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LITERATUR SPIEGEL 08 09 2018

Entspannen, sich genussvoll zurücklehnen, ein Buch aufschlagen: Bücher zu lesen schafft einen besonderen Moment der Entschleunigung. Diese positive Grundstimmung schwingt mit, wenn Leser den LITERATUR SPIEGEL zur Hand nehmen.

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SEPTEMBER <strong>2018</strong><br />

Weit weg von Verona: Der spät übersetzte<br />

Debütroman der 90-jährigen<br />

Jane Gardam. Seite 5<br />

Desintegriert euch! Der jüdische Lyriker<br />

Max Czollek will keine Rolle<br />

im Gedächtnistheater. Seite 8<br />

Wen liebte Goethes Faust? Das große<br />

Literaturquiz von Martin Doerry<br />

und Volker Hage. Seite 10<br />

Kulturprogramm: Filme, Serien,<br />

Konzerte, Musikalben, Ausstellungen,<br />

Theaterpremieren. Seite 14<br />

Auf der Suche nach Exotik<br />

Die Erfolgsschriftstellerin Nino Haratischwili hat sich an das<br />

nächste große Epos gewagt – Die Katze und der General. Sie scheitert krachend.<br />

Von Volker Weidermann<br />

EIN BISSCHEN WAR ES SO, damals, vor vier<br />

Jahren, als hätte diese junge Frau einmal tief Luft<br />

geholt und ausatmend einen Orkan entfacht, der<br />

die anderen Bücher der deutschen Gegenwarts -<br />

literatur einfach hinwegfegte. Sie wie Spielzeugbücher<br />

aussehen ließ, kleine Versuche von mut -<br />

losen Leuten. Sie, Nino Haratischwili, damals<br />

31 Jahre alt, mit 13 Jahren von Georgien nach<br />

Deutschland gekommen, hatte mit ihrem Roman<br />

Das achte Leben (Für Brilka) ein Werk ge -<br />

schaffen, wie es lange keines mehr gegeben hatte<br />

in deutscher Sprache, ein europäisches Epos<br />

auf 1277 Seiten.<br />

Mit einer historisch klugen Fabulierfreude,<br />

die an Isabel Allende und ihr magisch-realistisches<br />

Geisterhaus erinnerte, erzählte Nino Haratischwili<br />

die Geschichte des europäischen Jahrhunderts<br />

vom Balkon am Rande des Kontinents, von Geor -<br />

gien aus. Als tragische, verrückte, abenteuerliche,<br />

grausame, unglaubwürdige, aber total glaubhafte<br />

Familiengeschichte. Und wenn in diesem Herbst<br />

auf der Frankfurter Buchmesse das Land und die<br />

Literatur Georgiens zu Gast sein werden, dann<br />

wird gewiss vor allem auch dieses vier Jahre alte,<br />

junge, große Buch wieder im Mittelpunkt stehen.


2<br />

Die letzten Seiten hatte Nino Haratischwili<br />

damals frei gelassen, eine Aufforderung zur Fortschreibung<br />

der Geschichte. Eine Aufforderung<br />

an die Romanfiguren, das Leben nun selbst in die<br />

Hand zu nehmen, sich selbst fortzuschreiben; eine<br />

Aufforderung an die Leser, aus diesen großen<br />

Geschichten eigene Lehren zu ziehen und Europa<br />

als gute Geschichte fortzuschreiben. Und vielleicht<br />

auch an die Autorin selbst, irgendwann einmal<br />

die Figuren, die sie selbst mit so ungeheurer<br />

Lebendigkeit auf die Welt gebracht hatte, weiterleben<br />

zu lassen. In dieser Welt. Auf diesen Seiten.<br />

Jetzt hat Nino Haratischwili einen neuen Roman<br />

geschrieben, er heißt Die Katze und der General,<br />

ist 500 Seiten kürzer als Das achte Leben, der Mittelpunkt<br />

des Geschehens ist diesmal Tschetschenien,<br />

ein Verbrechen, das dort während des ersten<br />

Tschetschenienkrieges von Russen begangen wurde<br />

– und er ist total misslungen. Vielleicht erkennt<br />

man große Autorinnen ja auch daran, dass sie,<br />

wenn sie scheitern, krachend scheitern. Dass sie<br />

nicht in kleinen, zaghaften Prosaversuchen knapp<br />

danebenhauen. Sondern mit großem Willen zum<br />

nächsten Epos vor aller Augen eine richtige Bruchlandung<br />

hinlegen. Nino Haratischwili, die uns<br />

gelehrt hat, wie kurzweilig und leichtgewichtig<br />

1277 Seiten sein können, lehrt uns mit ihrem neuen<br />

Buch, wie unendlich langweilig und schwergewichtig<br />

764 Seiten sein können.<br />

Die Geschichte geht so: Ein junger russischer<br />

Soldat – der nie Soldat werden wollte, aber seine<br />

Mutter wollte es unbedingt, da sein gefallener<br />

Vater ein Kriegsheld war – wird in den Krieg in<br />

Tsche tschenien geworfen. Dort wird er Zeuge und<br />

schließlich Mittäter eines Verbrechens. Im Moment<br />

des Verbrechens erfährt er eine Verwandlung.<br />

Er beschließt, sich selbst<br />

und seine Mittäter vor Gericht<br />

zu bringen, um von hoher<br />

Stelle ein gerechtes Urteil zu<br />

erfahren. Doch es wird kein Urteil<br />

geben. Es herrscht Krieg.<br />

Gewalt ist Alltag. Sühne ist<br />

nur in dir selbst oder nir -<br />

gendwo. Der reuige Täter wird<br />

Nino<br />

Hara tischwili:<br />

Die Katze und<br />

der General.<br />

Frankfurter<br />

Verlagsanstalt.<br />

764 Seiten;<br />

30 Euro; Erscheint<br />

am 30. August.<br />

Geschäftsmann, schließlich<br />

Oligarch, unermesslich reich<br />

und kommt doch nicht los<br />

von dem Schatten seiner Tat.<br />

Eines Tages sieht er auf einer<br />

Plakatwand in Berlin das<br />

Porträt einer Schauspielerin,<br />

die der Tschetschenin, die er<br />

und seine Kameraden damals vergewaltigt und<br />

ermordet haben, zum Verwechseln ähnlich sieht.<br />

Sie nennt sich Katze, kommt aus Georgien, lebt<br />

in Berlin, und sie wird Teil eines großen Plans,<br />

mithilfe dessen der Oligarch die Tat von damals<br />

sühnen will.<br />

Begleitet wird sie von einem deutschen Journalisten<br />

und Buchautor, Onno Bender, der vom<br />

wilden Osten Europas magisch angezogen wird.<br />

Er ist die einzige Person, die »ich« sagt in diesem<br />

vielstimmigen Roman. Er ist so etwas wie ein Klischeebild<br />

des deutschen Literaturbetriebsangestellten,<br />

der sich in seinem saturierten Komfort -<br />

leben langweilt und draußen in der Welt nach immer<br />

exotischeren Geschichten sucht, weil er in<br />

sich selbst nur Leere findet. Als früh in seinem<br />

Leben zwei Geschwister aus dem Kriegsgebiet<br />

Ex-Jugoslawiens in seine Klasse kamen, war er<br />

begeistert: »Ich beneidete die beiden Geschwister<br />

um ihre Geschichte, obwohl sie eine grausame<br />

war, denn sie hatten etwas zu erzählen, besaßen<br />

ein Anrecht auf Besonderheit, hatten das Leben<br />

in seiner brutalsten Form und all seiner Nacktheit<br />

erlebt.« Diese tolle, abenteuerliche Exotik zieht<br />

ihn magisch an: »Die Faszination des Grauens<br />

ließ es nicht zu, den Blick abzuwenden. Genau<br />

dieses winzige Gefühl brachte mich in jenem Augenblick<br />

auf die Idee, dass ich so leben und solchen<br />

Geschichten folgen wollte. Dass ich sie erzählen<br />

wollte, auch wenn sie nicht meine waren.«<br />

A<br />

LS ER DAMALS als Schüler ein anrührendes<br />

Porträt über die beiden und ihre<br />

Familie in der örtlichen Zeitung veröffentlicht,<br />

ist die Spendenbegeisterung der Leser groß,<br />

das Entsetzen der Geflohenen auch. Denn sie wollen<br />

nicht Hauptfiguren in einer Leidensreportage<br />

sein, sondern einfach nur ankommen, unauffällig<br />

und normal sein, nicht vom Staunen und Mitleid<br />

der Menschen verfolgt.<br />

Katze, die Georgierin, steht zwischen diesen<br />

beiden Polen. Einerseits ist sie in Deutschland<br />

gut angekommen, lebt ihr Leben, passt sich an<br />

und fühlt sich frei. Gleichzeitig aber ist da dieses<br />

Georgien in ihr, diese Sehnsucht zurück. Raus<br />

aus dem saturierten Komfortdeutschland. Auch<br />

deshalb nimmt sie den Auftrag des Oligarchen<br />

an, als spätes Double der toten Tschetschenin in<br />

einem Video mitzuspielen. Denn vielleicht werden<br />

der Dreh und die Folgen sie aus der Komfortzone<br />

befreien. Ihre Schwester und sie werden im Roman<br />

so beschrieben: »Wie wilde Tiere, die tief im<br />

Inneren doch stets in Angst leben, eines Tages<br />

die Beherrschung zu verlieren und dem Dompteur<br />

die Halsschlagader durchzubeißen, um auszubrechen<br />

aus dem bunten Käfig und der grellen<br />

Arena, zurückzukehren in den dunklen, geheimnisvollen<br />

Dschungel, den zu vermissen sie nie<br />

aufgehört haben.«<br />

Oje. Wie viele Klischees und schiefe Bilder<br />

sind in dieser Passage versteckt? Welches wilde<br />

Tier hatte je Angst, die Beherrschung zu verlieren?<br />

Welcher Käfig ist bunt? Ist Georgien ein geheimnisvoller<br />

Dschungel? Es scheint, als habe Nino<br />

Haratischwilis Wille zur Exotik sie die ganze schöne<br />

Sprachbeherrschung verlieren lassen. Es kann<br />

übrigens sein, dass es schiefe Bilder, verrutschte<br />

Szenen auch im Achten Leben schon gab. Aber die<br />

Geschichte wurde von einer enormen inneren<br />

Kraft, einer Notwendigkeit, diese Geschichte zu<br />

erzählen, die man als Leser auf jeder Seite spürte,<br />

vorangetrieben. Bei der Lektüre des neuen Romans<br />

aber fragt man sich ständig: warum? Warum<br />

erzählt Nino Haratischwili diese Geschichte? Was<br />

weiß sie von Tschetschenien, was wir ferne Nachrichtenzuschauer<br />

nicht wissen? Die Antwort ist:<br />

nichts. Doch dieses Nichts füllt sie mit den ab -<br />

gegriffensten Kriegsmetaphern, die gerade so<br />

herumliegen: »Als jeder dachte, es könnte nicht<br />

schlimmer werden, wurde es schlimmer: Der Krieg<br />

kam und legte sich wie ein schwarzer Schatten,<br />

wie ein Drache über das ganze Land; man roch<br />

schon seinen Schwefelatem, man fürchtete schon<br />

die Macht des Feuers, die das Vieh auszuspucken<br />

drohte, aber kannte noch nicht die Folgen.«<br />

Es ist verrückt. Es ist, als habe sich Nino Haratischwili<br />

in diesen spießig-deutschen Onno Bender<br />

verwandelt, der in die fremden Ostmenschen<br />

so lange seine Klischees hineinfühlt, bis die Menschen<br />

endlich diesen Klischees zu entsprechen<br />

scheinen. Wenn sie etwa über junge Emigranten<br />

aus Osteuropa schreibt, »dass sie sich wieder nach<br />

der Hölle sehnten, die sie bei ihrem Aufbruch so<br />

entschlossen zurückgelassen hatten. Denn diese<br />

Hölle stank zwar weiterhin nach Schwefel, aber<br />

immerhin war es ihre Hölle, dort waren sie Könige<br />

in ihrem verkommenen Reich«.<br />

Wie konnte das passieren? All diese leblosen<br />

Menschen? Die mühsam zusammengehämmerte<br />

Konstruktion? Diese ganze unwahrscheinliche<br />

Geschichte vom Oligarchen mit dem goldenen<br />

Herzen? Haben vielleicht wir, die Kritiker, die Leser,<br />

so lange und entschlossen von der deutschen<br />

Literatur »Welthaltigkeit« verlangt, dass freund -<br />

liche, themensuchende Autoren sich schreibend<br />

in ferne Kriege stürzen, um diese uns als schwefelstinkende<br />

»Drachen« zurückzugeben? Hat<br />

Nino Haratischwili einfach das eine große Thema<br />

gehabt und es umfassend aufgeschrieben?<br />

»Wir müssen gar nichts«, hatte sie vor einiger<br />

Zeit, als wir im <strong>SPIEGEL</strong> einen Text über ein -<br />

gewanderte deutsche Schriftsteller schrieben und<br />

uns überlegten, was Ziel, Aufgabe und Idee einer<br />

Einwanderungsliteratur sein könnte, selbst -<br />

bewusst und entschlossen lachend gesagt. Wie<br />

recht sie damit hatte. Nur aus totaler innerer Freiheit<br />

entsteht große Literatur. Nino Haratischwilis<br />

neuer Roman kann einen glauben lassen, dass<br />

sie ihren Ausruf von damals diesmal selbst nicht<br />

befolgt hat.<br />

AUSSERDEM IM<br />

<strong>LITERATUR</strong> <strong>SPIEGEL</strong>:<br />

Jo Nesbøs Drogenthriller<br />

Macbeth S. 4<br />

Pierre Lemaitres<br />

Psychokrimi Opfer S. 4<br />

Jane Gardams Comingof-Age-Geschichte<br />

Weit weg von Verona<br />

S. 5<br />

Helene Hegemanns<br />

Roman Bungalow S. 6<br />

Eberhard Rathgebs<br />

Klageroman Karl oder<br />

Der letzte Kommunist<br />

S. 7<br />

Olivier Guez’ Bestseller<br />

Das Verschwinden des<br />

Josef Mengele S. 12<br />

KULTURPROGRAMM<br />

IM SEPTEMBER S.14<br />

Abgesang: Ein Gedicht<br />

von Jan Wagner S. 19<br />

IMPRESSUM S.19<br />

Illustrationen: Johanna Walderdorff für <strong>LITERATUR</strong><strong>SPIEGEL</strong>; Foto: Ewa Rudling / Picture Alliance / DPA


