24.11.2018 Aufrufe

Berliner Zeitung 23.11.2018

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 274 · F reitag, 23. November 2018 3 *<br />

·························································································································································································································································································<br />

Seite 3<br />

Die Hand mit dem Feuerzeug zittert<br />

ein wenig, als sich KarinG.ineinem<br />

Café am <strong>Berliner</strong> Kriminalgericht<br />

eine Zigarette ansteckt. Mit einem<br />

tiefen Zug inhaliert sie an diesem Donnerstagnachmittag<br />

den Rauch. Siehält kurzdie Luft an.<br />

Als würde sie überlegen, wie das gehen soll –<br />

weiteratmen, weiterleben.<br />

„Es muss gehen, wie es bis jetzt gegangen<br />

ist“, sagt sie. Schritt für Schritt. Tag für Tag.<br />

Ohne ihreTochter.Ohne Keira. Ohne das Mädchen,<br />

das so gerne auf Schlittschuhen durch die<br />

Eishalle flitzte. Das einmal groß rauskommen<br />

wollte als Eisschnellläuferin. DasTräume hatte.<br />

Und das schwärmte. Von Hannes E.*. Einem<br />

Jungen, der in ihrer Schule Grüner Campus<br />

Malchoweine Klasse über ihr war.<br />

Ein Foto hing in Keiras Zimmer über dem<br />

Bett. Karin G.hat es längst abgenommen. Es<br />

war ein Foto vonHannes,den Keiras Mutter vor<br />

dem Todder 14-jährigen Tochter noch nie gesehen<br />

hatte.Eswar ein Foto eines scheinbar ganz<br />

normalen 15-Jährigen. Dem Schwarm ihrer<br />

Tochter.Dem Mörder ihres Kindes.<br />

Am Donnerstagmittag ist Hannes E. von einer<br />

Jugendkammer des Landgerichts Berlin wegen<br />

Mordes an Keira zueiner Jugendstrafe von<br />

neun Jahren verurteilt worden. DieVorsitzende<br />

Richterin Regina Alex sah es als erwiesen an,<br />

dass Hannes das Mädchen am 7. März dieses<br />

Jahres mit 23 Messerstichen regelrecht niedergemetzelt<br />

hatte. Der Prozess und auch die Urteilsverkündung<br />

fanden aufgrund des jugendlichen<br />

Alters des Angeklagten unter Ausschluss<br />

der Öffentlichkeit statt.<br />

DerTag, an dem die Normalität zerbrach<br />

DieGerichtssprecherin Lisa Jani tritt nach dem<br />

Urteil vor die Presse. Der Fall der getöteten 14-<br />

Jährigen hat bundesweit für Schlagzeilen gesorgt<br />

–vor allem wegen der Frage, wie ein 15-<br />

Jähriger dazu kommt, eine Mitschülerin auf so<br />

brutale Art umzubringen. Die Antwort des Gerichts:<br />

Hannes habe aus purer Mordlust getötet.<br />

„Es ist dem Angeklagten nur darum gegangen,<br />

einen Menschen zu töten“, sagt die Gerichtssprecherin<br />

Jani. Der Angeklagte habe auch sehen<br />

wollen, ob er das Töten aushalte.<br />

Es sei für den Jungen ein Leichtes gewesen,<br />

Keiraumzubringen. DasMädchen hatte keinen<br />

Argwohn. „Es war in den Angeklagten verliebt“,<br />

sagt Lisa Jani. Die Aussage des Angeklagten,<br />

Keira habe umgebracht werden wollen, habe<br />

die Kammer als reine Erfindung, als Schutzbehauptung<br />

gewertet.<br />

Neun Jahre Freiheitsentzug. Das ist fast die<br />

Höchststrafe für einen Jungen in diesem Alter,<br />

vondem niemand weiß, wie es mit ihm weitergehen<br />

soll. Für einen Jungen, der eigentlich eine<br />

Therapie braucht. Und der Keiras Mutter Verhandlungstag<br />

fürVerhandlungstag im Gerichtssaal<br />

gegenübersaß.<br />

Karin G.konnte nun ein wenig verstehen,<br />

warum ihre Tochter etwas für diesen nicht<br />

schlecht aussehenden Jungen empfunden<br />

hatte. Die Mutter hoffte jeden Tagauf ein persönliches<br />

Wort von ihm. Auf eine Antwort auf<br />

die Frage nach dem Warum. Aufeine Entschuldigung,<br />

ein Zeichen der Reue, irgendetwas.<br />

„Doch da kam nichts“, sagt KarinG.<br />

Nichts von Hannes, nichts von der Mutter<br />

des Jungen, die ihrem Sohn jeden Verhandlungstag<br />

im Gerichtssaal die Hand halten<br />

