Paul Kimmage - "Villach 1987" / Leseprobe aus "Raubeine rasiert"
Leseprobe aus RAUBEINE RASIERT von Paul Kimmage
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<strong>Leseprobe</strong><br />
RAD-WM IN ÖSTERREICH – VILLACH ‘87<br />
RAUBEINE RASIERT<br />
PAUL KIMMAGE<br />
Bekenntnisse eines Domestiken<br />
covadonga
In <strong>Villach</strong> kehrte der Ernst des Lebens zurück. Sean wollte seine<br />
katastrophale Saison unbedingt mit dem Gewinn des Regenbogentrikots<br />
beschließen. Es war das einzige Eintagesrennen, das<br />
sich ihm bisher immer entziehen konnte. Jetzt trainierte er<br />
besonders hart, um es zu gewinnen. Stephen ging das Ganze viel<br />
gelassener an. Wenn du gerade den Giro und die Tour de France<br />
gewonnen hast, erwartet niemand von dir eine weitere Höchstleistung<br />
bei den Weltmeisterschaften. Sein Leben hatte sich in eine<br />
ständige Abfolge von Werbeaufnahmen, Presseinterviews, Autogrammstunden<br />
und Händeschütteln verwandelt. Er war nach <strong>Villach</strong><br />
gekommen, um wieder ernsthaft ins Renngeschehen einzusteigen<br />
und um Kelly ein wenig zu helfen. Wie unterschiedlich die<br />
Einstellung der beiden war, offenbarte sich am Tag vor dem Rennen<br />
im Hotel. Am Morgen trainierten wir auf dem Rundkurs. Weltmeisterschaften<br />
sind etwas Besonderes. T<strong>aus</strong>ende von Fans <strong>aus</strong> ganz Europa,<br />
die gekommen waren, um ihren Favoriten beim alljährlichen Fest des<br />
Radsports zuzujubeln, sorgten für eine großartige Atmosphäre. Die<br />
Strecke war anspruchsvoll und die Passage nach dem Ziel schwerer<br />
als zunächst angekündigt. Ich mochte den Kurs. Ich wusste, dass ich<br />
hier eine Chance hatte, gut zu fahren. Ich war ziemlich stolz darauf,<br />
mit den anderen drei Jungs ein Team zu bilden. Sean und Stephen<br />
fuhren an der Spitze, flankiert von Martin und mir. Ich bemerkte<br />
sofort die Leichtigkeit, mit der Stephen in die Pedale trat. Auch Kelly<br />
sah es, aber keiner von uns dachte, dass Stephen die Form hatte, um<br />
auch noch Weltmeister zu werden. Nach dem Mittagessen folgte eine<br />
lange Diskussion über die Wahl der richtigen Ausrüstung. Die meiste<br />
Zeit des Nachmittags verbrachten wir dösend und lesend im Bett –<br />
außer Stephen, um genau zu sein. Einige Journalisten wollten<br />
Interviews von ihm. Er unterhielt sich den ganzen Nachmittag mit<br />
ihnen im Garten des Hotels. Und bei den Mahlzeiten hörte er<br />
plötzlich auf zu essen, um Telefonanrufe entgegenzunehmen und<br />
andere Anfragen zu beantworten. Er nahm das Rennen nicht im<br />
Geringsten ernst. Am Abend bemerkte ich allmählich die Nervosität<br />
in mir aufsteigen. Keiner der irischen Fans kam mehr ins Hotel. Es<br />
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war die Nacht vor der Schlacht, und sie wussten, dass wir unseren<br />
Schlaf brauchten.<br />
Die Aufteilung der Zimmer war dieselbe wie in Irland. Sean und<br />
Stephen, Martin und ich. Mit Martin zu übernachten, gefiel mir. Als<br />
Amateure waren wir oft Zimmergenossen gewesen, wenn wir für<br />
irische Teams unterwegs waren. Aber dann wuchs unsere Rivalität,<br />
und unser Verhältnis hatte sich oft schwierig gestaltet. Jetzt war es<br />
anders. Wir waren beide Profis, die Rivalität gehörte der Vergangenheit<br />
an. Ich hatte als Amateur die Nase leicht vorn gehabt, doch er war<br />
nun der bessere Berufsfahrer. Vor dem Zubettgehen war ich unglaublich<br />
nervös. Zwei meiner Brüder, Raphael und Kevin, waren <strong>aus</strong><br />
Irland gekommen. Sie würden morgen am Rundkurs stehen, und ich<br />
wollte sie nicht enttäuschen, indem ich schlecht fuhr. Doch ich spürte<br />
auch eine positive Anspannung in mir. Zum letzten Mal hatte ich zwei<br />
