Schwerbehindertenrecht und Inklusion
Praxiswissen für Schwerbehindertenvertreter, Betriebs- und Personalräte
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<strong>Schwerbehindertenrecht</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong><br />
praxiswissen für schwerbehindertenvertreter,<br />
betriebs- <strong>und</strong> personalräte<br />
online unter:<br />
sui-web.de<br />
2. JAHRGANG<br />
ISSN 2511-5995<br />
12 | 2018<br />
Fünf Fragen zu den Kosten der SBV | Seite 2<br />
verfahren bei kündigungen<br />
Rechte von Vertrauensperson,<br />
Betriebs- <strong>und</strong> Personalrat | Seite 3<br />
Musterschreiben: Stellungnahme zur<br />
Kündigung an den Arbeitgeber | Seite 5<br />
<strong>Inklusion</strong>svereinbarung – Wer kann<br />
sie abschließen? | Seite 6<br />
Rechtsprechung: Was das Integrationsamt<br />
bei einer Kündigung prüft | Seite 7<br />
Rechtsprechung: Wann muss der<br />
Arbeitgeber die SBV anhören? | Seite 8<br />
} Exklusiv für Sie als Abonnent: Ihre Online-<br />
Datenbank unter www.sui-web.de<br />
Das müssen Sie wissen<br />
Sigrid Britschgi,<br />
Rechtsanwältin<br />
Christian Köhler,<br />
Jurist, B<strong>und</strong>-Verlag<br />
spitzenwahl der sbv<br />
Als Vertrauensperson der<br />
schwerbehinderten Menschen<br />
wählen Sie nun Ihre Vertreter<br />
auf Unternehmensebene. Die<br />
nächste Wahl der Gesamt- SBV<br />
findet vom 1.12.2018 bis 31.1.2019<br />
statt. Zeitgleich wählen die<br />
Vertrauenspersonen im öffentlichen<br />
Dienst die Bezirks-SBV<br />
(§ 180 Abs. 7 SGB IX). Mehr dazu<br />
lesen Sie in SuI 9/2018, S. 2 – 3.<br />
zugang für blinde<br />
Sehbehinderte Menschen<br />
er halten leichteren Zugang<br />
zu urheber rechtlich geschützten<br />
Büchern <strong>und</strong> anderen<br />
Werken. Der B<strong>und</strong>estag hat<br />
am 18.10.2018 den »Vertrag<br />
von Marrakesch« umgesetzt.<br />
Blindenbibliotheken dürfen nun<br />
auch ohne Erlaubnis der Rechteinhaber<br />
barrierefreie Kopien<br />
in Blindenschrift bereitstellen.<br />
kostenlos auf die fähre<br />
Schwerbehinderte Menschen<br />
nutzen mit Merkzeichen <strong>und</strong><br />
Wertmarke den Nah ver kehr<br />
unentgeltlich (§ 145 SGB IX).<br />
Dazu gehören nach neuer<br />
Rechtsprechung neben Bus <strong>und</strong><br />
Regionalzug auch Schiffe, die<br />
Nach barorte im Fährverkehr<br />
verbinden – etwa die Fähre<br />
zwischen Borkum <strong>und</strong> Emden<br />
(BVerwG 27.9.2018 – 5 C 7.17).
aktuelles<br />
INFORMATIONSDIENST 12 | 2018<br />
5 Fragen zu den Kosten der SBV<br />
WICHTIG<br />
Kostentragungspflicht<br />
bedeutet<br />
nicht, dass der<br />
Arbeit geber in<br />
jedem Fall vor einer<br />
Ausgabe zustimmen<br />
muss. Im Zweifel<br />
<strong>und</strong> vor allem bei<br />
ungewöhnlichen<br />
Aufwendungen sollten<br />
Sie sich zuvor<br />
mit dem Arbeitgeber<br />
abstimmen.<br />
HINWEIS<br />
Der Auftrag an<br />
einen Rechtsanwalt,<br />
Ansprüche der SBV<br />
gerichtlich durchzusetzen,<br />
bedarf<br />
kei ner Zustimmung<br />
des Arbeitgebers.<br />
Sie dürfen das Verfahren<br />
darf nur nicht<br />
mutwillig oder ohne<br />
Aussicht auf Erfolg<br />
einleiten (siehe<br />
dazu auch den Tipp<br />
auf S. 6).<br />
kostenübernahme Der Arbeitgeber oder Dienstherr muss die durch die Arbeit der<br />
SBV entstehenden Kosten tragen. Aber Vorsicht! Nicht alle Kosten sind erforderlich.<br />
Hier lesen Sie, worauf Sie achten müssen.<br />
1. Welche Kosten trägt der Arbeitgeber?<br />
Der Arbeitgeber hat die erforderlichen Kosten<br />
der SBV zu tragen (§ 179 Abs. 8 SGB IX).<br />
Das bedeutet, die Vertrauensperson der<br />
schwerbehinderten Menschen muss jede<br />
Ausgabe vorab einschätzen. Wann sie Kosten<br />
(etwa für Schulungen, Sachmittel etc.) für erforderlich<br />
halten darf, lässt sich mit einigen<br />
Kontrollfragen beantworten.<br />
kontrollfragen<br />
··<br />
Fallen die Kosten durch Wahrnehmen<br />
einer gesetzlichen Aufgabe der SBV an?<br />
··<br />
Ist die kostenpflichtige Maßnahme<br />
geeignet, die Aufgabe zu fördern?<br />
··<br />
Lässt sich die Aufgabe auf eine günstigere<br />
Weise ebenso wirksam erfüllen?<br />
··<br />
Unter Betrachtung aller Umstände:<br />
Ist der Kostenaufwand noch verhältnismäßig<br />
für das Ziel der Maßnahme?<br />
2. Gibt es eine Aufwandsentschädigung?<br />
Ja, bei öffentlichen Arbeitgebern kann der<br />
Vertrauensperson eine Pauschale zustehen.<br />
Mit Wirkung ab dem 30.12.2016 gelten für<br />
öffentliche Arbeitgeber im Verhältnis zur<br />
SBV »die Kostenregelungen für Personalvertretungen<br />
entsprechend« (§ 179 Abs. 8 S. 1,<br />
