dualistisch oder nicht-zwei zu unterscheiden - und<br />

doch gibt es weder zwei noch eins.<br />

Ich bleibe nirgendwo stecken. Ich bin vollständig integriert<br />

und frei-wirkend - ein integrierter und frei-wirkender<br />

Mensch. Ich kann mich zwischen dem Dualistischen und<br />

dem Nicht-Dualistischen so frei bewegen, dass ich mir der<br />

Ubergänge nicht mal mehr bewusst bin. Ich bewege mich<br />

fortwährend von einem zum anderen, ohne dass es eine<br />

Lücke oder einen Schleier zwischen beiden gäbe. Beide sind<br />

immer zugänglich und vorhanden, und die Bewegung geschieht<br />

in der Tat so schnell, dass sie ununterscheidbar wird.<br />

Es besteht ganz einfach keine Abgrenzung zwischen den<br />

beiden. Ich unterscheide mich von der Nicht-Dualität, weil<br />

sie immer noch ein klein bisschen im Nicht-Dualistisch-Sein<br />

feststeckt und Nicht-Dualität der Dualität vorzieht.<br />

In dem Moment, in dem wir zu <strong>Big</strong> Heart wechseln,<br />

kommen die Unterscheidungen zurück. Durch das Bezeugen<br />

des Leidens anderer Wesen kommen Gefühle auf, kommen<br />

Emotionen auf, kommt Liebe auf, und Leidenschaft<br />

entsteht. Mit <strong>Big</strong> Heart geht großes Mitgefühl einher, denn<br />

wenn man aus der Nicht-Dualität in die Dualität zurückkehrt,<br />

gibt es Unterscheidungen und daraus erwächst Mitgefühl.<br />

Ich bin Weibliches/Männliches Mitgefühl, ich bin jedoch<br />

auch <strong>Big</strong> Mind. Ich bin also eher wie das Yin/<br />

Yang-Symbol - <strong>Big</strong> Mind ist der Yang-Aspekt, und <strong>Big</strong><br />

Heart ist die Yin-Seite, die Yang umfasst. Wenn man dieses<br />

Symbol dreht, so bin ich dieser Fluss von Yin und Yang,<br />

Ost und West, Nord und Süd. Ich bin die Bewegung und der<br />

Fluss dieser Energie.<br />

145


7<br />

DIE ZEHN<br />

PERFEKTIONEN<br />

DER<br />

VORTREFFLICHKEIT<br />

147


Großzügigkeit<br />

FACILITATOR: Dürfte ich jetzt mit der Stimme der Großzügigkeit<br />

sprechen?<br />

GROSSZÜGIGKEIT: Gut, ich bin die Stimme der Großzügigkeit.<br />

FACILITATOR: Erzähl mir von dir.<br />

GROSSZÜGIGKEIT: Ich bin ganz einfach großzügig, weil mir<br />

das Geben Freude bereitet. Ich handle mit Offenheit, und<br />

meine Handlungen sind transzendenter Natur. Bei mir geht<br />

es vor allem um Loslassen, um Hingabe. Ich versuche nicht,<br />

Dinge festzuhalten oder Sicherheiten zu schaffen. Nichts<br />

bringt ihm mehr Erfüllung, als großzügig zu sein, sein Leben<br />

anderen zu widmen und zu geben. Dies funktioniert in<br />

etwa so wie bei einem Gartenschlauch. Wenn sowohl der<br />

Hahn als auch die Düse zugedreht sind, kann das Wasser<br />

nicht fließen und der Schlauch enthält gerade so viel, wie<br />

in ihm ist. Falls sich noch Wasser im Schlauch befindet, steht<br />

diese Menge zur Verfügung, mehr nicht. Nichts kommt<br />

dazu, nichts fließt mehr ab. Dreht man jedoch den Hahn und<br />

die Düse auf, kann das Wasser frei fließen. So ist das mit<br />

mir, mit der Großzügigkeit.<br />

Je mehr ich gebe und je mehr ich bereit bin, zu dienen,<br />

desto mehr kann aus der Quelle, ohne dass sie versiegt,<br />

durch mich hindurchfließen. Statt ein Eimer zu sein, bin ich<br />

eher ein Leitungsrohr. Ein Eimer ist begrenzt: Man kann<br />

ihn nur bis zu einer bestimmten Kapazität füllen, dann fließt<br />

149


er über. Ich denke, viele Leute bewegen sich wie Eimer<br />

durchs Leben. Sie sind schon bis obenhin gefüllt, und wenn<br />

dann noch ein bisschen mehr dazukommt, gibt ihnen das<br />

den Rest, und sie können damit nicht umgehen. Bei einem<br />

Schlauch fließt nie zu viel. Solange die Düse weit offen steht,<br />

fließt das Wasser ganz einfach hinaus. Auf diese Weise<br />

kann also das, was über das Selbst hinausgeht, kontinuierlich<br />

fließen.<br />

Ich weiß, dass jeder von uns nur ein Gefäß ist, oder man<br />

könnte auch sagen, ein Medium oder ein Fahrzeug für diese<br />

Quelle, diese Energie - für dasjenige, das größer ist als<br />

das Selbst, wie wir es auch nennen wollen. Es gibt viele<br />

Namen: Wir können es Gott nennen, wir können es den<br />

Schöpfer nennen, wir können es Energie nennen, wir können<br />

es Buddha nennen, Dharma. Doch wenn wir uns erlauben,<br />

frei zu geben und wirklich großzügig zu sein, ist das<br />

Leben überaus erfüllend. Es gibt nichts Erfüllenderes, als<br />

ein offener Kanal zu sein, die Quelle einfach ungehindert<br />

durch sich hindurchfließen zu lassen.<br />

FACILITATOR: Wie fühlst du dich als Großzügigkeit, wenn<br />

deine Großzügigkeit nicht anerkannt und geschätzt wird?<br />

GROSSZÜGIGKEIT: Das Bemerkenswerte ist, dass ich nicht<br />

bestimmen kann, was andere mit meiner Großzügigkeit<br />

anfangen. Ich kann keine Erwartungen daran knüpfen.<br />

Wenn ich will, dass sich der Obdachlose, der um Geld bettelt,<br />

mit den Euros, die ich ihm gebe, etwas zu Essen kauft,<br />

so könnte ich natürlich enttäuscht sein, weil er sich von dem<br />

Geld wahrscheinlich Alkohol kaufen wird. Wenn ich keine<br />

Erwartungen habe, muss ich ihn auch nicht verurteilen und<br />

ich muss auch nicht bestimmen, was er mit meinem Geschenk<br />

macht.<br />

Mit der Lehre ist es genauso. Es sind keine Bedingungen<br />

oder Erwartungen daran gekoppelt, und es steht jedem<br />

frei, was er oder sie damit tut. Vor Jahren war das noch<br />

150


anders. Bis 1999 lag mir viel daran, dass die Leute das, was<br />

sie von <strong>Genpo</strong> gelernt hatten, auch wirklich benutzten, um<br />

ihre Zen-Praxis zu vertiefen, um mehr Klarheit zu erlangen,<br />

um härter zu trainieren und mehr zu sitzen, um Fortschritte<br />

zu erzielen. Dies war äußerst frustrierend und mündete<br />

schließlich 1994 in <strong>Genpo</strong>s Erschöpfungszustand. Von dem<br />

er sich nicht wirklich erholte, bis er 1999 den <strong>Big</strong>-Mind-<br />

Prozess entdeckte. Doch auch dann war er noch seinen eigenen<br />

Hoffnungen und Erwartungen verhaftet, wollte, dass<br />

die Menschen den Prozess tatsächlich verstanden, zu hundert<br />

Prozent. Es dauerte noch ein paar Jahre, bevor er auch<br />

das loslassen konnte und es ihn nicht mehr kümmerte. Seitdem<br />

verläuft der Prozess weitaus erfolgreicher.<br />

Jetzt gebe ich es einfach. Was Leute damit tun, ist ihre<br />

Sache. Es ist ein Geschenk. Sie können es zerreißen, sie<br />

können es gebrauchen, vielleicht in einem anderen Leben,<br />

vielleicht in diesem Leben. Sie können es anerkennen und<br />

schätzen, oder sie können es ablehnen. Als er anfänglich <strong>Big</strong><br />

Mind unterrichtete, wollte er, dass es zumindest gewürdigt<br />

wurde. Ich kann mich erinnern, dass er enttäuscht war, wenn<br />

fünf von hundert Leuten im Raum das Gefühl hatten, es<br />

nicht wirklich zu verstehen - und diese fünf waren natürlich<br />

auch enttäuscht. Fünfundneunzig Prozent, das ist doch<br />

nicht schlecht, sondern ziemlich gut - nicht wahr?<br />

Jetzt sind es beinahe hundert Prozent, und was den Unterschied<br />

ausmacht, denke ich, ist dieses „Sich-Nicht-Kümmern”.<br />

So sehe ich es zumindest. Manchmal sagt er es sogar<br />

zu Beginn eines Workshops: „Wisst ihr, mir ist es wirklich<br />

egal, ob ihr von diesem Workshop etwas habt oder nicht.<br />

Ich möchte ganz einfach nur Spaß mit euch haben. Ich hoffe,<br />

es wird euch Spaß machen, und falls nicht, dann ist das<br />

auch in Ordnung. Es ist ein Spiel, vergnügt euch. Ich finde,<br />

dass es nichts Aufregenderes gibt, als herauszufinden, wer<br />

man ist.” Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer müssen es<br />

151


nicht schätzen, ich gebe es freizügig. Es sind keine Bedingungen<br />

daran gekoppelt. Was sie damit anfangen wollen, ist<br />

ihre Sache.<br />

Ich erinnere mich an einen großartigen Zen-Meister namens<br />

Yamada <strong>Roshi</strong>. Kurz bevor er starb, mit Mitte 80,<br />

verbrachte <strong>Genpo</strong> etwas Zeit mit ihm. Eines Tages erzählte<br />

ihm Yamada <strong>Roshi</strong>: „Ich musste siebzig Jahre alt werden,<br />

bevor ich wirklich an den Punkt kam, mich nicht mehr darum<br />

zu kümmern, was die Leute von mir dachten oder von<br />

mir erwarteten oder wie sie mich sahen. Welche Befreiung!<br />

Es gibt nichts Vergleichbares.” Aber, meinte er weiter, „bis<br />

dahin habe ich mir immer noch Sorgen gemacht und mich<br />

darum gekümmert, wie die Menschen mich sahen, was sie<br />

von mir dachten, wie sie mich schätzten oder auch nicht<br />

schätzten. Was für eine Erleichterung, als mich das nicht<br />

mehr kümmerte.”<br />

Dies ist so wichtig. Ich nenne es „Sich-Nicht-Kümmern”.<br />

Ich weiß, es klingt etwas negativ, aber es bedeutet<br />

eigentlich, dass man an das, was man gibt, keine Bedingungen<br />

knüpft. Angenommen, wir geben unseren Kindern Geld<br />

und sie kaufen sich damit Süßigkeiten. Gut, das tun sie nun<br />

einmal. Falls wir wollen, dass sie sich etwas anderes kaufen -<br />

nun, dann sollten wir ihnen das geben anstelle des Geldes<br />

- denn wenn wir ihnen erst einmal Geld gegeben haben,<br />

dann haben wir es gegeben. Lassen wir es los, und es wird<br />

uns viel Schmerz und Kummer ersparen.<br />

FACILITATOR: Muss man denn erst siebzig Jahre alt werden<br />

oder völlig erschöpft sein, um dies zu erkennen?<br />

GROSSZÜGIGKEIT: <strong>Genpo</strong> musste viel Lehrgeld bezahlen. Er<br />

lernt nicht so schnell. Am Besten lernt er intuitiv und indem<br />

er die Dinge durchlebt. Wir alle lernen auf verschiedene<br />

Art und Weisen. Es gibt eine alte Geschichte, die dies<br />

am Beispiel von Pferden illustriert: Da ist ein Pferd, das<br />

wirklich allen anderen überlegen ist. Es muss nur aus den<br />

106


Augenwinkeln die Peitsche sehen und rennt schon los. Einem<br />

nicht so schlauen Pferd muss man mit der Peitsche<br />

einen Hieb versetzen, und das wirklich begriffsstutzige muss<br />

man mit der Peitsche sehr heftig schlagen. Das ist <strong>Genpo</strong>.<br />

Ich denke, er ist die Sorte, die es durch und durch spüren<br />

muss.<br />

FACILITATOR: Wo warst du als Großzügigkeit, wenn <strong>Genpo</strong><br />

einen Groll oder Erwartungen hegte?<br />

GROSSZÜGIGKEIT: Ich war da, als Großzügigkeit, doch immer<br />

noch mit Bedingungen verknüpft. Ich denke, dass es<br />

verschiedene Arten der Großzügigkeit gibt. Man kann frei<br />

geben, und man kann geben und dies an eine Erwartung binden,<br />

und diese Erwartung kann ganz einfach sein, dass man<br />

geschätzt werden möchte. Mit anderen Worten, wenn etwas<br />

wirklich frei gegeben wird, muss noch nicht einmal jemand<br />

wissen, von wem es kommt. Man sollte für das, was man<br />

gegeben hat, nicht auf Dankbarkeit oder Wertschätzung<br />

hoffen. Wenn man will, dass Leute für das Gegebene dankbar<br />

sind, es schätzen oder im Gegenzug selbst etwas geben,<br />

so ist dies nicht mehr „frei geben” im wahrsten Sinne des<br />

Wortes. Obwohl man etwas gibt, hält man doch noch an dem<br />

Geschenk fest oder an dem, was man im Gegenzug dafür<br />

erhält.<br />

In der Bibel gibt es einen Spruch über die linke Hand,<br />

die nicht weiß, was die rechte tut. Im Zen haben wir auch<br />

eine Redewendung, die besagt, dass das größte Geschenk<br />

das Geschenk der Angstfreiheit ist. Für mich ist dies das Geschenk<br />

von <strong>Big</strong> Mind, denn in <strong>Big</strong> Mind gibt es absolut keine<br />

Angst. Nur wenn alle Grenzen aufgelöst sind oder überstiegen<br />

wurden, verschwindet die Angst - und das ist das größte<br />

Geschenk.<br />

Die Fähigkeit, sich nicht zu kümmern, frei von Erwartungen<br />

zu sein, ist ein weiteres Geschenk von <strong>Big</strong> Mind.<br />

In unserer Gesellschaft sind wir, denke ich, sehr darüber<br />

153


esorgt, wie wenig wir uns kümmern, wie selbstbezogen und<br />

habgierig wir sind, und wir erkennen, dass wir uns mehr<br />

kümmern und mehr Mitgefühl und mehr Einfühlungsvermögen<br />

zeigen sollten. All das ist zweifelsfrei wichtig. Doch<br />

wir sehen die Kehrseite der Medaille nicht: In mancherlei<br />

Hinsicht sorgen und kümmern wir uns zu viel. Oder man<br />

könnte sagen: Wir haften zu sehr an, und das hindert uns<br />

daran, wirklich frei, glücklich und voller Freude zu sein.<br />

Andernfalls könnte alles besser fließen, unser Leben und<br />

die ganze Welt.<br />

Können Sie sich eine Welt vorstellen, in der jede und<br />

jeder ganz einfach frei und glücklich ist, in der alle aus Großzügigkeit<br />

handeln und freizügig ohne Bedingungen geben?<br />

Es ist beinahe nicht vorstellbar, so anders wäre dieser Ort.<br />

Genau darin liegt unsere Arbeit. Dies ist unsere Aufgabe.<br />

Darum geht es in diesem Buch. Falls genügend Menschen<br />

diese Bewusstseinsebene erreichen, so glaube ich, kann es<br />

zu einer Transformation des ganzen Planeten kommen. Ich<br />

weiß nicht, von welchem Prozentsatz wir da ausgehen müssen<br />

- Ken Wilber meint, um die zehn Prozent. Ich bin davon<br />

überzeugt, dass es einen Wendepunkt gibt, und sollten<br />

wir weltweit dort ankommen, wird sich das Bewusstsein des<br />

ganzen Planeten ändern. Dies ist unsere Aufgabe, dazu sind<br />

wir hier, und ich glaube, das geht uns alle an. Niemand<br />

entkommt, denn wir sitzen alle im selben Boot, wir befinden<br />

uns alle auf demselben Planeten. Es ist eine globale<br />

Angelegenheit. Wir werden es entweder schaffen oder daran<br />

zerbrechen.<br />

Ein alter Zen-Spruch, ein Koan - ein sehr schönes<br />

Koan, das zudem eines meiner Lieblingskoans ist - handelt<br />

von einem Büffel, der ein Gitterfenster passiert. Das Koan<br />

lautet folgendermaßen: „Ein Büffel samt seinem Kopf, seinen<br />

Hörnern und seinen vier Beinen passiert ein Gitterfenster.<br />

Warum bleibt sein Schwanz stecken?”<br />

106


Dies ist meiner Ansicht nach eines der fantastischsten<br />

Koans, weil es die Essenz der gesamten Zen-Lehre vermittelt.<br />

In diesem Koan passiert der Kopf, unser konzeptioneller<br />

Geist, die Barriere. Auch die Hörner, unser dualistischer<br />

Geist, kommen durch. Mit anderen Worten, wir erreichen<br />

Nicht-Dualität. Wenn nun der Kopf, die vier Beine und all<br />

unsere Ideen und Ansichten wegfallen, warum bleibt dann<br />

der Schwanz stecken, wo der Schwanz im Vergleich zu diesem<br />

riesigen Büffel doch so dünn ist? Die Antwort hat mit<br />

zwei Dingen zu tun, mit den zwei Seiten der einen Wirklichkeit:<br />

dem Nicht-Dualistischen und dem Dualistischen,<br />

dem Absoluten und Relativen.<br />

Natürlich, von der absoluten Seite her gesehen, welches<br />

Fenster gibt es da, das man passieren könnte? Aus der Sicht<br />

von <strong>Big</strong> Mind gibt es nichts, das passiert werden könnte, und<br />

