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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 293 · 1 5./16. Dezember 2018 3 *<br />
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Report<br />
Rutschpartie mit<br />
Happy End<br />
Unterwegs zu den<br />
Großeltern auf der A24<br />
Reisen ist längst zum Statussymbol<br />
geworden, und wer heute etwas<br />
gelten will, der muss sich nicht nur<br />
an seinem Besitz, sondernauch an<br />
der Zahl seiner Urlaube und den besuchten<br />
Orten messen lassen. Waresfrüher schick,<br />
wenn man sich in New York auskannte, so<br />
muss man heute wissen, wo es in Schanghai<br />
das beste DimSum gibt, wann es in Kapstadt<br />
am schönsten ist und zu welcher Jahreszeit<br />
man die Tropen meiden sollte.<br />
DasReisen ist für uns längst zur Normalität<br />
geworden: Ferien in fernen Ländern, mindestens<br />
zwei pro Jahr, Geschäftsreisen, Städtetrips<br />
–all dies gehört für die meisten Menschen<br />
zu einem modernen Lebensstil. Wir<br />
sind ständig unterwegs und ganz besonders<br />
dann, wenn viele vonuns eigentlich lieber daheim<br />
bleiben würden –anWeihnachten.<br />
Dräuend rückt der Termin näher und spätestens<br />
mit den ersten Dominosteinen im<br />
Supermarktregal wird auch dem letzten<br />
Zweifler klar: Weihnachten findet auch in<br />
diesem Jahr statt. Doch vorher kommt die<br />
Reise.<br />
Handfeste Auseinandersetzungen<br />
Kommende Woche fahren viele von uns los,<br />
quer durch die Republik, um drei Feiertage<br />
im Kreise ihrer Familien zu verbringen. Drei<br />
Tage,die oft vonhandfesten Auseinandersetzungen<br />
gekrönt werden, in deren Folge man<br />
wieder auseinanderfährt wie Wasser auf der<br />
heißen Herdplatte.<br />
Meist wünscht man sich Urlaub von diesem<br />
Urlaub und sitzt zwischen den Jahren,<br />
wie es so schön heißt, ermattet in Zugabteilen<br />
und Flugzeugen, in Familienlimousinen<br />
und Fernbussen. Nur umzudenken: „Geschafft!!!“<br />
Denn die Weihnachtsreise ist nie<br />
der Erholung geschuldet, wir fahren zum<br />
Fest nicht nur vonAnach B, sondernanOrte,<br />
vondenen wir vorJahren aufgebrochen sind<br />
in die Welt, wegvon der Familie,weg vonBevormundung<br />
und Versorgung. Nur um an<br />
Weihnachten wieder die zu werden, die wir<br />
mal waren.<br />
Die Weihnachtreise zur Familie ist für<br />
viele Menschen eine Reise in die eigene Vergangenheit,<br />
man wirdwieder Kind. Daskann<br />
anstrengend sein.<br />
Warum also nicht zu Hause bleiben? Da,<br />
wo man sich wirklich daheim fühlt und wo<br />
man tun und lassen kann, was einem beliebt?<br />
Die anderen sind ja ohnehin nicht da.<br />
VonBielefeld<br />
da komm<br />
ich her ...<br />
Großes Gepäck, schweres Gebäck:<br />
Die Deutschen reisen gern und viel und<br />
am häufigsten dann, wenn sie am liebsten<br />
daheim bleiben würden –Weihnachten nämlich.<br />
Die Antwort könnte lauten: Weil Weihnachten<br />
eine Pflichtveranstaltung der Normalität<br />
und der Werte ist, eine bürgerliche Bastion,<br />
gezimmert aus Gänseklein und Geschenkpapier<br />
in einer Zeit des Irrsinns.Sosehen die<br />
Illustrationen zum Fest seit Hunderten Jahren<br />