2. Halbsatz SGB IX). Haben vollständig freigestellte<br />
Personalratsmitglieder Anspruch auf<br />
eine monatliche Pauschale, besteht dieser<br />
auch für die SBV. Den Anspruch gewährt eine<br />
Verordnung nach dem B<strong>und</strong>espersonalvertretungsgesetz<br />
(BPersVG) oder dem des jeweiligen<br />
Landes.<br />
3. Muss die SBV Reisekosten vorleisten?<br />
Nein. Der Vertrauensperson dürfen weder Vornoch<br />
Nachteile entstehen. Daher kann sie<br />
für voraussichtlich erforderliche Kosten vom<br />
Arbeit geber einen angemessenen Vorschuss<br />
verlangen.<br />
4. Was gilt für Sachverständige?<br />
Die Inanspruchnahme eines Sachverständigen<br />
ist erlaubt, sofern sie erforderlich ist. Die SBV<br />
muss aber zuvor alle internen Möglichkeiten<br />
ausschöpfen, z.B. sachverständige Stellen im<br />
Betrieb oder der Dienststelle. Ebenso muss sie<br />
zuvor versuchen, offene Fragen mithilfe der<br />
Rehabilitationsträger, dem Integrationsamt<br />
oder der B<strong>und</strong>esagentur für Arbeit zu klären.<br />
Reichen diese Informationsquellen nicht aus,<br />
kann die SBV verlangen, dass der Arbeitgeber<br />
mit ihr vereinbart, einen Sachverständigen zu<br />
beauftragen. Verweigert der Arbeitgeber eine<br />
solche Vereinbarung, kann die SBV seine Zustimmung<br />
gerichtlich ersetzen lassen.<br />
5. Welche Gerichte sind zuständig?<br />
EXPERTENRAT<br />
Ob es für die Höhe<br />
der SBV-Pauschale<br />
in NRW nur auf die<br />
Anzahl der schwerbehinderten<br />
<strong>und</strong><br />
gleichgestellten<br />
Beschäftigten<br />
ankommt, wird die<br />
Recht sprechung<br />
noch klären müssen.<br />
diese pauschalen gibt es<br />
··<br />
B<strong>und</strong>: 26 Euro im Monat<br />
··<br />
Rheinland-Pfalz: 30 Euro im Monat<br />
··<br />
Nordrhein-Westfalen: Von 51,20 EUR<br />
bis 2556,50 EUR jährlich (gestaffelt<br />
nach der Anzahl der Beschäftigten in<br />
der Dienststelle)<br />
Anmerkung: Nach der in NRW geltenden<br />
Verordnung dient die Pauschale vor allem<br />
zum Abdecken von Repräsentationskosten<br />
(z. B. Bewirtungen <strong>und</strong> Geschenke).<br />
Bei einem Rechtsstreit über die Kosten der<br />
Arbeit der SBV entscheiden ausschließlich die<br />
Arbeitsgerichte im Beschlussverfahren (§ 2a<br />
Abs. 1 Nr. 3a ArbGG). Rechtsprechung <strong>und</strong><br />
herrschende Meinung im Schrifttum sind sich<br />
einig, dass diese Zuständigkeitsnorm entsprechend<br />
auch für die Kosten der SBV gilt (BAG<br />
30.3.2010 – 7 AZB 32/09). Die Zuständigkeit<br />
besteht unabhängig davon, ob es sich um die<br />
SBV in einem Betrieb der Privatwirtschaft<br />
oder in einer Dienststelle handelt. v<br />
Sigrid Britschgi,<br />
Fachanwältin für Arbeitsrecht, Düsseldorf.<br />
2
INFORMATIONSDIENST 12 | 2018<br />
kündigung<br />
Kündigung – Wer macht was?<br />
beteiligung Will der Arbeitgeber Beschäftigte entlassen, für die Sie als SBV zuständig<br />
sind, müssen Sie schnell reagieren – <strong>und</strong> wissen, was der zuständige Betriebsrat oder<br />
Personalrat zu tun hat. Hier erhalten Sie einen Überblick über das Verfahren.<br />
Als Vertrauensperson der schwerbehinderten<br />
Menschen muss der Arbeitgeber Sie zwingend<br />
anhören, wenn er beabsichtigt, einem<br />
schwerbehinderten Menschen oder Gleichgestellten<br />
zu kündigen. Nach der Neuregelung<br />
durch das B<strong>und</strong>esteilhabegesetz (BTHG) ist<br />
die Kündigung sogar unwirksam, wenn die<br />
Beteiligung unterblieben ist (§ 178 Abs. 2<br />
SGB IX). Um dem Betroffenen bestmöglich<br />
zu helfen, müssen Sie mit dem zuständigen<br />
Betriebs- oder Personalrat zusammenarbeiten<br />
– <strong>und</strong> deren Beteiligungsrechte kennen.<br />
Pflicht zur Beteiligung<br />
Der Arbeitgeber oder Dienstherr muss die<br />
zuständigen Interessenvertretungen bei jeder<br />
Art von Kündigung beteiligen:<br />
• Ordentliche (fristgerechte) <strong>und</strong> außerordentliche<br />
(fristlose) Kündigungen<br />
• Änderungskündigungen<br />
• Kündigungen innerhalb der Warte- bzw.<br />
Probezeit von sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses<br />
Beim Beteiligungsverfahren gelten aber für<br />
jede Interessenvertretung unterschiedliche<br />
Voraussetzungen.<br />
Rechte des Betriebsrats<br />
Betriebsräte sind vor Ausspruch einer Kündigung<br />
anzuhören, sonst ist diese unwirksam<br />
(§ 102 Abs. 1 BetrVG). Bei einer ordentlichen<br />
Kündigung oder Änderungskündigung muss<br />
das Gremium dem Arbeitgeber seine Bedenken<br />
innerhalb einer Woche mitteilen, schriftlich<br />
<strong>und</strong> unter Angabe der Gründe. Bei einer<br />
außerordentlichen Kündigung verkürzt sich<br />