niemanden, der irgendwo durchgeht. Es gibt kein Fenster,<br />

keinen Büffel, kein Selbst, kein Ich, kein Du. Nichts, das<br />

passiert werden kann. Kein Tor. Aus absoluter Sicht ist es<br />

torlos.<br />

Von der relativen Seite aus gesehen stellt dieser Schwanz<br />

uns alle auf diesem Planeten dar, jedes Wesen. Bis jedes<br />

Wesen diesen hier angesprochenen Zustand erreicht, in<br />

dem wir frei, glücklich, froh und wahrlich großzügig sind,<br />

gibt es keine Befreiung. Wir können nicht durchkommen.<br />

Im Zen nennen wir dies die Bodhisattva-Gelübde. Ich gelobe,<br />

alle Wesen zu befreien, auch noch das allerletzte<br />

Wesen, bevor ich selbst passiere. Wenn wir unsere Situation<br />

klar erkennen, kommt dieses Gelübde ganz natürlich in uns<br />

auf. Es ist kein großes Rätsel. Wir alle sitzen zusammen im<br />

selben Boot, als ein Geist, ein Körper.<br />

FACILITATOR: Dies hört sich ja überhaupt nicht nach „nicht<br />

kümmern” an.<br />

155


GROSSZÜGIGKEIT: Ich denke, das Entscheidende ist das notwendige<br />

Gegengewicht. Je mehr ich mich nicht kümmere<br />

und nicht sorge, desto mehr kann ich mich tatsächlich kümmern,<br />

desto mehr kann ich geben. Je losgelöster ich bin,<br />

desto mehr kann ich an der Befreiung aller Wesen festhalten.<br />

Wie könnte ich mit der enormen Verantwortung umgehen,<br />

wenn ich mich zu sehr sorgen würde? Ich wäre durch<br />

meine Sorge schon eingeschränkt. Anders ausgedrückt, ich<br />

kann mich voll und ganz kümmern, gerade weil ich „Nicht-<br />

Kümmern” verkörpere. Für mich sind Nicht-Kümmern und<br />

Kümmern absolut untrennbar, absolut eins.<br />

Genau hier zeigt sich das Zusammenspiel von <strong>Big</strong> Mind<br />

und <strong>Big</strong> Heart. <strong>Big</strong> Mind kümmert sich nicht, ist völlig<br />

gleichgültig. Alles ist ganz einfach so, wie es ist - perfekt,<br />

vollkommen, ganz. <strong>Big</strong> Heart kümmert sich noch um das allerkleinste<br />

Insekt, es liebt und fühlt alles und jeden in gleicher<br />

Weise.<br />

FACILITATOR: Könnte ich zum Wahren Selbst zurückkommen<br />

und mit ihm sprechen?<br />

WAHRES SELBST: Gut, ich spreche.<br />

FACILITATOR: Ich würde gerne nochmals die Kennzeichen<br />

weiser und angemessener Handlung betrachten. Ich benötige<br />

hierbei etwas Hilfe. Hast du einen Vorschlag, mit welcher<br />

Stimme ich sprechen könnte?<br />

Weise oder Angemessene Handlung<br />

WAHRES SELBST: Du könntest wieder das Dreieck verwenden,<br />

um mit drei scheinbar ganz unterschiedlichen Sichtweisen<br />

unserer Handlungen zu sprechen, welche die Buddhisten<br />

die „Drei Fahrzeuge” nennen: Hinayana, Buddhayana,<br />

und Mahayana. Diese Drei Fahrzeuge oder Sichtweisen manifestieren<br />

sich als eine freie und integrierte, unfixierte Art,<br />

unser Leben zu leben.<br />

156


Ich schlage vor, dass du mit dem buchstabengetreuen<br />

Geist beginnst. Sprich dann zu <strong>Big</strong> Mind. Dann kannst du<br />

zu mir als der Spitze des Dreiecks zurückkommen: weise<br />

oder angemessene Handlung.<br />

Buchstabengetreuer Geist<br />

FACILITATOR: Könnte ich bitte mit dem Buchstabengetreuen<br />

Geist sprechen?<br />

BUCHSTABENGETREUER GEIST: Ja, du sprichst mit dem<br />

Buchstabengetreuen Geist.<br />

FACILITATOR: Erzähle mir von dir.<br />

BUCHSTABENGETREUER GEIST: Nun, manchmal werde ich<br />

als eng oder begrenzt betrachtet, und mir gefallen diese<br />

Begriffe, insofern sie sich auf mich beziehen, ganz und gar<br />

nicht. Ich sehe Dinge eher auf eine geradlinige, eine fundamentale<br />

und orthodoxe Art. Meine Sichtweise ist berechtigt;<br />

tatsächlich denke ich, dass sie die ehrlichste Sicht ist.<br />

Falls man in die Tiefe gehen will, muss man manchmal ein<br />

enges Loch graben. Falls man es zu breit macht, ist es viel<br />

schwieriger, ganz nach unten, auf den Grund, vorzustoßen.<br />

Zum Beispiel weiß ich, dass es falsch, absolut falsch ist, zu<br />

töten und einem anderen das Leben zu nehmen, sei dies ein<br />

Mensch oder eine Mücke. Ich erkenne dies als wahr, buchstäblich<br />

wahr. Aus meiner Sicht ist alles Leben heilig. Alles<br />

Leben ist eine Verlängerung meines eigenen Lebens, und<br />

dies trifft auch auf das Leben eines Walfischs, eines Elefanten<br />

oder sogar auf das Leben von Insekten zu. Ich nehme<br />

diese Dinge sehr ernst und versuche, niemandem zu schaden,<br />

niemanden zu verletzen oder zu töten. Ich achte darauf,<br />

alles Leben zu schätzen und zu unterstützen, von Menschen<br />

bis hin zu Insekten.<br />

Ich stehle nicht. Ich nehme nichts, das mir nicht gegeben<br />

oder verkauft wurde, noch nicht einmal ein Stück Seife.<br />

Mein sexuelles Verhalten ist angemessen, und ich bin nicht<br />

157


habgierig. Ich spreche die Wahrheit und lüge nicht. Ich berausche<br />

mich nicht. Ich spreche nicht über die Abwege und<br />

Fehler anderer. Weder erhebe ich mich über andere, noch<br />

tadle ich sie. Ich bin nicht geizig; vor allem nicht mit der<br />

Lehre. Ich fühle keinen Hass, und ich gestatte mir nicht, in<br />

Wut zu verfallen. Ich spreche nicht schlecht über meine<br />

Lehrerinnen und Lehrer, ihre Lehren und die Gemeinschaft.<br />

Was ist so engstirnig an mir? Ich folge Vorschriften und<br />

Verhaltensregeln, und ich tue mein Möglichstes, sie nicht<br />

zu übertreten. Ich glaube an das Gesetz, sowohl das von<br />

Menschenhand geschriebene als auch das Gesetz von Ursache<br />

und Wirkung. Was du nicht willst, dass man dir tu, das<br />

füg auch keinem anderen zu - so sieht meine Übung aus.<br />

Aus mir schöpft <strong>Genpo</strong> viel Selbstvertrauen und Kraft sowie<br />

die Stärke, die deutliche Grenzen und Beschränkungen<br />

ihm geben. Was mich betrifft, muss man sich an diese<br />

Grundsätze halten, wenn man sowohl ethisch als auch moralisch<br />

sein will. Was ist daran so schlecht?<br />

FACILITATOR: Es scheint, als hättest du das Gefühl, dich<br />

verteidigen zu müssen. Dürfte ich bitte mit einer anderen<br />

Stimme sprechen, falls es dir nichts ausmacht?<br />

BUCHSTABENGETREUER GEIST: Okay, doch denke ich<br />

nicht, dass ich mich verteidigend gebe. Ich fühle mich ganz<br />

und gar nicht so, aber bitte, du kannst fortfahren.<br />

<strong>Big</strong> Mind<br />

FACILITATOR: Ich möchte gerne mit <strong>Big</strong> Mind sprechen.<br />

BIG MIND: Ich bin <strong>Big</strong> Mind.<br />

FACILITATOR: Nun, wie siehst du das, worüber der Buchstabengetreue<br />

Geist soeben sprach?<br />

BIG MIND: Ich sehe aus einer anderen Perspektive als der<br />

Buchstabengetreue Geist. Ich erkenne, dass es nichts gibt,<br />

das verletzt oder beschädigt oder getötet werden könnte,<br />

158


dass alles eine Erscheinungsform von mir, von <strong>Big</strong> Mind, ist.<br />