3<br />

»Bin ich hässlich?«<br />

Der Journalist Tobias Lehmkuhl porträtiert eine der schönsten Frauen der Sechziger:<br />

die Sängerin Christa Päffgen alias Nico.<br />

Von Felix Bayer<br />

I<br />

’LL BE YOUR MIRROR, reflect what you<br />

are, in case you don’t know« – es sind wohl<br />

die berühmtesten Zeilen, die Nico mit ihrer<br />

eigenartigen tiefen Stimme gesungen hat. »I’ll Be<br />

Your Mirror«, der Song auf dem ersten Album<br />

von The Velvet Underground, der von einer Person<br />

handelt, die gar nicht weiß, wie schön sie ist.<br />

Lou Reed hat ihn geschrieben für Nico, für diese<br />

Frau, die damals, Mitte der Sechzigerjahre, zu<br />

den schönsten überhaupt gezählt wurde.<br />

In diesem Sommer, da sich der Tod von Nico<br />

zum 30. Mal jährt – mit 49 Jahren stürzte sie auf<br />

Ibiza vom Fahrrad, ein Aneurysma, Hirnblutung<br />

–, ist ein Film über die letzten Jahre der Sängerin<br />

in die Kinos gekommen: »Nico, 1988« von<br />

Susanna Nicchiarelli. Die dänische Schauspielerin<br />

Trine Dyrholm spielt die vom jahrelangen Drogen -<br />

missbrauch zerrüttete Sängerin und fragt an einer<br />

Stelle: »Bin ich hässlich?« Als die Antwort Ja lautet,<br />

sagt Nico: »Gut. Als ich hübsch war, war ich<br />

auch nicht glücklich.«<br />

Der Gipfel ihrer popkulturellen Bedeutung,<br />

der Niedergang am Ende ihres zu kurzen Lebens –<br />

all das kommt natürlich auch in der ersten<br />

deutschsprachigen Biografie über Nico vor, die<br />

der Berliner Journalist und Literaturkritiker Tobias<br />

Lehmkuhl nun vorlegt. Doch das Buch trägt<br />

den Untertitel Biographie eines Rätsels, und das Rätselhafte<br />

sucht der Biograf vor allem in der Anfangszeit,<br />

als aus Christa Päffgen Nico wurde.<br />

»Was war ihr Talent?«, schreibt Lehmkuhl: »Model<br />

wurde sie mit fünfzehn, Schauspielerin mit zwanzig,<br />

Sängerin mit fünfundzwanzig Jahren. Ihr<br />

Talent war wohl zuallererst, Nico zu sein.«<br />

Dass »Nico zu sein« mit Schönheit zu tun hat,<br />

darüber kann kein Zweifel herrschen. Groß,<br />

blond, kühl, so beeindruckte die junge Deutsche<br />

die Modewelt in Paris ebenso wie die Filme -<br />

macher in Rom und die Pop-Art-Künstler in New<br />

York. Doch dazu kam noch der Klang, ihre tiefe<br />

Tonlage, ihr deutscher Akzent. »Es dürfte auch<br />

dieser Kontrast von eindringlicher Stimme und<br />

äußerer Schönheit gewesen sein, der das Interesse<br />

an Nico immer wieder befeuert hat«, schreibt<br />

Lehmkuhl.<br />

Lehmkuhls besonderes Interesse gilt Christa<br />

Päffgens Anfangsjahren: Geburt in Köln, Kriegskindheit<br />

im brandenburgischen Lübbenau, Jugend<br />

im zerstörten Berlin. Eine Zeit, über die wenige<br />

Dokumente erhalten sind, was Lehmkuhl<br />

durch manche Mutmaßung, manches Zusammenreimen<br />

wettzumachen versucht. Zusätzlich erschwert<br />

wird die Spurensuche dadurch, dass Nico<br />

in Interviews und in Gesprächen mit Wegbegleitern<br />

etliche Legenden über ihre jungen Jahre verbreitet<br />

hat, manche leicht zu falsifizieren, andere<br />

einfach nicht verifizierbar.<br />

Zum rätselhaften Charakter kommen also<br />

auch noch Faktenrätsel. So kann auch Lehmkuhl<br />

nicht erhärten, ob die 13-jährige Christa tatsächlich<br />

von einem afroamerikanischen GI vergewaltigt<br />

worden ist – was, wenn es stimmte, einen Erklärungsansatz<br />

ergäbe für abweisende Reaktionen,<br />

für rassistische Bemerkungen, für schwierige<br />

Bindungen. Doch Nico. Biographie eines Rätsels ist<br />

kein Enthüllungsbuch. Tobias Lehmkuhl hat mit<br />

Fleiß die greifbaren Quellen ausgewertet, ihm<br />

war offenkundig mehr daran gelegen, eine gut<br />

lesbare Erzählung hinzulegen als kleinteilig Recherche-Nachweise<br />

aufzulisten.<br />

Stattdessen bettet Lehmkuhl Nicos biografische<br />

Stationen und die dazugehörigen Anekdoten<br />

immer wieder in den kulturhistorischen Kontext<br />

ein. Gelegentlich geht dabei der Literaturkritiker<br />

mit ihm durch, etwa wenn er Nicos Jahre als Model<br />

in Paris dadurch kennzeichnet, dass der Theo re -<br />

tiker Jacques Derrida womöglich in denselben<br />

Cafés anzutreffen gewesen wäre wie sie. Parbleu!<br />

Die Erkenntnis fördernder sind die Erzählungen<br />

der Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff über<br />

Ibiza in den Siebzigerjahren, als Nico dort ihren<br />

Lebensmittelpunkt hatte.<br />

In den Jahren davor hatte Nico Filmauftritte<br />

in Fellinis »La Dolce Vita« und Warhols »Chelsea<br />

Girls« gehabt, die drei Songs auf dem Velvet-Underground-Debüt,<br />

Affären mit Brian Jones und<br />

Jim Morrison – und natürlich die eine Nacht mit<br />

Alain Delon, aus der Nicos Sohn Ari folgte, auch<br />

wenn Delon die Vaterschaft bis heute nicht anerkennt.<br />

Es war die Phase, für die die Bezeichnung<br />

It-Girl fast schon untertrieben wirkt.<br />

Wäre das alles, würden wir eine Nico-Biografie<br />

nur mit nostalgischem Blick lesen, so ähnlich wie<br />

Leser in 50 Jahren vielleicht eine Biografie über<br />

Kim Kardashian lesen werden.<br />

Aber es gibt einen künstlerischen Grund,<br />

warum es noch heute lohnt, die Nico-Rätsel zu<br />

ergründen: die Musik auf »The Marble Index«,<br />

»Desertshore« und »The End …«, den drei klassi-<br />

schen Soloalben, die Nico zwischen<br />

1968 und 1974 aufgenommen<br />

hat. Sie sind stilistisch<br />

so eigenständig, so voller<br />

emotionaler Kraft, dass sie<br />

Fragen danach rechtfertigen,<br />

was in dem Leben derjenigen<br />

vorgegangen sein muss, die<br />

solche Musik erschafft. Es ist<br />

dunkle Musik, die an die euro -<br />

päische Romantik anknüpft.<br />

»Nico, wie, bitte schön, verkauft<br />

man Selbstmord?«, fragte<br />

der Produzent John Cale,<br />

der das kommerzielle Poten -<br />

zial der Alben bezweifelte.<br />

Tobias Lehmkuhl:<br />

Nico.<br />

Biographie<br />

eines Rätsels.<br />

Rowohlt Berlin;<br />

288 Seiten;<br />

24 Euro.<br />

Lehmkuhls Biografie könnte gerade in den<br />

Passagen über die Soloalben etwas mehr Leidenschaft<br />

vertragen. Zugleich ist man dem Autor für<br />

seine vergleichsweise zurückhaltende Schreibweise<br />

dankbar, wenn es um die tragischen Wendungen<br />

in Nicos späterem Leben geht: der Tod<br />

der Mutter, der vernachlässigte Sohn, die Heroin -<br />

sucht – das hätte auf durchaus geschmacklosere<br />

Weise ausgewalzt werden können.<br />

So löst dieses Buch bei Weitem nicht alle Rätsel<br />

um Nicos Leben, aber das macht gar nichts:<br />

Ein Rest an Geheimnis gehört zur großen Kunst<br />

dazu.


Update für Shakespeare<br />

Neue Kriminalromane von Jo Nesbø und Pierre Lemaitre.<br />

Von Marcus Müntefering<br />

EINE NAMENLOSE schottische<br />

Großstadt Anfang der<br />

Siebzigerjahre. Massenarbeitslosigkeit,<br />

Umweltverschmutzung,<br />

Drogenkriminalität. Es<br />

herrscht Katerstimmung in Jo Nesbøs neuem<br />

Roman Macbeth. Oder besser gesagt<br />

»Get Carter«-Stimmung. Dieser Klassiker<br />

des britischen Gangsterkinos, kurzgeschlossen<br />

mit Frank Millers Graphic Novel Sin<br />

City, gab Nesbø die Bilder vor. Verfallene<br />

Fabriken, verdreckte Straßen, Schmuddelwetter<br />

– kein Ort für Edelmänner. Und so<br />

macht Nesbø aus Macbeth, dem zunächst<br />

königstreuen Krieger, den Anführer eines<br />

SWAT-Teams und aus dem Tragödienklas -<br />

siker einen knallharten Drogenthriller. Mit<br />

reichlich Action inklusive amphetamin -<br />

befeuertem finalem Shoot-out. Shakespeare<br />

meets »Scarface«.<br />

Nesbøs Roman ist der siebte in einer Reihe<br />

von Shakespeare-Neudichtungen, die von<br />

der britisch-amerikanischen Hogarth Press<br />

in Auftrag gegeben wurden. Zuletzt versuchte<br />

sich Edward St. Aubyn mit mäßigem Erfolg<br />

daran, King Lear in einen modernen<br />

Wirtschaftskrimi umzudeuten. Deutlich besser<br />

gelingt das Nesbø, dem Norweger, der<br />

mit den Thrillern um den so genialen wie<br />

suchtgefährdeten Polizisten Harry Hole<br />

Weltbestseller geschrieben hat.<br />

Shakespeares Handlungsgerüst hat Nesbø<br />

übernommen: Macbeth, getrieben von<br />

Ehrgeiz und einer ambitionierten Frau –<br />

Lady Macbeth als frühe Femme fatale –,<br />

wandelt sich vom treuen Gefolgsmann zum<br />

Königsmörder und Tyrannen, wähnt sich<br />

aufgrund einer Weissagung unverwundbar<br />

und findet schließlich doch den Tod.<br />

Die blutig erstrittene Macht bringt nicht<br />

die erhoffte Erlösung, Nesbø gönnt seinem<br />

Antihelden kaum mehr als einen Moment,<br />

die neue Position als Polizeichef zu genießen,<br />

allzu bald mischen sich Schuldgefühle<br />

und Furcht vor Verrat in den Triumph. Nach<br />

dem Selbstmord seiner Frau taumelt Macbeth<br />

seinem Untergang entgegen. Und am<br />

Ende steht die Erkenntnis universeller Kontingenz:<br />

»Vielleicht sind wir bloß losgelöste<br />

Sätze in einem ewigen chaotischen Geschwätz,<br />

bei dem alle reden und niemand<br />

zuhört.«<br />

Mehr als 600 Seiten braucht Nesbø für<br />

seine Version eines der kürzesten Shake -<br />

speare-Dramen. Was viel damit zu tun hat,<br />

dass im Original außer dem zentralen Killerpärchen<br />

kaum jemand ein echtes Profil<br />

aufweist. Ob Duncan, Banquo oder Macduff,<br />

sie alle bleiben bloße Funktionsträger.<br />

Nesbø hingegen gönnt vielen seiner Figuren<br />

eine Backstory, spinnt ein komplexes Geflecht<br />

aus Abhängigkeiten und Verrat, vermisst<br />

seine fiktive Stadt von der Gosse bis<br />

ins Rathaus. Und er hat sichtlich Spaß daran,<br />

seinen Helden ein Update zu verpassen:<br />

So wird aus den Hexen, die Macbeths Aufstieg<br />

prophezeien, ein Trio asiatischer Drogenköche<br />

und aus dem berühmten Wald<br />

von Birnam eine ausgemusterte Lokomotive.<br />

Statt in einer Burg residieren die Macbeths<br />

in einem Casinohotel.<br />

Nesbø hat seinen Roman als Parabel auf<br />

die zerstörende Kraft des Kapitalismus angelegt.<br />

Macbeth und seine Frau sind Getriebene<br />

– ein Waisenkind und eine ehemalige<br />

Nutte –, die mitspielen wollen im Konzert<br />

der Großen. Doch letztlich sind sie nur ahnungslose<br />

Marionetten, Erfüllungsgehilfen<br />

von Hecate, dem Drogenboss der Stadt,<br />

einem Puppenspieler, an dessen Schnüren<br />

Cops und Kriminelle, Politiker und Prostituierte<br />

ein bizarres Ballett des Todes tanzen.<br />

Die organisierte Kriminalität, Nesbø<br />

zeigt sie uns als Raubtierkapitalismus in seiner<br />

reinsten Form, ohne störende Neben -<br />

geräusche wie Betriebsräte, Gewerkschaften<br />

oder Compliance-Regeln. Für Idealisten ist<br />

kein Platz in dieser Welt. »Schön ist hässlich,<br />

hässlich schön«, unken die Hexen bei Shakespeare.<br />

Auch bei Nesbø steht die Welt auf<br />

dem Kopf: »Dass der Einzelne danach<br />

strebt, reich zu werden, macht die Gesellschaft<br />

reich«, sagt Hecate und sieht sich entsprechend<br />

als »Stütze der Gesellschaft«, moralisch<br />

im Recht, wenn er den Reformer<br />

Duncan töten lässt. Shakespeares Happy<br />

End, der finale Jubelruf »Die Zeit ist frei«,<br />

bei Nesbø stellt es sich als Illusion heraus.<br />

Die Figuren sind austauschbar, das Spiel<br />

bleibt dasselbe.<br />

Jo Nesbø: Macbeth – Blut wird mit Blut bezahlt.<br />

Aus dem Englischen von André Mumot.<br />

Penguin; 624 Seiten; 24 Euro. Erscheint<br />

am 27. August.<br />

Von Katharina Stegelmann<br />

VON ANFANG AN ist klar: Es<br />

geht um dieses eine »entscheidende,<br />

erschütternde, unerwartete<br />

Ereignis«, das das Leben<br />

»total aus der Bahn wirft«, und<br />

vor dem jeder Angst hat. Und bereits im<br />

fünften Satz taucht das Wort »Pumpgun«<br />

auf. Bald schaut eine Frau in die Mündung<br />

der Waffe. Sie wird von zwei Gangstern brutal<br />

zusammengeschlagen, nur schwer verletzt<br />

mit zertrümmertem Gesicht gelingt ihr<br />

die Flucht. Der französische Autor Pierre<br />

Lemaitre lässt in seinem Thriller Opfer das<br />

Blut spritzen.<br />

Im Mittelpunkt des psychologisch raffinierten<br />

Romans steht Kommissar Camille<br />

Verhoeven. Und die Frau, die bei dem Überfall<br />

beinah getötet wird, Anne Forestier, ist<br />

die Frau, die er liebt. Kommissar Verhoeven<br />

zieht die Ermittlungen an sich, was ihm nur<br />

gelingt, weil er seinem Vorgesetzten sein Verhältnis<br />

zum Opfer verschweigt. Anne hat die<br />

Verbrecher gesehen, sie kann sie identifizieren,<br />

daher muss sie – schwer verletzt und<br />

traumatisiert, wie sie ist – weiter um ihr Leben<br />

fürchten. Camille will sie schützen, um<br />

jeden Preis. Und während er ermittelt, entfaltet<br />

sich für den Leser eine Geschichte in<br />

der Geschichte in der Geschichte – wie Matroschkas,<br />

die man auseinandernimmt und<br />

aufreiht, offenbart sich eine Ebene nach der<br />

nächsten. Nur dass die russischen Püppchen<br />

nach innen hin immer kleiner werden, während<br />

in Lemaitres Konstruktion der Schrecken<br />

kontinuierlich wächst.<br />

Der Leser ist dabei die meiste Zeit auf<br />

dem gleichen Wissensstand wie Kommissar<br />

Verhoeven. Die kleinen Irritationen, die<br />

schon früh gesetzt werden, entpuppen sich<br />

erst im Nachhinein als Hinweise auf die<br />

eigentliche Katastrophe, auf die Erkenntnis,<br />

dass nichts, gar nichts, so ist, wie es scheint.<br />

Nicht umsonst verweist Lemaitre mit dem<br />

Zitat, das er seinem Buch vorangestellt hat,<br />

auf den Roman Die Fälschung der Welt aus<br />

dem Jahr 1955.<br />

Es wird die Geschichte eines Verbrechens<br />

erzählt, spannend und handwerklich<br />

geschickt. Gleichzeitig erfindet Lemaitre einen<br />

eigenwilligen Helden: Camille Verhoeven,<br />

Chef der Pariser Mordkommission, 50,<br />

Glatze, er sagt von sich selbst: »Ich habe die<br />

Größe eines Pudels, aber kosmische Sehnsüchte.«<br />

Tatsächlich ist er nur 1,45 Meter<br />

groß. Seine Körpergröße verhält sich umgekehrt<br />

proportional zu seinen Talenten. Zum<br />

Beispiel dem Zeichnen. Er hat unzählige<br />

Skizzen angefertigt, sie zeigen den »Alltag<br />

eines Kriminalpolizisten, wiedergegeben<br />

durch den Künstler, der er nie geworden ist«.<br />

Camille hat einen Blick für Situationen und<br />

Menschen; für gewöhnlich erkennt er mühe -<br />

los das Wesen einer Person.<br />

Doch nach dem Mord an seiner Ehefrau<br />

Irène musste er sich wegen einer schweren<br />

Depression in einer Klinik behandeln lassen.<br />

Dieser Umstand macht seine Beziehung zu<br />

Anne umso bedeutungsvoller: »Camille<br />

fragt sich, was ihm heute am stärksten wehtut,<br />

seine Sorge um Anne, der Anblick ihres<br />

Gesichts, ihre Schmerzen oder wie sich all<br />

sein Denken im Lauf der Tage und Wochen<br />

zunehmend auf sie ausrichtet. Es hat etwas<br />

Vulgäres, so von einer Frau zur nächsten zu<br />

wechseln, er fühlt sich etwas Gewöhnlichem<br />

unterworfen. Er hatte nie die Absicht, sein<br />

Leben neu zu beginnen, aber sein Leben<br />

beginnt gerade ganz von allein neu, fast gegen<br />

seinen Willen.«<br />

Irritierend schwach bleiben allerdings<br />

Annes Beweggründe. Und die Eingangs -<br />

szene wirkt fast abschreckend in ihrer blutigen<br />

Brutalität. Doch die Eleganz der Sprache,<br />

die Raffinesse des Aufbaus trösten über<br />

Ungereimtheiten hinweg. Vor allem die Figur<br />

von Kommissar Camille ist Lemaitre gelungen.<br />

Der Ermittler mit den kosmischen<br />

Sehnsüchten und dem zeichnerischen Talent<br />

hat das Zeug, zum Helden einer Reihe<br />

von Fällen zu werden.<br />

Pierre Lemaitre: Opfer.<br />

Aus dem Französischen von Tobias Scheffel.<br />

Tropen; 336 Seiten; 14,95 Euro.<br />

Erscheint am 30. August.