gleich aus: Kinder spielen, Erwachsene<br />
plaudern, man isst gemeinsam, beschenkt<br />
sich, man geht in die Kirche oder entspannt<br />
einfach in der guten Stube.<br />
Also fahren wir los,und während man sich<br />
sich das Fest anderer Menschen vorstellt wie<br />
einen weichgezeichneten Prospekt mit Christbaumschmuck,<br />
Rentierpullover und Puschen<br />
mit Noppensohle,steht man im Stau.<br />
Wir warten im Sicherheitsbereich eines<br />
Flughafens oder sitzen in einem überfüllten<br />
ICE, eingepfercht zwischen quengelnden<br />
Warumfahrensie trotzdem?<br />
VonMarcus Weingärtner<br />
Kleinkindern, hart gekochte Eier pellenden<br />
Zeitgenossen und verbrauchen das letzte<br />
bisschen Energie auf der Strecke Berlin–Hannover–Bielefeld<br />
in einem Großraumabteil<br />
mit defekter Klimaanlage. Die<br />
Entspannung lässt auf sich warten, während<br />
man großes Gepäck und schweres Gebäck<br />
dem Zielortentgegengewuchtet.<br />
DieArmeerlahmen proportional zur Unlust,<br />
die kommenden Tage bei schmuddeligemWetter<br />
in überheiztenWohnzimmernzu<br />
sitzen, während man sich fragt, ob Bahn oder<br />
Fluglinie schon verklagt werden können,<br />
weil sie einen nicht vonder Reise abgehalten<br />
haben. Gerne wäre man schon wieder daheim.<br />
Doch man ist unterwegs.<br />
Verreist wurde an Weihnachten schon<br />
früher.Inden 80ernund 90ern, in den Komfortzonen<br />
der ÄraKohl galt es als schick, dem<br />
spießigen deutschen Weihnachtsfest den<br />
Rücken zu kehren. Man fuhr in den Süden,<br />
Feiertage unter Palmen galten als der letzte<br />
Schrei. Den Daheimgebliebenen in der biederen<br />
Bundesrepublik wurden Ansichtskarten<br />
geschickt voller Mitleid über die sicherlich<br />
trüben Feiertage daheim bei Streit, Rotkohl<br />
und Klößen.<br />
Seitdem ist viel passiert. Wir reisen an<br />
Weihnachten immer noch –indes, wir bleiben<br />
im Ländle, denn in Zeiten des Terrors<br />
und der täglichen Nachrichten im Fanfarenton<br />
hat die Beschaulichkeit eine Renaissance<br />
erfahren. Seit ein paar Jahren gilt es durchaus<br />
als cool, zum Fest innerdeutsch zu verreisen.<br />
Und laut einer Studie aus dem Jahr 2015 ist<br />
die größte Motivation hierfür der Stress oder<br />
genauer:die Vermeidung desselben.<br />
Drei Haselnüsse in der Einsamkeit<br />
Der weihnachtliche Kurzurlaub soll es nun<br />
richten. Reiseportale werben zum Fest mit<br />
Slogans wie „Festtage in Fulda genießen“,<br />
„Auszeiten in Lübeck“, oder „Charmant, elegant,<br />
amüsant – Weihnachten im Rheinland“,<br />
drei Nächte für 465 Euro. Pro Person,<br />
versteht sich.<br />
Das klingt nicht nach einer Alternative?<br />
Wereseinmal antizyklisch versucht hat und<br />
sich dem Reisewahn entgegengestemmt hat<br />
und daheim geblieben ist, der weiß, wie<br />
schnell sich Einsamkeit einstellt und sich wie<br />
eine Decke aufs Gemüt legt. Die Zeit steht<br />
still, „DreiHaselnüsse für Aschenbrödel“ will<br />
man auch nie mehr sehen, und plötzlich erscheint<br />
auch Weihnachten im Rheinland<br />
mehr als verlockend. Also reisen wir! Fahren<br />
wir los! Entspannen können wir dann im Januar,<br />
jener Jahreszeit, in der man viel lieber<br />