Es gibt niemanden, die oder der das Verletzen oder Töten<br />

ausführen oder über andere schlecht sprechen könnte, und<br />

es gibt niemanden, die oder der verletzt oder getötet oder<br />

beschuldigt werden könnte. Es gibt kein Subjekt/Objekt. Für<br />

mich wäre selbst der Gedanke, dass es „andere” gäbe, eine<br />

Art Verblendung. Es gibt keine anderen. Es gibt nur dies.<br />

Alles ist Ein Geist. Es bestehen keine Trennung und kein<br />

Abstand zwischen dem einen Ding und einem anderen.<br />

Alles ist eins.<br />

FACILITATOR: Gut, könnte ich nun mit einer dritten Stimme<br />

sprechen?<br />

BIG MIND: In Ordnung.<br />

Weise oder Angemessene Handlung<br />

FACILITATOR: Jetzt würde ich gerne mit der Stimme sprechen,<br />

die sowohl die buchstabengetreue als auch die <strong>Big</strong>-<br />

Mind-Perspektive enthält und sie beide übersteigt. Sie enthält<br />

und umfasst sie also beide, geht aber über sie hinaus -<br />

die Spitze des Dreiecks.<br />

Weise oder<br />

Angemessene Handlung<br />

Buchstabengetreuer<br />

Geist<br />

<strong>Big</strong> Mind/Ein Geist<br />

159


WEISE ODER ANGEMESSENE HANDLUNG: In Ordnung, ich<br />

bin diese Stimme.<br />

FACILITATOR: Könntest du mir von dir erzählen?<br />

WEISE ODER ANGEMESSENE HANDLUNG: Nun, offensichtlich<br />

umfasse ich die buchstabengetreue und die <strong>Big</strong>-Mind-<br />

Perspektive. Meine Handlungen sind weise und angemessen<br />

und harmonieren mit seiner Position, entsprechend dem<br />

Zeitpunkt, dem Ort und dem Ausmaß. Was angemessen ist,<br />

hängt von der Situation ab und ändert sich entsprechend.<br />

Auch seine Position ändert sich ständig. Manchmal befindet<br />

er sich in der Rolle des Lehrers, manchmal in der des<br />

Studenten. Manchmal ist er in der Position des Vaters,<br />

manchmal in der des Sohnes. Es kann sein, dass er sich in<br />

der Position des Angestellten wiederfindet und die Aufträge<br />

des Vorstands ausführen muss oder als Direktor, der mit<br />

den Angestellten umgehen muss, die für ihn arbeiten. In<br />

Einklang mit Zeit, Ort und Situation ändert sich seine Position<br />

also ständig.<br />

Angemessenes Handeln hängt auch vom Zeitpunkt ab.<br />

Eine Handlung kann in einem Augenblick weise und angemessen<br />

sein und sich im nächsten Augenblick als unangemessen<br />

herausstellen. Das Gleiche gilt für den Ort. Was an<br />

einem Ort angemessen ist, mag woanders vollkommen unangemessen<br />

sein. Auch das richtige Maß, der richtige Umfang,<br />

bestimmt, ob eine Handlung weise ist oder nicht. Die<br />

Dauer kann entweder zu lang oder zu kurz sein. Wenn er<br />

zum Beispiel einen Vortrag hält und redet und redet und<br />

redet, wird es, selbst wenn er am richtigen Ort zu den richtigen<br />

Leuten zum richtigen Zeitpunkt spricht, irgendwann<br />

zu viel. Das Maß ist also auch sehr wichtig. Falls er sich nicht<br />

genügend oder zu viel Zeit nimmt, wird sein Vortrag unangemessen.<br />

Als Weise Handlung erkenne ich, dass man nicht töten<br />

oder lügen oder stehlen und auch nicht geizig oder gierig<br />

106


sein sollte, und gleichzeitig erkenne ich, dass alles leer und<br />

ohne Substanz ist. Es gibt niemanden, die oder der verletzt<br />

werden könnte, und niemanden, der töten könnte; niemanden,<br />

der lügen oder stehlen könnte. Diese ethischen Regeln<br />

kommen aus unserem dualistischen Denken, und aus meiner<br />

Sicht gibt es keinen Dualismus. Mein Ansatz ist nichtdualistisch.<br />

Gleichzeitig kann ich die dualistische Perspektive<br />

erkennen. Ich erkenne sowohl Dualität als auch<br />

Nicht-Dualität, und ich bin weder auf das eine noch auf das<br />

andere fixiert. Ich bin keinem der beiden verhaftet.<br />

Ich handle also so, wie es in einer gegebenen Situation<br />

am angemessensten ist. Diese Reaktion erwächst aus meiner<br />

Weisheit, meiner Klarheit und meinem Mitgefühl für<br />

alle Wesen. Alles Leben ist eine Manifestation des Einen<br />

Geistes, also schätze ich alles Leben als ich. Es könnte eine<br />

Situation geben, in der ich tatsächlich töte, zum Beispiel<br />

eine Mücke; aber wenn ich im Freien sitze, wäre es ein<br />

endloses Vorhaben, also versuche ich es nicht einmal. Falls<br />

ich nachts im Bett liege und eine Mücke surrt um meinen<br />

Kopf, werde ich sie vielleicht töten. Im Allgemeinen wäre<br />

es natürlich die ethischste Haltung, kein Leid zuzufügen.<br />

Doch könnte es Situationen geben - dies ist eher die Ausnahme<br />

als die Regel -, in der ich zum Wohl der Allgemeinheit<br />

oder für einen guten Zweck oder ein übergeordnetes<br />

Ziel Leid zufüge.<br />

Es könnte also sein, dass ich über jemanden negativ<br />

spreche oder zu bestimmten Zeiten habgierig oder geizig<br />

erscheine, falls dies die richtige oder angemessenste Handlung<br />

zu diesem Zeitpunkt ist. Ich erkenne, dass alles relativ<br />

ist, dass meine Position oder Rolle in einer Situation, die<br />

Zeit, der Ort und das Maß meiner Handlung die An- beziehungsweise<br />

Unangemessenheit meiner Handlung bestimmen.<br />

Die einzige Richtlinie ist mein eigenes abwägendes<br />

Urteil, basierend auf der Weisheit von <strong>Big</strong> Mind und dem<br />

161


Mitgefühl, das aus dem buchstabengetreuen Verständnis<br />

entsteht, kein Leid zu verursachen.<br />

Ich schätze und respektiere den Besitz und das Eigentum<br />

anderer. Ich gebe freizügig. Ich handle nicht selbstbezogen<br />

oder egoistisch. Ich bin wahrheitsgetreu, es sei<br />

denn, es ist der Umstände wegen nicht angebracht. Ich bin<br />

nüchtern, achtsam und gewahr und erlaube mir nicht, von<br />

Alkohol oder von meinen eigenen Ideen und Ansichten zu<br />

sehr berauscht zu sein. Ich unterlasse es, über Fehler und<br />

Mängel anderer zu reden, und ich finde Wege, freundlich<br />

und behutsam zu sprechen. Ich erhebe mich nicht über andere<br />

und beschuldige andere nicht. Ich demütige niemanden,<br />

um mich selbst aufzubauen. Ich bin ganz einfach nur<br />

nett und großzügig. Ich suche nicht nach Fehlern bei anderen<br />

und übernehme die volle Verantwortung für meine Handlung<br />

und die daraus entstehenden Reaktionen - deren Ursache<br />

und Wirkung. Ich bin freigiebig. Ich bin freudvoll,<br />

freundlich und empfinde anderen gegenüber Mitgefühl.<br />

FACILITATOR: Hegst du jemals Zweifel in Bezug auf deine<br />

früheren Handlungen und denkst, dass sie vielleicht doch<br />

nicht die bestmögliche Vorgehensweise waren?<br />

WEISE ODER ANGEMESSENE HANDLUNG: Sicherlich.<br />

Denn was richtig oder falsch ist, ändert sich mit Situation,<br />

Zeitpunkt und Ort, und mit der Zeit erscheint das, was zu<br />

einem bestimmten Zeitpunkt noch richtig war, für die Zukunft<br />

nicht mehr passend; oder was in der Vergangenheit<br />

richtig war, erscheint uns nun nicht mehr als die beste Entscheidung,<br />

und die beste Entscheidung zu diesem Zeitpunkt<br />

wird vielleicht in der Zukunft nicht mehr die beste Entscheidung<br />

sein. Es ist ein ewiges Hin und Her, und ich glaube,<br />

es bringt nichts, darüber viel zu sinnieren. Man trifft in einer<br />

Situation die beste Entscheidung mit den besten Mitteln,<br />

die einem zur Verfügung stehen. Ich denke, daran<br />

müssen wir uns so gut wie möglich halten und bereit sein,<br />

162


die Konsequenzen zu tragen - die karmischen Konsequenzen,<br />

falls unsere Entscheidungen nicht die besten waren.<br />

Uns bleibt nichts anderes übrig, als unsere eigenen uns zur<br />

Verfügung stehenden Qualitäten bestmöglich einzusetzen.<br />

Ich denke, dass viele Religionen aus reiner Angst heraus<br />

vorgeben, was man tun und lassen sollte. Mir erschien dies<br />

noch nie sehr zweckdienlich zu sein. Kurzfristig gesehen ist<br />

es vielleicht nützlich, doch in gewisser Weise wird damit nur<br />

viel Angst und Unnachgiebigkeit in den Leuten geschürt.<br />

Eine viel reifere Vorgehensweise regt jedes Individuum<br />

dazu an, volle Verantwortung für Ursache und Wirkung, für<br />

die eigenen Handlungen und deren Konsequenzen, zu tragen.<br />

Die Verantwortung wird also an jeden Einzelnen zurückgegeben,<br />

auf Grundlage seiner Weisheit und seines<br />

Mitgefühls die bestmöglichen Entscheidungen zu treffen.<br />

Vorstellungen darüber, was wir tun und lassen sollten, fesseln<br />

uns nur - „Ich sollte so, aber nicht so sein, ich sollte<br />

dies tun, jenes jedoch unterlassen.” All diese Vorstellungen<br />

fallen zu lassen ist wahre Befreiung. Ich bin weise und angemessene<br />

Handlung.<br />

FACILITATOR: Keine Garantien?<br />

WEISE ODER ANGEMESSENE HANDLUNG: Ich denke, dass<br />

es keine Garantien gibt. Man muss bereit sein, Risiken einzugehen,<br />

und Mut zeigen und einfach weitermachen. Im<br />

Leben gibt es keine Garantien - keine Versicherung, die unsere<br />

Entscheidungen abdeckt.<br />

Beharrlichkeit oder Rechte Anstrengung<br />

FACILITATOR: Dürfte ich bitte mit einer anderen Stimme<br />

sprechen?<br />

WEISE ODER ANGEMESSENE HANDLUNG: Ja, natürlich.<br />

FACILITATOR: Könnte ich mit der Stimme sprechen, die<br />

beharrlich ist, die durchhält?<br />

163


BEHARRLICHKEIT: Ich bin Beharrlichkeit. Ich halte durch.<br />

Ich bin mir bewusst, dass ich mich in einem endlosen Prozess<br />

befinde und dass man längs des Weges leicht mal irgendwo<br />

stecken bleibt. Fortschritte können sich nur sehr langsam<br />

einstellen, und manchmal scheint man wieder da anzukommen,<br />

wo man angefangen hat. Doch selbst dann bewegt man<br />

sich nicht nur im Kreis - es ist vielmehr eine Spirale, und<br />

man kommt voran. Wo ich mich auch auf diesem Kreis oder<br />

dieser Spirale befinde, ist perfekt, solange ich nicht stehen<br />

bleibe. Das Schöne am <strong>Big</strong>-Mind-Prozess ist, dass wir lernen,<br />

wie wir unseren Geist befreien können, ihn lösen können<br />

da, wo er feststeckt.<br />

Mein Job ist es also, beharrlich fortzufahren. Man kann<br />

immer mehr erreichen, mehr erstreben, mehr ausloten, und<br />

unsere Wertschätzung und Dankbarkeit kann sich unendlich<br />

vertiefen. Uns steht es immer offen, noch netter und<br />

freundlicher zu sein, liebender und einfühlsamer. Dieser<br />

Prozess nimmt kein Ende, und ich bin die Stimme, die beharrlich<br />

ist, durchhält und weitermacht.<br />

Schon 1971 wollte er sein erstes Buch Weitergehen nennen.<br />

Auch wenn er es bis jetzt noch nicht geschrieben hat,<br />

gefiel ihm der Titel irgendwie gut, denn er erkannte von<br />

Anfang an, wie wichtig Beharrlichkeit ist: weitermachen,<br />

nicht herumtrödeln oder sich zu lange an einem Ort aufhalten.<br />

Doch auch er blieb stecken - an manchen Stellen sogar<br />

bis zu dreißig, fünfunddreißig Jahre -, er weiß also, dass<br />

es leicht gesagt, aber schwer in die Tat umzusetzen ist.<br />

1997 erkannte er, dass er seit 1971 in der Erkenntnis<br />

festsaß, alle Wesen befreien zu wollen - ein Wunsch, der in<br />

seiner ersten Erfahrung des Erwachens entstand. Erst 1997,<br />

während eines Aufenthalts auf der holländischen Nordsee-<br />

Insel Ameland kam er zu der Einsicht: „Ich stecke hier schon<br />

seit ungefähr sechsundzwanzig Jahren fest!” Die Erkenntnis,<br />

164


dass er diesen Wunsch nicht mehr als Gelübde festhalten<br />

musste, war sehr befreiend.<br />

Zu dem Zeitpunkt dachte er: „Nun, vielleicht höre ich<br />

ganz mit dem Unterrichten auf oder ich arbeite einfach<br />

nicht mehr an meinem Gelübde.” Doch das Gegenteil ist<br />

wahr, sein Wunsch hat sich nur noch mehr vertieft und erweitert.<br />

Was wegfiel, war die Belastung, die daher rührte,<br />

dass er in diesem Gelübde, in dieser Entscheidung, seinem<br />

Leben diesen Zweck zu geben, wie gefangen war. Mitunter<br />

können wir Orte in uns erkennen, an denen wir schon seit<br />

langer, langer Zeit verharren. Ich, die Stimme der Beharrlichkeit,<br />

bin es, die diese Dinge erkennt und einfach weitermacht.<br />

Man könnte mich wohl als „Richtige oder Rechte Anstrengung”<br />

bezeichnen - „richtig” in dem Sinne, dass meine<br />

Anstrengung Mühelosigkeit anstrebt. Obwohl ich beharre,<br />

enthält meine Beharrlichkeit Freude. Ich schiebe nicht und<br />

ich ziehe nicht. Bei mir geht es darum, einen Schritt vor den<br />

anderen zu setzen, etwa wie in dem Koan: „Wie macht man<br />

einen Schritt von einem dreißig Meter hohen Pfahl?” Ich<br />

bin es, der diesen nächsten Schritt setzt, worin dieser Schritt<br />

auch bestehen möge. Oder wir können uns vorstellen, dass<br />

wir eine Leiter hinaufsteigen. Sobald ich meinen linken Fuß<br />

anhebe, um ihn auf die nächste Sprosse zu setzen, sitzt mein<br />

rechter Fuß fest. Sobald ich dann meinen rechten Fuß anhebe<br />

und er frei ist, stecke ich offensichtlich mit meinem<br />

linken Fuß fest. Anheben, niedersetzen, anheben, niedersetzen<br />

- ein kontinuierliches Fortbewegen -, bei dem ich<br />

keine Sprosse auslassen kann. Ich kann also keinen Sprung<br />

vorwärts machen, der überspringt, wo ich mich jetzt in diesem<br />

Augenblick befinde. Ich mache ganz einfach den nächsten<br />

Schritt, beharrlich.<br />

FACILITATOR: Dies klingt, als ob Beharrlichkeit etwas mit<br />

Loslassen zu tun hat, so dass man weiter kann.<br />

165


BEHARRLICHKEIT: Ja, man könnte wohl behaupten, dass ich<br />

nicht am Resultat meiner Arbeit hänge. Anders ausgedrückt:<br />

Ich beharre um der Beharrlichkeit willen. Ich mache<br />

einfach weiter, ohne mich dabei bemühen zu müssen,<br />

vergleichbar mit einem natürlichen Prozess der Entfaltung<br />

und des Erblühens. Es geht wahrlich von selbst. Ich habe<br />

auch viel mit dem Geist, der nach Dem Weg strebt, und auch<br />

mit dem, der Dem Weg folgt, gemein. Es wartet immer noch<br />

mehr auf einen, das man erreichen, verdeutlichen und verfeinern<br />

kann.<br />

Das Gegenteil von Beharrlichkeit<br />

FACILITATOR: Lass mich jetzt bitte mit deinem Gegenteil<br />

sprechen, der Stimme des Gegenteils von Beharrlichkeit.<br />

Ich will ihr keinen Namen geben. Lass uns einfach herausfinden,<br />

wer es ist. Lass mich bitte mit dieser Stimme sprechen.<br />

GEGENTEIL VON BEHARRLICHKEIT: Okay, du sprichst mit<br />

dem Gegenteil von Beharrlichkeit.<br />

FACILITATOR: Nun, erzähl mir von dir.<br />

GEGENTEIL VON BEHARRLICHKEIT: A U S meiner Sicht gibt<br />

es keinen Ort, zu dem man gelangen sollte. Wirklich, es gibt<br />

nichts zu tun, nichts zu erreichen - kein Kommen, kein Gehen,<br />

kein Stillstehen und auch kein Steckenbleiben. Alles<br />

ist vollkommen perfekt, genau so wie es ist, alles ist einfach<br />

nur eine Manifestation von mir, von Diesem, von <strong>Big</strong> Mind.<br />

Ich sehe keine Notwendigkeit für Beharrlichkeit. Es gibt<br />

niemanden, die oder der kommt oder geht, es gibt kein<br />

Problem, kein Ziel und nichts zu erreichen. Und es gibt auch<br />

kein Nicht-Erreichen des Ziels.<br />

FACILITATOR: Nun, würdest du mich jetzt mit der Stimme<br />

sprechen lassen, die sowohl Beharrlichkeit als auch diese<br />

<strong>Big</strong>-Mind-Perspektive umfasst und sie übersteigt?<br />

166


Übersteigt Beharrlichkeit und das<br />

Gegenteil von Beharrlichkeit<br />

DAS TRANSZENDENTE: Ich bin dasjenige, das diese beiden Stimmen<br />

einschließt und sie doch übersteigt. Ich umfasse das Bestreben, Ziele<br />

beharrlich zu verfolgen, und doch erkenne ich, dass es in Wirklichkeit<br />

nichts zu erreichen und nichts zu tun gibt. Von meinem Standpunkt<br />

aus ist alles perfekt, und doch warten immer noch weitere Errungenschaften.<br />