© <strong>2018</strong> FOCUS FEATURES LLC. ALL RIGHT S RESERVED.<br />

5<br />

„EIN FURCHTLOSER FILM.<br />

WÜTEND UND SMART.<br />

GENAU RICHTIG<br />

FÜR UNSERE ZEIT.“<br />

DEUTSCHLANDFUNK KULTUR<br />

JOHN DAVID<br />

WASHINGTON<br />

ADAM<br />

DRIVER<br />

LAURA<br />

HARRIER<br />

TOPHER<br />

GRACE<br />

UNTERWANDERE<br />

DEN HASS.<br />

WINNER<br />

Wann passiert endlich was?<br />

Auch Jane Gardam, die große alte Dame der Literatur, hat<br />

mal angefangen. Ihr erster Roman Weit weg von Verona<br />

erzählt die Geschichte eines erlebnishungrigen Mädchens.<br />

Illustrationen: Tim Möller-Kaya für <strong>LITERATUR</strong> <strong>SPIEGEL</strong>; Marne Grahlman für <strong>LITERATUR</strong> <strong>SPIEGEL</strong><br />

Von Claudia Voigt<br />

E<br />

S IST DIE DIREKTHEIT des Tons,<br />

die Leichtigkeit und Frische ihres<br />

Stils. Sie sorgen dafür, dass es nur einen<br />

Absatz braucht, um auch Jane Gardams<br />

ersten Roman Weit weg von Verona auf Anhieb<br />

zu mögen. Endlich liegt das Debüt der mittlerweile<br />

90-jährigen britischen Schriftstellerin<br />

auf Deutsch vor, und wenn jemand dieser<br />

Pointe etwas abgewinnen könnte, dann vermutlich<br />

Jane Gardam persönlich. In ihrer<br />

Biografie als Schriftstellerin ereignete sich<br />

nichts zum dafür üblichen Zeitpunkt. Sie<br />

war 43 Jahre alt, als sie dieses Debüt verfasste,<br />

Gardam hatte mit dem Schreiben gewartet,<br />

bis das dritte ihrer Kinder eingeschult war.<br />

Es sollte allerdings noch weitere Jahrzehnte<br />

dauern, bis sie Erfolg haben würde,<br />

sie kam da bereits ins Rentenalter. Ihre Trilogie<br />

über ein Ehepaar, das den Untergang<br />

des britischen Empires miterlebt (Ein untadliger<br />

Mann, Eine treue Frau, Letzte Freunde),<br />

ist mit heiterer Melancholie erzählt und von<br />

einer gewissen Ergebenheit gegenüber dem<br />

Schicksal durchzogen. Gardam war 85 Jahre<br />

alt, als sie den letzten Band schrieb. Das Wissen<br />

darum, dass sich der Lauf des<br />

Lebens nicht biegen oder beschleunigen<br />

lässt, spricht aus jedem dieser<br />

Romane.<br />

Weit weg von Verona erzählt die<br />

Geschichte einer 13-Jährigen, Jessica<br />

Vye, eines Mädchens, das begierig<br />

Erfahrungen sammeln will, um<br />

eine Ahnung davon zu bekommen,<br />

was das sogenannte Leben denn<br />

nun eigentlich ausmacht. Jessica<br />

wohnt in einem Küstenstädtchen<br />

im Nordosten Englands, einem<br />

denkbar ungünstigen Ort, davon<br />

ist sie überzeugt, um etwas Be -<br />

deutendes zu erleben. Sie möchte<br />

Schrift stellerin werden, aber sie<br />

Jane Gardam:<br />

Weit weg<br />

von Verona.<br />

Aus dem Englischen<br />

von Isabel<br />

Bogdan. Hanser<br />

Berlin; 238<br />

Seiten; 22 Euro.<br />

befindet sich eben weit weg von Verona, kein<br />

Romeo und Julia-Drama weit und breit. Verglichen<br />

mit dem, was in den Büchern geschieht,<br />

den englischen Klassikern, die sie<br />

im Lesesaal der örtlichen Bibliothek liest und<br />

abends heimlich mit nach Hause nimmt, hält<br />

sie ihr Leben für eintönig. Es ist Krieg, die<br />

Vier zigerjahre, London erlebt den sogenannten<br />

Blitz, viele Städter suchen Schutz in den<br />

englischen Küstenorten. Doch das alles ist<br />

Alltag für Jessica. Sie beschäftigt sich stattdessen<br />

mit der Frage, warum sie bei ihren<br />

Klassenkameradinnen nicht wirklich beliebt<br />

ist; warum ihre Lehrerin ein Bild, das barbusige<br />

Frauen zeigt, in ihrer Wohnung hängen<br />

hat; warum sie nicht durch jene Straßen zur<br />

Schule gehen darf, durch die sie gern gehen<br />

möchte, sondern auf den vorgeschriebenen<br />

Wegen bleiben muss. Auf einer Einladung<br />

zu einer Weihnachtsfeier lernt Jessica ihren<br />

ersten Verehrer kennen, einen kommunistisch<br />

gesinnten jungen Mann. Das erste Rendezvous<br />

mit ihm wird von einem Bombeneinschlag<br />

beendet. Auch diese Erfahrung<br />

nimmt Jessica recht ungerührt hin.<br />

Obwohl Gardam als Schriftstellerin<br />

ganz nah bei ihrer sympathischen Heldin<br />

ist – deren lebendiger Eigensinn<br />

springt einem als Leser aus den<br />

Seiten förmlich entgegen –, zeigt<br />

sie Jessica als eine Figur, die noch<br />

nicht versteht, in welchen Augenblicken<br />

sich das Leben zeigt. Dass<br />

die Tiefe oder auch die Absonderlichkeit<br />

eines Moments zählen. Zumal<br />

für eine angehende Schrift -<br />

stellerin.<br />

Weit weg von Verona kann auch<br />

als ein Blick der Schriftstellerin<br />

Jane Gardam auf sich selbst ge -<br />

lesen werden, als die Auseinan -<br />

dersetzung einer Frau in mitt -<br />

leren Jahren mit ihren eigenen<br />

Anfängen.<br />

JETZT IM KINO


Zerfall der Kindheit<br />

Helene Hegemann ist gleichzeitig Tragödin<br />

und Komödiantin. Ihr dritter Roman Bungalow wirkt<br />

wie eine lang gezogene böse Meditation.<br />

Von Georg Diez<br />

H<br />

ELENE HEGEMANN ist die Chronistin<br />

des Zerfalls, des Zerfalls ihrer Figuren, ihrer<br />

Zeit, ihrer Sicherheiten und Sinne, und<br />

mit jedem Roman schreibt sie sich weiter hinein in<br />

die Abgründe einer Gegenwart, in der der San-Andreas-Graben<br />

der gesellschaftlichen Verwerfungen<br />

direkt durch die Mitte führt, auf der einen Seite<br />

der Hedonismus, auf der anderen Seite so etwas<br />

wie die Hölle, andere würden sagen: die Realität.<br />

Hegemann selbst, bekannt geworden 2010 mit<br />

ihrem Debütroman Axolotl Roadkill, hat ein eher<br />

betrunkenes Verhältnis zur Realität und auch zum<br />

erzählerischen Realismus, sie taumelt hin und her<br />

zwischen Erfahrungen, Erinnerungen, Erfindungen<br />

und findet einen Ton, der auf eine manchmal<br />

etwas sperrige Weise losgelöst ist von der Dunkelheit<br />

der Dinge. Zuverlässig ist in diesem Kosmos<br />

im Grunde allein das Gefühl von Panik – ein Zeichen<br />

dafür, dass man noch am Leben ist.<br />

Charlie, die Hauptfigur ihres neuen Romans<br />

Bungalow, der auf der Longlist für den Deutschen<br />

Buchpreis steht, ist die prototypische Hegemann-<br />

Antiheldin, ein verlorenes Kind auf der Schwelle<br />

zum Erwachsenwerden, was auch immer das bedeutet,<br />

voller Liebeshunger, Lebenswundheit,<br />

versehrt, weil es Kindheit bei Hegemann nur als<br />

Tortur gibt, verwickelt in ein Durcheinander aus<br />

Sehnsucht, Sex, Abhängigkeit, ein Roman wie<br />

eine lang gezogene böse Meditation.<br />

Da ist die delirierende Alkoholiker-Mutter in<br />

einer billigen Etagenwohnung, da ist der abwesende<br />

Vater, da ist ein grelles Armuts-Deutschland und<br />

der Blick aus dem Balkon auf die Bungalowsiedlung,<br />

in der Georg und Marie leben, das mondäne<br />

Gegenbild, ein Paar von erotischer Anziehungskraft<br />

für die 13-jährige Charlie, die bei aller selbstzerstörerischen<br />

Energie durch den Roman hindurch einen<br />

recht klaren Kopf behält. Selbstreflexion ist ein<br />

Wesensmerkmal der hegemannschen Poetologie.<br />

Sie spüre, dass sich etwas änderte, schreibt<br />

Hegemann über Charlie, »vielleicht wegen der<br />

Sprachlosigkeit, unserer Rachegelüste oder meiner<br />

aufkommenden Bereitschaft, Erwachsenen ihre<br />

Verzweiflung zu verzeihen«, vielleicht<br />

aber auch, »weil ich zum ersten Mal einen<br />

inzestuösen Gangbangporno sah, in<br />

dem eine Frau mit gepiercten Brustwarzen<br />

von zwei Familienmitgliedern gleichzeitig<br />

gefickt wurde. Mir war klar, dass<br />

ich mich verlieben musste. Ich traf keine<br />

Unterscheidung zwischen Männern und<br />

Frauen. Ich wollte Sex mit jemandem,<br />

der versauter und überlebensfähiger war<br />

als alle, die ich kannte«.<br />

Sex also als eine Art artaudsche Anrufung,<br />

als der Abgrund, aus dem wir<br />

Helene<br />

Hegemann:<br />

Bungalow.<br />

Hanser Berlin;<br />

288 Seiten;<br />

23 Euro.<br />

entstehen, verbunden mit einer Serie von Selbstmorden,<br />

beiläufig betrachtet, Wochen voller Hunger,<br />

auch überstanden, Gehirnmasse auf dem Gehweg,<br />

Nihilismus und Narzissmus als Quintessenz<br />

der Jugend seit Salinger – Hegemann ist bei all<br />

dem Schrecken, den sie beschreibt, gleichzeitig<br />

Tragödin und Komödiantin, sie ist die Wieder -<br />

holung der Geschichte als Farce.<br />

Bungalow ist dabei kein politischer Roman,<br />

sondern eher der Kindheitsroman to end all Kindheitsromane:<br />

Es gibt hier kein Außen, keine Alternative,<br />

»du siehst Blut, und du siehst dieses<br />

Blut trocknen«, das ist der Lauf der Dinge, das<br />

ist das Leben. »Europäer sind extrem flexibel«,<br />

wie Hegemann anmerkt – ihre Welt ist groß und<br />

klein zugleich, sie ist wüst und vertraut, sie ist<br />

privat und paranoid, das ist das Zeittypische an<br />

diesem Buch, eine panische Enge, Produkt einer<br />

atemlosen Entropie.<br />

Es ist der dritte Roman von Hegemann, 26 Jahre<br />

alt und damit immer noch jung – doch was das<br />

genau heißt, das bleibt ein zentrales Motiv in ihrem<br />

Werk. »Inzwischen«, so bilanziert die Erzählerin<br />

Charlie, »habe ich mich daran gewöhnt, dass nichts,<br />

was ich sehe, tue oder will, für länger als einen kurzen<br />

Moment von Bedeutung ist. Verwundete Menschenmassen<br />

rennen an mir vorbei durch Leichenberge<br />

in ihre Städte zurück, vor meinem<br />

Fenster liegt gemäßigter Regenwald, in<br />

dem ich jeden Morgen Todeskreuze aus<br />

Birkenästen halluziniere.«<br />

Jugend war schon immer ein Verdammnis,<br />

und Hegemann erzählt davon<br />

mit einer so prekären Besessenheit, dass<br />

die Reaktion auf diesen Roman wie auf<br />

ihre bisherigen fast physisch ist. Es ist<br />

schwer, sich dieser Wucht zu entziehen,<br />

selbst wenn sie reflexiv inszeniert ist.<br />

Hier, in der Reflexion, beginnt er ja,<br />

der Zerfall.<br />

TASCHENBUCH-VERKÄUFE IM AUGUST<br />

HARDCOVER-VERKÄUFE IM AUGUST<br />

1 Carmen Korn:<br />

Zeiten des Aufbruchs<br />

Rowohlt; 10,99 Euro<br />

6 Sebastian Fitzek:<br />

Das Paket<br />

Knaur; 10,99 Euro<br />

1 Robert Seethaler:<br />

Das Feld<br />

Hanser, Berlin; 22 Euro<br />

2 Frank Schätzing: Die<br />

Tyrannnei des Schmetterlings<br />

Kiepenheuer & Witsch; 26 Euro<br />

3 Mariana Leky: Was man von<br />

hier aus sehen kann<br />

DuMont; 20 Euro<br />

4 Maxim Leo, Jochen Gutsch:<br />

Es ist nur eine Phase, Hase<br />

Ullstein; 12 Euro<br />

6 Volker Klüpfel, Michael Kobr:<br />

Kluftinger<br />

Ullstein; 22 Euro<br />

7 Jojo Moyes:<br />

Mein Herz in zwei Welten<br />

Wunderlich; 22,95 Euro<br />

8 Francesca Melandri:<br />

Alle, außer mir<br />

Wagenbach; 26 Euro<br />

9 Laetitia Colombani:<br />

Der Zopf<br />

S. Fischer; 20 Euro<br />

2 Rosie Walsh:<br />

Ohne ein einziges Wort<br />

Goldmann; 9,99 Euro<br />

3 Carmen Korn:<br />

Töchter einer neuen Zeit<br />

Rowohlt; 10,99 Euro<br />

4 Andreas Winkelmann:<br />

Das Haus der Mädchen<br />

Rowohlt; 9,99 Euro<br />

5 Klaus-Peter Wolf:<br />

Totentanz am Strand<br />

Fischer; 10,99 Euro<br />

7 Petra Hülsmann: Wenn’s<br />

einfach wär, würd’s jeder<br />

machen<br />

Bastei Lübbe; 11 Euro<br />

8 Ulrike Renk:<br />

Die Zeit der Kraniche<br />

Aufbau; 12,99 Euro<br />

9 Sophie Kinsella: Muss es<br />

denn gleich für immer sein?<br />

Goldmann; 9,99 Euro<br />

10 Juli Zeh: Unterleuten<br />

btb; 12 Euro<br />

5 Maja Lunde:<br />

Die Geschichte der Bienen<br />

btb; 20 Euro<br />

10 Maja Lunde:<br />

Die Geschichte des Wassers<br />

btb; 20 Euro<br />

PAPERBACK-VERKÄUFE IM AUGUST<br />

HARDCOVER-VERKÄUFE IM AUGUST<br />

1 Jean-Luc Bannalec:<br />

Bretonische Geheimnisse<br />

Kiepenheuer & Witsch; 16 Euro<br />

6 Melanie Raabe:<br />

Der Schatten<br />

1 Bas Kast:<br />

Der Ernährungskompass<br />

6 James Comey:<br />

Größer als das Amt<br />

btb; 16 Euro<br />

C. Bertelsmann; 20 Euro<br />

Droemer; 19,99 Euro<br />

2 Mona Kasten:<br />

Save Me<br />

lyx; 12,90 Euro<br />

3 Mona Kasten:<br />

Save You<br />

lyx; 12,90 Euro<br />

4 Claire Douglas: Missing.<br />

Niemand sagt die ganze ...<br />

Penguin; 13 Euro<br />

5 Michelle Marly:<br />

Mademoiselle Coco und<br />

der Duft der Liebe<br />

Aufbau; 12,99 Euro<br />

7 Ulrike Schweikert:<br />

Die Charité<br />

Rowohlt; 14,99 Euro<br />

8 Harlan Coben:<br />

In deinem Namen<br />

Goldmann; 14,99 Euro<br />

9 Max Bentow:<br />

Der Schmetterlingsjunge<br />

Goldmann; 15 Euro<br />

10 Rita Falk:<br />

Kaiserschmarrndrama<br />

dtv; 15,90 Euro<br />

2 Richard David Precht:<br />

Jäger, Hirten, Kritiker<br />

Goldmann; 20 Euro<br />

3 Christopher Schacht:<br />

Mit 50 Euro um die Welt<br />

adeo; 20 Euro<br />

4 Otto Waalkes:<br />

Kleinhirn an alle<br />

Heyne; 22 Euro<br />

5 Madeleine Albright:<br />

Faschismus<br />

DuMont; 24 Euro<br />

7 Peter Wohlleben: Das<br />

geheime Leben der Bäume<br />

Ludwig; 19,99 Euro<br />

8 Jaron Lanier: Zehn Gründe,<br />

warum du deine Social ...<br />

Hoffmann und Campe; 14 Euro<br />

9 Peter Hahne: Schluss mit<br />

euren ewigen Mogel ...<br />

Bastei Lübbe; 10 Euro<br />

10 Yuval Noah Harari:<br />

Homo Deus<br />

C. H. Beck; 24,95 Euro<br />

Illustration: Andrzej Wieteszka für <strong>LITERATUR</strong> <strong>SPIEGEL</strong>


