21.11.2018 Aufrufe

Berliner Zeitung 20.11.2018

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 271 · D ienstag, 20. November 2018 5 *<br />

·························································································································································································································································································<br />

Politik<br />

Anwohner von Tijuana demonstrierten am Wochenende gegen die Ankunft von Migranten aus Mittelamerika.<br />

DPA/OMAR MARTINEZ<br />

In Tijuana wächst die Wut<br />

Eine Demonstration gegen die Flüchtlingskarawane aus Honduras offenbart die tiefe Spaltung der Stadt. Dabei hat die Krise gerade erst begonnen<br />

VonTobias Käufer,Tijuana<br />

Nach zwei Stunden Protest<br />

sind die Demonstranten<br />

in Tijuana fast am Ziel:<br />

Das Migrantenlager auf<br />

dem Sportplatz Benito Juarez, einer<br />

Baseballanlage nur einen Steinwurf<br />

von der amerikanisch-mexikanischen<br />

Grenzeentfernt. Hier sind rund<br />

2000 Migranten untergebracht, die<br />

vorgut einem Monat aus Honduras in<br />

Richtung USA aufgebrochen waren.<br />

Nun hören sie nach den Strapazen<br />

der Flucht aus gut 100 Meter Entfernung<br />

die Sprechchöre der wütenden<br />

Mexikaner: „Fuera, Fuera“ (Raus,<br />

Raus) brüllt die aufgebrachte Masse.<br />

„Mexiko zuerst“ oder „Migranten ja,<br />

Invasion nein“, steht auf den mitgebrachten<br />

Plakaten.<br />

„Frauen und Kinder ja, Männer<br />

nein, die machen nur Probleme“, sagt<br />

ein Muskelprotz, der sich Comandante<br />

Ivan nennt und nach eigenen<br />

Angaben zu einer Bürgerwehr gehört,<br />

in die Mikrofone der Weltpresse. Ein<br />

paar Meter weiter fordert Demonstrantin<br />

Fernanda: „Mexikanisches<br />

Geld nur für mexikanische Arme.“<br />

Die Ankunft der Karawane aus Honduras<br />

spaltet die Stadt. Zahlreiche<br />

Menschen klatschen entlang der Strecke,<br />

als die rund 1000 Demonstranten<br />

durch die Straßen in Richtung Lager<br />

ziehen.„Kein Geld für die Migranten“,<br />

rufen sie vonden Balkonen.<br />

Hoffnung auf ein besseres Leben<br />

Im Lager ist die Stimmung angespannt.<br />

„Natürlich macht mir das<br />

Angst“, sagt die alleinerziehende<br />

Mutter Bella (24) hinter dem Gitterzaun<br />

des Baseballplatzes. „Aber ich<br />

will für meine Tochter ein besseres<br />

Leben. Wir wollen den Mexikanern<br />

nichts wegnehmen. Wir wollen arbeiten<br />

und uns unser eigenes Leben<br />

aufbauen.“<br />

Hier in Tijuana entscheidet sich<br />

das Schicksal der Karawane. Der ersten,<br />

die nach einem Marsch zu Fußin<br />

Bussen oder Lkw angekommen ist.<br />

Im Laufe der Woche werden bis zu<br />

10 000 weitere Migranten in Tijuana<br />

erwartet. Und essind weitere Karawanen<br />

unterwegs, erst am Sonntag<br />

sind in El Salvador 200 Migranten auf<br />

die Reise Richtung Norden aufgebrochen.<br />

Sie alle werden irgendwann in<br />

Tijuana oder einer anderen mexikanischen<br />

Grenzstadt ankommen. Das<br />

Tijuana<br />

Derzeit sind etwa<br />

8000 Migranten<br />

in verschiedenen<br />

„Karawanen“<br />

unterwegs<br />

500 km<br />

Mexicali<br />

Sonoyta<br />

Pazifik<br />

Navojoa<br />

Klima ist angespannt. DiePolizei reagiert<br />

besonnen, sperrt die Straßen<br />

rund um das Migrantenlager ab, um<br />

so ein direktes Aufeinandertreffen der<br />

beiden Gruppen zu verhindern. Abseits<br />

der Demonstrationen kommt es<br />

immer wieder zu Rangeleien. Vertreter<br />

der Nationalen Mexikanischen<br />

Menschenrechtskommission verfolgen<br />

den Aufmarsch der Anti-Migranten-Demonstranten<br />

mit entsetzten<br />

Gesichtern.<br />