die Frist auf drei Tage (§ 102 Abs. 2 BetrVG).<br />
Kann der Betriebsrat der Kündigung aus einem<br />
im Gesetz genannten Gr<strong>und</strong> (§ 102<br />
Abs. 3 BetrVG) widersprechen, hilft das dem<br />
betroffenen Beschäftigten im Kündigungsschutzprozess:<br />
Er kann einen sogenannten<br />
besonderen Weiterbeschäftigungsantrag stellen<br />
(§ 102 Abs. 5 BetrVG). Ist der Antrag<br />
erfolgreich, muss der Arbeitgeber ihn auch<br />
nach Ablauf der Kündigungsfrist bis zum<br />
rechtskräftigen Abschluss des Gerichtsverfahrens<br />
weiterbeschäftigen. Weder dieser Widerspruch<br />
noch das Erheben von Bedenken<br />
hindern den Arbeitgeber allerdings daran, die<br />
Kündigung nach Anhörung des Betriebsrats<br />
erst einmal auszusprechen.<br />
definition<br />
Zustimmungsverfahren<br />
Bei einem schwerbehinderten oder<br />
gleichgestellten Beschäftigten muss der<br />
Arbeitgeber die Zustimmung des Integrationsamts<br />
einholen, bevor er die Kündigung<br />
ausspricht (§ 168 SGB IX). Der Arbeitgeber<br />
kann wählen, ob er den Betriebsrat<br />
anhört, bevor er das Integrationsamt einschaltet<br />
oder nachdem das Integrationsamt<br />
der Kündigung zugestimmt hat.<br />
Rechte des Personalrats<br />
Ist ein Personalrat zuständig, richtet sich<br />
seine Beteiligung nach dem jeweils einschlägigen<br />
Personalvertretungsgesetz des B<strong>und</strong>es<br />
(BPersVG) oder der Länder (LPVG). Ein Beispiel<br />
ist das LPVG für Nordrhein-Westfalen<br />
(LPVG NRW): Bei ordentlichen Kündigungen<br />
bestimmt der Personalrat mit, bei außerordentlichen<br />
Kündigungen ist er anzuhören<br />
(§ 74 Abs. 1, 2 <strong>und</strong> 5 LPVG NRW). Ohne<br />
die Beteiligung ist die Kündigung unwirksam<br />
(§ 74 Abs. 3 LPVG NRW).<br />
Die Anhörungsfristen betragen in NRW<br />
in der Regel zwei Wochen bei einer ordentlichen<br />
Kündigung, drei Arbeitstage bei einer<br />
außerordentlichen Kündigung oder bei einer<br />
Kündigung innerhalb der Probezeit.<br />
Nach den Bestimmungen des BPersVG<br />
muss der Personalrat seine Einwendungen<br />
gegen eine ordentliche Kündigung innerhalb<br />
von zehn Arbeitstagen dem Dienststellenleiter<br />
mitteilen, sonst gilt seine Billigung als erteilt<br />
(§ 72 Abs. 2 BPersVG).<br />
Für die Beteiligung aller Personalräte gilt<br />
wie beim Betriebsrat: Beabsichtigt der Arbeit-<br />
EXPERTENRAT<br />
Der gesetzliche<br />
Kündigungsschutz<br />
beginnt, wenn das<br />
Arbeitsverhältnis<br />
länger als sechs<br />
Monate besteht (§ 1<br />
KSchG). Können sich<br />
Beschäftigte (noch)<br />
nicht auf das KSchG<br />
berufen, sind Formfehler<br />
bei der Anhörung<br />
ein wichtiger<br />
Angriffs punkt gegen<br />
die Kündigung.<br />
WICHTIG<br />
In den ersten sechs<br />
Monaten braucht<br />
der Arbeitgeber<br />
keine Zustimmung<br />
des Integrationsamts,<br />
um schwerbehinderten<br />
Beschäftigten zu<br />
kündigen (§ 173<br />
Abs. 1 SGB IX). Die<br />
SBV muss er dennoch<br />
vor Ausspruch<br />
der Kündigung<br />
anhören, sonst ist<br />
diese unwirksam!<br />
HINWEIS<br />
Für die Anhörungsfrist<br />
des Betriebsrats<br />
von drei Tagen<br />
zählen Kalendertage,<br />
nicht Arbeitstage!<br />
Erfolgt die Anhörung<br />
des Betriebsrats z.B.<br />
an einem Freitag,<br />
läuft die Frist zur<br />
Stellungnahme am<br />
folgenden Montag<br />
(24.00 Uhr) ab.<br />
3
kündigung<br />
INFORMATIONSDIENST 12 | 2018<br />
HINWEIS<br />
Mehr zum Zeitpunkt<br />
der Anhörung der<br />
SBV lesen Sie in der<br />
Besprechung des<br />
Urteils des ArbG<br />
Hagen (6.3.2018 –<br />
5 Ca 1902/17) in<br />
diesem Heft auf S. 8.<br />
WICHTIG<br />
Unterrichtet der<br />
Arbeitgeber Sie<br />
von der geplanten<br />
außerordentlichen<br />
Kündigung<br />
eines Mitarbeiter,<br />
umfasst dies nicht<br />
automatisch auch<br />
die ordentliche<br />
Kündigung. Kündigt<br />
der Arbeitgeber<br />
hilfsweise ordentlich,<br />
ohne die SBV<br />
auch dazu anzuhören,<br />
kann diese<br />
Kündigung unwirksam<br />
sein.<br />
EXPERTENRAT<br />
Teilen Sie als SBV<br />
dem Arbeitgeber<br />
vorsorglich mit, dass<br />
Sie eine (schriftliche)<br />
Stellungnahme<br />
abgeben<br />
wollen. Solange<br />
die Anhörungsfrist<br />
läuft, kann der<br />
Arbeitgeber weder<br />
die Zustimmung des<br />
Integrationsamts<br />
einholen noch die<br />
Kündigung aussprechen.<br />
geber, einen schwerbehinderten oder gleichgestellten<br />
Beschäftigten zu kündigen, muss<br />
das Integrationsamt vorher zustimmen (§ 168<br />
SGB IX). Auch hier kann der Arbeitgeber<br />
den Personalrat vor Einschalten des Integrationsamts<br />