7<br />

Ist der Sturm schon vorbei?<br />

Wie die Welt einen Menschen zerstört, der glaubt, er komme ein Leben lang<br />

ohne Kompromisse aus: Eberhard Rathgebs Roman Karl oder Der letzte Kommunist.<br />

Von Volker Weidermann<br />

U<br />

ND WENN MAN EINFACH nicht mehr<br />

mitmacht? Immerhin ist die Welt doch<br />

grundfalsch eingerichtet. Die Ungerechtigkeit<br />

tritt schließlich für jeden sichtbar offen zutage.<br />

Und die Welt ist voller Menschen, die das<br />

jeden Tag sehen und einfach weitermachen, als<br />

wenn nichts wäre. Sich einrichten. Wegsehen. Zugeständnisse<br />

im Kopf und im Leben. Es ist, wie<br />

es ist. Wir tun, was wir können.<br />

Karl kann das nicht. Diesen kleinen Über -<br />

lebensreflex, den wir Kompromiss nennen, hat er<br />

nie eingeübt. Er denkt radikal und alles verändernd.<br />

Keine Zugeständnisse an den Feind. Und<br />

der Feind, das ist die Welt, so wie sie ist. Karl ist<br />

der Held des neuen Romans von Eberhard Rathgeb.<br />

Karl wird von denen, die ihn kennen, »der<br />

letzte Kommunist« genannt. Er kam im letzten<br />

Kriegsjahr in Deutschland auf die Welt, Trümmerbaby<br />

wird er einmal tituliert.<br />

In die Schule geht er mit Begeisterung. Er<br />

lernt und lernt und hinterfragt die ganze Welt.<br />

»Er redete von früh an mit Händen und Füßen,<br />

als dirigierte er die Wörter, damit sie groß wurden,<br />

wenn sie groß gedacht waren, und weit, wenn sie<br />

umfassend waren.« Zeichen und Bezeichnetes<br />

müssen eins werden, dann kann man mit Denken<br />

und Wörtern die Welt verändern. »Wenn später<br />

die ganz große Sache, die Auflösung der alten<br />

Gesellschaft und der Weg in eine neue, nur mit<br />

Worten, mit besseren Argumenten eingefädelt werden<br />

konnte, dann vielleicht auch deshalb, weil er<br />

diese Erfahrung gemacht hatte, dass es möglich<br />

war, sich da rüber, was falsch und schlecht war,<br />

so gut zu verständigen, dass nichts mehr schieflaufen<br />

konnte.«<br />

Das ist der Zuversichts-Motor, der ihn antreibt.<br />

Durch die Schule, die Universitäten, Karl denkt<br />

groß und explosiv und revolutionär. Seine Mutter<br />

denkt früh: Was für ein Bündel Energie! Der Vater<br />

denkt: Das gibt sich schon. Aber es gibt sich nichts<br />

bei Karl. Er biegt nicht ab. Er flaut nicht ab. Er<br />

hat den Wind der begonnenen Revolte von 1968<br />

gespürt und dachte, das sei der Beginn des großen<br />

Sturms. Aber bald war es vorbei, und die anderen,<br />

die eben noch die Welt umstürzen wollten, kümmerten<br />

sich plötzlich um sich selbst oder um Mini -<br />

welten vor ihrer Tür, die sie zu Planeten erklärten.<br />

Kinder. Karriere. Quatsch dieser Art.<br />

Das kommt für Karl nicht infrage. Eberhard<br />

Rathgeb versetzt seinen tragischen Helden in ein<br />

Experiment: Die Welt um ihn herum erfindet täglich<br />

neue Ausbeutungsvarianten, neue Unterdrückungsideen,<br />

neue Mechanismen, um Macht und<br />

Geld auf noch weniger Menschen zu verteilen,<br />

und Karl ist der Fels radikalen Denkens in der<br />

Mitte der Geschichte, der widersteht. »Es lag an<br />

Karl, etwas aus sich zu machen. Aber kann ein<br />

Held aus einer Tragödie aussteigen wie aus einem<br />

Zug, der in die falsche Richtung fährt?« Der Zug<br />

fährt und fährt, schöne Landschaften, neue Welten,<br />

er fährt schneller und schneller, und irgendwann<br />

hält er nirgendwo mehr an. Schluss mit Aussteigen.<br />

Das hätte man sich früher überlegen müssen:<br />

»Das Abteil hat sich geleert, alle sind irgendwo<br />

ausgestiegen, weil es dies oder jenes zu tun<br />

gibt, sie wollen sich niederlassen, ein sicheres und<br />

gutes Leben führen. Karl war allein.«<br />

Dieser Karl gilt bald in Westdeutschland als<br />

potenziell gefährlicher Denker. Er wird von zwei<br />

Männern des Verfassungsschutzes beobachtet.<br />

Wir blenden uns immer wieder in die gemütlichen<br />

Frühstücksgespräche der zwei Beobachter<br />

ein. Sie wollen ihre Ruhe, ihr täg -<br />

liches Brötchen, ihr angenehm begrenztes<br />

Tätigkeitsfeld. Sie beobachten diesen<br />

gefährlichen Kompromissverächter und<br />

denken: Wie leicht wäre es für diesen<br />

Karl, sein Glück zu machen. Jeder<br />

Mensch hat doch einen Instinkt dafür,<br />

wie viel kritisches Denken er verträgt.<br />

Kann dem Karl das nicht mal einer<br />

sagen, dass er Frieden mit sich und der<br />

Welt machen soll?, fragen sie sich. Sie<br />

selbst können es nicht, sie sind fürs<br />

Eberhard<br />

Rathgeb: Karl<br />

oder Der letzte<br />

Kommunist.<br />

Hanser; 272 Seiten;<br />

23 Euro.<br />

Beobachten zuständig. Menschen verändern, retten<br />

gar, das kommt für sie nicht in Betracht.<br />

Es ist ein Roman von großer Traurigkeit, den<br />

Eberhard Rathgeb da geschrieben hat. Er verweigert<br />

jeden Trost. Er beschreibt eine Familie von<br />

Versehrten. Der Vater, der aus dem Krieg als seelisch<br />

zertrümmerter Mensch herausgegangen war und<br />

sein weiteres Leben in Traurigkeit verdämmert.<br />

Emilie, Karls kleine Schwester, mit viel zu dünner<br />

Haut ausgestattet, fühlt alles mit, leidet alles mit,<br />

kann sich nicht wehren gegen das große Mitgefühl,<br />

das in ihr lebt und das sie alles Leiden um sie herum<br />

mitleiden lässt, als wäre es ihr eigenes.<br />

Einmal sitzt die Familie am Tisch, und Emilie<br />

denkt zunächst, der Vater habe sich verschluckt,<br />

aber er weint, einfach so, wie aus dem Nichts he -<br />

raus. Tränen laufen ihm über die Wangen, erst<br />

versuchen alle so zu tun, als sei nichts, dann sagt<br />

die Mutter: »Nicht vor dem Kind«, und als hätte<br />

dieser Satz etwas Ungeheures, etwas Unkontrollierbares<br />

in ihm ausgelöst, reißt es ihn empor, er<br />

packt den Tisch, wirft ihn um und alles, was auf<br />

ihm gestanden hat, er wütet wie ein plötzliches<br />

Ungeheuer. Für einen kurzen Moment hatte sich<br />

ein Ventil geöffnet, hatte ein falsches Wort die stumme<br />

Traurigkeit entzündet und explodieren lassen.<br />

Danach ist die große Stille wieder da.<br />

Eberhard Rathgeb, der bisher unter anderem<br />

die Romane Kein Paar wie wir und Cooper und das<br />

Sachbuch Am Anfang war Heimat ver öffentlicht<br />

hat, hat diesmal eine schmerzensreiche<br />

Elegie geschrieben. Über Menschen,<br />

die sich nicht einfügen können. Die einfach<br />

nicht, wie die scheinbar so mühelos<br />

existierenden anderen um sie herum,<br />

wie weiches Wachs sind und nicht in die<br />

Fugen zwischen den Steinen der Welt<br />

passen. Sie wissen nicht, wie es geht,<br />

oder wollen es nicht wissen. Die Menschen<br />

um sie herum sagen, sie seien<br />

eben defekt. Dieser Roman stellt die Frage,<br />

ob es nicht vielleicht die Welt ist, die<br />

defekt ist.


»Jud sauer!«<br />

Der Berliner Lyriker<br />

und Antisemitismusforscher<br />

Max Czollek fordert:<br />

Desintegriert euch!<br />

Von Tobias Becker<br />

D<br />

EUTSCHLAND STREITET seit Wochen<br />

über Rassismus, weil ein türkischstämmiger<br />

deutscher Fußballnationalspieler<br />

nicht mehr deutscher Nationalspieler sein<br />

will, weil Tausende andere Migranten und Migrantenkinder<br />

und Migrantenenkel unter dem<br />

Hashtag #MeTwo über Diskriminierungen berichten.<br />

Deutschland streitet über Integration, ob sie<br />

gelingt oder nicht, wie sie besser gelingen kann.<br />

In diese Stimmung hinein platzt nun Max<br />

Czollek, sein Buchtitel: Desintegriert euch!<br />

Czollek, 31, ist ein jüdischer Lyriker und<br />

Politikwissenschaftler, promoviert am Zentrum<br />

für Antisemitismusforschung der TU Berlin.<br />

2016 kuratierte er gemeinsam mit der Schriftstellerin<br />

Sasha Marianna Salzmann einen Kongress<br />

am Maxim Gorki Theater, bei dem sich<br />

Besucher eine Kippa aufsetzen konnten mit dem<br />

Claim »Werden Sie Teil des Problems!«. Herumliegende<br />

Postkarten verkündeten weiß auf schwarz:<br />

»Jud sauer!«, »Wir haben den Krieg gewonnen«,<br />

»Keine Juden mehr für Deutsche«.<br />

Desintegriert euch! ist das Buch zur damals angestoßenen<br />

Debatte, ein unsachliches Sachbuch,<br />

böse und wütend und oft ungerecht, eine Polemik,<br />

die viel Widerspruch erregen wird. Desintegriert<br />

euch! ist ein wichtiges Buch.<br />

Desintegration bedeutet für Czollek, aus der<br />

Rolle auszubrechen, die Juden in Deutschland<br />

seiner Meinung nach meist spielen: die Rolle<br />

des braven Opfers, das dabei hilft, »das Bild<br />

von den guten, geläuterten, normalen Deutschen<br />

zu stabilisieren«. Der jüdische Soziologe<br />

Y. Michal Bodemann hat das einmal Gedächtnistheater<br />

genannt, ein Begriff, den Czollek übernimmt.<br />

Das Gedächtnistheater, so seine These, spiele<br />

allen vor, dass die Deutschen keine Nazis mehr<br />

seien, während zeitgleich eine rechtspopulistische<br />

Partei ihr Unwesen im Bundestag treibt. Das Motto:<br />

Wir können keine Rassisten sein, wir haben<br />

den Holocaust doch so vorbildlich aufgearbeitet.<br />

Zu dieser Inszenierung gehört die Formel vom<br />

»jüdisch-christlichen« Abendland, die seit einigen<br />

Monaten so en vogue ist. Sie ermöglicht es, intolerant<br />

zu sein, aber tolerant zu wirken, denn eigentlich<br />

ist die Formel nur ein Synonym für: nicht muslimisch.<br />

Worin natürlich eine bittere Ironie liegt:<br />

Rechtspopulisten mögen heute die Juden, weil sie<br />

vermeintlich Verbündete gegen die Muslime sind.<br />

Im Gedächtnistheater laufen vor allem jüdische<br />

Künstler jederzeit Gefahr, das Gewissen der<br />

Mehrheitsgesellschaft zu entlasten, sie drohen zu<br />

Alibifiguren zu werden, sobald sie Erfolg haben:<br />

Schaut her, so offen ist diese Gesellschaft heute!<br />

Den Effekt kennt Czollek selbst, den Effekt<br />

kennen sicher auch all die jüdischen Kontingentflüchtlinge<br />

aus der ehemaligen Sowjetunion, die<br />

den deutschen Kulturbetrieb seit einigen Jahren<br />

bereichern: Sasha Marianna Salzmann, Olga<br />

Grjasnowa, Dmitrij Kapitelman, Lena Gorelik.<br />

Ebenso wie all die exilierten israelischen Künstler<br />

in Berlin: die Dramatikerin Sivan Ben Yishai, die<br />

Regisseurin Yael Ronen.<br />

Spree-Aviv nennen manche die deutsche<br />

Hauptstadt wegen der vielen Juden, die dort inzwischen<br />

leben, die Rede ist von über 30000 Menschen.<br />

Nicht wenige von ihnen stammen aus Fa-<br />

So einfach kommen die Deutschen nicht davon.«<br />

In den Neunzigern, schreibt er, hätten Ideen wie<br />

Leitkultur oder Heimat »auf dem Schrottplatz<br />

poli tischer Konzepte« geparkt. Dass sie nun wieder<br />

flottgemacht werden, empfindet er »als Erschütterung<br />

und Gefährdung meiner Lebensweise«.<br />

Czollek zieht eine Verbindung vom<br />

»schwarz-rot-goldenen Exzess der WM 2006« zu<br />

den Pegida-Aufmärschen und dem Einzug der<br />

AfD in den Bundestag. Die Deutschen, ätzt er,<br />

verhielten sich in der Mehrheit so, »als knüpften<br />

sie an die Geschichte der Nazitäter*innen an und<br />

nicht der Nazi opfer«.<br />

Nun ist es tatsächlich so, dass das lebendige<br />

jüdische Kulturleben in Berlin allzu leicht darüber<br />

hinwegtäuscht, dass Deutschland ein Problem mit<br />

Antisemitismus hat. Eine Studie der Technischen<br />

Universität Berlin belegte kürzlich, dass sich die<br />

Zahl antisemitischer Onlinekommentare zwischen<br />

2007 und <strong>2018</strong> nahezu verdreifacht hat. Und die<br />

Polizei meldete, dass sie in den ersten sechs Monaten<br />

dieses Jahres 401 antisemitische Straftaten erfasst<br />

habe, darunter 349 von Rechtsextremen.<br />

Aber liegt Czollek richtig, wenn er auch »die<br />

neue Heimatliebe« deutscher Politiker von SPD bis<br />

Grünen als »metapolitischen Sieg der Neuen Rechten«<br />

verbucht? Er übersieht dabei, dass die Hipster<br />

in Berlin, Hamburg, München schon Kaffee aus<br />

lokalen Röstereien schlürften, als es die AfD noch<br />

lange nicht gab. Deutschland ist ein Land mit Heimmilien,<br />

die gar nicht unmittelbar vom Holocaust<br />

betroffen waren.<br />

Czollek will sensibilisieren dafür, dass es keine<br />

homogene jüdische Gemeinschaft gibt in Deutschland,<br />

zumindest nicht mehr, dass es spätestens<br />

seit den Einwanderungsbewegungen der vergangenen<br />

Jahre und Jahrzehnte keine konstante jüdische<br />

Identität mehr gibt in diesem Land, nicht<br />

mal einen einheitlichen jüdischen Blick auf die<br />

Nazizeit: Juden aus der ehemaligen Sowjetunion<br />

sehen sich nicht unbedingt als Opfer, sie feiern,<br />

dass sie den Krieg gewonnen haben.<br />

Die Strategie der Desintegration bedeutet für<br />

Czollek, der Legende von der »Befreiung der<br />

Deutschen« entgegenzutreten. »Die Deutschen«,<br />

schreibt er, seien 1945 nicht befreit worden, sondern<br />

besiegt. Desintegration bedeutet, als Jude<br />

auch mal eine andere, eine aggressivere Haltung<br />

zu den Verbrechen »der Deutschen« einzunehmen:<br />

Ironie, Wut. Desintegration bedeutet, den »deutschen<br />

Blick« wieder für »die real existierenden<br />

Juden und Jüdinnen« in diesem Land zu öffnen:<br />

»Über die Juden weiß man als Deutsche*r eben<br />

vor allem, dass man sie umgebracht hat.«<br />

Czollek will nicht die Vergangenheit bewältigen,<br />

sondern die Gegenwart. Ihm geht es um<br />

Emanzipation, auch als Künstler. »Hinter uns liegen<br />

zwei Generationen Trauer, Trauma und Angst.<br />

Es hat etwas gebraucht, aber nun sind wir zurück.<br />

Hier ist Jud Sauer. Hier sind die Inglourious Poets.<br />

Illustration: Klaus Meinhardt für <strong>LITERATUR</strong> <strong>SPIEGEL</strong>


