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Berliner Kurier 11.12.2018

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18 SERIE BERLINER KURIER, Dienstag, 11. Dezember 2018<br />

Die Stadt um 1850:<br />

Die Rinnen stinken,<br />

<strong>Berliner</strong>innen nicht<br />

Regenwasser sowie Abfälle<br />

aus Häusern und von Höfen<br />

sammelten. Das Wasser, das<br />

wegen des geringen Gefälles<br />

der Rinnen nicht schnell abfließen<br />

konnte, und der Müll<br />

bildeten Fäulnisherde. Ein<br />

Teil des Drecks sickerte ins<br />

Grundwasser; der Rest floss in<br />

die Spree.<br />

Mit Bau des ersten Wasserwerks<br />

in Berlin 1856 vor dem<br />

Stralauer Tor stieg der Wassergebrauch,<br />

und mit ihm erhöhte<br />

sich die Schmutz- und<br />

Abwassermenge. Die unzureichende<br />

und ungeklärte<br />

Ableitung<br />

des<br />

Wassers förderte<br />

Krankheiten<br />

wie Cholera, Typhus<br />

und Ruhr.<br />

James Hobrecht schuf Abhilfe.<br />

Mit Unterstützung des<br />

Arztes und Politikers Rudolf<br />

Virchow verwirklichte der<br />

aus Stettin berufene Baurat<br />

den „Hobrecht-Plan“. Zwölf<br />

voneinander unabhängige<br />

Entwässerungsgebiete, auch<br />

Radialsysteme genannt, entstanden:<br />

Hobrecht ließ an einem<br />

möglichst tiefen Punkt je<br />

ein Pumpwerk bauen, zu dem<br />

das häusliche und gewerbliche<br />

Schmutz- und Abwasser<br />

sowie das Regenwasser im<br />

freien Gefälle durch Rohre<br />

aus Steingut oder gemauerte<br />

Kanäle floss; und er ließ jedem<br />

Radialsystem Rieselfelder<br />

außerhalb der Stadt zuordnen,<br />

Druckleitungen<br />

pumpten das Wasser dorthin.<br />

Das erste Radialsystem ging<br />

1878 in Betrieb, mit dem<br />

Pumpwerk an der Schöneberger<br />

Straße und dem Rieselfeld<br />

in Osdorf bei Lichterfelde; das<br />

letzte 1909.<br />

Vier Jahre zuvor war das<br />

Regenüberlaufbauwerk Hohenstaufenstraße<br />

fertiggestellt<br />

worden.<br />

Das fünf Meter<br />

tief lie-<br />

Bei Starkregen<br />

läuft der Kanal in<br />

Windeseile voll<br />

gende Bauwerk<br />

ist Teil<br />

des Mischwasserkanalsystems.<br />

Dieses<br />

System leitet Schmutz- und<br />

Regenwasser durch einen Kanal<br />

ab; es ist in der Innenstadt<br />

verbreitet, wo unter Straßen<br />

neben U-Bahn-Linien und anderen<br />

Leitungen nur wenig<br />

Platz ist. Ein Viertel der kanalisierten<br />

Gebiete der Stadt<br />

wird im Mischverfahren entwässert.<br />

Das Trennsystem leitet das<br />

Wasser in zwei voneinander<br />

getrennten Kanälen ab. Der<br />

Vorteil: Die Schmutzwasserkanäle<br />

können wegen des relativ<br />

konstanten Schmutzwasseranfalls<br />

passgenau dimensioniert<br />

werden, das Regenwasser<br />

kann direkt ins<br />

nächste Gewässer geleitet<br />

werden.<br />

Stephan Natz (54), Sprecher<br />

der Wasserbetriebe, steht vor<br />

dem Regenüberlaufkanal, der<br />

direkt unter der Martin-Luther-Straße<br />

verläuft. Wie ein<br />

„umgekipptes Ei“ sieht der<br />

Kanal für ihn aus. „Dieser<br />

Überlaufkanal ist im Normalfall<br />