anhören oder nachdem dieses seine<br />
Zustimmung erteilt hat.<br />
Anhörung der SBV<br />
Für die Anhörung der SBV bestehen auf den<br />
ersten Blick keine ausdrücklichen formalen<br />
Anforderungen (§ 178 Abs. 2 S. 1 <strong>und</strong> 3<br />
SGB IX). Das B<strong>und</strong>esarbeitsgericht (BAG)<br />
hat noch keine richtungsweisende verbindliche<br />
Entscheidung über das formale Verfahren<br />
getroffen. Nach überwiegender Auffassung<br />
gelten aber die folgenden Voraussetzungen.<br />
handlungspflichten<br />
Der Arbeitgeber muss drei Handlungspflichten<br />
erfüllen: Er muss<br />
··<br />
die SBV vor Ausspruch der Kündigung unverzüglich<br />
<strong>und</strong> umfassend unterrichten;<br />
··<br />
die SBV vor seiner Entscheidung anhören;<br />
··<br />
der SBV die getroffene Entscheidung<br />
unverzüglich mitteilen.<br />
Fristen für die Stellungnahme<br />
§ 178 Abs. 2 SGB IX bestimmt nicht, wie viel<br />
Zeit der Arbeitgeber der SBV für eine Stellungnahme<br />
zur beabsichtigten Kündigung einräumen<br />
muss. Nach einhelliger Auffassung muss<br />
der SBV aber genauso viel Zeit verbleiben, wie<br />
der jeweiligen weiter beteiligten Interessenvertretung,<br />
also dem Betriebs- oder Personalrat.<br />
SBV vor Integrationsamt<br />
Anders als beim Betriebs- oder Personalrat<br />
hat der Arbeitgeber keine Wahl, ob er die<br />
Vertrauensperson informiert, bevor oder<br />
nachdem er die Zustimmung des Integrationsamts<br />
zur Kündigung beantragt. Er muss<br />
die SBV zwingend vor dem Antrag an das<br />
Integrationsamt unterrichten <strong>und</strong> anhören.<br />
Stimmt das Integrationsamt nur unter Auflagen<br />
oder Bedingungen zu, muss der Arbeitgeber<br />
die SBV ein weiteres Mal anhören.<br />
Außerdem muss er die SBV unterrichten,<br />
sobald die Zustimmung erteilt ist <strong>und</strong> der<br />
Ausspruch der Kündigung bevorsteht. Nur<br />
bei einer außerordentlichen Kündigung darf<br />
der Arbeitgeber die SBV zeitgleich mit dem<br />
Arbeitnehmer unterrichten, da er die außerordentliche<br />
Kündigung unverzüglich aussprechen<br />
muss, wenn das Integrationsamt<br />
zugestimmt hat.<br />
inhalt der anhörung<br />
Der Arbeitgeber muss jeder Interessenvertretung<br />
diese Informationen geben:<br />
··<br />
Angaben zur Person des zu Kündigenden<br />
··<br />
Angaben zum besonderen Kündigungsschutz<br />
(Grad der Behinderung, Gleichstellungsbescheid)<br />
··<br />
Kündigungsart (ordentliche, außerordentliche,<br />
außerordentliche mit<br />
sozialer Auslauffrist, Änderungs- oder<br />
Beendigungskündigung)<br />
··<br />
Kündigungsgründe<br />
··<br />
Kündigungsfrist <strong>und</strong> Kündigungstermin<br />
Umfassende Information<br />
Die Information zum Kündigungssachverhalt<br />
muss so umfassend sein, dass sich die Vertrauensperson<br />
ohne eigene Nachforschungen<br />
eine Meinung bilden kann, ob die Kündigungsgründe<br />
plausibel sind. Der Arbeitgeber<br />
muss dabei die Umstände mitteilen, die seine<br />
Kündigungsabsicht tatsächlich bestimmt haben<br />
(sogenannte subjektive Determinierung).<br />
Für die Anhörung ist keine Schriftform vorgeschrieben.<br />
Da den Arbeitgeber aber die Darlegungs-<br />
<strong>und</strong> Beweislast trifft, wird er ohne<br />
eine schriftliche Information im Kündigungsschutzprozess<br />
nicht belegen können, dass er<br />
die Interessenvertretung ordnungsgemäß angehört<br />
hat.<br />
Gespräch mit dem Betroffenen<br />
Der Arbeitgeber ist – mit Ausnahme der<br />
sogenannten Verdachtskündigung – nicht<br />
verpflichtet, den Arbeitnehmer vor der Kündigung<br />
anzuhören. SBV, Betriebs- <strong>und</strong> Personalrat<br />
sollten den Betroffenen in jedem Fall<br />
persönlich anhören. Für den Betriebsrat ist<br />
dies im Gesetz vorgesehen (§ 102 Abs. 2 S. 4<br />
BetrVG). Auch Personalvertretungsgesetze<br />
enthalten vielfach diese Option (z.B. § 74<br />
Abs. 4 LPVG NRW). Für die Vertrauensperson<br />
besteht keine ausdrückliche Regelung.<br />
Praktisch ist aber eine sinnvolle Stellungnahme<br />
der SBV nur nach einem Gespräch mit<br />
dem betroffenen Beschäftigten möglich.<br />
4
INFORMATIONSDIENST 12 | 2018<br />
kündigung<br />
Wichtige Punkte für das Gespräch<br />
Im Fall einer krankheitsbedingten Kündigung<br />
sollte die Vertrauensperson mit dem Beschäftigten<br />
darüber sprechen, welche ges<strong>und</strong>heitlichen<br />
Einschränkungen er hat, wie die ärztliche<br />
Prognose aussieht <strong>und</strong> welche Hilfen<br />
alternativ zum Verlust seines Arbeits platzes<br />
in Betracht kommen. Vor einer Änderungskündigung<br />
ist im Gespräch zu klären, wie<br />