weh, quer durch alle Milieus, und das aus<br />

Gründen, die vielfältiger sind, als ein Polemiker<br />

der Vielfalt es zugeben kann.<br />

»Das deutsche nationale Selbstbild erzeugt<br />

sich traditionell über kulturelle Abgrenzung«,<br />

klagt Czollek. Aber verfährt so<br />

nicht jede Gesellschaft, letztlich jede Gruppe,<br />

egal wie groß sie ist? Ist die Rede von<br />

einer grenzenlosen Gemeinschaft nicht ein<br />

Paradoxon, weil jede Gemeinschaft ein Innen<br />

und ein Außen erzeugt? Czollek wünscht<br />

sich die Gesellschaft als »Ort der radikalen<br />

Vielfalt«, er will »einen Raum schaffen, in<br />

dem man ohne Angst verschieden sein<br />

kann«. Aber schafft nicht auch ein solcher<br />

Raum ein Drinnen und ein Draußen?<br />

So inspirierend viele der Thesen in Czolleks<br />

Buch sind, so widersprüchlich sind<br />

manch andere.<br />

Der britische Publizist David Goodhart<br />

sieht einen neuen Klassenkampf: zwischen<br />

den »Somewheres« und den »Anywheres«,<br />

also den »Irgendwo-Menschen« und den »Nirgendwo-Menschen«.<br />

Die Somewheres sind<br />

bodenständig und in einer Region verwurzelt,<br />

sie sind die Verlierer der Globalisierung,<br />

die Anywheres sind multimobile<br />

Metropolenbewohner, die überall<br />

zu Hause sind und nirgends. Welcher<br />

Gruppe Czollek angehört, ist<br />

keine Frage.<br />

Die Schriftstellerin Salzmann,<br />

mit der er einst gemeinsam den<br />

Gorki-Kongress kuratiert hat, sagt<br />

in Interviews gern, sie habe einen<br />

»Vibrationshintergrund«, ein hübscher<br />

Begriff dafür, dass ihre Biografie<br />

vibriert, changiert, schillert,<br />

Max Czollek:<br />

Desintegriert<br />

euch!<br />

Hanser; 2<strong>08</strong><br />

Seiten; 18 Euro.<br />

9<br />

dass ihre Identität nicht fest umrissen ist.<br />

Ein ähnliches Konzept scheint auch Czollek<br />

vorzuschweben, er will wegkommen »von<br />

der Idee der identitären Zugehörigkeit zu<br />

einer einzigen Gruppe«, er streitet für die<br />

radikal diverse Gesellschaft.<br />

Aber wieso spricht er dann immer von<br />

»den Deutschen« im Buch?<br />

Czollek ist sich des Problems bewusst,<br />

benennt es mehrfach selbst, findet aber keine<br />

Lösung. In einer Polemik für Differenzierung<br />

einzutreten: Das ist vielleicht ein<br />

Widerspruch in sich.<br />

Czollek sucht keinen Dialog, er will nicht<br />

»mit Rechten reden«, wie im vergangenen<br />

Jahr ein viel diskutiertes Sachbuch der Autoren<br />

Per Leo, Maximilian Steinbeis, Daniel-<br />

Pascal Zorn hieß, er will keine Brücken der<br />

Empathie in das gegnerische Lager schlagen.<br />

Czollek will die eigene Position ausbauen.<br />

AfD-Wähler, so schreibt er in der Einleitung,<br />

schließe er von seinem Zielpublikum aus.<br />

Manchmal meint man, aus Czolleks Empörungsbereitschaft<br />

und dem politischen Bekenntniseifer<br />

spreche seinerseits eine Sehnsucht<br />

nach Zugehörigkeit, nach seelischer<br />

Selbstbeheimatung.<br />

Wer so wenig Interesse an Differenzierung<br />

hat wie er, wer so forsch<br />

die Minderheitenposition für sich<br />

und seine Freunde reklamiert und<br />

sich von einer »deutschen« Dominanzkultur<br />

abgrenzt, der ist letztlich<br />

im selben Business tätig wie<br />

die, die er angreift, im Identitäts-<br />

Business, der baut eben auch an<br />

Identitäten: der der anderen – und<br />

der eigenen.<br />

Burghart<br />

Klaußners<br />

originelles<br />

Romandebüt<br />

HÖRBUCH-BESTSELLER<br />

1 (2) Marc-Uwe Kling:<br />

Die Känguru-Chroniken<br />

Sprecher: Marc-Uwe Kling. 4 CDs.<br />

Hörbuch Hamburg<br />

2 (1) Marc-Uwe Kling:<br />

QualityLand<br />

Sprecher: Marc-Uwe Kling. 7 CDs.<br />

Hörbuch Hamburg<br />

BELLETRISTIK / SACHBUCH<br />

11 (10) Volker Klüpfel, Michael Kobr:<br />

Kluftinger<br />

Sprecher: Volker Klüpfel, Michael Kobr,<br />

Christian Berkel. 12 CDs. Hörbuch Hamburg<br />

12 (12) Petra Hülsmann: Wenn’s einfach wär,<br />

würd’s jeder machen<br />

Sprecherin: Nana Spier. 6 CDs.<br />

Lübbe Audio<br />

Burghart Klaußner Vor dem Anfang<br />

Ungekürzte Autorenlesung<br />

Laufzeit: 3 Stunden, 13 Minuten<br />

3 CDs € 19,95* ISBN 978-3-8398-1650-9<br />

Ab 7. 9. <strong>2018</strong> im Buchhandel<br />

*empfohlener ladenpreis<br />

3 (4) Hape Kerkeling:<br />

Frisch hapeziert<br />

Sprecher: Hape Kerkeling. 3 CDs.<br />

Osterwoldaudio<br />

4 (6) Marc-Uwe Kling:<br />

Das Känguru-Manifest<br />

Sprecher: Marc-Uwe Kling. 4 CDs.<br />

Hörbuch Hamburg<br />

5 (18) Eckart von Hirschhausen:<br />

Endlich!<br />

Sprecher: Eckart von Hirschhausen. 1 CD.<br />

Der Hörverlag<br />

6 (7) Marc-Uwe Kling:<br />

Die Känguru-Offenbarung<br />

Sprecher: Marc-Uwe Kling. 6 CDs.<br />

Hörbuch Hamburg<br />

7 (3) Jean-Luc Bannalec:<br />

Bretonische Geheimnisse.<br />

Kommissar Dupins siebter Fall<br />

Sprecher: Gerd Wameling. 9 CDs.<br />

Der Audio Verlag<br />

8 (5) Jürgen von der Lippe:<br />

Der witzigste Vorleseabend der Welt<br />

Sprecher: J. v. d. Lippe, C. Kebekus,<br />

J. Malmsheimer. 2 CDs. Lübbe Audio<br />

9 (9) Otto Waalkes:<br />

Kleinhirn an alle<br />

Sprecher: Otto Waalkes. 6 CDs.<br />

Random House Audio<br />

10 (11) Rita Falk: Kaiserschmarrndrama.<br />

Ein Provinzkrimi<br />

Sprecher: Christian Tramitz. 6 CDs.<br />

Der Audio Verlag<br />

13 (8) Frank Schätzing:<br />

Die Tyrannei des Schmetterlings<br />

Sprecher: Sascha Rotermund, Frank Schätzing.<br />

2 MP3-CDs. Der Hörverlag<br />

14 (13) Maxim Leo, Jochen Gutsch:<br />

Es ist nur eine Phase, Hase<br />

Sprecher: Hendrik Duryn. 3 CDs.<br />

Hörbuch Hamburg<br />

15 (17) Robert Seethaler:<br />

Das Feld<br />

Sprecher: Robert Seethaler. 4 CDs.<br />

Roof Music<br />

16 (-) Max Bentow:<br />

Der Schmetterlingsjunge<br />

Sprecher: Axel Milberg. 1 MP3-CD.<br />

Der Hörverlag<br />

17 (15) Jörg Maurer: Am Abgrund<br />

lässt man gern den Vortritt<br />

Sprecher: Jörg Maurer. 6 CDs.<br />

Argon<br />

18 (-) Stefanie Stahl:<br />

Das Kind in dir muss Heimat finden<br />

Sprecherin: Stefanie Stahl. 1 MP3-CD.<br />

Arkana<br />

19 (14) Andreas Föhr:<br />

Eifersucht<br />

Sprecher: Michael Schwarzmaier. 6 CDs.<br />

Argon<br />

20 (-) Mariana Leky:<br />

Was man von hier aus sehen kann<br />

Sprecherin: Sandra Hüller. 6 CDs.<br />

Roof Music<br />

Ein aberwitziges<br />

Schelmenabenteuer –<br />

trotz bedrohlicher<br />

Kriegskulisse mit<br />

Leichtigkeit und Witz<br />

www.argon-verlag.de


<strong>LITERATUR</strong>-<strong>SPIEGEL</strong>-Leser<br />

wissen mehr? Machen Sie den Test!<br />

Ein Vorabdruck aus dem Literaturquiz Wen liebte Goethes Faust?<br />

10<br />

W<br />

ELCHE PFLANZE STEHT FÜR die deutsche Romantik?<br />

Welcher Schriftsteller hat sich den Privatdetektiv<br />

Sherlock Holmes ausgedacht? Welche Forscher<br />

begegnen sich in Daniel Kehlmanns Die Vermessung der<br />

Welt? Der große <strong>SPIEGEL</strong>-Wissenstest, den sich Martin Doerry<br />

und Volker Hage ausgedacht haben, dreht sich um ein weites<br />

Feld: die Literatur. In den Fragen ihres Buches geht es quer<br />

durch die Geschichte, von den Anfängen über die Klassiker<br />

bis zu den großen Romanen der Moderne – gefragt wird aber<br />

auch nach Literaturverfilmungen, berühmten Autoren, Bestsellern<br />

der Gegenwart und Erfolgen der Kinder- und Jugendliteratur.<br />

Schulwissen hilft, reicht aber allein nicht aus.<br />

Marcel Reich-Ranicki, einer der einflussreichsten deutschen<br />

Kritiker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hatte noch<br />

die Vorstellung eines geschlossenen Literaturkosmos. In einem<br />

<strong>SPIEGEL</strong>-Gespräch sagte er: »Der Verzicht auf einen Kanon<br />

Martin Doerry,<br />

Volker Hage: Wen<br />

liebte Goethes<br />

Faust? Der große<br />

<strong>SPIEGEL</strong>-Wissens -<br />

test Literatur.<br />

Kiepenheuer & Witsch;<br />

192 Seiten;<br />

6 Euro. Erscheint<br />

am 7. September.<br />

würde den Rückfall in die Barbarei bedeuten.« Er war ein belesener<br />

und gebildeter Mann wie nur wenige. Aber mit Fragen nach Fantasy<br />

oder Science-Fiction hätte man ihn jagen können. Das war nicht<br />

sein Terrain, und es interessierte ihn auch nicht. Viele Leser des<br />

21. Jahrhunderts hingegen halten diese Genres für lesenswert –<br />

also spielen auch sie im Wissenstest eine wichtige Rolle. Marcel<br />

Reich-Ranicki möge es den Autoren verzeihen.<br />

Der <strong>LITERATUR</strong>-<strong>SPIEGEL</strong> druckt 18 der 150 Fragen des<br />

Buches vorab, inklusive der Antworten natürlich. Sie stehen rechts<br />

unten auf Seite elf. Niemand muss (und wohl kaum jemand kann)<br />

alle Fragen auf Anhieb beantworten, Literaturkritiker inbegriffen.<br />

Lektürekenntnisse sind nötig, aber Trefferglück und Intuition helfen<br />

bisweilen auch weiter. Es handelt sich um ein literarisches<br />

Ratespiel, nicht um ein literaturwissenschaftliches Examen.<br />

Nur Mut, trauen Sie sich! Bloß keine Scheu vor den heiligen<br />

Hallen der Literatur!<br />

1.<br />

2.<br />

Welche Pflanze steht<br />

für die deutsche Romantik?<br />

A — Die blaue Blume<br />

B — Die gelbe Rose<br />

C — Die rote Nelke<br />

D — Die Eiche<br />

Wie heißt das Gebäck, dessen<br />

Verzehr in Marcel Prousts<br />

Romanwerk Die Suche nach der<br />

verlorenen Zeit die Erinnerung<br />

beflügelt?<br />

A — Petite Madeleine<br />

B — Eclair<br />

C — Charlotte<br />

D — Amuse-Gueule<br />

3.<br />

4.<br />

Drei dieser vier Romane erzählen<br />

die Geschichte eines Bildes.<br />

Welcher nicht?<br />

A — Die Farbe Lila von Alice Walker<br />

B — Der Distelfink von Donna Tartt<br />

C — Das Bildnis des Dorian Gray von<br />

Oscar Wilde<br />

D — Der letzte Weynfeldt<br />

von Martin Suter<br />

Wann beendete George Orwell<br />

seinen Roman 1984?<br />

A — 1884<br />

B — 1918<br />

C — 1948<br />

D — 1964<br />

5.<br />

6.<br />

Die Titel des autobiografischen Romanzyklus<br />

von Karl Ove Knausgård<br />

bestehen jeweils aus einem Wort.<br />

Welches ist nicht dabei?<br />

A — Lieben<br />

B — Sterben<br />

C — Lachen<br />

D — Träumen<br />

Welcher der folgenden Helden<br />

entstammt nicht der Feder<br />

Charles Dickens’?<br />

A — Tom Sawyer<br />

B — David Copperfield<br />

C — Oliver Twist<br />

D — Nicholas Nickleby<br />

Illustration: Leon Lothschütz für <strong>LITERATUR</strong><strong>SPIEGEL</strong>