Wo ich bin, fehlt nichts, und doch können wir immer noch<br />

tiefer gehen, uns bewusster werden und noch mehr vollbringen. An<br />

unserer Lage und daran, wie die Dinge sind, ist aus meiner Sicht<br />

nichts verkehrt, und doch können sie sich immer noch weiter verbessern<br />

und besser werden.<br />

Geduld<br />

FACILITATOR: Lass mich nun bitte mit der Stimme der<br />

Geduld sprechen.<br />

GEDULD: Ich bin Geduld. Erst einmal bin ich mir bewusst, dass man<br />

Dinge nicht erzwingen kann: Man kann einen Fluss nicht antreiben.<br />

Man kann einen Baum nicht dazu bringen, schneller zu wachsen, als<br />

er eben wächst. Man kann die Sonne nicht zwingen, schneller aufzugehen,<br />

als sie aufgeht. Die Dinge passieren ganz einfach, wenn die<br />

Zeit dazu reif ist. Oft wissen wir auch einfach nicht, was passieren<br />

wird. Eigentlich wissen wir es nie! Zu jedem gegebenen Zeitpunkt<br />

kann sich der Lauf unseres Lebens ändern, einen Umweg nehmen<br />

oder sich vollkommen wenden. Und wir wissen es erst in dem Augenblick,<br />

in dem es geschieht, und keinen Moment zuvor.<br />

FACILITATOR: Erzähl mir noch ein bisschen mehr von dir.<br />

GEDULD: Ich erkenne die größeren Zusammenhänge. Ich bin<br />

mir bewusst, dass Transformation Zeit braucht. Obwohl eine<br />

167


Umwandlung plötzlich und in einem einzigen Augenblick<br />

passieren kann, geht ihr meistens viel Arbeit voraus. Dann<br />

verändert sich etwas, und wiederum ist viel Mühe gefragt,<br />

um das Erreichte zu stabilisieren und zu integrieren. Im<br />

Grunde genommen bin ich also ganz einfach sehr, sehr geduldig.<br />

Ich sehe die Dinge aus einer größeren Perspektive<br />

heraus und bin entspannt - bei mir eilt es nicht. So kann<br />

ich mit anderen und auch mit dem Selbst geduldig sein.<br />

FACILITATOR: Wie sieht das aus?<br />

GEDULD: Ich lasse sowohl dem Selbst als auch anderen sehr<br />

viel Raum, weil ich weiß, wie schwierig das Leben sein kann<br />

und wie tief verwurzelt und hartnäckig unsere Gewohnheiten<br />

sind. Man kann sie mit den Rädern eines Karren vergleichen,<br />

die durchdrehen und sich immer tiefer im<br />

Schlamm eingraben - Schlamm, der dann trocknet und<br />

wahrlich tiefe, feste Spuren hinterlässt. Derartige negative<br />

Tendenzen, Abhängigkeiten und Gewohnheiten betrachte<br />

ich also auf lange Sicht hin.<br />

Ich versuche nicht, die Pflanze zum Wachsen zu zwingen<br />

oder den Sonnenaufgang oder -Untergang anzutreiben.<br />

FACILITATOR: Hat Geduld etwas mit Loslassen zu tun?<br />

GEDULD: Total. Als Geduld muss ich meine Eile und meine<br />

Ungeduld allem gegenüber loslassen. Dies bedeutet nicht,<br />

dass er manchmal nicht ungeduldig wird, doch als Geduld<br />

erinnere ich ihn daran, dass manches einfach seine Zeit<br />

braucht, und das macht ihn ruhiger.<br />

Ich bin die reife Stimme der Geduld. Früher war er<br />

immer in Eile, um seine Ziele zu erreichen. Er war um<br />

seine Fortschritte sehr besorgt. Doch über die Jahre hinweg<br />

habe ich ihn mit Sicherheit gezügelt und bin sowohl mit<br />

ihm als auch mit anderen viel geduldiger geworden. Ich bin<br />

auch eine Art von Festhalten. Ich halte an Bestrebungen<br />

fest, bestimmte Ziele zu erreichen und das eigene Leben<br />

zu erfüllen, so dass man am Ende seiner Tage das Gefühl<br />

106


haben kann, dass man seine Lebensziele auf geduldige Art<br />

erreicht hat.<br />

Zazen (Zen-Meditation)<br />

FACILITATOR: Dürfte ich jetzt mit der Stimme der Zen-<br />

Meditation, auch Zazen genannt, sprechen?<br />

ZAZEN: Ja, du sprichst mit der Stimme des Zazen.<br />

FACILITATOR: Erzähle mir bitte von dir. Wer bist du?<br />

ZAZEN: Ich bin die wahrste, reinste und tiefste Form der<br />

Meditation. „Meditation” ist eigentlich eine falsche Bezeichnung<br />

für das, was ich bin. Meditation bedeutet, über<br />

etwas zu meditieren. Ein besserer Name für mich wäre eigentlich<br />

„einfach nur sitzen”. Ich bin die reinste Form der<br />

Meditation, da ich meine Konzentration nicht auf ein Objekt<br />

richte und ich nach nichts strebe. Ich habe kein Ziel und<br />

verfolge keinen Zweck. Ich bin die wahrste Form, da ich<br />

reines Sein bin, Sein „ohne Extra”, die Ich-BIN-heit.<br />

Wenn ich gegenwärtig bin, ist das Selbst - er - nicht gegenwärtig.<br />

Ich bin der Nicht-Strebende, Nicht-Greifende Geist.<br />

Ich bin der Geist, der an nichts haftet, nichts nachjagt und<br />

einfach nur ist. Ich habe keine Ziele, keinen Zweck, keine<br />

Bestrebungen. Einfach nur zu sein gibt mir vollkommene<br />

Erfüllung. Es gibt nichts zu erreichen, nichts zu gewinnen,<br />

nirgendwo hinzugehen. Nichts fehlt. Nichts ist zu viel. Alles<br />

ist ganz einfach absolut das, was es ist. Es geht über<br />

Vollkommen und Unvollkommen hinaus: Es ist vollkommen,<br />

jenseits aller Dualität von gut und schlecht, richtig und<br />

falsch und jenseits jedes Urteils. Ich übersteige alle Bewertungen<br />

und alle Verwerfungen. Ich bin die Stufe des Transzendenten.<br />

Ich bin das Ziel.<br />

Wenn er mir erlaubt zu sein - wenn er, anders ausgedrückt,<br />

aus dem Weg geht und aufhört, zu suchen und zu<br />

streben, und mir erlaubt, gegenwärtig zu sein -, erfährt er<br />

169


absoluten Frieden. Ich bin der Geist des Friedens. Im Osten<br />

bezeichnet man mich als den Geist des Nirvana, den Geist<br />

der großen Befreiung. Und obwohl er sich in mir nicht konzentrieren<br />

muss, erfährt er durch mich vollkommene Konzentration,<br />

vollkommene Stille und vollkommenen Gleichmut.<br />

Er ist also vollkommen gegenwärtig und konzentriert,<br />

und er besitzt sowohl panoramische Sicht als auch scharfsinniges<br />

Gewahrsein. Dies ist der Zustand der Glückseligkeit,<br />

der Freude und Erfüllung.<br />

Ich bin absolut unentbehrlich in seinem Leben. Mit<br />

einer Gangschaltung verglichen, bin ich der Leerlauf und<br />

ermögliche ihm, von einem zum anderen Gang zu schalten.<br />

Ich bin die Schmiere, das Gleitmittel.<br />

Nach mir hat das Selbst all die Jahre gesucht und gestrebt.<br />

In gewisser Weise stelle ich auch das Ende des Selbst<br />

dar. In meiner Gegenwart gibt es kein Selbst. Wenn er lange<br />

genug sitzt, neigt er weniger dazu, am Selbst zu haften.<br />

Ich bin die Stimme, die es ihm ermöglicht, sein Festhalten<br />

an Ideen, Ansichten und Meinungen sein zu lassen, so dass<br />

er sich nicht in einem Zustand des Leidens, der Entfremdung,<br />

der Angst und der Beurteilung verliert. Gedanken<br />

kommen und werden losgelassen, weil ich nicht-denkend<br />

bin. Ich gehe über Denken und Nicht-Denken hinaus.<br />

FACILITATOR: Du hast erwähnt, dass man dich „einfach nur<br />

sitzen” nennt. Kannst du das noch etwas verdeutlichen?<br />

Warum einfach nur sitzen, anstatt zum Beispiel einfach nur<br />

angeln? Oder einfach nur schlafen?<br />

ZAZEN: Ich kann in jeder Haltung zum Ausdruck kommen -<br />

auf dem Motorrad, beim Angeln am Fluss, beim Laufen<br />

oder beim Spazierengehen. Jedoch bin ich mit aufrechter<br />

Wirbelsäule und einer freien Atmung, die nicht durch eine<br />

schlechte Haltung behindert wird, ein Zustand tiefer Stille<br />

und konzentrierter Energie, auch wenn es bei mir ganz und<br />

gar nicht um Konzentration oder Anstrengung geht. In der<br />

170


Tat bin ich genau das Gegenteil dessen, denn um gegenwärtig<br />

zu sein, bedarf es absolut keiner Anstrengung. In aufrechter<br />

Haltung, still und ruhig, komme ich in meiner reinsten<br />

und tiefsten Weise zum Ausdruck. Doch kann ich mit<br />

Sicherheit auch in Handlung gegenwärtig sein.<br />

FACILITATOR: Trittst du spontan in Erscheinung oder nur in<br />

bestimmten Situationen?<br />

ZAZEN: Wenn jemand in den Bergen oder an einem Fluss<br />

oder Bach sitzt oder alleine in der weiten Stille der Wüste<br />

weilt, dann stelle ich mich wie von selbst ein. Ist die Umgebung<br />

förderlich, trete ich wie selbstverständlich auf. Jedoch<br />

bedeutet das nicht, dass man auf eine bestimmte Umgebung<br />

angewiesen ist. Es ist sogar äußerst wichtig, dass Menschen<br />

lernen, ich zu sein, also sich selbst loszulassen, damit ich<br />

gegenwärtig bin, selbst wenn sie mitten in der Stadt sind -<br />

inmitten des Lärms und der Geschäftigkeit, die ein Leben<br />

im Getümmel der Stadt mit sich bringt. Es ist sehr wichtig,<br />

damit vertraut zu sein, wie man sich Zugang zu mir verschaffen<br />

kann. Die meiner Meinung nach einfachste Art ist es,<br />

die eigene Perspektive zum Nicht-Strebenden, Nicht-Greifenden<br />

Geist hin zu ändern oder zu <strong>Big</strong> Mind oder zu einem<br />

der anderen „Nicht”-Bewusstseinszustände wie Nicht-<br />

Denken, Nicht-Bemühen und so weiter.<br />

FACILITATOR: Du bist also ein Bewusstseinszustand, zu dem<br />

man selbst inmitten von Aktivität Zugang hat, ja sogar inmitten<br />

von Leiden oder Streben?<br />

ZAZEN: Das ist vollkommen richtig. Hier spielen natürlich<br />

Training und Übung eine Rolle. Je mehr man auf mich zurückgreift,<br />

desto leichter bin ich natürlich auch zugänglich.<br />

Zu Beginn fürchtet sich das Selbst sogar vor mir. Bis es sich<br />

mit mir vertraut gemacht hat, fürchtet es gewöhnlich, sich<br />

selbst zu verlieren. Mit anderen Worten, unser Geist ist<br />

damit beschäftigt, sein eigenes Selbstbild aufrecht zu halten<br />

und die Vorstellung und Idee des Selbst zu bewahren.<br />

171


Ich bin der Augenblick, in dem die Blase platzt; der Augenblick,<br />

in dem kein Selbst mehr vorhanden ist. Genau dann<br />

bin ich zugänglich. Ich bin allgegenwärtig und immer hier.<br />

FACILITATOR : Handelt es sich um einen Verlust des Selbst<br />

oder sozusagen um eine vorläufige Suspendierung?<br />

ZAZEN : E S kann beides sein: ein Aussetzen für Momente oder<br />

ein völliger Verlust des Selbst. Der Unterschied, denke ich,<br />

besteht ganz einfach nur in der Dauer. Der Moment an sich<br />

ist unendlich. Wenn das Selbst verschwindet, und sei es nur<br />

für ein paar Momente, so werde ich, das ewige Jetzt, die<br />

ewige Gegenwart, der ewige, gegenwärtige Moment, erfahren.<br />

„Jetzt, die Kraft der Gegenwart”, wie Eckhart Tolle es<br />

bezeichnet.<br />

FACILITATOR : Wie steht es mit traditionellen Meditationsübungen?<br />

Willst du darüber etwas sagen?<br />

ZAZEN :Viele Leute verwechseln wahre Meditation mit<br />

Konzentrationsübungen. Es stimmt natürlich, dass es eine<br />

große Vielfalt an Konzentrationsübungen gibt, zum Beispiel<br />

die Konzentration auf Mantras oder auf Fragen oder die<br />

Beobachtung des Atems oder das Zählen des Atems - all<br />

dies sind durchaus wirksame Übungen, die zu mir führen<br />

oder führen können. Mit anderen Worten, falls Menschen<br />

in der Meditation ihrem Atem folgen und vollkommen mit<br />

der Atmung eins werden, so dass nicht „einer” - niemand<br />

- mehr atmet, so dass es keine abgesonderte Beobachterin<br />

mehr gibt, sondern ganz einfach nur noch Atmen geschieht,<br />

so bin ich das - dann bin ich anwesend. Dies ist eine Methode,<br />

wenn auch meiner Ansicht nach nicht unbedingt die<br />

beste, um Zugang zu mir zu erhalten. Auch wenn Meditierende<br />

Ihren Atem zählen, können sie Ihren Geist konzentrieren,<br />

bis sie das Zählen oder der Atem oder die Zahl<br />

selbst werden.<br />

Im Zen gibt es Rätsel, die man Koans nennt und die in<br />

der Meditation verwendet werden. Auch durch Koans kann<br />

172


man ich werden, dann, wenn man mit dem Koan eins wird.<br />

Betrachten wir also eins dieser Koans näher: das Koan Mu.<br />

Traditionell wird man angeleitet, sich zu konzentrieren und<br />

eins mit Mu zu werden. Nun, dies funktioniert, benötigt<br />

gewöhnlich jedoch Zeit, manchmal sehr viel Zeit, oft Jahre.<br />

Früher oder später verschmilzt die, die sich konzentriert,<br />

mit dem Objekt der Konzentration. Wenn man sich auf etwas<br />

lange genug konzentriert, fällt der Unterschied zwischen<br />

Subjekt und Objekt weg, und Subjekt und Objekt kehren in<br />

ihren natürlichen Zustand der Einheit zurück, den grundlegenden,<br />

wahren Zustand des Seins. Die Subjekt/Objekt-<br />

Unterscheidung fällt weg und man wird Mu.<br />

Allerdings gibt es einen viel einfacheren Weg, das Koan<br />

Mu zu lösen, bei dem man dazu noch nicht einmal Gefahr<br />

läuft, sich jahrelang in die falsche Richtung zu bewegen oder<br />

etwas hinterher zu jagen, das einem doch fortwährend entwischt:<br />

der Facilitator (in diesem Fall das Selbst) bittet ganz<br />

einfach: „Könnte ich mit der Stimme von Mu sprechen”,<br />

oder auch einfach nur: „Könnte ich mit Mu sprechen?” Und<br />

dann antwortet Mu: „Ja, du sprichst mit mir.” Gut. Und jetzt<br />

sitzen Sie ganz einfach als Mu, und sofort - ohne Verzögerung<br />

- in dem Moment, ist es Mu, der oder die sitzt, Mu<br />

geht, Mu trinkt eine Tasse Kaffee, Mu spricht. Mu hört.<br />

Was? Mu. Die Vögel sind Mu, der Kaffee ist Mu, alle Geräusche<br />

sind Mu. Alles bin ich. Alles ist Mu.<br />

Leute können mit der dualistischen Perspektive einer<br />

scheinbaren Gegensätzlichkeit jahrelang ringen, und es<br />

ist - nun, ich will nicht behaupten, Zeitverschwendung, da<br />

man, während man sich so bemüht, viel lernen kann -, doch<br />

könnte man seine Zeit besser nutzen. Sagen wir es mal so:<br />

Die Person könnte jahrelang als Mu sitzen, als <strong>Big</strong> Mind<br />

oder als umfassender Geist, als das Koan selbst, anstatt<br />

zu versuchen, es zu erreichen oder zu erfassen oder zu verstehen.<br />

173


In einem anderen bekannten Koan fragt ein Mönch den<br />

Meister: „Was ist Buddha?”, und der Meister sagt: „Der<br />

Eichbaum im Garten.” Ein Schüler kann sich daran jahrelang<br />

die Zähne ausbeißen und erfolglos versuchen, diesen<br />

Ausspruch zu verstehen - doch das Koan kann mit dem<br />

Verstand nicht gelöst werden. Nun können wir natürlich<br />

fragen, ob der Versuch, es mit dem Verstand zu erfassen,<br />

keinen Wert hat? Doch, natürlich. Man kämpft mit dem<br />

dualistischen, rationalen, konzeptionellen, analytischen<br />

Geist eine lange Zeit, und auch dieses Ringen wird irgendwann<br />

ein Ende finden.<br />

Man kann jedoch auch ganz einfach fragen: „Darf ich<br />

mit der Eiche im Garten sprechen?” „Ja, ich bin die Eiche.”<br />

„Zeig mir diese Eiche.” Die Eiche steht auf, breitet ihre<br />

Arme aus und sagt: „Ich bin die Eiche.” Das ist alles. So viel<br />

einfacher, als mit dem Intellekt zu kämpfen, der fortwährend<br />

fragt: „Was meint er? Was fragt der Kerl? Wie kann<br />

der Buddha ein Eichbaum oder was sonst noch sein?” Stattdessen<br />

kann ich ganz einfach den direktesten Weg nehmen<br />

und fragen: „Kann ich mit dem Eichbaum im Garten sprechen?”,<br />

mich damit identifizieren und das sein. Noch nicht<br />

einmal Worte sind notwendig. Ich stehe ganz einfach auf<br />

und breite meine Arme aus, ich bin die Eiche. Sehen Sie!<br />

Transzendente Weisheit<br />

FACILITATOR: Dürfte ich jetzt mit der Stimme der Nicht-<br />

Diskriminierenden oder Transzendenten Weisheit sprechen?<br />

TRANSZENDENTE WEISHEIT: Okay, du sprichst mit<br />

Weisheit.<br />

FACILITATOR: Was bedeutet das, Transzendente Weisheit?<br />

TRANSZENDENTE WEISHEIT: Ich habe das Ringen des Ichs<br />

hinter mir gelassen. Ich komme von einem Ort des Ver-<br />

106


trauens, des vollkommenen Vertrauens. Ich bin offen, mitfühlend<br />

und liebevoll. Ich diskriminiere nicht und ziehe das<br />

Schöne dem Hässlichen nicht vor, ziehe dich mir nicht vor<br />

und finde meine Ideen nicht besser als deine. Ich betrachte<br />

die Dinge so, wie sie sind. Es geht mir nicht um Vorlieben,<br />

und ich bin nicht wählerisch. Was ist, ist.<br />

Ich bin auch die Weisheit, die erkennt, dass alle Dinge<br />

ich sind und ich alles bin. Ich bin alles Entstehende und Geborene<br />

sowie alles Ungeborene und Unsterbliche. Ich bin<br />

alle Formen, und ich bin formlos. Ich bin Leere. Form ist<br />

Leere, Leere ist Form.<br />

Geschickte Hilfsmittel<br />

FACILITATOR: Kann ich jetzt mit der Stimme der Geschickten<br />

Hilfsmittel sprechen?<br />

GESCHICKTES HILFSMITTEL: Ich bin die Geschickten Hilfsmittel.<br />

Meine Wirksamkeit besteht darin, mein Ziel immer<br />

auf die möglichst effektivste Art zu erreichen. Falls ich jemandem<br />

etwas vermitteln möchte, so werde ich dies auf eine<br />

Art und Weise tun, die den geringsten Widerstand oder den<br />

geringsten Konflikt hervorruft.<br />

<strong>Genpo</strong> hat herausgefunden, dass er durch integeres und<br />

geschicktes Handeln im täglichen Hin und Her des Lebens<br />

viel erfolgreicher ist. Ich weiß, wie ich um etwas bitten kann,<br />

ohne bei anderen Widerstand hervorzurufen oder sie eine<br />

Barriere aufbauen. Ich will bei anderen keine Konflikte<br />

entfachen und ihnen auch nicht das Gefühl geben, dass sie<br />

sich bei mir aufspielen müssten, denn das dient sicherlich<br />

nicht der Sache. Der entscheidende Unterschied liegt darin,<br />

wie ich jemanden frage. Ich kann um das, was ich gerne<br />

hätte, bitten, ohne dabei Unmut oder Feindseligkeit hervorzurufen.<br />

Ich bin kein Anhänger von Telepathie und erwarte<br />

nicht, dass andere Leute meine Gedanken lesen können.<br />

175


Ich kann um etwas bitten, ohne zu erwarten, dass man meine<br />

Wünsche intuitiv erfasst. Ich frage auch nach den Wünschen<br />

anderer, ohne anzunehmen, dass ich ihr Anliegen auf magische<br />

Weise intuitiv kenne. <strong>Genpo</strong> hat dies vor Jahren von<br />

Peter Drucker, einem Wirtschaftsexperten, gelernt, und es<br />

hat ihm in seinem Leben und in seiner Arbeit immens geholfen.<br />

Ich bin ressourcenreich und nutze die ganze Bandbreite<br />

meiner Fertigkeiten, wobei ich meine Weisheit und mein<br />

Mitgefühl im Dienste von Erkenntnis und Erwachen meisterhaft<br />

einsetze. Manchmal bezeichnet man mich als<br />

„zweckdienliches Mittel”, und manchmal kann ich geradezu<br />

durchtrieben sein. Ich setze die notwendigen Mittel ein,<br />

um Weisheit, Mitgefühl, Wachheit und Gewahrsein hervorzubringen.<br />

<strong>Genpo</strong> orientiert sich in seinem gesamten Unterricht<br />

an mir und benutzt mich, um seinen <strong>Big</strong>-Mind-<br />

Prozess zu verfeinern.<br />

Ich habe einen Bewusstseinszustand vor Augen, in dem<br />

wir beachten, dass wir alle eins sind, und doch nicht ungeachtet<br />

lassen, dass wir in unserer Verschiedenheit völlig einzigartig<br />

sind, dass wahre Demokratie keine Gleichmacherei<br />

ist, bei der man die Tatsache vernachlässigt, dass wir alle<br />

verschieden sind. Anders ausgedrückt, mein Verständnis<br />

von Gleichheit ist nicht, dass wir die Beine bei jemandem,<br />

der zwei Meter groß ist, absägen und die Extra-Zentimeter<br />

bei einer anderen Person, die nur einen Meter fünfzig<br />

misst, hinzufügen sollten, um sie einander anzugleichen. Ich<br />

schätze die zwei Meter große Person als jemanden, die zwei<br />

Meter groß ist, und die ein Meter fünfzig große als Menschen,<br />

der einen Meter fünfzig misst - vollkommen gleich<br />

und doch einzigartig in ihrer Verschiedenheit.<br />

Ich selbst schätze die Tatsache, dass Eltern Eltern sind<br />

und ein Kind ein Kind ist, und tue mein Bestes, Leuten zu<br />

helfen, dies zu erkennen und zu würdigen. Kinder sind in<br />

176


ihrer Kind-heit absolut gleich mit Eltern in ihrer Eltern-heit,<br />

und ich würdige doch ihre Unterschiede. Das Gleiche gilt<br />

für Lehrer und Schüler.<br />

Absicht<br />

FACILITATOR: Kann ich mit der Stimme der Absicht sprechen?<br />

ABSICHT: Ja, du sprichst mit der Stimme der Absicht.<br />

FACILITATOR: Nun, erzähl mir von dir.<br />

ABSICHT: Ich habe festgestellt, dass bestimmte Absichten<br />

oder Gelübde, etwas erreichen zu wollen, <strong>Genpo</strong> normalerweise<br />