der Beschäftigte reagieren sollte: Dieser kann<br />
die Änderung der Arbeitsbedingungen annehmen,<br />
sie ablehnen oder »unter Vorbehalt der<br />
rechtlichen Überprüfung« annehmen. Bei<br />
einer betriebsbedingten Kündigung kann die<br />
Vertrauensperson nur durch Rücksprache mit<br />
dem Beschäftigten erklären, ob einer der gesetzlich<br />
vorgesehenen Widerspruchsgründe<br />
eingreift. v<br />
Sigrid Britschgi,<br />
Fachanwältin für Arbeitsrecht, Düsseldorf.<br />
Stellungnahme der SBV zur beabsichtigten ordentlichen<br />
Kündigung (Musterschreiben)<br />
SBV der Firma Mustermann<br />
An die Geschäftsleitung<br />
Firma Mustermann<br />
arbeitshilfe<br />
Ort, Datum<br />
WICHTIG<br />
Klären Sie mit dem<br />
Beschäftigten immer<br />
seine sozialen<br />
Umstände. Kennt<br />
der Arbeitgeber alle<br />
Unterhaltspflichten?<br />
Von Kindern<br />
wissen Betriebe<br />
oft nur, wenn ein<br />
Freibetrag für die<br />
Lohnsteuer eingetragen<br />
ist. Auch<br />
eine Unterhaltspflicht<br />
gegenüber<br />
pflegebedürftigen<br />
Eltern ist relevant.<br />
Stellungnahme zur beabsichtigten Kündigung des/der Mitarbeiter-/in Herrn/Frau ....<br />
Sehr geehrte Damen <strong>und</strong> Herren,<br />
Sie haben die Schwerbehindertenvertretung mit Scheiben vom ... davon unterrichtet, dass<br />
Sie beabsichtigen, beim Integrationsamt die Zustimmung zur ordentlichen Kündigung von<br />
Herrn/Frau ... zu beantragen. Als Vertrauensperson habe ich gegen diesen Antrag folgende<br />
Einwände: Herr/Frau ist seit dem ... in unserem Betrieb als ... beschäftigt. Er/Sie hat einen Grad<br />
der Behinderung von ... Die Behinderung stand bisher der ordnungsgemäßen Erfüllung seiner/<br />
ihrer arbeitsvertraglichen Pflichten nicht entgegen.<br />
Gegen die von Ihnen mitgeteilten Gründe für die Kündigung erhebe ich folgende Einwände:<br />
Betriebsbedingte Kündigungsgründe<br />
··<br />
Nicht oder nicht ausreichende Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte<br />
··<br />
Weiterbeschäftigungsmöglichkeit an einem anderen Arbeitsplatz<br />
··<br />
Weiterbeschäftigungsmöglichkeit nach Umschulungs- oder Fortbildungsmaßnahmen<br />
··<br />
Weiterbeschäftigung zu geänderten Bedingungen<br />
··<br />
…<br />
Personen(krankheits)bedingte Kündigungsgründe<br />
··<br />
Positive Prognose hinsichtlich der ges<strong>und</strong>heitlichen Entwicklung<br />
··<br />
Betriebliches Eingliederungsmanagement nicht (ordnungsgemäß) durchgeführt<br />
··<br />
Mögliche Hilfen am Arbeitsplatz (z.B. ges<strong>und</strong>heitsfördernde Arbeitsmittel)<br />
··<br />
Finanzielle Fördermittel nicht geprüft<br />
··<br />
…<br />
Verhaltensbedingte Kündigungsgründe<br />
··<br />
Unzutreffende Darstellung des Sachverhalts<br />
··<br />
Unverhältnismäßigkeit einer Kündigung (Abmahnung als milderes Mittel)<br />
··<br />
…<br />
Aus diesen Gründen spreche ich mich als SBV gegen Ihren geplanten Antrag an das Integrationsamt<br />
auf Zustimmung zur Kündigung aus.<br />
Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen<br />
(Unterschrift Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen)<br />
Diese Arbeitshilfe finden Sie online unter: www.sui-web.de<br />
HINWEIS<br />
Führen Sie in der<br />
Stellungnahme Ihre<br />
Bedenken nicht nur<br />
schlagwortartig auf,<br />
sondern fassen Sie<br />
diese konkret, etwa:<br />
»Auf dieser Stelle,<br />
Abteilung könnten<br />
Sie den Mitarbeiter<br />
weiter beschäftigen«<br />
HINWEIS<br />
Das Integrations amt<br />
holt zur Kündigung<br />
auch Ihre Stellungnahme<br />
als SBV<br />
ein (§ 170 Abs. 2<br />
SGB IX). Sie können<br />
dabei noch ergänzen,<br />
ob der Arbeitgeber<br />
die Beschäftigungsquote<br />
für<br />
Schwerbehinderte<br />
einhält.<br />
5
aktuelles<br />
INFORMATIONSDIENST 12 | 2018<br />
Die <strong>Inklusion</strong>svereinbarung<br />
mitbestimmung SBV, Betriebs- <strong>und</strong> Personalrat können mit dem Arbeitgeber Vereinbarungen<br />
zugunsten der Beschäftigten treffen. Hier lesen Sie wie sich <strong>Inklusion</strong>s-,<br />
Betriebs- <strong>und</strong> Dienstvereinbarung rechtlich unterscheiden.<br />
DOWNLOAD<br />
In klu sionsvereinbarungen<br />
aus<br />
verschiedenen<br />
Branchen finden<br />
Sie unter www.reh<br />
adat-gutepraxis. de<br />
> <strong>Inklusion</strong>svereinbarungen.<br />
Achtung:<br />
Bis zum Jahr 2016<br />
getroffene Regelungen<br />
verwenden noch<br />
den alten Begriff<br />
»Integrationsvereinbarung«.<br />
WICHTIG<br />
Bitten Sie das<br />
Integrations amt um<br />
Vermittlung, bevor<br />
Sie das Arbeitsgericht<br />
einschalten.<br />
Sonst könnte<br />
der Arbeitgeber<br />
