08.03.2019 Aufrufe

Berliner Kurier 07.03.2019

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

*<br />

HINTERGRUND<br />

Berlin führtden<br />

Fortschritt ein<br />

Der Weltfrauentag am<br />

8. Märzist ab diesem<br />

Jahr ein offizieller Feiertag.<br />

Aber nur in Berlin,<br />

denn andere Bundesländer<br />

haltenoffenbar<br />

weniger vonEmanzipation.<br />

Für den<br />

Regierenden Michael<br />

Müller (SPD)ist der Tag<br />

eine Mahnung, „weiter<br />

für die Rechte der Frauen<br />

zu kämpfen“. Schon<br />

in der DDR wurde der<br />

Frauentag begangen,<br />

aber ein gesetzlicher<br />

Feiertagwar er auch<br />

dortnicht.<br />

Meine<br />

liebe<br />

Tochter,<br />

darum ist morgen ein<br />

wichtiger Tag für uns<br />

Brief an eine 3-Jährige: Wieeine KURIER-Redakteurin<br />

den neuen Feiertagerklärtund was andere<strong>Berliner</strong> sagen<br />

Liebe C,<br />

Von<br />

ANNE LENA MÖSKEN<br />

vielleicht wirst du mich in ein<br />

paar Jahrenfragen,was das für<br />

eine Zeit war, als Berlin den<br />

Frauentag zu einem Feiertag<br />

machte. Ich male mir aus, dass<br />

du diese Frage mit großen Augen<br />

stellst, weil du den Frauentag<br />

nur noch als Folklore<br />

kennst, als einen Tag, an dem<br />

wir Frauen zusammen losziehen,<br />

mit Bollerwagen und Bier,<br />

Welcher Frauentag?<br />

Dr. Peter Handschug<br />

fragt überrascht: „Ist der<br />

Frauentag jetzt wirklich<br />

zum Feiertag geworden?<br />

Ich habe jetzt nichts Besonderes<br />

geplant, weil ich<br />

gar nicht wusste, dass sie<br />

den Feiertag tatsächlich<br />

gesetzlich festgelegt<br />

haben.“ Trotzdem findet<br />

der 73-Jährige aus Tempelhof,<br />

dass auch alle anderen<br />

Bundesländer den<br />

Feiertag unbedingt übernehmen<br />

sollten.<br />

und die Männer am Wegesrand<br />

mit roten Nelken bewerfen.<br />

Leider sind gesellschaftliche<br />

Veränderungen selten in<br />

ein paar Jahrenzuhaben. Und<br />

die To-do-Liste in diesem<br />

Jahr, in dem Berlin den Frauentag<br />

zum Feiertag machte, ist<br />

lang.<br />

Aber davon weißt du noch<br />

nichts mit deinen drei Jahren.<br />

Wobei ich manchmal darüber<br />

erschrecke, wie früh Geschlechterfragen<br />

in das Leben<br />

eines Kindes drängen. Neulich<br />

saßt du vor deinem Kleiderschrank<br />

– da verbringen wir<br />

gerade viel Zeit, weil du darauf<br />

Gehenicht zur Demo<br />

Toni Gerisch (25) aus<br />

Rudow hat nicht vor, am<br />

8. März das Haus zu verlassen,<br />

um auf einer Demonstration<br />

für Gleichberechtigung<br />

mitzulaufen.<br />

Er sagt: „Ich habe einen<br />

großen Blumenstrauß für<br />

meine Freundin bestellt<br />

und schenke ihr am Frauentag<br />

noch mehr Aufmerksamkeit<br />

als sonst.<br />

Das wird zum Feiern des<br />

Frauentages erst einmal<br />

ausreichen.“<br />

bestehst, dich selbst anzuziehen<br />

–, draußengraues <strong>Berliner</strong><br />

Februarwetter,drinnen hieltst<br />

du das Kleid mit den Pailletten<br />

umklammert, das dir deine<br />

polnische Oma geschenkt hatte<br />

–ich wedelte mit der gemütlichen<br />

Cordhose. „Weißt du“,<br />

sagte ich schließlich verzweifelt,<br />

„früher durften die Frauen<br />

keine Hosen tragen!“ Du sahst<br />

mich fragend an. So kamen wir<br />

nicht weiter.<br />

Vielleicht ist es nicht so<br />

wichtig, ob du jeden Tag als<br />

Prinzessin in die Kita gehst,<br />

vielleicht zählt es mehr, dass<br />

du deinen eigenen Kopf hast.<br />

Sozialistische Idee<br />

„Ausschlafen und die<br />

Mutter anrufen ist schön<br />

und gut. Ich finde es aber<br />

auch wichtig, dass man<br />

den Hintergrund des<br />