durfte. „Ich konnte das bei Keira nicht. Ich<br />

konnte mich vonmeinem Kind noch nicht einmal<br />

verabschieden“, sagt Keiras Mutter, 41<br />

Jahrealt. Siewirkt nicht wütend. Siewirkt nicht<br />

hasserfüllt. Sie wirkt gefasst. Sie sagt, sie empfinde<br />

nichts für Hannes.<br />

Keiraund Hannes stammen aus zwei „stinknormalen<br />

Familien“, so hat es Roland Weber,<br />

der Anwalt vonKarin G., formuliert. Diese Normalität<br />

zerbrach am 7. März.<br />

An diesem Tagpackte Hannes zu Hause ein<br />

Küchenmesser, eine Maske und Schuhschoner<br />

in seinen Rucksack. Dann machte er sich auf<br />

den Wegvon Weißensee nach Alt-Hohenschönhausen.<br />

Zu Keira. Er gab vor, mit ihr Schularbeiten<br />

machen zu wollen. Doch er plante, sie umzubringen.Wieder<br />

Joker,der böse Gegenspieler<br />

von Batman, mit dem sich der Jugendliche seit<br />

einiger Zeit identifizierte.„Einem Irren, der tötet<br />

um des Tötens willen“, sagt die Gerichtssprecherin<br />

Jani.<br />

DerNeuntklässler erzählte seinen Freunden,<br />

er wäreimJoker-Clan. Er trug eine Kette aus Joker-Karten<br />

um den Hals, und er färbte sich die<br />

Haare grün. Er wollte aussehen wie sein Idol,<br />

der Joker. Die Inkarnation des Bösen, wie der<br />

Anwalt Roland Weber sagt.<br />

In der Wohnung zog Hannes das Messer. Er<br />

rammte es der 14-jährigen Keira inden Hals.<br />

Danach stach er noch 22 Malmit großer Wucht<br />

auf den Oberkörper und den Rücken des Mädchens<br />

ein. Drei Stiche hätten allein zum Todgeführt,<br />

das ergab die Obduktion: der Stich in den<br />

Hals,der Stich ins Herz,der Stich in die Lunge.<br />

Der Erklärung des Jugendlichen, er habe mit<br />

der Tatnur Keiras Todessehnsucht erfüllen wollen,<br />

hielt die Kammer für unsinnig. Hannes E. soll<br />

angegeben haben, dass Keira schon seit einiger<br />

Zeit Suizidgedanken hegte. Sie habe ihn mit einem<br />

Nacktfoto erpresst und verlangt, er solle sie<br />

töten, sonst werdesie das Bild ins Internet stellen.<br />

Das Ende der<br />

Träume<br />

Sie schwärmte für ihn, er tötete sie:<br />

Aus „purer Mordlust“ hat ein 15 Jahre alter Mitschüler<br />

die 14-jährige Keira umgebracht, urteilt die Jugendkammer<br />

des <strong>Berliner</strong> Landgerichts.<br />

Auf ein Wort derReue, eine Erklärung von ihm<br />

hat Keiras Mutter vergeblich gewartet<br />

Keira wurde 14 Jahre alt.<br />

VonKatrin Bischoff<br />

„Ich habe meine Tochter<br />

damals gefunden, blutüberströmt.<br />

Und dasind neun Jahre<br />

nicht ausreichend.“<br />

Karin G., Mutter von Keira, über das Urteil<br />

PRIVAT<br />

Hannes soll auch erklärthaben, dass er es am<br />

Tattag lediglich auf das Handy des Mädchens<br />

abgesehen hatte.Wegen des Nacktfotos.Als ihn<br />

Keiradurchschaute,habe er dem Mädchen aus<br />

Wutdas Messer in denHalsgerammt.<br />

Aber warum stach er danach immer wieder<br />

auf Keira ein? Und wenn es keine geplante Tat<br />

war, warum hatte der Jugendliche dann zwei<br />

Mitschülerinnen Tage zuvor bei einem Treffen<br />

in einem Einkaufscenter erzählt, er werde<br />

Keira umbringen. Die beiden Mädchen bestätigten<br />

das als Zeugen. Sie sagten aber offenbar<br />

auch, dass sie Hannes nicht ernst genommen<br />

hätten.<br />

Nach der Bluttat soll der Jugendliche seine<br />

Hose gewechselt und das Messer abgewaschen<br />

haben. Aus der Straßenbahn, so heißt es,<br />

schickte Hannes seinen Freunden vier Smileys.<br />

DasMesser,das er angeblich in den Weißen See<br />

warf, wurde vonTauchernnicht gefunden.<br />

Hannes E. hat es abgelehnt, sich für den Prozess<br />

von einer Gerichtspsychiaterin untersuchen<br />

zu lassen. Die Expertin soll im Verfahren<br />

von versteckten Gewaltfantasien gesprochen<br />

haben, unter denen Hannes leide.<br />

Trotzdem hegten die Richter keine Zweifel<br />

an der Schuldfähigkeit des Jugendlichen. Dass<br />

er nicht die Höchststrafe von zehn Jahren erhielt,<br />