Jahre nach meinem sechsten Platz bei der Amateur-WM in Italien an<br />
einer Weltmeisterschaft teilgenommen. Ich machte mir keine Illusionen<br />
mehr, jemals die Tour de France zu gewinnen. Aber insgeheim<br />
träumte ich weiterhin davon, eines Tages Weltmeister zu werden.<br />
Bevor ich ins Bett ging, putzte ich meine Rennschuhe. Normalerweise<br />
bin ich niemand, der seine Schuhe poliert. Aber das hier war die WM,<br />
und in meiner Aufregung wienerte ich sie, bis sie glänzten. Mein<br />
Enthusiasmus verwunderte Martin, der versuchte, seine Spannung<br />
für das Rennen erst morgen aufzubauen. Er bot mir eine Schlaftablette<br />
an. Ich nahm sie. Wir schliefen wie Steine.<br />
Ich liebe den Klang des Regens, der gegen das Fenster prasselt,<br />
wenn ich gemütlich im Bett liege. Für eine Weile genoss ich das<br />
Geräusch. Meine Sinne waren immer noch vom Schlaf betäubt. Ich<br />
konnte überall und nirgends sein. In meinem Kinderbett in Dublin.<br />
Im Bett mit Ann in Grenoble. Alles, was ich wusste, war, dass ich im<br />
Bett lag und dass es draußen regnete und dass ich es mochte, im Bett<br />
zu liegen, wenn es draußen regnet. Aber langsam fand das, was ich<br />
hörte, eine aufnahmefähige Gehirnzelle. Ich begann, das plätschernde<br />
Geräusch sorgfältiger zu analysieren. Ich war nicht irgendwo:<br />
Ich war im Hotel Piber in <strong>Villach</strong>. Der Regen, der gerade ans<br />
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Fenster prasselte, würde sich bald seinen Weg in jede einzelne Pore<br />
meiner Haut bahnen, mich abkühlen und dafür sorgen, dass ich mich<br />
schlecht fühlte. »Oh, mein Gott, es ist der Morgen der<br />
Weltmeisterschaft... VERDAMMT NOCHMAL, ES REGNET... ICH<br />
HASSE REGEN.«<br />
Wie viel Pech kann man haben? Im Vorfeld hatten wir drei Tage<br />
schönstes Sonnenwetter. Aber nun regnete es nicht nur einfach: Es<br />
schüttete <strong>aus</strong> Kübeln. Mein ganzer Enthusiasmus war dahin. Ich hasse<br />
Regen. Ich fahre niemals gut bei Regenwetter. Es könnte sein, dass ich<br />
während des Frühstücks nicht einen Ton her<strong>aus</strong>gebracht habe.<br />
In der ersten Hälfte des Rennens war ich in ernsthaften<br />
Schwierigkeiten. Ich hatte neue Laufräder bekommen. Die Felgen<br />
waren noch so glatt, dass die Bremsbeläge kaum griffen. Auf der<br />
Abfahrt zu bremsen, war ein ziemliches Problem. Für eine Weile<br />
fühlte ich mich äußerst unsicher auf meinem Rad. Die anderen drei<br />
fuhren an der Spitze des Feldes, schauten sich um, kontrollierten und<br />
warteten. Stephen ließ sich zu mir zurückfallen und ermunterte<br />
mich, mit an die Spitze zu fahren. Mein einziger Wunsch war es, das<br />
Rennen auf der Stelle aufzugeben. Doch ich konnte meine Brüder<br />
nicht so enttäuschen. Sie hatten ihr schwer verdientes Geld<br />
<strong>aus</strong>gegeben, um hierher zu kommen und mich zu sehen. Also<br />
versuchte ich, Stephen zu folgen. Die Leichtigkeit, mit der er sich<br />
seinen Weg durch das Feld bahnte, war atemberaubend. Sein<br />
unglaublich effizienter Stil. So graziös, so schön anzuschauen – wie<br />
eine langbeinige Frau, die eine Straße herunterstolziert. Es hatte den<br />
Anschein, als ob Rad und Körper eins wären. Nach endlosen drei<br />
Stunden hörte der Regen auf. Langsam fingen meine steifen<br />
Beinmuskeln an, sich wieder aufzuwärmen. Endlich verspürte ich<br />
den Drang, richtig Rennen zu fahren. Nach achtzehn Runden fühlte<br />
sich der Hügel hinter der Ziellinie an wie ein kleiner Gebirgspass.<br />
Das dezimierte Feld riss immer wieder <strong>aus</strong>einander, und<br />
merkwürdigerweise ertappte ich mich immer wieder dabei, Lücken<br />
zu schließen, statt sie zu aufreißen zu lassen. Sechzig Kilometer vor<br />