im Kosten streit<br />
behaupten, die SBV<br />
hätte nicht alle<br />
Möglichkeiten ausgeschöpft,<br />
Kosten<br />
für einen Rechtsstreit<br />
zu vermeiden.<br />
1. Beteiligte der Vereinbarungen<br />
Mit der <strong>Inklusion</strong>svereinbarung sollen der Arbeitgeber,<br />
die SBV sowie Betriebs- oder Personalrat<br />
für ihren Betrieb oder ihre Dienststelle<br />
<strong>Inklusion</strong>s- <strong>und</strong> Rehabilitationsziele festlegen<br />
<strong>und</strong> verfolgen (§ 166 SGB IX). Das Recht zum<br />
Einleiten der Verhandlungen (Initiativrecht)<br />
steht zuerst der SBV zu (§ 166 Abs. 1 S. 2<br />
SGB IX). Besteht keine SBV, liegt das Antragsrecht<br />
beim Betriebs- oder Personalrat (§ 166<br />
Abs. 1 S. 3 SGB IX). Partner der Betriebsvereinbarungen<br />
sind ausschließlich Arbeitgeber<br />
<strong>und</strong> Betriebsrat (§ 77 BetrVG). Gleiches gilt<br />
für Dienstvereinbarungen, die der Personalrat<br />
mit der Dienststelle verhandelt <strong>und</strong> abschließt<br />
(§ 73 BPersVG <strong>und</strong> entsprechendes Landesrecht).<br />
Die SBV kann nicht Partei einer Betriebs-<br />
oder Dienstvereinbarung sein.<br />
integrationsamt vermittelt<br />
Bei <strong>Inklusion</strong>svereinbarungen ist das Integrationsamt<br />
beteiligt. Arbeitgeber oder<br />
SBV können das Amt zur Teilnahme an den<br />
Verhandlungen einladen (§ 166 Abs. 1 S. 4<br />
SGB IX). Das Amt soll die Beteiligten beraten<br />
<strong>und</strong> bei unterschiedlichen Auffassungen<br />
vermitteln (§ 166 Abs. 1 S. 5 SGB IX).<br />
Unabhängig davon ist die fertige <strong>Inklusion</strong>svereinbarung<br />
an das zuständige Integrationsamt<br />
<strong>und</strong> die Agentur für Arbeit zu<br />
übermitteln (§ 166 Abs. 1 S. 6 SGB IX).<br />
2. Rechtsnatur der Vereinbarungen<br />
Betriebsvereinbarungen gelten unmittelbar<br />
<strong>und</strong> zwingend (§ 77 Abs. 4 BetrVG). Gleiches<br />
gilt für Dienstvereinbarungen. Das bedeutet,<br />
ihre normativen Regelungen gelten wie ein<br />
Gesetz für die Arbeits- <strong>und</strong> Dienstverhältnisse<br />
der Beschäftigten im Betrieb oder auf der<br />
Dienststelle, ohne dass dies im Arbeitsvertrag<br />
steht. Auch wenn der Betriebs- bzw. Personalrat<br />
sie mit dem Arbeitgeber abschließt,<br />
könnten sich einzelne Beschäftigte für ihre<br />
Rechte direkt auf die Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung<br />
berufen, um ihre Ansprüche<br />
durchzusetzen. Die Rechtsnatur der <strong>Inklusion</strong>svereinbarung<br />
ist umstritten. Zum Teil wird<br />
die Auffassung vertreten, es handele sich um<br />
eine Betriebsvereinbarung oder eine Regelungsabrede.<br />
Überwiegend wird die <strong>Inklusion</strong>svereinbarung<br />
jedoch als »kollektiver Vertrag<br />
eigener Art« angesehen (LAG Frankfurt<br />
17.1.2012 – 15 Sa 549/12). Im Gegensatz zur<br />
Betriebsvereinbarung bestimmt § 166 SGB IX<br />
jedenfalls nicht, dass die <strong>Inklusion</strong>svereinbarung<br />
unmittelbare <strong>und</strong> zwingende Wirkung<br />
hätte. Ein schwerbehinderter Beschäftigter<br />
kann allenfalls dann Ansprüche aus einer<br />
<strong>Inklusion</strong>svereinbarung ableiten, wenn diese<br />
eine ausdrückliche Regelung beinhaltet.<br />
3. Durchsetzen der Vereinbarung<br />
Der Arbeitgeber ist zwar auf Antrag der SBV<br />
verpflichtet, über Inhalte einer <strong>Inklusion</strong>svereinbarung<br />
zu verhandeln. Aber den Abschluss<br />
selbst kann die SBV – im Gegensatz<br />
zum Betriebsrat – nicht erzwingen. Nur ihren<br />
Verhandlungsanspruch kann sie gerichtlich<br />
durchsetzen. Zuständig ist dafür das<br />
Arbeitsge richt (LAG Köln 3.5.2005 – 9 TaBV<br />
76/04). Weigert sich der Arbeitgeber, eine<br />
<strong>Inklusion</strong>svereinbarung abzuschließen, stellt<br />
dies keine Ordnungswidrigkeit im Sinne von<br />
§ 238 SGB IX dar. v<br />
ziele abstimmen<br />
Sprechen Sie Ihre Ziele mit dem Betriebsrat<br />
ab! Dieser hat Mitbestimmungsrechte<br />
bei Ordnung <strong>und</strong> Verhalten im Betrieb <strong>und</strong><br />
beim Arbeits- <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsschutz (§ 87<br />
Abs. 1 Nr. 1 <strong>und</strong> 7 BetrVG). Verweigert der<br />
Arbeitgeber in solchen Fragen eine <strong>Inklusion</strong>svereinbarung,<br />
ist auch eine erzwingbare<br />
Betriebsvereinbarung möglich.<br />
Sigrid Britschgi,<br />
Fachanwältin für Arbeitsrecht, Düsseldorf.<br />
6
INFORMATIONSDIENST 12 | 2018<br />
rechtsprechung<br />
Was das Integrationsamt prüft<br />
VG Bayreuth, 17.8.2017 – B 3 K 16.346<br />
kündigung Das Integrationsamt kann die Zustimmung zu einer außerordentlichen<br />