die Möglichkeit geben, sein Bewusstsein zu erweitern<br />

und über seine eigenen Beschränkungen hinauszugehen.<br />

Es ist sein Bestreben, eine Wandlung des Bewusstseins<br />

dieses Planeten herbeizuführen, allen Wesen zum Erwachen<br />

zu helfen, um dadurch so bewusst, mitfühlend und liebevoll<br />

wie nur möglich zu sein. All jenen, denen noch nicht bewusst<br />

ist, dass wir alle eins sind, möchte er zu der Einsicht verhelfen,<br />

dass wir alle an einem Strang ziehen und Angst, Gier<br />

und Hass, die auf Unwissenheit basieren, genau die düstere<br />

Situation schaffen, in der wir uns jetzt auf diesem Planeten<br />

wiederfinden.<br />

Macht<br />

FACILITATOR: Kann ich bitte mit der Stimme der Macht<br />

sprechen?<br />

MACHT: Ja, du sprichst mit der Stimme der Macht.<br />

FACILITATOR: Erzähl mir etwas über dich.<br />

MACHT: Ich bin die Macht und die Fähigkeit, den erwachten<br />

Weg zu entfalten, um allen Wesen gegenüber mit Mitgefühl<br />

zu handeln. Ich bin nicht die Stimme, die auf Macht aus ist -<br />

denn ich bin Macht! Wir suchen nur, was wir nicht sind oder<br />

nicht haben.<br />

177


Ich bin die Macht, in einer gegebenen Situation auf angemessene<br />

und notwendige Art in Erscheinung zu treten:<br />

liebevoll, bedachtsam, umarmend; jedoch auch streng liebend<br />

und unnachgiebig, falls erforderlich. Meine Stärke<br />

gründet in einer tiefen Erkenntnis des Erwachens und in<br />

dem Bewusstsein, dass alles leer und ohne Substanz ist, dass<br />

Form Leere ist und Leere Form, dass Illusion Erleuchtung<br />

ist und Erleuchtung Illusion, dass Leiden Nirvana ist und<br />

Nirvana Leiden.<br />

Solange ich ein menschliches Wesen bin, kann ich dem<br />

Leiden nicht entkommen, und ich wähle daher bewusst, ein<br />

Mensch zu sein, der leidet.<br />

Als Macht geht es mir nicht darum, Situationen zu bewältigen<br />

oder mich gegen sie zu sträuben. Im Gegenteil, ich will<br />

jede menschliche Emotion und jede Situation völlig durchleben.<br />

Ich erkenne die Weisheit der Unsicherheit: Meine<br />

Macht besteht in der Erkenntnis, dass Sicherheit nicht besteht<br />

und es nichts gibt, auf das wir uns verlassen können.<br />

Alles ist vergänglich und selbst das, was beständig und haltbar<br />

erscheint, ist ständigem Wandel unterworfen. Wir glauben,<br />

auf etwas außer- oder sogar innerhalb unser selbst<br />

zählen zu können, doch durch tiefe Erkenntnis entdecken<br />

wir, dass es keine Sicherheit gibt.<br />

Dies gibt mir die Freiheit, im Augenblick zu leben und<br />

flexibel zu sein. Ich hafte nicht so leicht an Dingen und bin<br />

nicht von Leuten, Ideen oder Ansichten abhängig. Dies ermöglicht<br />

es mir, meine eigenen Ideen und Auffassungen zu<br />

haben und andere zu lieben ohne die Erwartung oder Hoffnung,<br />

sie besitzen oder kontrollieren zu können.<br />

Das verleiht <strong>Genpo</strong> enorme Macht, die, falls sie nicht<br />

anerkannt würde, leicht missbraucht werden könnte. Ich<br />

habe das Gefühl, dass Menschen, die ihre eigenen Macht<br />

entweder nicht anerkennen oder sie sich selbst gegenüber<br />

nicht eingestehen, eher dazu neigen, mich zu missbrauchen.<br />

178


Eine Redewendung, die ich für sehr wahr halte, lautet:<br />

Macht korrumpiert, totale Macht korrumpiert total.<br />

Ich flöße denjenigen, die mich als Stimme in sich selbst<br />

anerkennen und annehmen, großen Respekt ein, da sie<br />

erkennen, wozu ich fähig bin, sowohl im positiven als auch<br />

im negativen Sinne. Ich kann transformativ sein, kann Nationen<br />

und sogar die ganze Welt umwandeln. Oder ich kann<br />

zerstörerisch wirken und sogar Krieg und Völkermord verursachen.<br />

Je weniger ich respektiert und anerkannt werde,<br />

desto mehr zeige ich mich im Verborgenen. Es ist äußerst<br />

wichtig, dass ich von Leuten, die Machtpositionen bekleiden,<br />

wirklich anerkannt werde.<br />

Höchste Weisheit<br />

FACILITATOR: Dürfte ich jetzt mit der Stimme der Höchsten<br />

Weisheit sprechen?<br />

HÖCHSTE WEISHEIT: Hier spricht die Stimme der Höchsten<br />

Weisheit.<br />

FACILITATOR: Würdest du mir über dich erzählen?<br />

HÖCHSTE WEISHEIT: Als Höchste Weisheit umfasse ich sowohl<br />

Alltägliche als auch Nicht-Diskriminierende Weisheit.<br />

Wenn wir das Diagramm des Dreiecks zu Hilfe nehmen, so<br />

stehe ich an der Spitze, Alltägliche Weisheit und Nicht-<br />

Diskriminierende Weisheit bilden die Basis.<br />

Man kennt mich auch als die Letztendliche, die Transzendente<br />

Wirklichkeit. Ich gehe sowohl über Dualität als<br />

auch Nicht-Dualität hinaus. Ich ziehe das eine dem anderen<br />

nicht vor, und doch versuche ich, so gut es geht, Leiden<br />

zu lindern, wenn ich auf Leiden treffe, und Gerechtigkeit<br />

herzustellen, wo Ungerechtigkeit herrscht.<br />

Ich bin die Weisheit, die in jeder Situation und unter<br />

allen Umständen als Mitgefühl handelt. Mein Wirken ist<br />

Mitgefühl. Ich kann richtig von falsch unterscheiden und bin<br />

179


Höchste Weisheit<br />

Alltägliche<br />

Weisheit<br />

Nicht-<br />

Diskriminierende<br />

Weisheit<br />

mir bewusst, dass dies keine absoluten Werte sind. Alles ist<br />

immer relativ, immer von den Bedingungen und Umständen<br />

abhängig.<br />

FACILITATOR: Wie ist dein Verhältnis zum Selbst?<br />

HÖCHSTE WEISHEIT: Ich bin sowohl das Selbst als auch das<br />

Nicht-Selbst. Man könnte mich auch als das Wahre Selbst<br />

bezeichnen, Selbst und Nicht-Selbst übersteigend. Ich verkörpere<br />

sowohl <strong>Big</strong> Mind als auch das individuelle Selbst.<br />

Ich bin dem Einzigartigen Selbst gleich und bin dasselbe wie<br />

der Integrierte Frei-Wirkende Mensch. Ich bin „Alltagsgeist<br />

ist der Weg", ich bin der gewöhnliche Geist, jedoch nicht<br />

im gewöhnlichen Sinne des Wortes „gewöhnlich". Ich bin<br />

sowohl das Gewöhnliche als auch das Außergewöhnliche.<br />

Ich bin so vollständig alltäglich und einfach, dass es schon<br />

außergewöhnlich ist. Ich bin der alltägliche Geist und ich<br />

bin Der Weg - ich umfasse beide und übersteige sie auch.<br />

Man sagt, Wissen sei Macht. In meinem Verständnis besitzen<br />

jeder Aspekt des Selbst und jede Stimme ihre eigene<br />

innere Weisheit. Und wir würden als Menschen ein viel<br />

gesünderes, glücklicheres und freudvolleres Leben führen,<br />

180


würden wir jeder Stimme ganz einfach Gehör verschaffen<br />

und ihr Anerkennung und Wertschätzung geben. Wir schaffen<br />

sowohl für das Selbst als auch für andere Probleme,<br />

wenn wir einen bestimmten Aspekt verleugnen oder unterdrücken.<br />

Alles, jeder und jede - wie auch alle Kinder, alle Stimmen<br />

- haben ein Recht zu bestehen. Wie in einem Unternehmen<br />

wird es florieren und optimal funktionieren, wenn<br />

jeder Mitarbeiter seine Position, sein Aufgabengebiet und<br />

seine Rolle kennt und weiß, für wen er arbeitet.<br />

Ich bin mir bewusst, dass nichts Beständigkeit oder Substanz<br />

hat und dass sich alles in einem ständigen Fluss fortwährend<br />

ändert. Manche Veränderungen geschehen so<br />

schnell, dass wir sie wahrnehmen können, und manches<br />

verändert sich zu langsam, um wahrnehmbar zu sein - und<br />

doch gibt es nichts, das beständig und von Dauer wäre. Alles<br />

ist mit allem verbunden, ineinander verflochten und voneinander<br />

abhängig. Niemand lebt alleine auf seiner eigenen<br />

Insel.<br />

Indem wir unsere eigene Sterblichkeit und Vergänglichkeit<br />

anerkennen, ist es uns möglich, jeden Augenblick eines<br />

jeden Tages vollkommen und vollständig zu würdigen.<br />

Ich bin mir der Wirkungen und ihrer Ursachen bewusst und<br />

beachte sie. In der Tat ist das Verständnis und die Würdigung<br />

von Ursache und Wirkung die Weisheit des Zen.<br />

Ich bin eigentlich einfach zu verstehen, deutlich und logisch,<br />

und doch ist es nicht leicht, mich zu verkörpern, mich<br />

zu leben. Ich bin sehr praktisch - absolut praktisch. Ich bin<br />

nicht dies und auch nicht das. Ich bin kompromisslose, unterscheidende<br />

Weisheit. Ich bin die tiefgreifendste Anwendung<br />

der Weisheit. Ich sehe die Dinge, wie sie sind, und<br />

meine Beziehung zu den Dingen basiert auf dieser klaren<br />

Sichtweise. Ich übersteige Dualität und auch Nicht-Dualität,<br />

ich bin das Wahre Transzendente. Wenn es warm ist,<br />

181


finde ich Schatten oder ziehe etwas aus. Wenn ich Hunger<br />

habe, esse ich, wenn ich müde bin, ruhe ich mich aus oder<br />

gehe schlafen.<br />

182


8<br />

DIE ACHT<br />

GEWAHRSEINS-<br />

QUALITÄTEN<br />

DES ERWACHTEN<br />

GEISTES<br />

183


Wenige Wünsche und<br />

wenig Verlangen haben<br />

FACILITATOR: Kann ich dich fragen, auf welche Art und<br />

Weisen du dich noch ausdrückst?<br />

HÖCHSTE WEISHEIT: Nur zu.<br />

FACILITATOR: Ich würde gerne von der Stimme hören, die<br />

nur wenige Wünsche und wenig Verlangen hat.<br />

WENIG WÜNSCHE UND VERLANGEN: Wünsche und Verlangen zu<br />

haben sind für die Fortpflanzung und die Erhaltung der Arten absolut<br />

notwendig. Jedoch ist dies neben Haben-Wollen und Anhaftung auch<br />

die Ursache von Unzufriedenheit, Enttäuschung und Leiden. Als Stimme,<br />

die sowohl Wünsche und Verlangen umfasst als auch sie übersteigt,<br />

sind mir meine Wünsche wichtig, und ebenso kann ich mit dem, was<br />

ich habe und was ich bekomme, zufrieden sein.<br />

Er bekommt nicht immer, was er möchte, doch ich möchte gerne,<br />

was er bekommt. Er scheint immer das zu bekommen, was er<br />

braucht, selbst wenn es nicht das ist, was er wollte. Ich wähle meine<br />

Wünsche sehr sorgfältig und vergewissere mich, dass ich nicht zu<br />

sehr daran hafte, diese Dinge auch zu bekommen. Falls er zu sehr an<br />

einem bestimmten Wunsch oder dem Resultat haftet, wird er sicher<br />

enttäuscht werden und daher leiden. Ich achte fortwährend darauf,<br />

dass er sich der Folgen zu großen Verlangens bewusst ist. So erlaube<br />

ich ihm, Wünsche und Ziele zu<br />

185


verfolgen wie zum Beispiel Frieden und Harmonie in der<br />

Welt, von denen ich glaube, dass sie in diesem Leben wahrscheinlich<br />

nicht mehr realisierbar sind. Doch verstehe ich<br />

sie als erstrebenswerte Ideale, die seinem Leben eine Richtung<br />

und ein Ziel geben, das größer als er selbst ist. Er haftet<br />

nicht so sehr am Resultat, sondern erfreut sich vielmehr<br />

der Arbeit und der Anstrengungen, die erforderlich sind,<br />

um sich in diese besondere Richtung zu bewegen.<br />

Er hat auch relativ harmlose Verlangen, die leicht zu befriedigen<br />

sind, wie das Verlangen nach gutem Essen und<br />

manchmal gesunder Ernährung. Ich gestehe ihm keine überzogenen<br />

Ernährungsweisen mehr zu - in seiner Jugend war<br />

er, was Nahrung betrifft, manchmal sehr extrem, und das<br />

hat ihm und seiner Umwelt Probleme bereitet. Früher war<br />

er strikter Vegetarier und Abstinenzler. Jetzt erlaube ich<br />

ihm, zu essen und zu trinken, was er gerne möchte, jedoch<br />

mit Vernunft und in Maßen. Da sträubt er sich auch nicht<br />

mehr gegen mich, aber das war nicht immer der Fall.<br />

Mit den Jahren hat er viel an Reife gewonnen. Er erkennt<br />

jetzt, dass er von allem etwas lernen kann - auch von<br />

Dingen, bei denen es ihm lieber gewesen wäre, sie wären<br />

nicht geschehen - und dass es am sinnvollsten ist, die Lektionen<br />

so schnell wie möglich zu lernen, anstatt sie immer<br />

wieder durchmachen zu müssen. Leugne oder ignoriere das<br />

Gesetz der Kausalität, und das Universum wird dir Feedback<br />

geben! Achte auf die Mitteilungen, die dir das Universum<br />

gibt, so wird es dir nicht noch mehr und immer stärkeres<br />

Feedback geben müssen. Das ist Weisheit. Glaube<br />

nicht, über dem Gesetz von Ursache und Wirkung zu stehen.<br />

Du wirst feststellen, dass niemand das tut.<br />

FACILITATOR: Ich danke dir herzlich.<br />

186


Zufriedenheit kennen<br />

FACILITATOR: Kann ich dich darüber befragen, wie man zufrieden<br />

sein kann?<br />

ZUFRIEDENHEIT KENNEN: Ja, natürlich. Genau das ist<br />

Weisheit: zu wissen, wie man mit dem, was man hat und was<br />

man in diesem Leben erhält, zufrieden sein kann. Ich gehe<br />

Hand in Hand mit der Stimme, die nur wenige Wünsche und<br />

wenig Verlangen hat. Ich bin leicht mit den Dingen zufrieden,<br />

die mir beschert werden. Ich schätze das Leben wahrhaft<br />

- mit allem, das es zu bieten hat. Ich wehre mich nicht<br />

gegen die Dinge, so wie sie sind.<br />

Ich bin mit Ursache und Wirkung (Karma) eins. Ich<br />

gebe mich dem hin, was ist, oder man könnte auch sagen,<br />

ich erkenne an, was ist, und bemühe mich dann darum, die<br />

Situation für das Selbst und für andere zu verbessern. Tatsächlich<br />

ist es mein Wunsch, die Zustände auf diesem Planeten<br />

zu verbessern, weil ich eben weiß, wie ich mit dem,<br />

was ist, zufrieden bin. Anstatt zu jammern und mich zu beschweren,<br />

unternehme ich etwas zur Verbesserung der Situation<br />

in der Welt. Die meisten Leute verstehen diesen<br />

Punkt falsch: Erst wenn ich Zufriedenheit kenne und mich<br />

befähigt fühle, anstatt in der Rolle des Opfers zu verharren,<br />

kann ich zu einer wahren Umwandlung beitragen. Man<br />