weit wegwäre. Sogar unter Palmen mit Streit,<br />
Rotkohl und Klößen.<br />
Marcus Weingärtner<br />
verbringt in diesem Jahr Weihnachten<br />
in Berlin –und freut sich drauf.<br />
Weihnachten 2011 fuhren meine<br />
Mutter, mein Bruder, mein<br />
Stiefvater und ich auf der A24 von<br />
Berlin aus in Richtung Mecklenburg-<br />
Vorpommernzumeinen Großeltern.<br />
Mein Bruder saß am Steuer, ich hinter<br />
ihm. Draußen war es schon dunkel,<br />
es schneite, die Straßen waren<br />
sehr glatt. Ichfreute mich auf die vielen<br />
Lichter,die mein Großvater jedes<br />
Jahr um das Haus am Seeinstallierte,<br />
auf das warme Kaminfeuer drinnen.<br />
Plötzlich musste mein Bruder<br />
starkbremsen, weil voruns ein Auto<br />
ins Rutschen geriet. Ein weiteres<br />
schoss links an uns vorbei, stieß gegen<br />
die Leitplanke, schlitterte dann<br />
nach rechts, überschlug sich in einem<br />
Graben. Wir rutschten weiter.<br />
Die stehenden Autos vor uns kamen<br />
näher und näher.Kurzbevor wir kollidierten,<br />
kamen wir zum Stillstand.<br />
Meine Mutter sprang aus demWagen,<br />
rannte zu dem Graben, in dem<br />
das Auto auf dem Dach lag. Sie befreite<br />
eine Frau. Keine Verletzungen.<br />
Wir nahmen die Frau zwischen uns<br />
auf die Rückbank. Sie war auf dem<br />
Weg zuihren Eltern, die etwa eine<br />
Stunde vomHaus meiner Großeltern<br />
entfernt wohnten. Mein Großvater<br />
brachte die Frau nach Hause, während<br />
wir anderen das Abendessen<br />
vorbereiteten. Ein paar Tage später<br />
brachte der Postbote eine Weihnachtskarte<br />
mit einem Gutschein für<br />
einen Blumenstrauß. Anne Dittmann<br />
Die Freude<br />
auf die Rückreise<br />
Wiesich weihnachtliche<br />
Flugangst überwinden lässt<br />
Vor ein paar Jahren entschied ich<br />
mich, der Familienzusammenkunft<br />
zu Weihnachten nicht mehr<br />
auf dem Landweg entgegenzuschunkeln.<br />
Sechs Stunden in einem<br />
muffigen Zug, eine Stunde in einem<br />
Auto mit muffiger Laune –nicht mit<br />
mir.Zumal ein Flugticket auch nicht<br />
teurer sein muss als ein Ticket für die<br />
Deutsche Bahn. Eine Mitfahrzentrale<br />
kam nicht infrage, nachdem ich<br />
einmal mit einem Belgier in die<br />
Schweiz fuhr, der sich während der<br />
Fahrtnach Zürich so bekiffte,dass er<br />
auf einer Autobahnraststätte ohnmächtig<br />
wurde und danach vier<br />
Stunden schlafen musste.<br />
Das Problem: Ich leide an Flugangst.<br />
Ein Flug fühlt sich viel<br />
schlechter an als eine Reise auf dem<br />
Landweg, vergeht aber schneller.Ich<br />
überwand mich. Undbuchte im August<br />
ein Flugticket, das ich vier Monate<br />
später Tausende von Metern<br />
über der Erde in meinen verschwitzten<br />
Händen hielt. Stocksteif saß ich<br />
in meinem Sitz und starrte auf den<br />
Hinterkopf meines Vordermanns.<br />
Ichmuss ausgehen haben wie ein<br />
Irrer. Eine erfahrene Stewardess<br />
legte mir ihre Hand auf die Schulter<br />
und eine Schokolade auf mein<br />
Tischchen und sagte sehr ruhig: „Sie<br />
leiden unter Flugangst, das sehe ich.<br />
Aber trösten Sie sich, spätestens am<br />
ersten Feiertag freuen Sie sich auf<br />
den Rückflug. Wetten?“<br />
MarcusWeingärtner