11<br />

7. 14.<br />

8.<br />

9.<br />

Unter welchem Titel wurde der<br />

Roman zyklus A Song of Ice and Fire<br />

von George R. R. Martin<br />

zu einer inter national bekannten<br />

Fernsehserie?<br />

A — Breaking Bad<br />

B — Downton Abbey<br />

C — Homeland<br />

D — Game of Thrones<br />

Friedrich Schillers Gedicht<br />

»Das Lied von der Glocke« beginnt<br />

mit dem Vers »Festgemauert in<br />

der Erden«. Wie lautet die folgende<br />

Zeile?<br />

A — »Steht die Form, aus Lehm<br />

gebrannt«<br />

B — »Steht die Form, aus Holz<br />

gehaun«<br />

C — »Steht die Form, aus kaltem Eis«<br />

D — »Steht die Form, aus reinem Sand«<br />

Von wem stammen die Gedicht -<br />

zeilen: »Und vom ganzen<br />

Hühnerschmaus / Guckt nur noch<br />

ein Bein heraus«?<br />

15.<br />

16.<br />

Mit welchem Fisch kämpft<br />

Hemingways Held in der Novelle<br />

Der alte Mann und das Meer?<br />

A — Merlin<br />

B — Marlin<br />

C — Stechlin<br />

D — Stichling<br />

Welches Land war die Heimat der<br />

Autorin und Literaturnobel -<br />

preisträgerin Nadine Gordimer?<br />

A — Großbritannien<br />

B — Kanada<br />

C — Südafrika<br />

D — Zimbabwe<br />

Wie heißt im Roman The Circle<br />

von Dave Eggers die tragbare<br />

Kamera, mit dem jeder Schritt<br />

eines Menschen protokolliert<br />

wird?<br />

A — EyeSpy<br />

B — WatchMe<br />

C — SeeChange<br />

D — MovieMe<br />

Ihr Ergebnis:<br />

Geben Sie sich für jede richtig beantwortete<br />

Frage einen Punkt.<br />

0 – 3 Punkte:<br />

Sie mögen eigentlich keine Bücher?<br />

Sie kennen sich aus bei Fernsehserien und<br />

Computerspielen, vielleicht sind Sie auch<br />

besonders sportlich. Aber für Bücher haben<br />

Sie sich noch nie so richtig interessiert.<br />

4 – 6 Punkte: Mathetalent<br />

Ja, die hohe Literatur ist nicht so wirklich Ihr<br />

Ding. In den Ferien lesen Sie allenfalls mal einen<br />

Krimi am Strand. Und in der Schule waren<br />

Sie auch eher in Mathe ein Genie.<br />

7 – 9 Punkte: Sprachlich begabt<br />

In Mathe waren Sie noch schlechter als in<br />

Deutsch. Aber so richtig groß war Ihre<br />

Begeis terung für die Literatur dann auch<br />

wieder nicht. Immerhin haben Sie alle Pflichtlektüren<br />

in der Oberstufe gelesen und im<br />

Deutsch-Abi eine Zwei minus bekommen.<br />

10.<br />

11.<br />

A — Wilhelm Busch<br />

B — Theodor Storm<br />

C — Heinrich Heine<br />

D — Joachim Ringelnatz<br />

Der bekannteste Privatdetektiv der<br />

Kriminalliteratur heißt Sherlock<br />

Holmes. Wer ist sein Schöpfer?<br />

A — George Simenon<br />

B — Arthur Conan Doyle<br />

C — Agatha Christie<br />

D — Patricia Highsmith<br />

Woran erkennt man Stieg Larssons<br />

Heldin Lisbeth Salander?<br />

A — An ihren grünen Haaren<br />

B — An einem Drachentattoo<br />

C — An ihrem Bauchnabelpiercing<br />

D — Am Fehlen des rechten kleinen<br />

Fingers<br />

17.<br />

18.<br />

Welcher russische Komponist<br />

spielt die Hauptrolle in<br />

Julian Barnes’ Roman Der Lärm<br />

der Zeit?<br />

A — Strawinsky<br />

B — Schostakowitsch<br />

C — Prokofjew<br />

D — Tschaikowsky<br />

Von welchem lateinamerikanischen<br />

Diktator ist in den Romanen<br />

Das Fest des Ziegenbocks von Mario<br />

Vargas Llosa und Das kurze<br />

wundersame Leben des Oscar Wao<br />

von Junot Díaz die Rede?<br />

A — Fidel Castro<br />

B — Augusto Pinochet<br />

C — Rafael Trujillo<br />

D — Alfredo Stroessner<br />

10 – 12 Punkte: Bücherfreund<br />

Das ist schon ganz ordentlich. Sie kennen<br />

sich aus, besitzen mehr als drei Bücher und<br />

lesen alles, was Ihnen so in die Finger kommt:<br />

Bestseller, Krimis und ab und zu auch einen<br />

Klassiker. Ausbaufähig!<br />

13 – 15 Punkte: Leseratte<br />

Stramme Leistung: mehr als zwei Drittel<br />

der Fragen richtig gelöst! Sie müssen ent -<br />

weder ein leidenschaftlicher Leser sein oder<br />

sogar Literatur studiert haben. Gratulation!<br />

16 – 18 Punkte: Lektor? Deutschlehrer?<br />

Literaturprofessor?<br />

Ihre literarische Allgemeinbildung lässt<br />

nichts mehr zu wünschen übrig. Sie können<br />

stolz auf sich sein!<br />

12.<br />

Was unterscheidet die Welt in den<br />

Chroniken von Narnia grund sätzlich<br />

von unserem Universum?<br />

A — Die Zeit verstreicht viel langsamer.<br />

B — Die Zeit verstreicht viel schneller.<br />

C — Die Welt kennt keine Farben.<br />

D — Die Welt kennt keine Töne.<br />

13.<br />

In seinem Bestseller Die Vermessung<br />

der Welt imaginiert Daniel Kehlmann<br />

eine Begegnung zwischen<br />

zwei berühmten Forschern. Welche<br />

sind das?<br />

A — Immanuel Kant und<br />

Isaac Newton<br />

B — Carl Friedrich Gauß und<br />

Alexander von Humboldt<br />

C — Niels Bohr und Werner<br />

Heisenberg<br />

D — Albert Einstein<br />

und Sigmund Freud<br />

Lösungen: 1 A; 2 A; 3 A; 4 C; 5 C; 6 A; 7 D; 8 A; 9 A; 10 B; 11 B; 12 B; 13 B; 14 B; 15 C; 16 C; 17 B; 18 C


12<br />

Hitlers Helfer, privat<br />

Der französische Schriftsteller Olivier Guez beschreibt in einem Roman<br />

Das Verschwinden des Josef Mengele. Dabei schreckt er nicht davor zurück,<br />

auch das Sexualleben seiner Hauptfigur auszumalen.<br />

Ausriss aus dem brasilianischen Pass, mit dem Mengele vermutlich untertauchte<br />

lesen und ist zu Aufenthaltsorten Mengeles in Bayern,<br />

Argentinien, Paraguay und Brasilien gereist.<br />

Die Abhandlung, die er verfasst hat, definiert er<br />

selbst als literarisches Erzählprojekt: »Nur mit<br />

der Form des Romans konnte ich dem makabren<br />

Leben des Naziarztes möglichst nahekommen«,<br />

bekennt der Autor im Nachwort des von Nicola<br />

Denis übersetzten Buches. Tatsächlich fasst Das<br />

Verschwinden des Josef Mengele kompakt und leicht<br />

konsumierbar zusammen, was in historischen Fachbüchern<br />

wie Gerald L. Posners und John Wares<br />

Mengele: The Complete Story sehr gründlich dokumentiert<br />

ist. Zusätzlich aber rekonstruiert Guez<br />

Szenen aus der Gedanken- und Gemütswelt einer<br />

Hauptfigur, die er selbst einen »skrupellosen Mann<br />

mit verschlossener Seele« nennt.<br />

Als Basis nutzt Guez offenbar die Tagebuchaufzeichnungen,<br />

die man in Mengeles letzter Bleibe<br />

fand. Es entsteht das Bild eines hasserfüllten<br />

Egomanen, der keinerlei Reue für seine Taten<br />

empfand. Guez berichtet, wie Mengele schier ununterbrochen<br />

wütete und schäumte – gegen die<br />

Politiker der Bundesrepublik, die sich um Versöhnung<br />

mit den einstigen Kriegsfeinden bemühen;<br />

gegen andere Nazis im Exil; gegen die Zustände<br />

im von Juan Perón regierten Argentinien; aber<br />

auch gegen die Dekadenz der modernen Popmusik.<br />

Als er in den frühen Sechzigerjahren in Brasilien<br />

zufällig eine Platte der Beatles hörte, »platzte<br />

er vor Wut«, berichtet Guez.<br />

Wie viel an diesen Schilderungen ist erfunden,<br />

was ist exakt so verbürgt? Für den Leser, der die<br />

Quellen nicht kennt, bleibt das schleierhaft. Offensichtlich<br />

hat sich Guez waghalsige Schriftsteller<br />

wie Jonathan Littell zum Vorbild genommen,<br />

wenn er die Einzelheiten des wechselreichen Liebeslebens<br />

von Josef Mengele herbeifantasiert. Das<br />

mörderische Wirken Mengeles in Auschwitz referiert<br />

er in einem obszönen Kino-Gegenschnitt:<br />

»Die SS-Männer verbrannten Männer, Frauen und<br />

Kinder bei lebendigem Leib in einer Grube; Irene<br />

Von Wolfgang Höbel<br />

D<br />

IESES BUCH IST RICHTIG, notwendig,<br />

erschütternd – und ein sprachliches<br />

Unglück. Der französische Autor Olivier<br />

Guez forscht Josef Mengele hinterher, dem Nazi -<br />

täter, der als sogenannter Lagerarzt an der Rampe<br />

des Konzentrationslagers Auschwitz oft per -<br />

sönlich entschied, welche neu angekommenen<br />

Kinder, Frauen und Männer sofort in den Gaskammern<br />

ermordet wurden, wer zur Arbeit im<br />

KZ eingeteilt wurde und an wem er grausame medizinische<br />

Versuche vornehmen wollte. Der Autor<br />

Guez bezeichnet den bedenkenlos mordenden<br />

Doktor Mengele unter anderem als »Musterangestellten<br />

der Todesfabriken«, als »Alchemist des<br />

neuen Menschen« und »Mörder Roms, Athens<br />

und Jerusalems«. Das liest sich oft merkwürdig<br />

verdreht. Noch seltsamer ist es, wenn Guez beim<br />

Beschreiben Hitlerdeutschlands im Jahr 1940 in<br />

Metaphern schwelgt: »Der Vulkan Hitler hypnotisierte<br />

die Massen.«<br />

Die Geschichte, die das in Frankreich sensationell<br />

gut verkaufte Buch Das Verschwinden des<br />

Josef Mengele erzählt, ist ungeheuerlich und weitgehend<br />

historisch verbürgt. Der Verbrecher Mengele,<br />

1911 im bayerischen Günzburg geboren, wurde<br />

von den Häftlingen in Auschwitz »Todesengel«<br />

genannt. Er konnte sich nach dem Ende des Zweiten<br />

Weltkriegs mehrere Jahre lang unter falschem<br />

Namen auf einem süddeutschen Bauernhof verstecken.<br />

Er reiste 1949 mithilfe mehrerer stramm<br />

nationalsozialistisch gesinnter Helfer auf einem<br />

Schiff namens »North King« von Genua aus nach<br />

Argentinien, wo er im Juni 1949 ankam. Er lebte<br />

unter dem Namen Helmut Gregor ein Jahrzehnt<br />

lang unbehelligt in Buenos Aires und pflegte dort<br />

Umgang mit einem Kreis aus Nazi tätern und Nazibewunderern;<br />

zu seinen Bekannten zählte auch<br />

Adolf Eichmann, der als Chefplaner des Massenmords<br />

an den Juden gilt.<br />

Finanziell unterstützt wurde Mengele in Südamerika<br />

von seinem Vater, der in Günzburg eine<br />

bekannte Fabrik für Landmaschinen betrieb. Erfolgreich<br />

betätigte sich der Sohn zeitweise als Südamerika-Vertreter<br />

für Mähdrescher und Heulader<br />

aus dem väterlichen Unternehmen. Auf Geheiß<br />

des Vaters reiste Josef Mengele im Jahr 1955 in<br />

die Schweiz und nach Deutschland und begann<br />

dort eine Liebschaft mit seiner verwitweten Schwägerin<br />

Martha. Von seiner Frau Irene lebte Mengele<br />

getrennt, später ließen sie sich scheiden. Bald<br />

darauf holte er Martha und<br />

seinen Neffen nach Argentinien,<br />

im Jahr 1958 heiratete<br />

das Paar in Uruguay. Aus<br />

Furcht, dass er in Buenos Aires<br />

entdeckt und ausgeliefert<br />

werden könnte, suchte sich<br />

Mengele von Ende der Fünfzigerjahre<br />

an neue Verstecke,<br />

erst in Paraguay, dann in Brasilien.<br />

Er starb 1979 in Bertio-<br />

Olivier Guez:<br />

Das Verschwinden<br />

des Josef Olivier Guez, Jahrgang<br />

ga in Brasilien.<br />

Mengele. 1974, hat offensichtlich gründ -<br />

Aus dem Französischen<br />

von<br />

lich recherchiert für seine wenig<br />

mehr als 200 Seiten umfas-<br />

Nicola Denis.<br />

Aufbau; 224 Seiten;<br />

20 Euro. hat viele historische Bücher<br />

sende Lebensbeschreibung. Er<br />

geund<br />

Josef sammelten Blaubeeren, aus denen sie<br />

Marmelade kochte. Die Flammen schlugen aus<br />

den Krematorien; Irene blies ihm einen, und Josef<br />

nahm Irene. In nicht einmal acht Wochen wurden<br />

dreihundertzwanzigtausend Juden vernichtet.«<br />

Über Mengeles Puffbesuche in einem Klub in der<br />

Avenida Corrientes in Buenos Aires heißt es: »Keine<br />

Küsse, keine Intimitäten, er zahlt, spritzt ab<br />

und geht.« Auch Josef Mengeles Liebeswerben<br />

um die künftige Gattin Martha wird detailreich<br />

geschildert. »Seine Augen schweiften zu ihrem<br />

hochgesteckten schwarzen Haar, ihren roten Lippen,<br />

ihrem Pferdemund, und als sie aufstand, um<br />

zur Toilette zu gehen, musterte er eingehend ihr<br />

fleischiges Hinterteil, eine Günzburger Legende.«<br />

Das Böse habe »keine Tiefe, auch keine Dämonie«<br />

hat Hannah Arendt geschrieben, die 1961<br />

für den »New Yorker« vom Prozess gegen Adolf<br />

Eichmann in Jerusalem berichtete. Olivier Guez<br />

porträtiert einen im Lauf der Jahre zunehmend<br />

misstrauischen, verbitterten, stets jämmerlich<br />

selbstbezogenen Menschen. Und er skizziert die<br />

in den Fünfzigerjahren nur langsam in Gang kommende<br />

Jagd auf die Nazitäter. Der Autor Guez<br />

hat am Drehbuch von Lars Kraumes Film »Der<br />

Staat gegen Fritz Bauer« mitgearbeitet und berichtet<br />

auch in seinem Mengele-Buch vom mühsamen<br />

Kampf des Frankfurter Generalstaatsanwalts<br />

Bauer, die an der Verfolgung von Nazitätern<br />

lange Zeit uninteressierten Behörden in der<br />

Bundesrepublik zu Haftbefehlen und Auslieferungsersuchen<br />

zu bewegen. Als der israelische Geheimdienst<br />

Mossad den Holocaust-Organisator<br />

Adolf Eichmann 1960 aus Buenos Aires nach Jerusalem<br />

entführt, entkommt Mengele äußerst<br />

knapp den Agenten. 1964 erkennt man Mengele<br />

in Deutschland seine akademischen Titel ab. Guez<br />

schreibt: »Es geht ihm wie ein Dolchstoß durch<br />

und durch.« Das ist leider so gruselig formuliert<br />

wie vieles in diesem Roman. Dem Grauen kommt<br />

Olivier Guez sprachlich nicht bei.<br />

Foto: AP Photo; Alle Bücher im Heft fotografiert von Jonas von der Hude für <strong>LITERATUR</strong><strong>SPIEGEL</strong>


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Theater | Klassik | Kunst | Jazz | Pop | Serien | Games | Kino<br />