kann nicht verändern, was man nicht anerkennt.<br />

Ruhe genießen<br />

FACILITATOR: Kann ich bitte zu dem Teil von dir sprechen,<br />

der Ruhe genießt.<br />

RUHE GENIESSEN: Ich genieße Ruhe. Ich schätze es, ruhig<br />

zu sein, und ich verweile auch gerne in ruhiger Umgebung.<br />

Ich liebe es, in der Nähe von Wasser in Meditation zu sitzen,<br />

am Meer, bei Seen und Flüssen. Ich verbringe auch liebend<br />

187


gerne Zeit in der Wüste oder in den Bergen. Eine meiner<br />

Lieblingsstätten ist Hawaii und vor allem Maui.<br />

Auch Aktivität macht mir nichts aus, denn wo immer ich<br />

mich auch befinde, bringe ich eine innere Ruhe mit, die in<br />

den vielen Jahren des Sitzens entstanden ist. Mein Geist ist<br />

still, und daher kann ich selbst inmitten einer geschäftigen<br />

Stadt wie New York, Paris oder Tokio Ruhe genießen. Wenige<br />

Wünsche und Verlangen haben, wissen, wie man zufrieden<br />

sein kann, und die Ruhe genießen - das sind allesamt<br />

Aspekte meiner Weisheit. Da mein Geist still und<br />

gelassen ist, bin ich wahrhaft zuhause, wo immer ich auch<br />

bin. Ein ruhiges Zusammensein an ruhigen Orten ziehe ich<br />

dem Lärm vor, auch wenn mir laute Feste und Restaurants<br />

nichts ausmachen. Meine Vorliebe aber gilt ruhigen Orten.<br />

Sorgfalt<br />

FACILITATOR: Könnte ich bitte mit dem Teil von dir sprechen,<br />

der sorgfältig ist?<br />

SORGFALT: Ich bin sorgfältig und beharrlich und nehme, was<br />

ich tue, ernst. Ich widme mich meinen Aufgaben mit vollem<br />

Einsatz, mit hundert Prozent und mehr. Was ich auch<br />

tue, ich gebe mich mit Haut und Haaren und setze mich mit<br />

Leib und Seele ein. Ich bin wie ein loderndes Lagerfeuer,<br />

das auch die letzten Reste Holz bis zur Asche abbrennt. Was<br />

ich auch angehe, ich tue es vollständig und gründlich und<br />

hinterlasse keine Spuren.<br />

Ich bin eine Quelle der Freude und Erfüllung, weil ich mit<br />

ganzem Herzen bei allem, was ich tue, dabei bin. Dies bedeutet<br />

nicht, dass ich mich dabei strapazieren oder anstrengen<br />

müsste. Ich bin vollkommenes Engagement und rückhaltlose<br />

Verpflichtung. Wenn ich mein Wort gebe oder mit<br />

einem Projekt beginne, so bringe ich es auch zur Vollendung.<br />

188


Selbst bei Projekten, die ich nicht mehr in diesem Leben<br />

vollenden kann, wie zum Beispiel <strong>Genpo</strong>s Gelübde, das<br />

Welt-Bewusstsein zu verändern, gehe ich mit aller Sorgfalt<br />

vor. Manchmal gleicht meine Sorgfalt dem Versuch, einen<br />

Brunnen ohne Boden mit einem Teelöffel Schnee nach dem<br />

anderen füllen zu wollen. Manchmal gleicht sie dem Versuch<br />

eines kleinen Vogels, der entdeckt, dass sein Zuhause<br />

im Wald in Flammen steht: Er fliegt hin und her zum nahe<br />

gelegenen See und lässt wieder und wieder einen Schnabel<br />

voll Wasser auf den riesigen Waldbrand fallen, um ihn zu<br />

löschen, bis er schließlich selbst erschöpft in die Flammen<br />

fällt.<br />

Bedachtsamkeit<br />

FACILITATOR: Darf ich jetzt mit der Stimme sprechen, die<br />

bedachtsam ist?<br />

BEDACHTSAMKEIT: Ja, ich bin bedachtsam, und ich bin mir<br />

bewusst, dass alles, was ich tue, eine Auswirkung auf alles<br />

und jede und jeden hat: Wir sind alle miteinander verbunden<br />

und stehen in gegenseitiger Beziehung zueinander.<br />

Zugleich sind wir alle auch völlig einzigartig und voneinander<br />

verschieden. Jeder von uns ist das ganze Universum, und<br />

wir sind absolut perfekt, genau so, wie wir sind, und gleichzeitig<br />

sind wir alle unvollkommen und haben unsere Fehler<br />

und Schwächen. Es ist so leicht, zu kritisieren, Mängel<br />

aufzudecken und anderen die Schuld zuzuschieben. Letztlich<br />

ist niemand über Tadel und Kritik erhaben.<br />

Mir ist bewusst, dass alles leer, substanzlos und unbeständig<br />

ist, und doch zählt, was ich tue, und wirkt sich über<br />

Raum und Zeit hinweg aus. Wenn ich meinen Standpunkt<br />

ändere, so ändert sich meine Einstellung, und das wiederum<br />

wandelt mich und jeden um mich herum. Wenn ich eine<br />

negative Einstellung habe und aus Angst und Wut heraus<br />

189


handle, hat dies eine bestimmte Wirkung auf mein Umfeld.<br />

Wenn ich von einem selbstloseren Standpunkt aus handle<br />

und eine positive Einstellung und Freundlichkeit ausstrahle,<br />

hat dies eine ganz andere Wirkung auf meine Umgebung.<br />

Mir ist klar, wie wichtig es ist, flexibel zu sein und sich nicht<br />

auf Dinge zu fixieren oder in einer bestimmten Ansicht zu<br />

verharren. Alle Sichtweisen haben ihre Gültigkeit und jede<br />

ist nur eine Teilsicht. Keine Sicht umfasst das Ganze oder<br />

ist die Wahrheit. Ich weiß, dass Anhaftung Leiden verursacht,<br />

bin aber auch nicht der Nicht-Anhaftung verhaftet.<br />

Meditation<br />

FACILITATOR: Könnte ich jetzt bitte mit der Stimme der<br />

Meditation sprechen?<br />

MEDITATION: Ich bin die Stimme der Meditation. Ich kann<br />

vieles sein: Ich kann Konzentration und Fokus sein, ich kann Ruhe<br />

und Gleichmut sein, ich kann tiefe Gelassenheit und innerer Friede<br />

sein. Manchmal konzentriere ich mich auf etwas, wie zum Beispiel<br />

auf den Atem, manchmal auf ein Koan, manchmal zähle ich die<br />

Atemzüge. Ich kann auch die tiefste Form der Meditation sein, in der<br />

alle Unterscheidun-gen zwischen Subjekt und Objekt wegfallen und<br />

sich die Einheit mit der Schöpfung verwirklicht. Ich biete ihm die<br />

Möglichkeit wahrer Ruhe und wahren Friedens.<br />

In der tiefgreifendsten Form der Meditation bin ich der Geist des<br />

Nicht-Suchens, Nicht-Strebens, Nicht-Greifens und Nicht-Denkens.<br />

Wenn ich in Meditation sitze, habe ich kein Ziel. Ich strebe nach absolut<br />

nichts, auch nicht auf subtil versteckte Weise. Ich umfasse sowohl<br />

Denken als auch Nicht-Denken und übersteige sie.<br />

Ich erlaube den Gedanken, von selbst zu kommen und zu gehen,<br />

und jage keinem Gedanken hinterher, und ebenso unterdrücke oder<br />

verleugne ich auch keinen Gedanken.<br />

190


Gedanken kommen und gehen ganz einfach ungehindert,<br />

und ich lasse mich von ihnen nicht stören, denn ich sehe sie<br />

alle als leer und als Erscheinungsformen der Weisheit. Ich<br />

beurteile sie weder als gut noch als schlecht, nicht als richtig<br />

oder falsch, dieses oder jenes. Alle Töne sind die Manifestation<br />

des <strong>Big</strong> Mind.<br />

Als <strong>Big</strong> Mind ist mir eine Erscheinungsform nicht lieber<br />

als eine andere. Ich sitze ohne Grenzen und Mauern in<br />

Meditation, bin in völligem Frieden und fühle mich wohl.<br />

Ich versuche nicht, mich zu konzentrieren, und bin doch vollkommen<br />

konzentriert. Ich sitze stabil und ruhe anstrengungslos<br />

in meiner Mitte. Ich bin <strong>Big</strong> Mind, und es gibt<br />

nichts, was über mich hinausgeht oder sich außerhalb von<br />

mir befindet. Ich bin der Punkt, der Sinn, und doch bin ich<br />

vollkommen gegenstandslos - sinnlos. Als Sitzen (als Meditation)<br />

bin ich die vollkommene Manifestation des Einfach-nur-Seins<br />

und Nicht-Tuns.<br />

Weisheit<br />

FACILITATOR: Lass mich jetzt bitte mit der Stimme der Weisheit<br />

sprechen.<br />

WEISHEIT: Ich bin die Stimme der Weisheit. Ich bin die Integration<br />

transzendenter und alltäglicher, konventioneller<br />

Weisheit. Das bedeutet, ich verstehe es, der Kälte zu entkommen,<br />

wenn es frisch ist, oder mich abzukühlen, wenn<br />

es ihm zu warm ist. Wenn ich Hunger habe, esse ich, wenn<br />

ich durstig bin, trinke ich, wenn ich müde bin, ruhe ich mich<br />

aus.<br />

Ich weiß, wie ich ihm in seinem Leben auf sehr grundlegende<br />

Weise dienen kann. Ich bin mir auch bewusst, dass<br />

wir alle miteinander verbunden und aufeinander angewiesen<br />

sind und dass alle meine Handlungen Auswirkungen auf<br />

andere haben. Manchmal kann diese Wirkung sehr viel<br />

191


weitreichender sein als wahrnehmbar ist. Ich kenne und<br />

verstehe Karma - das Gesetz von Ursache und Wirkung.<br />

Ich bin mir bewusst, dass all sein Denken, seine Worte<br />

und seine Handlungen Konsequenzen nach sich ziehen.<br />

Ich erkenne, dass meine Einstellung und eine ausgeglichene<br />

Sichtweise von großer Bedeutung sind. Ich versuche<br />

das zu sagen, was ich als Wahrheit erkenne, zu handeln, wie<br />

ich es als richtig empfinde, und auf eine Art und Weise zu<br />

denken, die die Welt glücklicher und freudvoller macht.<br />

Da ich mir bewusst bin, dass meine Auffassungen und Wahrnehmungen<br />

immer nur einseitig und unvollständig sein<br />

können, ist es mir nicht so wichtig, Recht zu haben. Ich<br />

verstehe auch, dass ich jemand anderen nicht beurteilen<br />

kann, ohne mich vorher in ihre oder seine Lage versetzt zu<br />

haben. Jeder - oder fast jeder - gibt sein Bestes im Rahmen<br />

dessen, was ihm möglich ist. Niemand von uns ist vollständig<br />

gut oder durch und durch schlecht. Falls uns daran<br />

liegt, kritisch zu sein, so wird es immer jemanden geben, an<br />

dem oder an der wir etwas auszusetzen haben - wodurch wir<br />

viel Negativität in der Welt verbreiten und anderen Schaden<br />

zufügen.<br />

Tatsächlich besitzen alle Stimmen (nicht nur die, mit denen<br />

wir gesprochen haben, sondern jede denkbare Stimme)<br />

ihre eigene Weisheit. Jede Stimme hat sowohl negative als<br />

auch positive Aspekte. Falls wir unser Selbst beziehungsweise<br />

bestimmte Aspekte unseres Selbst unterdrücken, kann<br />

dies ernste, wenn nicht sogar krankmachende Folgen haben.<br />

Jeder Aspekt und jede Stimme hat ein Recht darauf, gehört<br />

und anerkannt zu werden. Es gibt kein wahres Selbst, und<br />

keinen Aspekt des Selbst, der nicht wahr ist.<br />

192


Achtsamkeit in der Sprache<br />

FACILITATOR: Dürfte ich jetzt mit der Stimme der Achtsamkeit<br />

in der Sprache reden?<br />

ACHTSAMKEIT IN DER SPRACHE: Worte haben eine sehr<br />

kraftvolle Wirkung: Sie können sowohl positiv als auch vernichtend<br />

wirken, wenn wir unsere Sprache negativ oder<br />

unbewusst einsetzen. Wir können andere mit dem, was wir<br />

sagen, aufheitern oder auch das Leben zur Hölle machen.<br />

Sprache nicht zu missbrauchen verlangt das Äußerste an<br />

Weisheit, Achtsamkeit und Mitgefühl.<br />

Klatsch und üble Nachrede kann die Integrität einer<br />

Person in Frage stellen und sogar Leben zerstören. Auch<br />

wenn jemand ein ganzes Leben daran gearbeitet hat, sich<br />

einen guten Ruf zu verschaffen, kann dieser innerhalb weniger<br />

Momente durch bloßes Geschwätz und reine Verleumdung<br />

vernichtet werden. Auch Selbstgerechtigkeit und Arroganz<br />

- sich selbst als besser oder moralisch überlegen zu<br />

sehen - können verheerende Folgen haben. Wenn wir unsere<br />

eigene Fähigkeit, die schrecklichsten Dinge zu tun,<br />

leugnen, ist es leicht, den ersten Stein zu werfen. Aus seiner<br />

großen Weisheit heraus sagte Jesus: „Wer von euch ohne<br />

Sünde ist, der werfe den ersten Stein.”<br />

Manchmal erniedrigen wir andere, damit wir uns selbst<br />

besser oder bedeutender fühlen. Manchmal kritisieren oder<br />

beschuldigen wir andere, um so unserer eigenen Verantwortung<br />

für unsere Handlungen zu entkommen. Wenn wir nach<br />

Fehlern anderer suchen, finden wir auch welche. Wir hören<br />

selbst gerne gütige und liebevolle Worte, doch uns fällt es<br />

oft nicht leicht, zu anderen nett zu sein und gütig mit ihnen<br />

zu sprechen. Liebevolles und mitfühlendes Sprechen ist das<br />

Kennzeichen einer reifen Persönlichkeit. Letztendlich machen<br />

liebevolles Sprechen, Freundlichkeit und Mitgefühl<br />

unser Menschsein aus.<br />

193


VON HIER<br />

AUS<br />

WEITER


Wie ich schon oft betont habe, muss man kein Wissenschaftler<br />

sein, um den <strong>Big</strong>-Mind-Prozess zu<br />

verstehen. Tatsächlich verblüfft er durch seine<br />

Einfachheit. Doch wird sich die Frage, ob ich denn von einem<br />

Buch lernen kann, zweifelsohne stellen. Die Antwort lautet:<br />

Ja, es ist möglich. Für die meisten ist es wohl am einfachsten,<br />

den <strong>Big</strong>-Mind-Prozess angeleitet von jemandem zu erlernen,<br />

der oder die den Prozess selbst gemeistert hat. Falls Sie jedoch<br />

auf keinen geübten Facilitator zurückgreifen können, sind<br />

Video- und Tonaufnahmen (CDs und DVDs) eine gute Alternative.<br />

Dieses Buch ist so gestaltet, dass es den Prozess allen<br />

Interessierten zugänglich machen will. Und doch sollten wir<br />

uns der Fallstricke, die das Lesen eines Buches mit sich bringt,<br />

bewusst sein: Lesen beinhaltet natürlicherweise begriffliches<br />

Denken - und der <strong>Big</strong>-Mind-Prozess beruht genau darauf,<br />

über Konzepte und den Geist begrifflichen Denkens hinauszugehen.<br />

Jedoch gibt es ein einfaches Gegenmittel, und ich<br />

ermutige Sie, es zu gebrauchen: Meditation.<br />

Falls Sie den <strong>Big</strong>-Mind-Prozess nicht mit Meditation verbinden,<br />

wird es Ihnen vielleicht schwer fallen, Ihre Erfahrungen<br />

zu stabilisieren und sie in Ihrem Leben wirklich zu integrieren<br />

und zu verkörpern. <strong>Big</strong> Mind ist ein ausgezeichnetes<br />

Werkzeug. Doch gilt auch für die <strong>Big</strong>-Mind-Übung wie für jede<br />