ist dem Teilgeständnis des Jugendlichen<br />

geschuldet, in dem er die Tötung Keiras zugab.<br />

DasUrteil gegen den 15-Jährigen ist noch nicht<br />

rechtskräftig.<br />

Keiras Mutter ist froh, die Gerichtsverhandlung<br />

gegen den Mörder ihrer Tochterhintersich<br />

zu haben. „Ich bin erleichtert, dass die Richter<br />

einen Selbstmord oder Suizidgedanken meiner<br />

Tochter ausgeschlossen haben“, erzählt sie.<br />

Keira sei ein lebensfrohes Kind gewesen, niemals<br />

habe sie davon gesprochen, sich umbringen<br />

zu wollen. Nicht ihren Freunden gegenüber,<br />

nicht bei Oma oder Opa, nicht ihr gegenüber,<br />

der Mutter.„Wir beide haben uns immer<br />

gut verstanden“, erzählt Karin G., die in einer<br />

Immobilienfirma arbeitet. Sie hätten Pläne gehabt.<br />

„Ostern wollten wir nach Abu Dhabi reisen.“<br />

Und Keira habe sich auf die Jugendweihe<br />

gefreut. Doch am 7. März wurden alle Träume<br />

und Hoffnungen zerstört.<br />

Siewirdihr am Grab alles erzählen<br />

DieMutter,die noch immer in Therapie ist, erinnertsich<br />

noch genau daran, wie sie ihreTochter<br />

fand. KarinG.kam vonder Arbeit. Im Wohnzimmer<br />

lehnte ihre Tochter an der Couch. Überall<br />

war Blut.UmKeirasKopfwar ein Schal gewickelt,<br />

zweimal, sehr fest. DerSchal drückte dem Mädchen<br />

wie ein Knebel Mund und Nase zu.Karin G.<br />

rief die Feuerwehr.„90 Minuten hat der Notarzt<br />

noch versucht, mein Kind wieder ins Leben zurückzuholen“,<br />

erinnertsich die Mutter.<br />

Keiras Mutter nippt kurz an ihrem Latte<br />

Macchiato. Sie sagt, sie könne nicht verstehen,<br />

wie sich ein junger Mensch so verstellen, wie er<br />

den netten Jungen spielen könne. Und dann<br />

diese Tat. Ihre Tochtersei keineswegs blauäugig<br />

gewesen. „Sie wollte Hausaufgaben mit dem<br />

Jungen machen. Wo ist das sicherer als zu<br />

Hause. Das Zuhause sollte doch der sicherste<br />

Ortfür einKindsein, oder?“<br />

Das Urteil hat Karin G.zwiespältig aufgenommen.<br />

Neun Jahre Haft für einen jugendlichen<br />

Mörder seien sicherlich viel. „Ich habe<br />

meine Tochter damals gefunden, blutüberströmt.<br />

Und dasind neun Jahre nicht ausreichend.“<br />

Aber selbst 15 Jahrewären nicht genug.<br />

Das bringe ihr nicht die Tochter wieder. „Für<br />

eine Mutter, deren Kind getötet wurde, gibt es<br />

kein gerechtes Urteil“, sagt Karin G.mit fester<br />

Stimme.<br />

Karin G.will nicht wegziehen aus der Wohnung<br />

in Alt-Hohenschönhausen, in der sie mit<br />

ihrer Tochter gelebt hat, in der Keira auf so<br />

furchtbare Weise starb. Zuviele Erinnerungen<br />

hängen daran. „Es hörtsich vielleicht eigenartig<br />

an. Aber eigentlich bin ich froh, dass Keira hier<br />

starb.Inunserer Wohnung. Undnicht irgendwo<br />

in einem Park. Keira wusste, dass ich kommen<br />

werde“, sagt KarinG.<br />

Sie hat das Zimmer ihrer Tochter zueinem<br />

kleinen Gedenkort gemacht. Auf dem Schrank<br />

stehen die vielen Beileidskarten von Mitschülern,<br />

die KarinG.nochimmer regelmäßig trifft,<br />

und von völlig fremden Menschen. Sie hat es<br />

nicht übers Herz gebracht, die Kleider vonKeira<br />

wegzugeben. „Die Sachen trage ich nun“, sagt<br />

KarinG.Sie zeigt auf die Hose undBluse,die sie<br />

trägt. Keiras Sachen.<br />

Auch das Armband und die Kette haben<br />

Symbolkraft. Sie sind von einer Künstlerin aus<br />

Keiras Haaren und den Haaren des Ponys geflochten<br />

worden, das die Tochtereinst hatte.„So<br />

ist meine Keiraimmer bei mir.“<br />

KarinG.wirdnachher zum Grab ihrer Tochter<br />

gehen, wie jeden Tag. Sie wird ihrer Tochter<br />

von dem Urteil erzählen gegen den Jungen, für<br />

denKeira einmal schwärmte.<br />

*Name geändert<br />

Katrin Bischoff<br />

war beeindruckt vomAuftreten vonKeiras<br />

Mutter nach der Verkündung des Urteils.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!