Klassik<br />

14<br />

Der Organist Wolfgang Rübsam stellt<br />

Bachs »Goldberg-Variationen«<br />

auf einem Lautenklavier vor. Naxos.<br />

● Äußerlich sieht es einem Cem balo<br />

entfernt ähnlich. Im Klang erinnert das<br />

Lau tenklavier aber eher an handgezupfte<br />

Instru mente: Satt und sonor schwingen<br />

hier Darmsaiten. Johann Sebastian<br />

Bach besaß zwei solcher »Lautenwercke«,<br />

wie er sie nannte; wahrscheinlich hat er<br />

seine Tastenmusik auch für sie konzipiert.<br />

Der erfahrene, neugierige Organist<br />

Wolfgang Rübsam wollte den silbrigen<br />

Cembalo-Sound nicht ganz aufgeben.<br />

Darum wählte er für seine fesselnde neue<br />

Aufnahme der bekannten »Goldberg-<br />

Variationen« einen Nachbau des<br />

britischen Experten Keith Hill, in dem<br />

zusätzlich Metallsaiten mitklingen.<br />

Auch Bach kannte diesen Trick schon.<br />

Wer Rübsams liebevoll ausgezierte,<br />

meditativ bedächtige Version genießt,<br />

darf sich mit Recht dem spätbarocken<br />

Original ganz nahe fühlen.<br />

Johannes Saltzwedel<br />

▼ CD-Empfehlungen<br />

Kulturprogramm<br />

Theater<br />

Sophie Rois wechselt ans Deutsche<br />

Theater Berlin. Ihren ersten Auftritt<br />

hat sie in René Polleschs »Cry Baby«.<br />

Uraufführung am 8. September.<br />

● Die Schauspielerin Sophie Rois nennt<br />

sich selbst »eine ziemliche Zumutung«<br />

für einen Intendanten. Dennoch hat Ulrich<br />

Khuon, Chef des Deutschen Theaters<br />

Berlin, sie nach 25 Jahren an der Berliner<br />

Volksbühne überredet, ins Ensemble<br />

seines Theaters zu wechseln – weil er<br />

natürlich, so gut wie sie selbst, um ihre<br />

Starqualitäten weiß. Trotz des histo -<br />

rischen Wechsels bleibt Rois erst einmal<br />

ihren Gewohnheiten treu: Am Deutschen<br />

Theater tritt sie in einer Produktion<br />

von René Pollesch auf, dem Theaterdiskurs-Regisseur,<br />

bei dem sie auch<br />

schon seit rund einem Vierteljahrhundert<br />

immer wieder auf der Bühne aktuelle<br />

Probleme und Pseudoprobleme der Wohl -<br />

standsgesellschaft verhandelt. »Polleschs<br />

Abende haben einen sehr unterhalt -<br />

samen Gebrauchswert«, so hat Rois das<br />

mal beschrieben. »Da wechseln sich Marx-<br />

Brothers-artige Szenen mit Dialogen<br />

und theoretischen Exkursen ab. Alles ist<br />

bruchstückhaft, aber ich habe nicht<br />

den Eindruck, dass die Schauspieler und<br />

die Zuschauer nichts verstehen.« In<br />

Polleschs neuem Stück »Cry Baby« geht<br />

es, wenn wir das richtig verstehen, um<br />

die Definition und den Wert von Erfolg.<br />

Anke Dürr<br />

▼ Weitere Premieren<br />

und Festivals<br />

BASEL<br />

König Arthur. Alte Sage, neu entworfen:<br />

Regisseur Stephan Kimmig bringt Henry<br />

Schauspielerin Sophie Rois<br />

Purcells Semi-Oper in Ewald Palmetshofers<br />

Fassung auf die Bühne. Premiere am<br />

13. September im Theater, Große Bühne.<br />

BERLIN<br />

Yes but no. Die Regisseurin Yael Ronen,<br />

immer auf der Höhe des Zeitgeistes,<br />

ent wickelt ein Stück zu den Folgen der<br />

#MeToo-Debatte. Uraufführung<br />

am 7. September im Gorki Theater.<br />

BERLIN/DORTMUND<br />

Die Parallelwelt. In einer Simultanaufführung<br />

inszeniert Regisseur Kay Voges<br />

eine Geschichte an zwei digital miteinander<br />

verbundenen Orten: Was wäre, wenn un -<br />

sere Welt doppelt existierte? Uraufführung<br />

am 15. September im Berliner Ensemble<br />

und im Dortmunder Schauspielhaus.<br />

HAMBURG<br />

Orpheus. Regisseur Antú Romero Nunes<br />

inszeniert den Mythos als »musische<br />

Bastardtragödie«. Premiere am 7. September<br />

im Thalia Theater.<br />

KÖLN<br />

Tyll. Intendant und Regisseur Stefan Bach -<br />

mann hat sich die Uraufführungsrechte<br />

an Daniel Kehlmanns Roman über den<br />

Dreißigjährigen Krieg gesichert. Uraufführung<br />

am 15. September im Depot 1.<br />

RUHRGEBIET<br />

Ruhrtriennale. Highlights der zweiten<br />

Hälfte des Festivals sind »Exodos«,<br />

die neue Choreografie von Sasha Waltz,<br />

und »Diamante«, die Geschichte einer<br />

deutschen Siedlung in Argentinien. Bis<br />

23. September.<br />

WEIMAR<br />

Kunstfest. Ein Schwerpunkt des Festivals<br />

ist in diesem Jahr natürlich das Bauhaus-<br />

Jubiläum. Bis 2. September.<br />

Anton Bruckner: Symphonie Nr. 8. Hartmut<br />

Haenchen bringt die Kontrapunkt-<br />

Kathedrale beinahe zum Tanzen. Genuin.<br />

Camille Saint-Saëns: Klaviertrios. Französische<br />

Noblesse, elegant gespielt<br />

von dem Gould-Klaviertrio. Champs Hill<br />

Records.<br />

Romantische Bass-Duette. Ein Archivschatz:<br />

Harald Stamm und Kurt Moll<br />

in Aufnahmen von 1983/86. Profil Edition.<br />

▼ Premieren<br />

und Konzerte<br />

BERLIN<br />

Erich Wolfgang Korngold: Die tote<br />

Stadt. Symbolismus in üppig spät -<br />

romantischem Tonfaltenwurf. Komische<br />

Oper, 30. September.<br />

RÜGEN<br />

Inselmusik. An sieben Orten zeigen<br />

junge Streichquartette ihr Können. 12. bis<br />

14. September.<br />

STUTTGART<br />

Liedkunst-Wettbewerb. Bei den Nachwuchssängern<br />

darf man zuhören – gratis!<br />

Musikhochschule, 18. bis 23. September.<br />

Cover der »Goldberg-Variationen«<br />

Fotos: CLEMENS MARIA SCHÖNBORN / DEUTSCHES THEATER; Lothar Schnepf, Köln © Estate of Jörg Immendorff, Courtesy Galerie Michael Werner Märkisch Wilmersdorf, Köln & New York


Kunst<br />

Eine Münchner Ausstellung<br />

erinnert an den malenden<br />

Punk und Promi Jörg<br />

Immendorff. Haus der Kunst,<br />

14. September bis 27. Januar.<br />

● Die Schau mit dem freundlichen<br />

Titel »Für alle Lieben in<br />

der Welt« erinnert an einen<br />

Maler und Bildhauer, der unvergessen<br />

ist und doch erst<br />

noch entdeckt werden muss. Zu<br />

Lebzeiten von Jörg Immen dorff<br />

(1945 bis 2007) verschwand<br />

sein Werk im Grunde hinter seiner<br />

Persönlichkeit: Seine Bilder<br />

sind selbstbewusst und laut,<br />

aber er war immer noch lauter.<br />

Er mischte sich in alle möglichen<br />

Diskussionen ein, lästerte<br />

beispielsweise über die<br />

Documenta, als das noch nicht<br />

in Mode war. Dann wurde er –<br />

Ex-Maoist, Ex-Beuys-Schüler,<br />

Ex-Punk, ewiger Promi –<br />

zur tragischen Figur. Er wurde<br />

angeklagt, weil er in Hotel -<br />

zimmern Koks-Gelage ver an -<br />

staltet hatte. Vor Gericht sagten<br />

Prostituierte als Zeuginnen<br />

aus. Er habe dem Leben noch<br />

etwas abringen wollen, recht -<br />

fertigte er sich und verwies auf<br />

die unheilbare Krankheit<br />

ALS, die bei ihm diagnostiziert<br />

worden war. Für diesen Herbst<br />

wurde eine andere Schau<br />

im Haus der Kunst abgesagt,<br />

als Grund dafür wurden finanzielle<br />

Probleme genannt. Auf<br />

die Immendorff-Retrospektive<br />

musste man aber nicht ver -<br />

zichten – und die Münchner<br />

hoffen, dass die Neugier auf<br />

diese Kunst riesig sein wird.<br />

Ulrike Knöfel<br />

▼ Weiteres<br />

15<br />

BASEL<br />

Balthus. Der Maler Balthus starb<br />

2001, seine Porträts junger Mädchen<br />

in lasziven Posen provozieren<br />

mehr denn je. Fondation Beyeler,<br />

2. September bis 1. Januar.<br />

FRANKFURT AM MAIN<br />

Lotte Laserstein. Die Malerin<br />

(1898 bis 1993) flüchtete vor den<br />

Nazis und geriet in Vergessenheit.<br />

Ihre frühen Porträts zeugen<br />

von einem warmen Blick auf<br />

die Menschen. Städel Museum,<br />

19. September bis 17. März.<br />

Immendorff-Werk »Schwarzes Schaf«, 1999/2000<br />

Jazz<br />

Auf dem Album Love Is Here<br />

to Stay singt Tony Bennett<br />

mit Diana Krall Songs<br />

von George Gershwin. Verve<br />

Records/Columbia Records.<br />

● In »Amy«, der Kinodokumentation<br />

über Amy Wine -<br />

house, steht Tony Bennett am<br />

Fenster seines Apartments über<br />

dem New Yorker Central Park<br />

und sagt sehr bedrückt, dass<br />

mit Amy eine der größten Sängerinnen<br />

aller Zeiten gestorben<br />

sei. Kurz vor ihrem Tod haben<br />

beide noch eine umwerfende<br />

Version von »Body and Soul«<br />

aufgenommen. Amy verehrte<br />

Bennett zutiefst. Keine Frage,<br />

der inzwischen 92-jährige<br />

Grandseigneur des unterhaltenden<br />

Vocal-Jazz hat Schlag bei<br />

den Frauen. Winehouse, Lady<br />

Gaga, Sheryl Crow, Aretha<br />

Franklin – alle haben mit dem<br />

Sänger Duette aufgenommen.<br />

Jetzt gesellt sich Diana Krall<br />

in die illustre Reihe. Anlässlich<br />

des 120. Geburtstags von<br />

George Gershwin haben Bennett<br />

und Krall ein Album mit<br />

Gershwin-Songs eingespielt.<br />

Und wie bei oben Genannten<br />

gilt: Sie selbst ist eigentlich<br />

Star genug und braucht keinen<br />

Support. Doch auch der Kanadierin<br />

war es ein großes Anliegen,<br />

mit Bennett zu arbeiten.<br />

Ist er doch einer der Letzten seiner<br />

Generation, kaum einer hat<br />

größere Crooner-Qualitäten,<br />

kaum einer umgarnt seine Sangespartnerinnen<br />

charmanter.<br />

Bei der Auswahl der Songs wagten<br />

beide keine Experi mente.<br />

»Fascinating Rhythm«, »Love Is<br />

Here to Stay«, »’S Wonderful« –<br />

von den zwölf Titeln dürften<br />

nahezu alle jedem bekannt sein.<br />

Aber bezeichnenderweise singt<br />

Bennett den letzten Song allein.<br />

Und der heißt: »Who Cares«.<br />

Janko Tietz<br />

DIE SENSATIONELLE<br />

NUMMER 1 AUS<br />

SPANIEN!<br />

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AB 20. SEPTEMBER IM KINO<br />