nicht in Betrieb“, beginnt<br />

er zu erklären. „Der springt<br />

erst dann an, wenn aus diesen<br />

drei Kanälen ...“<br />

–erblickt nach<br />

links – „... so<br />

viel Wasser zusammen-<br />

kommt, dass<br />

diese Höhe hier ...“ –erblickt<br />

wieder nach rechts zur etwa<br />

hüfthohen Überlaufschwelle<br />

–„... erreicht wird.“<br />

Bei Starkregen ist das der<br />

Fall. Dann schwappt das<br />

Mischwasser, sechs- bis achtfach<br />

verdünnt, über die<br />

Schwelle, manchmal flutet es<br />

den Kanal bis unter die Decke.<br />

„Das Wasser flutet also den<br />

Kanal“, nimmt Natz seinen<br />

Gedankengang wieder auf,<br />

„und staut sich in einem Regenbecken<br />

unter dem Lützowplatz.<br />

Und erst wenn dessen<br />

Kapazität auch noch erschöpft<br />

ist, ergießt es sich in<br />

den Landwehrkanal.“<br />

Das wollen die Wasserbetriebe<br />

eigentlich vermeiden.<br />

Daher schöpfen sie alle Möglichkeiten<br />

aus, um das Wasser<br />

in der Kanalisation zu halten,<br />

zum Beispiel durch den Bau<br />

von Stauraumkanälen wie<br />

jüngst unter dem Mauerpark<br />

in Prenzlauer Berg. „Manchmal<br />

reicht es auch schon“,<br />

sagt Natz, „Überlaufschwellen<br />

zu erhöhen.“<br />

Auf einer Länge von drei Kilometern<br />

streckt sich der Re-<br />

genüberlaufka-<br />

nal Hohenstau-<br />

fen-/Martin-<br />

Luther-Straße:<br />

Er führt zur<br />

Winterfeldtund<br />

zur Maaßenstraße, unterquert<br />

am Nollendorfplatz<br />

die U-Bahn, läuft weiter zum<br />

Lützowplatz, wo er in dem<br />

Regenbecken mündet.<br />

Das Mischwasser strömt im<br />

Gefälle zum Pumpwerk Wilmersdorf<br />

und wird von dort in<br />

eines der Klärwerke gepumpt:<br />

nach Ruhleben oder nach<br />

Stahnsdorf. Die Wasserbetriebe<br />

verfügen über 163 Ab-<br />

DasAquarell vonA.Dressel<br />

aus dem Jahr 1907 zeigt<br />

das Abwassersystem und das<br />

Pumpwerk in Schöneberg.<br />

wasserpumpwerke. Das<br />

Pumpwerk in Wilmersdorf ist<br />

das größte; es hat eine Gesamtkapazität<br />

von täglich<br />

125280 Kubikmetern, die allerdings<br />

nur gebraucht wird,<br />

wenn es regnet (1450 Liter/Sekunde).<br />

Zum Mischwasser kommt<br />

der Müll: alles, was durch<br />

Ausgüsse von Spülbecken,<br />

Dusch- und Badewannen,<br />

durch Toiletten und Gullys<br />

passt. „Ein Riesenproblem in<br />

den Kanälen haben wir mit jeder<br />

Art von Fetten, insbesondere<br />

mit Frittenfett“, sagt der<br />

Sprecher der Wasserbetriebe<br />

Natz. „Und mit Sand“, ergänzt<br />

Regionalleiter Braatz, „Streumaterial<br />

im Winter.“<br />

Ein weiteres Problem sind<br />

feste Zellstoffe: Toilettenfeucht-<br />

und Putztücher, Tampons,<br />

Damenbinden und Windeln<br />

verzopfen sich zu faserigen<br />

Ungeheuern, größer als<br />

ein Mensch, und verstopfen<br />

regelmäßig die Pumpen in<br />

den Klärwerken.<br />

Michael Radke (43) ist seit<br />

Abwasser aus Haushalten in<br />

Schönebergund Friedenau<br />

strömt durch diese Kanäle.<br />

Fotos: Markus Wächter (3), akg-images

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