Die Unterstützer der Migranten,<br />

überwiegend linksgerichtete NGOs<br />

USA<br />

Hauptflüchtlingszug<br />

(über 4300 km)<br />

MEXIKO<br />

Guadalajara<br />

Mexiko Stadt<br />

Juchitan<br />

BLZ/GALANTY; QUELLE: AFP<br />

Golf von<br />

Mexiko<br />

Start am<br />

13. Oktober<br />

San Pedro<br />

Sula<br />

wie die „Linke Revolutionäre Bewegung“<br />

oder die „Engel der Grenzen“,<br />

fordern unterdessen mehr Hilfe und<br />

Unterstützung für die Migranten. Die<br />

mexikanische Politik lasse die Migranten<br />

im Stich, lautet ihr Vorwurf.<br />

Undsie attackieren Tijuanas Bürgermeister<br />

Juan Manuel Gastelum, der<br />

von „Kiffern und Faulpelzen“ unter<br />

den Flüchtlingen gesprochen hatte.<br />

„Tijuana wurde gegründet, erbaut<br />

und entwickelt vonMigranten unterschiedlicher<br />

Herkunft. Keine Migranten<br />

in Tijuana zu wollen ist, nicht die<br />

gleiche Stadt zuwollen“, schreiben<br />

sie in einer Erklärung.<br />

Der Streit über die Karawane wird<br />

so mehr und mehr auch eine ideologische<br />

Auseinandersetzung. Zwischen<br />

jenen, die offene Grenzen und freie<br />

Wohn- und Arbeitsplatzwahl für alle<br />

fordern, und jenen, die nur an den<br />

Fortbestand von Nationen glauben,<br />

wenn Grenzeneingehalten werden.<br />

Amerikaner kaufen billig ein<br />

Tijuana lebt vom Grenzverkehr.<br />

Zehntausende Amerikaner kommen<br />

proWoche in die Stadt umbillig einzukaufen<br />

oder die deutlich preisgünstigeren<br />

Schönheitskliniken aufzusuchen.<br />

Die Einkaufslandschaft ist<br />

auf die Bedürfnisse der amerikanischen<br />

Kunden zugeschnitten, fast<br />

überall wirdPersonal gesucht. Aber es<br />

gibt auch bettelarme Viertel, wo es<br />

weder fließendes Trinkwasser noch<br />

eine Perspektive gibt. Trotzdem hat<br />

Mexikos künftiger Präsident Andres<br />

Manuel Lopez Obrador Arbeitsvisa<br />

für die Migranten in Aussicht gestellt.<br />

Die mexikanische Wirtschaft glaubt,<br />

die Migranten in den Arbeitsmarkt<br />

integrieren zu können. Die Einwohner<br />

in Tijuana wiederum fürchten<br />

sich vor einer von US-Präsident Donald<br />

Trump immer wieder ins Gespräch<br />

gebrachten Grenzschließung,<br />

die verheerende Folgen für die Stadt<br />

hätte. All das prallt nun in Tijuana<br />

aufeinander.Vor ein paar Tagen gab<br />

es erstmals handfeste Auseinandersetzungen<br />

zwischen Mexikanern<br />

undMigranten.<br />

DieFlüchtlinge werden noch eine<br />

lange Zeit in Tijuana ausharren müssen,<br />

denn die gesicherte Grenzeverhindert<br />

einen Übertritt ins Land ihrerTräume.Und<br />

die Wartezeit auf einen<br />

Termin für ein Asylverfahren ist<br />

lang. Es gibt schon jetzt eine Warteliste<br />

mit mehreren Tausend Namen,<br />

die allesamt auf eine erste Befragung<br />

warten. Tijuanas Bürger befürchten,<br />

dass es ähnlich wie in Europa nun<br />

Flüchtlingslager entlang der Grenze<br />

geben könnte.Sie fühlen sich im Rest<br />

des Landes mit den Migranten alleingelassen.<br />

DieKrise in Tijuanahat<br />

gerade erst begonnen.<br />

Tobias Käufer begleitete<br />

die Karawane im Süden<br />

Mexikos und nun in Tijuana.<br />

Düstere Perspektiven für Rückkehrer<br />

Ein Bericht des Auswärtigen Amtes zeichnet ein verheerendes Bild der Menschenrechtssituation in Syrien<br />

VonMarkus Decker<br />

Der aktuelle Lagebericht des Auswärtigen<br />

Amts über die politische<br />

Situation in Syrien zeichnet ungeachtet<br />

nachlassender Kampfhandlungen<br />

ein verheerendes Bild der<br />

Menschenrechte in dem Land und<br />

beschreibt die Perspektiven für zurückkehrende<br />

Flüchtlinge als sehr<br />

düster.<br />

Die <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> (Redaktionsnetzwerk<br />