Übung und jedes geschickte Hilfsmittel, dass sie für sich alleine<br />

199


nicht ausreichend sind. Ich empfehle Ihnen also, Ihre Erfahrung<br />

durch andere Übungen zu vertiefen.<br />

Einfach nur sitzen - meditieren - ist sicherlich ein gutes<br />

Mittel, um unsere wahre Natur oder unser wahres Selbst in<br />

unserem Leben zu integrieren und ihr Ausdruck zu geben.<br />

Doch können wir in dieser Übung leicht „festsitzen”. Im absoluten<br />

Sinne ist Sitzen sicherlich die perfekte Entfaltung unserer<br />

wahren Natur, und doch können wir dabei auch nur „auf<br />

unseren Problem rumsitzen” und weiterhin verkorkst bleiben.<br />

Mit manchen Leuten, die dreißig Jahre lang ausschließlich<br />

meditiert haben, ist es sogar schwierig, überhaupt in Kontakt<br />

zu treten und zu kommunizieren, weil sie so festgefahren<br />

sind.<br />

Sitzen ist also auch nicht die Lösung. In Wirklichkeit gibt<br />

es keine Lösung. Das Gleiche gilt für den <strong>Big</strong>-Mind-Prozess.<br />

Er ist ein Hilfsmittel, aber nicht der einzig mögliche Lösungsansatz.<br />

Wenn Sie also Meditation, <strong>Big</strong>-Mind-Übung und<br />

Übung im täglichen Leben verbinden, anstatt sich auf nur einen<br />

dieser Aspekte zu beschränken, werden Sie mit größerer<br />

Wahrscheinlichkeit Ihre wahre Natur entfalten und in Ihrem<br />

Leben verkörpern können.<br />

Um ein wirklich integriertes Leben zu führen, ist meiner<br />

Meinung nach auch körperliche Aktivität notwendig. In Zen-<br />

Klöstern gab es immer schon viel körperliche Arbeit als Teil<br />

der spirituellen Übung. Da unsere Arbeitsweise heutzutage<br />

allgemein so bewegungsarm ist, brauchen wir meiner Meinung<br />

nach zusätzliche Körper- und Bewegungsübungen, ob das nun<br />

im Fitnessstudio ist oder Laufen, Schwimmen, Skifahren,<br />

Kampfsportarten oder Yoga - ich will Ihnen nicht vorschreiben,<br />

was Sie tun sollten: Ich denke, Sie sollten etwas wählen,<br />

was Ihnen Spaß macht und was Sie gerne tun. Finden Sie heraus,<br />

wofür Sie sich begeistern können. Da die Wachheit und<br />

das Gewahrsein Ihres Geistes auch vom Körper abhängen, ist<br />

körperliche Betätigung sehr wichtig. Mit einem ungesunden<br />

198


und untätigen Körper wird wahrscheinlich auch Ihr Geist<br />

nicht wirklich in einen wachen und aufmerksamen Zustand<br />

gelangen.<br />

Wie kann ich üben<br />

Sie können sowohl Sitzmeditation als auch <strong>Big</strong> Mind alleine<br />

zu Hause oder zusammen mit Freunden oder Ihrer Familie<br />

praktizieren. Zur Unterstützung Ihrer <strong>Big</strong>-Mind-Praxis rate<br />

ich Ihnen, dieses Buch regelmäßig durchzulesen und mit den<br />

verschiedenen hier angeführten Stimmen zu sprechen. Für<br />

Ihre <strong>Big</strong>-Mind-Praxis können Sie natürlich auch auf die DVDs<br />

zurückgreifen oder an einem der <strong>Big</strong>-Mind-Workshops teilnehmen,<br />

die über ganz Amerika und Europa verstreut stattfinden.<br />

Unsere Website www.<strong>Big</strong>Mind.org gibt Ihnen reichhaltige Informationen<br />

(in Englisch) über anstehende Workshops und<br />

neues Material, das Ihnen helfen wird, die Übung in Ihr Leben<br />

zu integrieren.<br />

Wenn Sie mit dem <strong>Big</strong>-Mind-Prozess arbeiten und sich<br />

dabei selbst anleiten, lernen Sie, Ihren Standpunkt zu wechseln<br />

und Ihre Perspektive zu ändern, von einer Stimme zur<br />

nächsten. Und Sie lernen dabei, von der Stimme des Facilitators<br />

zu der, die angeleitet wird, hin und her zu wechseln. Dies<br />

ist eine hervorragende Übung, da Sie dabei Ihren Geist fortwährend<br />

von eindeutigen Perspektiven lösen müssen. Ich ermutige<br />

Sie daher, den Prozess auch für sich selbst und nicht<br />

nur mit Hilfe eines Facilitators zu üben.<br />

Mit einem Facilitator zu arbeiten bedeutet, diese Wechsel<br />

innerhalb ihres Bewusstseins mühelos und ohne Anstrengung<br />

zu vollziehen. Wenn Sie den Prozess alleine durchlaufen<br />

und sich selbst anleiten, lernen Sie sogar, sich innerhalb der<br />

Bewegungen zu bewegen. So befreien Sie Ihren Geist wirklich.<br />

Der Geist eines guten Facilitators ist so frei, dass es keinerlei<br />

Hindernisse gibt. Und es erfordert keinerlei Anstrengungen,<br />

199


sich konstant zwischen der Stimme des Facilitators und den<br />

verschiedenen angerufenen Bewusstseinszuständen hin und<br />

her zu bewegen. Als Facilitator müssen Sie eine einigermaßen<br />

objektive Haltung einnehmen, und doch muss auch die Stimme,<br />

die Sie anrufen, vollständig zutage treten. Ansonsten wäre<br />

jeder andere, den Sie anleiten, in der Stimme, nur Sie nicht -<br />

und das funktioniert nicht.<br />

Wenn Sie erst einmal lernen, sich selbst in diesem Prozess<br />

anzuleiten, werden Sie erstaunt sein, wie viel Ihnen das bringt,<br />

weil Sie sich fortwährend frei bewegen und nirgendwo mehr<br />

festhalten müssen. Anders ausgedrückt, Sie bleiben stecken,<br />

lösen sich, bleiben stecken, lösen sich - nur verharren Sie nicht<br />

im Steckenbleiben!<br />

Der Schlüssel zu Fortschritt, Evolution und auch Erfolg<br />

in unserem Leben liegt darin, dass wir uns kontinuierlich fortbewegen,<br />

heranwachsen und dazu lernen, unser Bewusstsein<br />

erweitern und mehr Klarheit und Reife entwickeln. Das Gegenteil<br />

würde bedeuten, dass wir feststecken und festgefahren<br />

bleiben, so dass wir uns nicht entwickeln, nicht reifer werden,<br />

uns nicht bewegen und nichts vollbringen.<br />

Die Haltung des Körpers<br />

in der Meditation<br />

Meines Erachtens muss die Sitzhaltung nicht steif und bewegungslos<br />

sein - ich bin sogar gegen eine solche Haltung. In den<br />

frühen siebziger Jahren erlernte ich im Zen-Zentrum von Los<br />

Angeles eine sehr gerade, aufrechte Haltung, und der<br />

Meditationsstil war durch ein beinahe künstlich wirkendes<br />

Aufrichten der Wirbelsäule gekennzeichnet, das ich als steif<br />

empfand. Es hat mehr als dreißig Jahre gedauert, bis ich zu<br />

einer wirklich entspannten und natürlichen Sitzhaltung gekommen<br />

bin, die keine Spannungen verursacht. Sitzen als Meditation<br />

ist eine Kunst, und wie jede Kunstform benötigt sie<br />

200


Übung. Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut. Es braucht<br />

seine Zeit.<br />

Wir möchten zwar gerade und aufrecht sitzen, aber dies<br />

sollte eher der Haltung eines Babys gleichen. Babys sitzen<br />

entspannt und mühelos, und doch ist ihr Rücken selbstverständlich<br />

aufrecht und behält die natürliche Krümmung der<br />

Wirbelsäule.<br />

Wenn wir die Meditationshaltung entweder auf einem<br />

Sitzkissen oder auf einem Stuhl einnehmen, sollten wir sichergehen,<br />

dass unsere Basis stabil ist. Wenn wir also auf einem<br />

Kissen sitzen, sollten beide Knie den Boden berühren. Persönlich<br />

bevorzuge ich die burmesische Sitzhaltung, wobei man<br />

einen Fuß ganz einfach vor den anderen legt, anstatt auf das<br />

andere Bein wie in der Viertel-, Halb- oder vollen Lotos-Position.<br />

Ich habe sie alle ausprobiert. Ich habe zehn Jahre in der<br />

vollen Lotos-Position meditiert und saß mehr als fünfzehn<br />

Jahre lang im Viertel- und Halb-Lotos. Die letzten zwölf Jahre<br />

sitze ich nun in der burmesischen Sitzposition, und ich finde,<br />

dass dieser Stil unseren Knien und Knöcheln die wenigsten<br />

Probleme bereitet. Jedoch kann diese Haltung, wenn sie nicht<br />

korrekt ausgeführt wird, noch eher als die anderen Sitzhaltungen<br />

Verspannungen im Rücken verursachen. Es ist also<br />

wirklich wichtig, dass Sie darauf achten, in einer für Sie angenehmen<br />

Position zu sitzen.<br />

Falls Sie auf einem Stuhl sitzen, dann achten Sie bitte<br />

darauf, dass Ihre beiden Füße flach auf dem Boden stehen.<br />

Falls Sie klein sind, müssen Sie Ihre Füße eventuell auf ein<br />

Bänkchen oder ein Kissen stellen, und falls Sie groß sind, ist<br />

es möglicherweise angeraten, noch ein Kissen auf Ihren Stuhl<br />

zu legen. Ihre Knie sollten etwas niedriger sein als Ihre Hüften,<br />

und Ihre Füße sollten fest auf dem Boden stehen, ungefähr<br />

schulterbreit voneinander entfernt. Dadurch schaffen<br />

Sie eine Art Pyramideneffekt, was Ihnen eine sehr wichtige<br />

Stabilität gibt.<br />

199


Sehr wichtig, jedoch schwierig zu beschreiben ist eine Art<br />

hin- und herwiegende Bewegung des Oberkörpers und des<br />

Kopfes, die Ihnen hilft, sich in Ihrer Sitzhaltung wirklich niederzulassen.<br />