Frauenkampftages<br />

kennt“, sagt Sozialarbeiter<br />

Reno Neumann (55)<br />

aus Lichtenberg. Er fragt<br />

sich, ob überhaupt allen<br />

Leuten bewusst ist, dass<br />

der Weltfrauentag ursprünglich<br />

von sozialistischen<br />

Organisationen<br />

initiiert wurde.<br />

Sowieso bin ich optimistisch,<br />

was deine Familie dir mitgeben<br />

kann, aus feministischer<br />

Perspektive. Deine polnische<br />

Großmutter hat immer gearbeitet,<br />

klar, so war das im sozialistischen<br />

Polen der 80er-<br />

Jahre. Deine deutschen Urgroßeltern<br />

hatten einen Friseursalon,<br />

und es war dein<br />

Urgroßvater, der mittags nach<br />

Hause ging, um für die Kinder<br />

zu kochen, weil deine Uroma<br />

mehr Kunden hatte. Was ich<br />

sagen will: In deiner Familie<br />

waren die Frauen noch nie nur<br />

Hausfrauen.<br />

Heute siehst du deinen Papa<br />

öfter die Wäsche aufhängen als<br />

mich; dafürkocheich und bringe<br />

dir bei, wie man Brötchenbackt –<br />

Backen ist schließlich Chemie,<br />

denke ich, und vielleicht sindNaturwissenschaften<br />

ja was für<br />

dich. Womit wir wieder beim<br />

Frauentag wären. Und da hört<br />

mein Optimismus auf. Ich kann<br />

dir nämlich zu Hause so viel<br />

Emanzipation vorleben, wie ich<br />

will, kann mir die Elternzeit fair<br />

teilen,die Kinderbetreuung, den<br />

Haushalt, kann dafür sorgen,<br />

dass neben deiner Kinderküche<br />

auch ein Werkzeugkoffer steht,<br />

dir Gute-Nacht-Geschichten<br />

überstarkeFrauen vorlesen, und<br />

dann betrittst du die Welt da<br />

draußen und egal wie schlau,<br />

egalwie fleißigdubist, gegen die<br />

Statistikanzuleben ist so unfassbar<br />

anstrengend! Ich erspare dir<br />

die Zahlen, wie viele Frauen in<br />

naturwissenschaftlichen Studiengängen<br />

ausgebildet werden.<br />

Oder Unternehmen gründen.<br />

OderinParlamenten sitzen.<br />

Gutes Stichwort! Lass mich<br />

dir eine Anekdote aus dem<br />

Jahr 2019 erzählen, aus der<br />

Debatte im <strong>Berliner</strong> Abgeordnetenhaus<br />

zum neuen Feiertag.<br />

Ines Schmidt von der Linken<br />

stand am Rednerpult und<br />

sprach darüber, dass sie dafür<br />

sei, dass Parlamente in Zukunft<br />

zu gleichen Teilen mit<br />

Männern und Frauen besetzt<br />

werden.<br />

Zwischenruf von rechts, wo<br />

die AfD sitzt, mit einem Frauenanteil<br />

von neun Prozent in<br />

der Fraktion: „Die Frauen müssen<br />

aber auch was leisten, so<br />

einfach ist das!“ Worauf Frau<br />

Schmidt kurz die Fassung verlor:<br />

„Wat meinen Sie, dass unsere<br />

Frauen bei den Linken<br />

nüscht leisten? Wat ist denn<br />

mit Ihnenlos?“<br />

Du siehst, wie viel es 2019<br />

noch zu tun gab. Und ich habe<br />

noch nicht mal von Paragraf<br />

218 gesprochen. Übrigens sind<br />

Frauen schon vor neunzig Jahren<br />

auf die Straße gegangen am<br />

8. März, um für ihr Recht auf<br />

Schwangerschaftsabbrüche zu<br />

protestieren – apropos langwierige<br />

Veränderungsprozesse.<br />

Mir selbst hat der Frauentag<br />

lange nichts bedeutet, bei uns<br />

im Norden, wo ich groß geworden<br />

bin, gab es Blumen zum<br />

Muttertag. Ich habe nichts gegen<br />

Blumen, aber jetzt, wo ich<br />

selbst Mutter bin, hätte ich lieber<br />

eine Politik, die Frauen die<br />

gleichen Chancen wie Männern<br />

verschafft. Dafür gehen<br />

wir beide amFreitag auf die<br />

Straße. Damit ich eine gute<br />

Antwort habe, wenn du mich<br />

später fragst: Und wo warst du<br />

an dem Tag, als der Frauentag<br />

in Berlin ein Feiertag wurde?

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!