dem Ende ging eine vierköpfige Ausreißergruppe mit zwei der<br />
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Favoriten, dem Holländer Teun van Vliet und dem amtierenden Weltmeister<br />
Moreno Argentin. Die Franzosen übernahmen die Verfolgung<br />
mit Unterstützung eines Viertels des irischen Teams, mit Martin<br />
Earley. Der Vorsprung schmolz. Ich fuhr recht weit vorne, wartete auf<br />
ein Anzeichen der Schwäche bei Martin. Als das Quartett wieder<br />
gestellt war, folgten die nächsten Attacken. Martin, von seiner Arbeit<br />
erschöpft, stieg <strong>aus</strong> – er hatte seinen Job erledigt. Ich fuhr an Kellys<br />
Seite und sagte ihm, dass ich sicherlich eine kurze Verfolgungsjagd<br />
bewerkstelligen könnte. Er nickte, und ich machte mich daran, jeden<br />
Ausreißversuch ohne grünes Trikot zu neutralisieren. Als die Glocke<br />
die letzte Runde einläutete, ging die entscheidende Fluchtgruppe. Es<br />
passierte während des Anstiegs, und ich war am Ende meiner Kräfte<br />
und litt füchterlich. Ich sah den herrlichen Anblick zweier grüner<br />
Trikots, die das Loch zu den Spitzenreitern schlossen. Wer jetzt nicht<br />
vorne dabei war, für den war das Rennen gelaufen. Ich l<strong>aus</strong>chte den<br />
Lautsprechern und versuchte zu verstehen, was an der Spitze<br />
passierte. Ich betete, Kelly möge gewinnen. Unsere Jungs waren zu<br />
zweit mit dabei. Die Chance war groß. Für Stephen hieß die Taktik,<br />
das Feld bis zur Zielgerade zusammenzuhalten, damit Sean seine<br />
Sprintqualitäten <strong>aus</strong>spielen konnte. Ich spitzte meine Ohren, als wir<br />
auf die Zielgerade einbogen. Aus den Lautsprecherboxen ertönte der<br />
Name des Siegers: »Steven Rooks, Champion du Monde.«<br />
Die Zuschauermassen veranstalteten einen riesigen Lärm. »Hat er<br />
Roche gesagt oder Rooks?« Ich war mir nicht sicher. Rooks, der<br />
Holländer, war auch in der Fluchtgruppe dabei. »Ich glaube, dass er<br />
Rooks gesagt hat.« Ich machte mir nicht mehr die Mühe, zu sprinten.<br />
Sekunden nachdem ich die Ziellinie überquert hatte, erfuhr ich die<br />
Wahrheit. Ich traf auf den irischen Journalisten John Brennan, der<br />
losgeeilt war, um ein paar Sätze des neuen Weltmeisters einzufangen.<br />
»Er hat es geschafft. Der Bastard hat es geschafft.«<br />
»Wer?«<br />
»Roche.«<br />
»Nein. Du machst Witze.«<br />
Machte er nicht.<br />
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Dieses Buch bestellen<br />
»William Hill Sports Book of the Year«<br />
Irland ist das Land der heiligen Trinker und der<br />
raufenden Priester. Irland ist das Land der Underdogs.<br />
Underdogs wie <strong>Paul</strong> <strong>Kimmage</strong>. In den 80er Jahren fuhr der<br />
gebürtige Dubliner als Radprofi mit den ganz Großen der<br />
Branche: <strong>Kimmage</strong> erfüllte sich einen Kindheistraum, um<br />
einen Albtraum zu erleben.<br />
Das Leben im Fahrerfeld wird schnell zur Existenzfrage:<br />
Es geht um zermürbende Niederlagen. Es geht um den<br />
Kampf am Rande der äußersten Erschöpfung. Es geht um<br />
Doping. Nicht um die Einnahme fragwürdiger Substanzen,<br />
die den Sieg bringen. Sondern um Doping als einzige<br />
Chance, ein Rennen zu beenden und am nächsten Tag<br />
wieder starten zu können.<br />
<strong>Paul</strong> <strong>Kimmage</strong> hat seine Karriere beendet, um dieses<br />
Buch zu schreiben. Er bricht ein Schweigegelübde und<br />
liefert beispiellos ehrliche Einblicke in die unmenschlichen<br />
Gesetze des Pelotons. Ein Buch, das Augen öffnet.<br />
Eine herzzerreißende Klageschrift. Ein Buch, das jeder, der<br />
sich für diesen Sport interessiert, gelesen haben sollte.<br />
covadonga<br />
ISBN 978-3-936973-03-7<br />
9 783936 973037