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Pop / Album<br />

Euphorie und Melancholie: »Dancehall«,<br />

das Debütalbum der französischen<br />

Band The Blaze, ist von dunkler Schönheit.<br />

Animal 63/Believe, erscheint am<br />

7. September.<br />

● Als die Band Daft Punk 1997 ihr erstes<br />

Album »Homework« veröffentlichte, war<br />

das ein Paukenschlag. Zwar waren alle<br />

Bestandteile ihrer Musik weithin bekannt.<br />

Aber dass House so hingerotzt wie Punk<br />

und so eingängig wie Pop daherkommen<br />

konnte, war eine Sensation. Nun legt ein<br />

anderes französisches Electro-Duo ein<br />

Debütalbum vor, das Neuland erschließt.<br />

The Blaze nennen sich die beiden Cousins<br />

Jonathan und Guillaume Alric. Sie machten<br />

zunächst durch Musikvideos auf sich<br />

aufmerksam: »Virile« handelte von zwei<br />

16<br />

jungen Männern und ihrer Freundschaft,<br />

»Territory« von der Heimkehr eines Mannes<br />

zu seiner Familie in Algier. Ein drittes<br />

Video, »Heaven«, das in diesem Jahr veröffentlicht<br />

wurde, ist von Édouard Manets<br />

Gemälde »Frühstück im Grünen« inspiriert.<br />

Es zeigt einen jungen Vater, der vor lauter<br />

Lebenslust kaum stillhalten kann. Die<br />

Musik von The Blaze lässt nichts unversucht,<br />

um diese Stimmung zu unterstützen.<br />

Und doch zieht sich eine Melancholie<br />

durch die Keyboard-Akkorde, als drohte<br />

dem Mann im siebten Himmel ein Absturz<br />

in die Hölle. Das gibt die Atmosphäre<br />

vor für ein Album, auf dem die House-Pianoklänge<br />

wie Glücksversprechen wirken,<br />

doch das von verfremdeten Männerstimmen<br />

und Melodien in Moll immer wieder<br />

gebrochen wird. Zusammen ergibt das<br />

eine dunkle Schönheit, die sich genießen<br />

lässt, ob in einem Klub oder allein auf<br />

nächtlicher Autobahnfahrt. Felix Bayer<br />

EIN FILM VON @E79>?C7$ĬD=<br />

8H;9>JI<br />

ċ=HEI9>;DFILM<br />

»Opulentes<br />

Kinoereignis«<br />

SZ EXTRA<br />

»Mutiges,<br />

bildgewaltiges Kino«<br />

BR KINO KINO<br />

78ĉċ$I;FJ;C8;H<br />

IM KINO<br />

Serien / DVDs<br />

Was macht eine wirklich gute Serie<br />

aus? Dass den Machern auch nach der<br />

ers ten Staffel noch etwas Neues einfällt<br />

– wie beim Liebesdrama The Affair.<br />

Vierte Staffel bei Amazon Prime Video.<br />

● Fernsehserien sind wie Freunde: Die<br />

wirklich guten erkennt man daran, dass<br />

man sich auch nach Jahren noch für sie<br />

interessiert. Dass sie verlässlich sind, dass<br />

sie einen aber trotzdem noch überraschen<br />

können. Und obwohl es schon schwer<br />

genug ist, den Überblick zu behalten bei<br />

all die neuen Edelserien, lohnt sich manchmal<br />

ein zweiter Blick auf einige alte. Denn<br />

eine originelle erste Staffel zu produzieren,<br />

das gelingt etlichen Drehbuchautoren und<br />

Regisseuren. Aber die Spannung auch<br />

dann noch zu halten, wenn die Ursprungsidee<br />

erst einmal erzählt ist, vielleicht sogar<br />

einen ganz großen Bogen zu schlagen,<br />

der über Jahre trägt: Das ist wahre Könner -<br />

schaft und der Unterschied zwischen modernen<br />

Klassikern wie den »Sopranos«<br />

oder »Mad Men« und auf die Dauer doch<br />

recht öder Serienware wie »Homeland«<br />

oder »House of Cards«, die sich mühsam<br />

dem Finale entgegenschleppen.<br />

Auch »The Affair« ist eine dieser Prestigeserien,<br />

ausgezeichnet mit drei Golden<br />

Globes. Die Story, die Liebesgeschichte<br />

von Noah (Dominic West)<br />

und Alison (Ruth Wilson),<br />

wirkt auf den ersten Blick<br />

eher unspektakulär. Er ist<br />

Lehrer und gescheiterter<br />

Schriftsteller aus Brooklyn,<br />

sie arbeitet als Kellnerin in<br />

einem Hummer-Restaurant<br />

in Montauk. Noah und<br />

Ruth sind verheiratet, aber<br />

nicht miteinander, ihre Liebe<br />

beginnt heimlich, als er<br />

mit seiner Ehefrau und den<br />

vier gemeinsamen Kindern<br />

Urlaub auf Long Island<br />

macht. Die erste Staffel hatte<br />

2015 Premiere und wurde<br />

für den Mut gefeiert,<br />

jede Episode aus zwei verschiedenen<br />

Perspektiven zu<br />

erzählen: einmal seine Version<br />

der Ereignisse, einmal<br />

ihre – eine zeitgenössische<br />

Variante des »Rashomon-Effekts«, benannt<br />

nach dem Spielfilm aus dem Jahr 1950, in<br />

dem der japanische Regisseur Akira Kurosawa<br />

den Tod eines Samurais aus vier verschiedenen<br />

Blickwinkeln inszeniert hatte.<br />

Auch bei »The Affair« sollte man auf die<br />

Details achten (in Noahs Version der Ereignisse<br />

trägt Alison bei der ersten Begegnung<br />

einen kurzen Rock, in ihrer Fassung<br />

sind ihre Knie bedeckt), denn vermeintliche<br />

Kleinigkeiten werfen große Fragen auf<br />

über die Zuverlässigkeit von Erinnerungen<br />

und den Hang, sich selbst zu belügen.<br />

Ein geheimnisvoller Todesfall sorgt für<br />

zusätzliche Spannung, die bis zum Ende<br />

der zweiten Staffel trägt. Nach einer eher<br />

schwachen dritten Staffel rücken in den<br />

Episoden der neuen vierten Staffel die betrogenen<br />

Ehepartner von einst immer stärker<br />

ins Zentrum. Ganze Episoden werden<br />

aus ihren Blickwinkeln geschildert. Vor<br />

allem die Schauspielerin Maura Tierney in<br />

der Rolle von Noahs Ex-Frau Helen ist<br />

überragend: eine Frau um die fünfzig, die<br />

nach der schweren Demütigung durch den<br />

Betrug ihr Leben neu ordnen muss. Helen<br />

lebt mittlerweile mit einem neuen Partner<br />

in Los Angeles, obwohl sie die angestrengte<br />

Lässigkeit Kaliforniens eigentlich ver -<br />

abscheut. Ihr Ex-Mann Noah ist ihr hinterhergezogen,<br />

natürlich nur wegen der<br />

Kinder, Ende offen, auf Wiedersehen im<br />

nächs ten Jahr: Die fünfte Staffel von<br />

»The Affair« soll die letzte sein. Martin Wolf<br />

Darsteller Ruth Wilson, Dominic West in »The Affair«<br />

Fotos: INTERTOPICS / DDP; Nintendo; Francesca Allen / UNIVERSAL MUSIC


Games<br />

Das Reaktionsspiel WarioWare<br />

Gold besticht durch seine Einfachheit.<br />

Nintendo.<br />

● Lenken! Fallen! Auffangen! »Wario-<br />

Ware Gold« ist eine Sammlung von Kürzestspielen,<br />

die den Spielern ihre Aufgabe<br />

mit nur einem Wort erklärt. Es bleiben<br />

immer nur wenige Augenblicke, den<br />

Befehl zu verstehen – und auch noch zu<br />

reagieren. Mal soll man verhindern, dass<br />

eine Figur von einem Glas eingefangen<br />

wird, mal eine einzelne Münze schnappen,<br />

die auf dem Screen herunterkullert,<br />

oder einen digitalen Finger in eine digitale<br />

Nase führen, um in dieser zu popeln.<br />

Immer geht es darum, schnell zu reagieren,<br />

zu verstehen und vor allem aber:<br />

über die Absurdität zu lachen, die hier<br />

in einem Dauerfeuer auf die Spieler einprasselt.<br />

Die Minispielsammlung ist<br />

nach Wario benannt, dem Antagonisten<br />

des legendären Games-Helden Super<br />

Mario, und wirft allen Ballast ab, den<br />

Videospiele in den vergangenen Jahrzehnten<br />

angehäuft haben. Sie verzichtet<br />

auf eine kohärente Geschichte oder fotorealistische<br />

Grafik und verdichtet ganze<br />

Spielideen auf wenige Sekunden, auf<br />

den alles entscheidenden Moment, auf<br />

die Aktion. Darauf, einen Knopf im richtigen<br />

Augenblick zu drücken oder passend<br />

zu lenken. »WarioWare Gold« ist dabei<br />

sowohl eine Stück Videospielgeschichte<br />

als auch eine äußerst lehrreiche Lektion<br />

in Sachen Spieledesign. Carsten Görig<br />

Videospiel »WarioWare Gold«<br />

Pop / Live<br />

Ein nettes Mädchen wird<br />

wütend: Die Norwegerin<br />

Sigrid hat alles, um sich im<br />

umkämpften Popgeschäft<br />

durchzusetzen. Nun kommt<br />

sie nach Deutschland: Köln,<br />

Berlin und Hamburg, vom<br />

17. bis zum 20. September.<br />

● In Zeiten, in denen sich die<br />

Popsong-Produktion immer<br />

weiter industrialisiert hat und<br />

sich die Schöpfungen der<br />

Norwegische Sängerin Sigrid<br />

Songwriting-Camps zunehmend<br />

ähneln, kommt es<br />

mehr denn je auf die Persönlichkeit<br />

an, wenn man ein<br />

Star werden will. In dieser<br />

Hinsicht hat Sigrid Solbakk<br />

Raabe, die 21-Jährige aus dem<br />

norwegischen Bergen, schon<br />

eine ganze Menge richtig<br />

gemacht. Anfang 2017 legte<br />

sie einen starken und ziemlich<br />

wütenden Auftritt hin: In<br />

ihrem Song »Don’t Kill My<br />

Vibe« fordert sie vehement,<br />

nicht wie ein Kind behandelt<br />

zu werden. Und im Video<br />

17<br />

dazu schaut sie böse in die Kamera. Dabei<br />

kann und will sie nicht verbergen,<br />

dass sie aus gutem musikalischem Hause<br />

stammt – der Kontrast macht diesen<br />

Song so besonders. Noch hat Sigrid kein<br />

komplettes Album veröffentlicht. Doch<br />

weil ein Mobilfunkanbieter ihren Song<br />

»Strangers« in der Werbung verwandte,<br />

konnte sie einen Top-Ten-Hit in Groß -<br />

britannien landen. Im deutschen Fern -<br />

sehen sang sie bei »Inas Nacht« und<br />

löste bei Studiogast Campino allem An -<br />

schein nach väterliche Gefühle aus.<br />

Sigrid tobt sich derweil auf den Festivalbühnen<br />

mit einer solchen Selbstver -<br />

ständlichkeit aus, gern in Latzhose, als<br />

sänge sie noch mit ihren Geschwistern<br />

am Fjord von Ålesund. Eindrucksvoll.<br />

Felix Bayer<br />

▼ Weitere Konzerte<br />

Stephan Eicher & Martin Suter. In<br />

Deutschland ist der Schweizer Eicher als<br />

Veteran der Neuen Deutschen Welle<br />

bekannt (»Eisbär«), in Frankreich ein Chan -<br />

son-Star. Jetzt hat er sich mit seinem<br />

Landsmann Suter, dem dandyhaften Schrift -<br />

steller, zusammengetan und tourt mit<br />

ihm: 23. September in München, 25. September<br />

in Köln, 28. September in Berlin,<br />

29. September in Hamburg, 30. September<br />

in Frankfurt am Main.<br />

Sophie Hunger. Die Songwriterin kommt<br />

in ausgewählte Städte (München, Berlin,<br />

Köln, Hamburg, Osnabrück, Bremen)<br />

und spielt jeden Abend in einem anderen<br />

Klub: 6. September bis 8. November.<br />

Jeff Lynne’s ELO. Der Songwriter und<br />

Produzent hat die Namensrechte an seinem<br />

Electric Light Orchestra zurückgekauft.<br />

Folge: Welttournee mit Auftritten in<br />

Deutschland. 18. September in Hamburg,<br />

19. September in Berlin, 21. September<br />

in München, 25. September in Mannheim.<br />

Tash Sultana. Die Australierin wurde<br />

durch Live-Sessions aus ihrem Wohnzimmer<br />

berühmt und nahm dort auch ihren<br />

Hit »Jungle« auf. Jetzt spielt sie an drei<br />

Abenden in Köln (6. bis 8. September) und<br />

an zweien in Berlin (10./11. September).<br />

© Marcus Höhn<br />

»Es geht beim Erzählen<br />

darum, sich über<br />

Verbote hinwegzusetzen.«<br />

MARÍA<br />

CECILIA<br />

BARBETTA<br />

María Cecilia Barbetta erzählt<br />

von der gespenstischen<br />

Atmosphäre am Vorabend<br />

eines politischen Umsturzes.<br />

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PRÄSENTIERT<br />

DAS<br />

TICKET<br />

Udo Lindenberg<br />

Deniz Yücel<br />

Håkan Nesser<br />

Juli Zeh<br />

Jörg Nießen<br />

Meg Wolitzer<br />

Paul Beatty<br />

Cixin Liu<br />

Dmitry Glukhovsky<br />

Dörte Hansen<br />

Eckart von Hirschhausen<br />

Otto Waalkes<br />

Anna Todd<br />

Kino<br />

Erik Poppes Spielfilm Utøya 22. Juli<br />

schildert das Massaker des Rechtsextremisten<br />

Anders Breivik aus der Sicht<br />

seiner Opfer. Kinostart: 20. September.<br />

● Die Jugendlichen hetzen kreuz und<br />

quer über die Insel, panisch, blutend, in<br />

wachsender Todesangst, immer auf der<br />

Suche nach Deckung. Doch jedes Versteck<br />

kann zur Falle werden, aus der es kein<br />

Entrinnen mehr gibt. Der norwegische Regisseur<br />

Erik Poppe schildert den Terror -<br />

anschlag des Rechtsextremisten Anders<br />

Breivik, der am 22. Juli 2011 auf der Insel<br />

Utøya 69 Menschen erschoss, radikal subjektiv<br />

aus der Sicht eines der Opfer. Die<br />

18-jährige Kaja (Andrea Berntzen) nimmt<br />

an dem Ferienlager der Arbeiterjugend<br />

auf der Insel teil und versucht verzweifelt,<br />

ihr Leben und das ihrer jüngeren Schwester<br />

zu retten. Die Ereignisse auf Utøya hat<br />

Poppe in einer einzigen Einstellung nachgestellt.<br />

Auf diese Weise verstärkt er das<br />

Gefühl der Ausweglosigkeit noch. Kein<br />

Wechsel der Perspektive, kein Schnitt zur<br />

Seite sorgt für Entlastung. Wenn sich<br />

Kaja um ein schwer verletztes Mädchen<br />

kümmert, gelingt Poppe und den beiden<br />

Darstellerinnen eine Szene von seltener<br />

Unmittelbarkeit und Eindringlichkeit.<br />

Gleichzeitig ist der Ansatz des Regisseurs<br />

überaus heikel. Denn Poppe setzt die<br />

Dramaturgie und die visuellen Mittel des<br />

Horrorfilms ein, um von realem Leiden<br />

und Sterben zu erzählen. Nur als Schatten<br />

huscht der Täter ab und zu durch das<br />

Unterholz, wie der schwarze Mann, vor<br />

dem sich alle fürchten. Poppe versichert<br />

zwar, viele Interviews mit den Überlebenden<br />

und den Angehörigen der Opfer geführt<br />

zu haben. Dennoch hat er die Hauptfigur<br />

Kaja erfunden und stilisiert sie<br />

im Laufe des Films immer mehr zu einer<br />

Heldin von nahezu übermenschlicher<br />

Selbst losigkeit. Ein mitreißender und verstörender<br />

Film, ein ästhetisch-moralischer<br />

Grenzgang.<br />

Lars-Olav Beier<br />

▼ Weiteres<br />

18<br />

AB 30. AUGUST<br />

Donbass. Der gebürtige Weißrusse<br />

Sergei Loznitsa bahnt sich in seinem Spielfilm<br />

über den Ukrainekonflikt einen<br />

Weg durch ein Dickicht aus Halbwahrheiten<br />

und Propagandalügen.<br />

AB 20. SEPTEMBER<br />

Wir sind Champions. Ein Basketballtrainer<br />

muss Sozialdienst leisten und ein Team<br />

aus Menschen mit Behinderungen trainieren.<br />

Die spanische Komödie wirkt zunächst<br />

etwas schematisch, entfaltet dann aber<br />

erstaunlich viel Witz und Emotion.<br />

29. AUGUST BIS 8. SEPTEMBER<br />

Internationale Filmfestspiele von Venedig.<br />

Die Lagunenstadt ist in diesem Jahr<br />

zum 75. Mal Schaufenster des Weltkinos<br />

und wartet mit einem starken Programm<br />

auf. Unter anderem läuft »Werk ohne Autor«,<br />

der neue, lang erwartete Film des Regisseurs<br />

Florian Henckel von Donnersmarck<br />

(»Das Leben der Anderen«). Das Drei-<br />

Stunden-Epos rekapituliert mehrere Jahrzehnte<br />

deutscher Geschichte.<br />

Öffnungszeiten:<br />

Täglich 9.00 – 18.30 Uhr<br />

Sonntag 9.00 – 17.30 Uhr<br />

buchmesse.de<br />

#fbm18<br />

DAS TICKET<br />

Jetzt buchen<br />

unter:<br />

buchmesse.de/tickets<br />

Besuchen Sie uns am<br />

buchreport-Stand in<br />

Halle 3.1, L 158.<br />

1 (-) Black Panther<br />

Walt Disney, FSK: ab 12 Jahren<br />

Hauptdarstellerin Andrea Berntzen in »Utøya 22. Juli«<br />

2 (-) Dieses bescheuerte Herz<br />

Universal Pictures, FSK: ohne Altersbeschränkung<br />

3 (-) Shape of Water<br />

20th Century Fox, FSK: ab 16 Jahren<br />

4 (-) Red Sparrow<br />

20th Century Fox, FSK: ab 16 Jahren<br />

5 (-) Tomb Raider<br />

Warner Bros., FSK: ab 12 Jahren<br />

SPIELFILME<br />

6 (1) Fifty Shades of Grey. Befreite Lust<br />

Universal Pictures, FSK: ab 16 Jahren<br />

7 (3) Die Verlegerin<br />

Universal Pictures, FSK: ab 6 Jahren<br />

8 (4) Loving Vincent<br />

Universum Film, FSK: ab 6 Jahren<br />

9 (2) Wunder<br />

Studiocanal, FSK: ohne Altersbeschränkung<br />

10 (-) Maria Magdalena<br />

Universal Pictures, FSK: ab 12 Jahren<br />

Foto: Weltkino; Illustration: Sebastian Rether für <strong>LITERATUR</strong><strong>SPIEGEL</strong>


Abgesang<br />

Jeden Monat ein neues Gedicht<br />

Jan Wagner<br />

alter biker<br />

steigt schnaufend von seiner maschine, / knarzend in<br />

seinem leder, langhaarig, steif / wie eine mumie aus der<br />

bronzezeit. / wohnt ansonsten, sagt er, in den bergen /<br />

montanas, sagt: vor über fünfzig jahren / sprang eine<br />

junge frau bei ihm auf, kam mit, / für die er einen<br />

fischteich aushob, zehn / japanische karpfen darin, dann<br />

sieben, zwei, / bis er den grauen reiher sah, der satt /<br />

davonflog. wohnt sonst einsam, sagt er, auf dem / berg in<br />

montana, aber tourt jetzt wieder, / schwebt breitbeinig<br />

über die landstraßen hin mit seiner / gotteswolke von<br />

vollbart, gleitet vorbei / an fernfahrern, hoch auf ihren<br />

dieselkanzeln; / fragt sich noch immer, sagt er, die augen<br />

selbst / im stehen zusammengekniffen in einem<br />

fahrtwind, / von dem wir nichts ahnen, wie der vogel /<br />

gerade seinen teich entdecken konnte, / ausgerechnet<br />

seinen winzigen fischteich / im ungeheuren, riesigen<br />

montana<br />

19<br />

2007. © GettyImages / Jürgen Schadeberg<br />

«Mandelas Worte geben uns einen<br />

Kompass in einem Meer des<br />

Wandels, festen Boden inmitten<br />

wirbelnder Strömungen.»<br />

Barack Obama<br />

Immer dahin, wo’s am meisten wehtut. Das gilt besonders, wenn man ein<br />

alter Biker ist. Zumal ein Biker mit einem Fischteich. Erst kommt das Glück –<br />

in der Form, die es meistens hat, nämlich der einer jungen Frau –, dann<br />

unweigerlich ein grauer Reiher, der es wieder wegnascht. Für den Reiher<br />

wiederum, das steht nicht in Jan Wagners Gedicht, aber offensichtlich ist es<br />

doch, ist der Fischteich das unverhoffte Glück. Ein leicht zugängliches Loch voller Leckerbissen!<br />

Und das mitten in Montana! Wer würde da nicht … Am Ende stehen sie beide mit<br />

nichts da, der Biker wie der Reiher. Das heißt, nichts außer der Straße, über die geschwebt<br />

wird, wie sich das gehört, besonders dann, wenn man ein alter Biker ist. Juliane Liebert<br />

Jan Wagner, 46, ist einer der renommiertesten deutschen Lyriker der Gegenwart. Für seinen Gedichtband<br />

Regentonnenvariationen gewann er 2015 den Preis der Leipziger Buchmesse. 2017 bekam<br />

er den Georg-Büchner-Preis. Dieses Gedicht stammt aus seinem neuen Buch, das am 24. September<br />

erscheint. Jan Wagner: Die Live Butterfly Show. Gedichte. Hanser Berlin; 104 Seiten; 18 Euro.<br />

IMPRESSUM<br />

<strong>SPIEGEL</strong>-Verlag<br />

Rudolf Augstein<br />

GmbH & Co. KG<br />

Ericusspitze 1<br />

20457 Hamburg<br />

Tel. 040 3007-2873<br />

Herausgeber<br />

Rudolf Augstein<br />

(1923 bis 2002)<br />

Chefredakteur<br />

Klaus Brinkbäumer<br />

(V.i.S.d.P.)<br />

Redaktion<br />

Tobias Becker,<br />

Claudia Voigt<br />

Gestaltung<br />

Leon Lothschütz<br />

Bildredaktion<br />

Thorsten Gerke,<br />

Parvin Nazemi<br />

Verantwortlich<br />

für Anzeigen<br />

André Pätzold<br />

Druckerei<br />

appl Druck GmbH,<br />

Wemding<br />

Anzeigenpreise,<br />

Formate und<br />

Termine unter:<br />

www.spiegel.media<br />

Der nächste <strong>LITERATUR</strong> <strong>SPIEGEL</strong> erscheint am 29. September.<br />

Aus dem Englischen v. Anna u. Wolf Leube.<br />

752 S., 41 s/w-Abb., 8 Farbtafeln. Geb. € 28,–<br />

ISBN 978-3-406-71834-2<br />

Leseprobe unter chbeck.de/22104292<br />

Lesungen<br />

in Kooperation mit dem<br />

PEN-Zentrum Deutschland<br />

11. November | Renaissance-Theater Berlin<br />

21. November | Münchner Kammerspiele<br />

22. November | Comedia Theater Köln<br />

25. November | Staatstheater Kassel<br />

Weitere Termine werden unter www.chbeck.de veröffentlicht<br />

C.H.BECK<br />

WWW.CHBECK.DE/MANDELA


12. September – 15.Oktober <strong>2018</strong><br />

SONNTAG<br />

16.<strong>09</strong>.<strong>2018</strong><br />

11.00 Uhr<br />

DIENSTAG<br />

18.<strong>09</strong>.<strong>2018</strong><br />

20.00 Uhr<br />

FREITAG<br />

21.<strong>09</strong>.<strong>2018</strong><br />

20.00 Uhr<br />

DIENSTAG<br />

25.<strong>09</strong>.<strong>2018</strong><br />

20.00 Uhr<br />

DONNERSTAG<br />

27.<strong>09</strong>.<strong>2018</strong><br />

20.00 Uhr<br />

FOTO: URBAN ZINTEL FOTO: AMANDA BERENS<br />

FOTO: MARTENS FOTO: DAGMAR MORATH<br />

FOTO: CARMEN LECHTENBRINK<br />

Laeiszhalle Großer Saal<br />

Richard David<br />

Precht<br />

Imperial Theater<br />

Helene<br />

Hegemann<br />

Kühne Logistics University<br />

Verleihung des Klaus-<br />

Michael Kühne-Preises<br />

mit Inger-Maria Mahlke<br />

Laeiszhalle Kleiner Saal<br />

Max<br />

Goldt<br />

Laeiszhalle Kleiner Saal<br />

Ein Hans Fallada-Abend<br />

mit Hannelore Hoger<br />

FREITAG<br />

05.10.<strong>2018</strong><br />

20.00 Uhr<br />

Laeiszhalle Kleiner Saal<br />

Martin Walser und<br />

Jakob Augstein<br />

www.harbourfront-hamburg.com / Ticket-Hotline: 0180 – 60 15 730 *<br />

oder in den Hamburger Abendblatt-Ticketshops, in den Heymann Buchhandlungen sowie an allen bekannten Vorverkaufsstellen<br />

* 0,20 € / Anruf aus dem dt. Festnetz, Mobilfunk max. 0,60 € / Anruf)<br />

FOTO: KARIN ROCHOLL,<br />

FRANZISKA SINN

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