Kündigung nicht verweigern, weil ein Zusammenhang zwischen Behinderung <strong>und</strong><br />
Kündigung möglich ist. Das Amt muss diesen Zusammenhang im Einzelfall ermitteln.<br />
Die betroffene Arbeitnehmerin hat einen<br />
Grad der Behinderung von 50. Sie war Vertrauensperson<br />
der schwerbehinderten Menschen.<br />
Die Arbeitgeberin warf ihr vor, sie<br />
mehrfach unberechtigt wegen Ordnungswidrigkeiten<br />
bei der Agentur für Arbeit angezeigt<br />
zu haben. Der zuständige Betriebsrat<br />
stimmte der Kündigung zu, der Stellvertreter<br />
der Vertrauensperson hatte widersprochen.<br />
Die Arbeitgeberin beantragte beim Integrationsamt,<br />
der außerordentlichen Kündigung<br />
der Arbeitnehmerin wegen betrieblichen<br />
Fehlverhaltens zuzustimmen. Das Integrationsamt<br />
versagte seine Zustimmung. Im Bescheid<br />
führte das Integrationsamt aus, es sei<br />
nicht auszuschließen, dass die Kündigung<br />
im Zusammenhang mit der Behinderung der<br />
Arbeitnehmerin stehe. Dagegen legte die Arbeitgeberin<br />
Widerspruch ein, der mit Widerspruchsbescheid<br />
wurde. Die Arbeitgeberin<br />
erhob Klage gegen beide Bescheide. Sie beantragte<br />
beim Verwaltungsgericht (VG), das<br />
Integrationsamt zu verpflichten, der Kündigung<br />
zuzustimmen.<br />
Das sagt das Gericht<br />
Nach Ansicht des VG Bayreuth hat die Arbeitgeberin<br />
nur Anspruch auf einen neuen<br />
Bescheid, da das Verfahren noch nicht<br />
spruchreif ist. Das Gericht weist zunächst darauf<br />
hin, dass der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis<br />
eines schwerbehinderten Menschen<br />
nur kündigen kann, wenn das Integrationsamt<br />
zustimmt (§ 168 SGB IX). Erfolgt die<br />
Kündigung aus einem Gr<strong>und</strong>, der nicht mit<br />
der Behinderung in Zusammenhang steht,<br />
»soll« das Amt die Zustimmung erteilen<br />
(§ 174 Abs. 4 SGB IX). Das bedeutet, das Integrationsamt<br />
hat in dieser Frage Ermessen<br />
<strong>und</strong> muss es auch ausüben.<br />
Der Zusammenhang zwischen Behinderung<br />
<strong>und</strong> Kündigungsgr<strong>und</strong>, den § 174 Abs. 4<br />
SGB IX verlangt, ist als Teil des Fürsorgeprinzips<br />
zu verstehen. Der öffentlich-rechtliche<br />
Sonderkündigungsschutz ist – gerade bei außerordentlichen<br />
Kündigungen – nicht dazu<br />
bestimmt, den schwerbehinderten Menschen<br />
zu bevorzugen. Er dient allein zum Ausgleich<br />
behinderungsbedingter Nachteile.<br />
Das bedeutet die Entscheidung für Sie<br />
Im vorliegenden Fall war der Bescheid an<br />
den Arbeitgeber rechtswidrig, weil das Integrationsamt<br />
ermessensfehlerhaft gehandelt<br />
<strong>und</strong> den für die Kündigung relevanten Sachverhalt<br />
unzureichend ermittelt hat. Stützt<br />
der Arbeitgeber die Kündigung auf ein (angebliches)<br />
Fehlverhalten <strong>und</strong> sieht das Integrationsamt<br />
dessen Ursachen auch in der<br />
Behinderung selbst, muss die Behörde den<br />
Zusammenhang zwischen der Behinderung<br />
<strong>und</strong> dem konkreten Fehlverhalten näher aufklären.<br />
Maßgeblich ist dabei, ob sich das Verhalten<br />
des betroffenen schwerbehinderten<br />
Menschen aus der Behinderung ergibt <strong>und</strong><br />
ein Zusammenhang zwischen dem vorgeworfenen<br />
Verhalten <strong>und</strong> der Behinderung nicht<br />
völlig fern liegt. Dem Verwaltungsvorgang<br />
ließ sich nicht entnehmen, ob das Integrationsamt<br />
diese Fragen selbst ermittelt hat. Das<br />
muss die Behörde nun in einem neuen Verfahren<br />
tun. v<br />
hintergr<strong>und</strong><br />
Die Vertrauensperson der schwerbehinderten<br />
Menschen besitzt den gleichen<br />
Kündigungsschutz wie ein Mitglied des<br />
Betriebsrats (§ 179 Abs. 3 SGB IX). Das<br />
bedeutet, dass der Betriebsrat im Falle<br />
der außerordentlichen Kündigung zustimmen<br />
muss (§ 103 Abs. 1 BetrVG). Das<br />
BAG hat bestätigt, dass es auch bei der<br />
Vertrauensperson auf die Zustimmung des<br />
Betriebsrats ankommt, nicht auf die der<br />
SBV (BAG 19.7.2012 – 2 AZR 989/11).<br />
Stelios Tonikidis,<br />
Jurist mit Schwerpunkt Arbeitsrecht, Mannheim.<br />
HINTERGRUND<br />
Spruchreife bedeutet<br />
in Gerichtsverfahren,<br />
dass der Sachverhalt<br />
nicht weiter aufgeklärt<br />
werden muss<br />
<strong>und</strong> das Gericht<br />
abschließend entscheiden<br />
kann (§ 113<br />
VwGO). Da der Sachverhalt<br />
hier noch<br />
nicht aufge klärt war,<br />
muss das Integrationsamt<br />
das Verfahren<br />
neu führen.<br />
EXPERTENRAT<br />
Das Integrationsamt<br />
prüft nicht, ob eine<br />