Deutschland) konnte das<br />

28-seitige Papier,das auf den 13. November<br />

datiert und von der Bundesregierung<br />

als vertraulich eingestuft<br />

ist, am Montag einsehen. Es dient der<br />

vom 28. bis zum 30. November in<br />

Magdeburgtagenden Innenministerkonferenz<br />

als Entscheidungsgrundlage<br />

für mögliche Abschiebungen.<br />

„Polizei, Justizvollzugsbeamte<br />

und vor allem Sicherheits- und Geheimdienste<br />

wenden systematisch<br />

Folterpraktiken an, insbesondere<br />

gegenüber Oppositionellen oder<br />

Menschen, die vom Regime als oppositionell<br />

eingestuft werden“,<br />

heißt es in dem Bericht. „Folter<br />

macht in Syrien auch vor Kindern<br />

nicht halt.“ So seien „zahllose Fälle<br />

dokumentiert, bei denen einzelne<br />

Familienmitglieder, nicht selten<br />

Frauen und Kinder,für vomRegime<br />

als feindlich angesehene Aktivitäten<br />

anderer Familienmitglieder inhaftiert<br />

und gefoltert wurden“. Diese<br />

„Sippenhaft“ könne „bereits bei<br />

bloßem Verdacht auf mögliche Annäherung<br />

an die Opposition“ angewendet<br />

werden.<br />

Insgesamt weist der Bericht seit<br />

2011 rund 13 000 bestätigte Todesfälle<br />

nach Folter aus.Überdies fänden<br />

„Vergewaltigungen, Folter und systematische<br />

Gewalt gegen Frauen von<br />

Seiten des syrischen Militärs und alliierter<br />

Gruppen unter anderem an<br />

Grenzübergängen, militärischen<br />

Kontrollstellen und in Haftanstalten“<br />

statt. Die Zwangsrekrutierung von<br />

Kindern zum Militärdienst sei seit<br />

2014 stetig gestiegen.<br />

Große Gefahren kommen dem Lagebericht<br />

zufolge auf zurückkehrende<br />

Flüchtlinge zu. „Innerhalb der<br />

besonders regimenahen Sicherheitsbehörden<br />

gelten Rückkehrer als Feig-<br />

linge und Fahnenflüchtige,<br />

schlimmstenfalls sogar als Verräter<br />

bzw.Anhänger vonTerroristen“, steht<br />

in dem Papier. Und „immer wieder“<br />

seien „Rückkehrer, vor allem solche,<br />

„Folter macht in Syrien auch<br />

vor Kindern nicht halt.“<br />

Aus dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes<br />

die als oppositionell oder regimekritisch<br />

erachtet werden, erneuter Vertreibung,Sanktionen<br />

bzw.Repressionen<br />

bis hin zu Gefährdung für Leib<br />

und Leben ausgesetzt“. Dies gelte in<br />

erster Linie für Gebiete unter Regimekontrolle.<br />

Aber auch ökonomisch sei die<br />

Lage für Rückkehrer schwierig. So<br />

habe es zwar allein 2017 rund<br />

720 000 Rückkehrer gegeben, in<br />

demselben Zeitraum jedoch<br />

ebenso 1,8 Millionen neue Binnenvertriebene.<br />

Und von den derzeit<br />

18 Millionen im Land lebenden<br />

Syrern gelten 13 Millionen<br />

laut Bericht als hilfsbedürftig, 5,6<br />

Millionen sogar als akut hilfsbedürftig.<br />

„Angesichts der desolaten<br />

wirtschaftlichen Lage bestehen<br />

wenige Möglichkeiten zur Schaffung<br />

einer ausreichenden Lebensgrundlage<br />

bzw. der Sicherung des<br />

Existenzminimums“, schreiben<br />

die Autoren. In den Gebieten, in<br />

denen viele Binnenvertriebene<br />

mit Einheimischen um Ressourcen<br />

konkurrierten, existierten<br />

kaum Möglichkeiten der Beschäftigung<br />

oder sonstigerTeilhabe.<br />

DerBericht wurde vonder Innenministerkonferenz<br />

Anfang Dezember<br />

2017 angefordert und jetzt den Behörden<br />

übersandt, die in Asyl- und<br />

Aufenthaltsfragen zuständig sind.<br />

Bundestagsabgeordnete dürfen ihn<br />

lediglich lesen, aber nicht verbreiten.<br />

Die Länderinnenminister diskutieren<br />

bereits seit Tagen, ob Abschiebungen<br />

von Urhebern schwerer<br />

Straftaten und terroristischen GefährdernnachSyrienvertretbarsind.<br />

Die Innenminister von Bayern und<br />

Sachsen, Joachim Herrmann (CSU)<br />

und Roland Wöller (CDU), sprachen<br />

sich dafür aus. Sachsen-Anhalts Innenminister<br />

Holger Stahlknecht<br />

(CDU) will den geltenden Abschiebestopp<br />

hingegen bis Ende Juni 2019<br />

verlängern. Bundesinnenminister<br />

Horst Seehofer (CSU) und Niedersachsens<br />

Innenminister Boris Pistorius<br />

(SPD) möchten eine Prüfung.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!