Text: Peter Balwin
An diesem windstillen Tag irgendwo an
der Ostküste Grönlands flimmert die erwärmte
Sommerluft besonders stark über
der prächtig grünen Tundra. Tief gebeugt
unter der Last seines Trekkingrucksacks
stolpert ein Wanderer über das unebene,
weglose Gelände. Vor seinem schweissbedeckten
Gesicht tanzen Myriaden von
Mücken. Geplagt und verärgert bleibt der
Wanderer stehen und will den Mückenschwarm
händewedelnd verscheuchen –
vergeblich.
Da bemerkt er weit entfernt eine weisse
Gestalt mitten im grünlichen Geflimmer.
Sie steht wie eine Marmorsäule auf einem
Tundrahügel. Ein Geist aus einer Inuit-
Legende? Vergessener Abfall einer Expedition?
Der Wanderer geht vorsichtig auf
die Gestalt zu, doch da breitet die «Säule»
ihre mächtigen Schwingen aus und
hebt ab: Es ist eine Schnee-Eule – sie
steuert lautlos und zielgerichtet auf einen
Punkt in der knöchelhohen Vegetation
zu, streckt ihre Füsse mit gespreizten
Krallen nach vorne und erbeutet einen
Lemming. Lange zappelt der kleine Nager
nicht, während die Schnee-Eule mit
ihm in den Fängen wegfliegt. Hat sie ein
Nest in der Nähe, in dem Küken auf Nahrung
warten? Und wie viele Stunden hat
sie auf ihrem Aussichtspunkt auf Beute
gewartet? Klar ist: Der Wanderer ist gerade
einem der attraktivsten und faszinierendsten
Tiere dieser kalten Weltregion
begegnet.
«Schnee-Eulen sind die Extremisten unter
den Eulen: Sie sind rätselhaft und auffällig,
zaghaft und scheu, aber auch
furchtlos; manchmal fressen sie gierig,
dann wieder fasten sie für eine lange
Zeit.» – So beschreiben die beiden Forscher
Eugene Potapov und Richard Sale
diesen arktischen Beutegreif in ihrer Monographie
«The Snowy Owl».
Beliebt und berühmt
Schnee-Eulen nennen einen der extremsten
Lebensräume der Erde ihr Zuhause,
die Arktis. Zusammen mit Elfenbeinmöwe,
Walross, Moschusochse, Narwal und
Eisbär gehören sie zu den Charaktertieren
dieses eiskalten Lebensraumes. Dabei
gehören sie weltweit zu den wenigen Vögeln,
die man nicht mit einer ähnlichen
Vogelart verwechseln kann.
Und sie sind berühmt: Sogar Bewohner
von Tropeninseln erkennen eine Schnee-
Eule auf Anhieb. Allerdings hat da die
Filmindustrie mächtig nachgeholfen mit
den Harry-Potter-Filmen: Die Schnee-
Eule Hedwig ist der treue Begleiter des
Filmhelden... Schön für die Fantasy-Welt.
Wer in der Realität eine Schnee-Eule sehen
will, muss weit hinauf in die Arktis
reisen und doppelt Glück haben: Schnee-
Eulen sind Einzelgänger, und sie halten
grossen Sicherheitsabstand.
Aber wenn, dann trifft man die Eule in
ihren Brutgebieten von der arktischen
Baumgrenze an nordwärts – in der Tundra.
Im Süden zieht die Vegetation eine
zweite Grenzlinie: Südlich der Buschtundra
brüten keine Schnee-Eulen mehr.
Besonders dicht besiedelt sind die kanadischen
Arktisinseln, die russische Taimyr-Halbinsel,
die Neusibirischen Inseln
sowie die Wrangel-Insel. In Grönland
kommt sie entlang der menschenleeren
Ostseite vor bis hinauf zur Nordküste. In
Spitzbergen/Svalbard werden Arktisreisende
allerdings vergeblich nach dieser
Eule suchen; sie ist zwar als gelegentlicher
Besucher (wahrscheinlich von der
Taimyr-Halbinsel her) vermerkt, kann
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