Kündigung arbeitsrechtlich<br />
zulässig ist;<br />
das ist Aufgabe der<br />
Arbeitsgerichte. Mit<br />
einer Ausnahme:<br />
Drängt sich jedem<br />
K<strong>und</strong>igen auf, dass<br />
die Kündigung<br />
unwirksam sein<br />
muss, kann das Amt<br />
den Antrag, ohne<br />
Zusammenhang mit<br />
der Behinderung<br />
ablehnen.<br />
HINWEIS<br />
Bestandteile dieser<br />
Ermittlungen des<br />
Integrationsamts<br />
können sein: Vorlage<br />
von ärztlichen<br />
Un ter lagen,<br />
Unterla gen, die der<br />
Fest stellung der<br />
Schwerbehinderung<br />
zugr<strong>und</strong>e lagen usw.<br />
7
echtsprechung recht-<br />
INFORMATIONSDIENST 12 | 2018<br />
sprechung<br />
8<br />
EXPERTENRAT<br />
Die Beteiligung<br />
des Betriebs- oder<br />
Personalrats darf<br />
zeitgleich oder<br />
später erfolgen,<br />
aber keinesfalls vor<br />
der Anhörung der<br />
SBV (mehr dazu<br />
auf S. 3 bis 4 dieser<br />
Ausgabe).<br />
GESETZ<br />
Der Arbeitgeber<br />
muss die SBV informieren,<br />
wenn er<br />
nach ihrer Anhörung<br />
eine Entscheidung<br />
getroffen hat (§ 178<br />
Abs. 2 S. 1 SGB IX).<br />
Nach bis heriger<br />
Rechtsprechung<br />
wird die Kündigung<br />
aber nicht unwirksam,<br />
wenn er dies<br />
unterlässt.<br />
HINWEIS<br />
Das Urteil ist noch<br />
nicht rechtskräftig.<br />
Die Berufung ist<br />
beim LAG Hamm<br />
unter dem Aktenzeichen<br />
15 Sa 426/18<br />
anhängig.<br />
Anhörung zur rechten Zeit<br />
ArbG Hagen, 6.3.2018 – 5 Ca 1902/17<br />
kündigung Der Arbeitgeber muss die SBV zur geplanten Kündigung eines schwerbehinderten<br />
Menschen anhören, bevor er den Antrag an das Integrationsamt stellt.<br />
Die Arbeitgeberin wollte der Klägerin, die<br />
einen GdB von 50 hat, im Rahmen einer<br />
Umorganisation eine Änderungskündigung<br />
aussprechen. Die Arbeitgeberin beantragte<br />
die dafür erforderliche Zustimmung beim Integrationsamt<br />
am 27.6.2017. Erst zwei Tage<br />
danach, am 29.6.2017, hörte die Arbeitgeberin<br />
die SBV zur beabsichtigten Kündigung an.<br />
Die Klägerin erhob Kündigungsschutzklage.<br />
Sie berief sich unter anderem auf eine fehlerhafte<br />
Anhörung der SBV.<br />
Das sagt das Gericht<br />
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Frist zum Jahresende gekündigt werden.<br />
Der Arbeitgeber hat die SBV zu spät angehört.<br />
Die Anhörung der SBV muss vor dem<br />
Antrag auf Zustimmung des Integrationsamts<br />
zur Kündigung erfolgen. Die Kündigung war<br />
bereits aus diesem Gr<strong>und</strong> rechtsunwirksam.<br />
Der Arbeitgeber muss die SBV in allen Angelegenheiten<br />
schwerbehinderter Menschen<br />
unverzüglich <strong>und</strong> umfassend unterrichten<br />
<strong>und</strong> vor einer Entscheidung anhören; er hat<br />
ihr die getroffene Entscheidung unverzüglich<br />
mitzuteilen (§ 178 Abs. 2 S. 1 SGB IX). Neu<br />
geregelt wurde mit dem B<strong>und</strong>esteilhabegesetz<br />
(BTHG) darüber hinaus, dass die Kündigung<br />
eines schwerbehinderten oder gleichgestellten<br />
Menschen unwirksam ist, wenn der Arbeitgeber<br />
die SBV nicht beteiligt hat (§ 178<br />
Abs. 2 S. 3 SGB IX). Sinn <strong>und</strong> Zweck der<br />
gesetzlichen Neuregelung sei, so das Arbeitsgericht,<br />
dass die SBV an der Willensbildung<br />
des Arbeitgebers vor Ausspruch der Kündigung<br />
mitwirken soll. Das kann sie nicht<br />
mehr, wenn der Arbeitgeber bereits zuvor den<br />
Antrag beim Integrationsamt gestellt hat <strong>und</strong><br />
damit der Willensbildungsprozess bereits verfestigt<br />
bzw. abgeschlossen ist.<br />
Der Arbeitgeber kann die unterbliebene<br />
Beteiligung der SBV auch nicht mehr nachholen.<br />
Nur Satz 2 von § 178 Abs. 2 SGB IX<br />
erlaubt die SBV nachträglich zu beteiligen,<br />
bevor der Arbeitgeber seine Entscheidung<br />
durchführt. Der neu eingefügte Satz 3 zur<br />
Anhörung bei Kündigungen verweist aber<br />
ausdrücklich nur auf Satz 1 von § 178 Abs. 2<br />
SGB IX, so dass der Arbeitgeber sein Versäumnis<br />
nicht mehr heilen kann.<br />
Das bedeutet die Entscheidung für Sie<br />
Die SBV sollte Beschäftigte immer darüber informieren,<br />
zu welchem Zeitpunkt sie angehört<br />
wurde <strong>und</strong> welche Angaben der Arbeitgeber<br />
gemacht hat. Der Arbeitnehmer kann dann<br />
entscheiden, wann er sich auf eine verspätete<br />
Anhörung der SBV beruft: Im Verfahren vor<br />
dem Integrationsamt oder erst später im Kündigungsschutzverfahren,<br />
falls das Integrationsamt<br />
der Kündigung zustimmt. v<br />
Sigrid Britschgi,<br />
Fachanwältin für Arbeitsrecht, Düsseldorf.<br />
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