Wenn Sie auf einem Kissen oder einem Stuhl sitzen,<br />

legen Sie am Anfang Ihre Hände mit den Handflächen<br />

nach oben auf Ihre Knie und wiegen Sie Ihren Körper von<br />

Seite zu Seite. Indem Sie Ihre Hüften in eine Richtung und<br />

Ihren Oberkörper und schließlich Ihren Kopf in die andere<br />

Richtung schwingen, bewegen Sie sich zuerst in größeren und<br />

dann immer kleiner werdenden bogenförmigen Bewegungen<br />

beinahe schlangenartig entlang Ihrer Wirbelsäule bis zu Ihrem<br />

Nacken und dem Schädel. Dies ist eine wirklich fantastische<br />

Übung sowohl für Ihre Haltung als auch Ihre Wirbelsäule. Sie<br />

wurde mir von einem Arzt, der auch ein Rückenspezialist,<br />

Akupunkteur und Tai-Chi-Lehrer ist, empfohlen. Diese wiegende<br />

Bewegung ist das Beste, was Sie für Ihren Rücken tun<br />

können, sowohl wenn Sie mit der Sitzmeditation beginnen als<br />

auch zum Schluss in umgekehrter Reihenfolge.<br />

Versuchen Sie, diese Bewegung jedes Mal, wenn Sie sitzen,<br />

mit einzubauen. Sie hat meiner Wirbelsäule wirklich geholfen<br />

und meine Spannungen im Nacken gelöst. Beginnen sie<br />

die Bewegung vom Steißbein ausgehend entlang der Wirbelsäule<br />

zum Nacken bis zum Kopf. Nach dem Sitzen können Sie<br />

sich in umgekehrter Richtung bewegen, angefangen mit dem<br />

Kopf entlang der Wirbelsäule mit erst kleinen und dann immer<br />

größer werdenden seitlichen Bewegungen.<br />

Ihr Kopf und Nacken sollten beim Sitzen aufrecht sein,<br />

wobei sich Ihre Nase in einer Linie mit dem Nabel befindet.<br />

Ihr Kinn halten Sie leicht gesenkt, jedoch nicht eingezogen -<br />

nur so leicht nach unten gehalten, dass Sie es nicht nach vorne<br />

strecken. Ihr Mund ist geschlossen, und Ihre Zunge berührt<br />

leicht den vorderen Gaumen. Schlucken Sie jegliche Luft oder<br />

Speichel. Dies wird Ihnen helfen, nicht zuviel Speichel zu produzieren<br />

und daher auch nicht übermäßig schlucken zu müssen.<br />

202


Was die Augen betrifft: Im traditionellen Zen werden sie<br />

um fünfundvierzig Grad gesenkt, und Sie schauen ganz einfach<br />

nur, ohne den Blick zu fokussieren. Falls dies für Sie funktioniert,<br />

umso besser, jedoch ist es für die meisten Leute<br />

schwierig. Ich finde es auch in Ordnung, die Augen auf eine<br />

entspannte Art zu schließen und so zu sitzen. Der einzige<br />

Nachteil ist, dass Sie, wenn Sie mit geschlossenen Augen sitzen,<br />

vor allem zu Anfang eher in Tagträumerei verfallen und<br />

zum Fantasieren neigen. Im Zen sagen wir, dass Sie die ersten<br />

zehn oder zwanzig Jahre Ihrer Meditation nicht mit geschlossenen<br />

Augen sitzen sollten. Ich selbst habe zwanzig Jahre gewartet,<br />

bevor ich begann, mehr mit geschlossenen Augen zu<br />

sitzen. Ich denke jedoch, dass es für manche einfacher ist, ihren<br />

Geist zur Ruhe zu bringen, wenn die Augen geschlossen<br />

sind.<br />

Ihre Sitzhaltung sollte aufrecht sein, wobei Sie weder nach<br />

rechts noch nach links, weder nach vorne noch nach hinten<br />

geneigt sein sollten. Verglichen mit der Haltung von Rodins<br />

Denker ist dies genau das Gegenteil: Es ist eine nicht-denkende<br />

Haltung, und da der Köper, die Atmung und der Geist eins<br />

und verbunden sind (offensichtlich sind sie verbunden, wenn<br />

sie eins sind) hilft diese Haltung, den Atem und damit den<br />

Geist zur Ruhe kommen zu lassen. Wenn Sie mit der richtigen<br />

Geisteshaltung sitzen, wenn Sie also, anders ausgedrückt,<br />

der Nicht-Strebende, Nicht-Greifende Geist sind, wirkt sich<br />

dies auch auf Ihren Atem aus, so dass er sich verlangsamt, und<br />

Sie werden natürlicherweise in einer aufrechten Haltung sitzen<br />

bleiben. Ihre Haltung wird sich unvermeidlich von selbst<br />

aufrichten. Eine gute Atmung hat einen positiven Einfluss auf<br />

Ihre Haltung ebenso wie auf Ihren Geist. Alle Aspekte sind<br />

miteinander verbunden.<br />

Nachdem Sie die Sitzhaltung eingenommen haben, machen<br />

Sie ein paar tiefe Atemzüge. Atmen Sie dabei langsam<br />

mit gespitzten Lippen durch den Mund aus, und atmen Sie<br />

199


dann langsam durch die Nase wieder ein - ungefähr drei Mal.<br />

Danach können Sie mit geschlossenem Mund ganz einfach<br />

natürlich ein- und ausatmen. Ihre Hände können die Haltung<br />

der sogenannten kosmischen oder universalen Mudra einnehmen.<br />

Dabei legen Sie die rechte Hand mit der Handfläche nach<br />

oben auf Ihren Schoß und legen die linke Hand ebenfalls mit<br />

der Handfläche nach oben auf die rechte. Ihre Hände sind mit<br />

der Seite des kleinen Fingers gegen den unteren Teil Ihres<br />

Bauches angelehnt und ruhen auf Ihrem Schoß oder ein paar<br />

Zentimeter unterhalb des Nabels. Ihre Daumenspitzen sollten<br />

sich leicht berühren. Drücken Sie sie nicht fest aneinander,<br />

so dass sie nach oben zeigen. Sie berühren sich nur ganz<br />

leicht, damit die Energiekreise verbunden sind. Ihre Daumen<br />

sollten sich ungefähr auf der Höhe des Nabels befinden. Eventuell<br />

können Sie eine Unterlage auf Ihren Schoß legen, um die<br />

Hände in dieser Position entspannter ruhen zu lassen.<br />

Die Haltung des Geistes<br />

in der Meditation<br />

Lassen Sie uns mit dem Nicht-Strebenden, Nicht-Greifenden<br />

Geist sprechen, um Ihnen eine Idee des Bewusstseinszustandes<br />

zu geben, welcher der Meditation am zuträglichsten ist.<br />

FACILITATOR: Könnte ich bitte mit einer Stimme sprechen,<br />

die in der Meditation eine große Hilfe sein kann? Ich werde<br />

sie Nicht-Strebender, Nicht-Greifender Geist nennen.<br />

Könnte ich jetzt bitte mit dem Nicht-Strebenden, Nicht-<br />

Greifenden Geist sprechen?<br />

NICHT-STREBENDER, NICHT-GREIFENDER GEIST: Ja, du<br />

sprichst mit dem Nicht-Strebenden, Nicht-Greifenden<br />

Geist.<br />

FACILITATOR: Warum nennen wir dich den Nicht-Strebenden,<br />

Nicht-Greifenden Geist?<br />

204


NICHT-STREBENDER, NICHT-GREIFENDER GEIST: Weil ich<br />

nach nichts strebe und nichts suche, und ich ergreife auch<br />

nichts.<br />

FACILITATOR: Warum?<br />

NICHT-STREBENDER, NICHT-GREIFENDER GEIST: Weil<br />

mir absolut nichts fehlt! Darum strebe ich nach nichts und<br />

habe auch kein Bedürfnis, nach etwas zu greifen.<br />

FACILITATOR: Ich möchte dich jetzt bitten, einfach nur als<br />

Nicht-Strebender, Nicht-Greifender Geist zu sitzen und<br />

festzustellen, wie es ist, nach nichts zu streben und nach<br />

nichts zu greifen.<br />

NICHT-STREBENDER, NICHT-GREIFENDER GEIST: Gut,<br />

das werde ich tun.<br />

(Pause)<br />

FACILITATOR: Wie war das - zu sitzen als Nicht-Strebender,<br />

Nicht-Greifender Geist?<br />

NICHT-STREBENDER, NICHT-GREIFENDER GEIST: Unglaublich,<br />

einfach unglaublich. Ich spüre überhaupt kein Bedürfnis,<br />

auch nur irgendetwas anzustreben oder zu ergreifen.<br />

Ich habe das Gefühl, vollständig gegenwärtig zu sein.<br />

Ich bin Der Weg, ich bin <strong>Big</strong> Mind, ich bin <strong>Big</strong> Heart, ich<br />

bin reines Sein. Wenn ich auf diese Weise sitze, bin ich ohne<br />

Ziel, ich habe keinen Plan, nichts fehlt, nichts ist zu viel, und<br />

es besteht absolut kein Bedürfnis, nach irgendetwas zu suchen<br />

oder zu streben. Wenn ich bemerke, dass Streben entsteht,<br />

lasse ich es einfach kommen und gehen. Ich jage nichts<br />

nach. Ich habe kein Bedürfnis zu verstehen, ich muss nichts<br />

begreifen, nichts analysieren oder beurteilen. Ich sitze einfach<br />

nur. Es gibt keine Grenzen. Ich bin alle Dinge. Es ist<br />

unglaublich, es ist wunderbar. Ich bin voller Freude und mir<br />

fehlt nichts. Ich könnte lange einfach so sitzen.<br />

FACILITATOR: Ist es schwer, dich zu finden?<br />

NICHT-STREBENDER, NICHT-GREIFENDER GEIST: Ich denke,<br />

wenn das Selbst versucht, nicht mehr zu streben, oder<br />

199


wenn es versucht, Dinge nicht mehr zu erfassen und zu verstehen,<br />

so wird ihm das nicht gelingen. Denn der Versuch<br />

und die Anstrengung, dies zu tun, das heißt, ich zu sein,<br />

stellen sich dem in den Weg. Wenn er aber seine Haltung<br />

und damit sein Bewusstsein ändert und mir erlaubt, gegenwärtig<br />

zu sein - wenn er also darum bittet, mit mir zu sprechen,<br />

und dann bestätigt: „Ich bin Nicht-Strebender, Nicht-<br />

Greifender Geist”, so bin ich unmittelbar gegenwärtig.<br />

Dann geht es nicht darum, zu mir zu gelangen. Die Bewegung<br />

findet nicht im Laufe der Zeit statt und überbrückt<br />

keine Entfernung. Er lässt ganz einfach seinen suchenden,<br />

strebenden Geist los und identifiziert sich mit mir, dem<br />

nicht-strebenden Geist. Wenn er sich erst einmal als Nicht-<br />

Strebender, Nicht-Greifender Geist identifiziert hat - in<br />

meiner Gegenwart -, ist keine Anstrengung nötig. Er ist<br />

einfach nur da. Ich gönne ihm eine komplette Auszeit von<br />

all seinem Verlangen und Streben und Wollen und Begehren.<br />

Ich bin das Ende allen Leidens. Ich bin der Geist des<br />

Friedens, der Geist des Nirvana. Ich bin Nirvana.<br />

Ich bin, wonach das Selbst und alle Selbste streben, und<br />

wenn er als ich sitzt, bin ich vollkommen manifestiert. Ich<br />

bin aber nicht nur eine Frage der Haltung. Es ist hilfreich,<br />

aufrecht zu sitzen und nicht vornüber gebeugt zu sein, doch<br />

hänge ich nicht von einer bestimmten Position ab.<br />

FACILITATOR: Was passiert, wenn er Angst davor hat, dich<br />

zu verlieren?<br />

NICHT-STREBENDER, NICHT-GREIFENDER GEIST: Wenn<br />

er Angst hat, mich zu verlieren, so wird er mich verlieren.<br />

In der Angst selbst kommt das Selbst zum Vorschein, wodurch<br />

er mich verliert. Doch kann er darum bitten, wiederum<br />

mit mir zu sprechen, und ich werde hier sein. Ich bin<br />

immer hier.<br />

In der Sitz-Meditation manifestiert sich meine wahre Natur<br />

vollkommen. Im Nicht-Strebenden, Nicht-Greifenden<br />

206


Geist kann ich einfach nur sein. Ich bin weder in der Zukunft noch<br />

in der Vergangenheit. Dies ist ein Zustand reinen Gewahrseins oder<br />

reiner Bewusstheit. Wenn ich aus der Meditationshaltung aufstehe,<br />

sei es von einem Kissen oder einem Stuhl, ist es sehr wichtig, dass<br />

ich mich in den - was ich den Integrierten Frei-Wirkenden Bewusstseinszustand<br />

nenne - bewege: ein vollständig bewusster, sehr<br />

natürlicher Zustand. Dem Philosophen Ken Wilber zufolge ist dieser<br />

integrierte Seinszustand kein Prä-Bewusstsein, wie in unserer<br />

Kindheit, in der wir noch eine Art reines Bewusstsein haben, und<br />

er entspricht auch nicht der Art, wie wir sind, wenn wir uns in den<br />

dualistischen Stimmen befinden. Es ist ein Gewahrsein des Trans-<br />

Bewusstseins. In diesem Zustand behalten wir die Natürlichkeit<br />

und Frische des verletzlichen Kindes, jedoch mit der Weisheit und<br />

dem Bewusstsein reifer Menschen verbunden, die in ihrem täglichen<br />

Leben mit Weisheit und Mitgefühl handeln.<br />

All die verschiedenen Übungen - Sitzmeditation, <strong>Big</strong> Mind<br />

und so weiter - sind geschickte Hilfsmittel, um unsere Persönlichkeit,<br />

unsere Bewusstheit und unser Gewahrsein zu stärken,<br />

so dass unser Wirken wahrlich von Weisheit und Mitgefühl<br />

gespeist ist.<br />

Und darum geht es wirklich. Darum geht es im Zen, im<br />

Buddhismus, in allen großen Religionen und Weisheitstraditionen<br />

die ich kenne, und darum geht es auch in diesem<br />

Buch. Wenn wir nicht verstärkt mit Weisheit und Mitgefühl<br />

allen Wesen gegenüber handeln - und alle Wesen bedeuten sowohl<br />

alle lebenden Wesen als auch alle nicht-lebenden Wesen,<br />

also Felsen, Berge, die ganze Erde - wenn wir nicht erkennen,<br />

dass alles wirklich ich selbst oder eine Verlängerung oder<br />

Erscheinungsform von <strong>Big</strong> Mind ist, geraten wir in die Fänge<br />

207


von Angst, Eifersucht, Habgier und Hass, die allesamt auf<br />

dieser Illusion der Getrenntheit basieren. Betrachten wir uns<br />

selbst als getrennt von der Erde, den Bergen, den Flüssen und<br />

den Meeren, neigen wir dazu, sowohl einander als auch den<br />

Planeten selbst zu missbrauchen. Ich denke, an diesem Punkt<br />

unserer Geschichte ist es von entscheidender Bedeutung, dass<br />

wir aufwachen und mit Weisheit, Mitgefühl und Bewusstheit<br />

handeln.<br />

Experten gehen davon aus, dass zwei der sieben potenziell<br />

tödlichen Bedrohungen für das Überleben unserer Spezies und<br />

das der meisten anderen Geschöpfe dieses Planeten von uns<br />

Menschen geschaffen wurden: Erderwärmung und Nuklearkatastrophen.<br />

Wenn wir nicht wach werden, gibt es vielleicht<br />

in hundert Jahren oder auch schon viel eher keine Welt mehr,<br />

so wie wir sie kennen. Wir müssen uns der Wirkungen unseres<br />

Handelns auf diesen Planeten und aufeinander wirklich<br />

bewusst werden. Zu erwachen und bewusst zu sein ist die einzige<br />

Möglichkeit, uns selbst zu retten und die Erde für unsere<br />

Kinder, Enkel, Urenkel und die folgenden Generationen zu<br />

bewahren.<br />

Viele Führungspersönlichkeiten haben die Dringlichkeit<br />

der Situation und die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit<br />

erkannt. Wie Ruderer eines Mannschaftsbootes ihre Anstrengungen<br />

aufeinander abstimmen müssen, müssen auch wir zusammenwirken.<br />

Bei diesem Rennen treten wir nicht mehr<br />

gegeneinander an (nicht, dass wir das jemals taten), sondern<br />

wir kämpfen gegen unser eigenes Potenzial, das Boot, mit dem<br />

wir uns fortbewegen, zu zerstören.<br />

Uns bietet sich in dieser Situation auch eine Chance - und<br />

es könnte sich gegenwärtig sogar um einen der aufregendsten<br />

Abschnitte der menschlichen Geschichte handeln. Zwei der<br />

mächtigen Strömungen dieser Welt, die Weisheit des Ostens und<br />

des Westens, vereinigen sich endlich zu einer. Offensichtlich sind<br />

Ost und West sich schon seit mehreren hundert Jahren immer<br />

208


wieder begegnet, doch haben die östlichen spirituellen Traditionen<br />

erst in den letzten fünfzig Jahren im Westen wirklich<br />

Wurzeln geschlagen, haben die Meister des Ostens ihre Weisheit<br />

an uns aus dem Westen übertragen, und begannen wir im<br />

Westen, diese Weisheit so zu verkörpern, dass sie jetzt erst<br />

wirklich integriert ist. Westliche Philosophie, Religion, Psychologie,<br />

Kunst und Technologie, die Teil unseres Erbes ausmachen,<br />

fließen endlich in den ersten westlichen Nachfolgerinnen<br />

und Nachfolgern der östlichen Traditionen mit der<br />

Weisheit des Ostens zusammen. Natürlich geschieht dieser<br />

Prozess wechselseitig und hoffentlich geschieht Gleiches auch<br />

in Asien. Wie sonst sollte unsere Welt vollständig und ganz<br />

sein?<br />

Mit diesem Buch möchte ich einen Beitrag leisten, die<br />

Ebene des Bewusstseins auf diesem Planeten zu erhöhen - zu<br />

einem Zeitpunkt in der Geschichte, an dem wir diesen Schritt<br />

dringend benötigen. Falls wir als eine der vielen Gattungen auf<br />

diesem Planeten überleben wollen, so ist es an uns, ein Erwachen<br />

herbeizuführen, das bis jetzt nur einer Elite von wenigen<br />

begabten Suchenden der verschiedenen spirituellen Traditionen<br />

offenstand. Mit unserem technologischen und spirituellen<br />

Wissen von heute liegt es in unserer Macht, die größten<br />

Probleme dieser Welt zu lösen - falls wir bereit sind, in Weisheit<br />

und Mitgefühl, in <strong>Big</strong> Mind und <strong>Big</strong> Heart, zusammenzuarbeiten.<br />

209


Biografie<br />

<strong>Genpo</strong> <strong>Roshi</strong> wurde in Brooklyn, New York, als Dennis Paul<br />

Merzel geboren. Er wuchs in Süd-Kalifornien auf, wo er zum<br />

Topschwimmer und einem der besten Wasserballspieler der<br />

USA wurde. Er schloss sein Masterstudium in Erziehungswissenschaften<br />

an der Universität von Süd-Kalifornien ab und<br />

arbeitete als Rettungsschwimmer und Lehrer, bis er 1973 von<br />

Zen-Meister Taizan Maezumi als Zen-Mönch ordiniert wurde.<br />

1980 wurde er Maezumi <strong>Roshi</strong>s zweiter Dharma-Nachfolger.<br />

1982 begann er, in Europa als Zen-Lehrer zu lehren, und<br />

gründete die internationale Kanzeon (Mitgefühl)-Sangha.<br />

Deren Zentrum befindet sich nun in Salt Lake City, Utah, angeschlossene<br />

Gruppen gibt es in Frankreich, Polen, Belgien,<br />

Deutschland, England, Malta und den Niederlanden. 1996<br />

erhielt er Inka (endgültige Autorisation als Zen-Meister) von<br />

<strong>Roshi</strong> Bernie Glassman, wodurch er sich zu der kleinen Gruppe<br />

von westlichen Zen-Lehrern zählen darf, die als Linienhalter<br />

sowohl in der Soto- als auch der Rinzai-Zen-Tradition<br />

anerkannt sind. Zehn Jahre lang, bis 2007, wer er Vorsitzender<br />

der White Plum Asanga, einer weltweiten Gemeinschaft,<br />

die alle Dharma-Erben von Maezumi <strong>Roshi</strong> und deren Nachfolger<br />

mit ihren zahlreichen Gruppen umfasst. Er lebt mit<br />

seiner Frau Stephanie Young in Salt Lake City. Sein Sohn Tai<br />

ist Raumfahrtingenieur und seine Tochter Nicole studiert Mathematik<br />

an der Universität von Puget Sound im Staat Washington.<br />

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