Berliner Kurier 07.03.2019
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*<br />
HINTERGRUND<br />
Berlin führtden<br />
Fortschritt ein<br />
Der Weltfrauentag am<br />
8. Märzist ab diesem<br />
Jahr ein offizieller Feiertag.<br />
Aber nur in Berlin,<br />
denn andere Bundesländer<br />
haltenoffenbar<br />
weniger vonEmanzipation.<br />
Für den<br />
Regierenden Michael<br />
Müller (SPD)ist der Tag<br />
eine Mahnung, „weiter<br />
für die Rechte der Frauen<br />
zu kämpfen“. Schon<br />
in der DDR wurde der<br />
Frauentag begangen,<br />
aber ein gesetzlicher<br />
Feiertagwar er auch<br />
dortnicht.<br />
Meine<br />
liebe<br />
Tochter,<br />
darum ist morgen ein<br />
wichtiger Tag für uns<br />
Brief an eine 3-Jährige: Wieeine KURIER-Redakteurin<br />
den neuen Feiertagerklärtund was andere<strong>Berliner</strong> sagen<br />
Liebe C,<br />
Von<br />
ANNE LENA MÖSKEN<br />
vielleicht wirst du mich in ein<br />
paar Jahrenfragen,was das für<br />
eine Zeit war, als Berlin den<br />
Frauentag zu einem Feiertag<br />
machte. Ich male mir aus, dass<br />
du diese Frage mit großen Augen<br />
stellst, weil du den Frauentag<br />
nur noch als Folklore<br />
kennst, als einen Tag, an dem<br />
wir Frauen zusammen losziehen,<br />
mit Bollerwagen und Bier,<br />
Welcher Frauentag?<br />
Dr. Peter Handschug<br />
fragt überrascht: „Ist der<br />
Frauentag jetzt wirklich<br />
zum Feiertag geworden?<br />
Ich habe jetzt nichts Besonderes<br />
geplant, weil ich<br />
gar nicht wusste, dass sie<br />
den Feiertag tatsächlich<br />
gesetzlich festgelegt<br />
haben.“ Trotzdem findet<br />
der 73-Jährige aus Tempelhof,<br />
dass auch alle anderen<br />
Bundesländer den<br />
Feiertag unbedingt übernehmen<br />
sollten.<br />
und die Männer am Wegesrand<br />
mit roten Nelken bewerfen.<br />
Leider sind gesellschaftliche<br />
Veränderungen selten in<br />
ein paar Jahrenzuhaben. Und<br />
die To-do-Liste in diesem<br />
Jahr, in dem Berlin den Frauentag<br />
zum Feiertag machte, ist<br />
lang.<br />
Aber davon weißt du noch<br />
nichts mit deinen drei Jahren.<br />
Wobei ich manchmal darüber<br />
erschrecke, wie früh Geschlechterfragen<br />
in das Leben<br />
eines Kindes drängen. Neulich<br />
saßt du vor deinem Kleiderschrank<br />
– da verbringen wir<br />
gerade viel Zeit, weil du darauf<br />
Gehenicht zur Demo<br />
Toni Gerisch (25) aus<br />
Rudow hat nicht vor, am<br />
8. März das Haus zu verlassen,<br />
um auf einer Demonstration<br />
für Gleichberechtigung<br />
mitzulaufen.<br />
Er sagt: „Ich habe einen<br />
großen Blumenstrauß für<br />
meine Freundin bestellt<br />
und schenke ihr am Frauentag<br />
noch mehr Aufmerksamkeit<br />
als sonst.<br />
Das wird zum Feiern des<br />
Frauentages erst einmal<br />
ausreichen.“<br />
bestehst, dich selbst anzuziehen<br />
–, draußengraues <strong>Berliner</strong><br />
Februarwetter,drinnen hieltst<br />
du das Kleid mit den Pailletten<br />
umklammert, das dir deine<br />
polnische Oma geschenkt hatte<br />
–ich wedelte mit der gemütlichen<br />
Cordhose. „Weißt du“,<br />
sagte ich schließlich verzweifelt,<br />
„früher durften die Frauen<br />
keine Hosen tragen!“ Du sahst<br />
mich fragend an. So kamen wir<br />
nicht weiter.<br />
Vielleicht ist es nicht so<br />
wichtig, ob du jeden Tag als<br />
Prinzessin in die Kita gehst,<br />
vielleicht zählt es mehr, dass<br />
du deinen eigenen Kopf hast.<br />
Sozialistische Idee<br />
„Ausschlafen und die<br />
Mutter anrufen ist schön<br />
und gut. Ich finde es aber<br />
auch wichtig, dass man<br />
den Hintergrund des<br />
Frauenkampftages<br />
kennt“, sagt Sozialarbeiter<br />
Reno Neumann (55)<br />
aus Lichtenberg. Er fragt<br />
sich, ob überhaupt allen<br />
Leuten bewusst ist, dass<br />
der Weltfrauentag ursprünglich<br />
von sozialistischen<br />
Organisationen<br />
initiiert wurde.<br />
Sowieso bin ich optimistisch,<br />
was deine Familie dir mitgeben<br />
kann, aus feministischer<br />
Perspektive. Deine polnische<br />
Großmutter hat immer gearbeitet,<br />
klar, so war das im sozialistischen<br />
Polen der 80er-<br />
Jahre. Deine deutschen Urgroßeltern<br />
hatten einen Friseursalon,<br />
und es war dein<br />
Urgroßvater, der mittags nach<br />
Hause ging, um für die Kinder<br />
zu kochen, weil deine Uroma<br />
mehr Kunden hatte. Was ich<br />
sagen will: In deiner Familie<br />
waren die Frauen noch nie nur<br />
Hausfrauen.<br />
Heute siehst du deinen Papa<br />
öfter die Wäsche aufhängen als<br />
mich; dafürkocheich und bringe<br />
dir bei, wie man Brötchenbackt –<br />
Backen ist schließlich Chemie,<br />
denke ich, und vielleicht sindNaturwissenschaften<br />
ja was für<br />
dich. Womit wir wieder beim<br />
Frauentag wären. Und da hört<br />
mein Optimismus auf. Ich kann<br />
dir nämlich zu Hause so viel<br />
Emanzipation vorleben, wie ich<br />
will, kann mir die Elternzeit fair<br />
teilen,die Kinderbetreuung, den<br />
Haushalt, kann dafür sorgen,<br />
dass neben deiner Kinderküche<br />
auch ein Werkzeugkoffer steht,<br />
dir Gute-Nacht-Geschichten<br />
überstarkeFrauen vorlesen, und<br />
dann betrittst du die Welt da<br />
draußen und egal wie schlau,<br />
egalwie fleißigdubist, gegen die<br />
Statistikanzuleben ist so unfassbar<br />
anstrengend! Ich erspare dir<br />
die Zahlen, wie viele Frauen in<br />
naturwissenschaftlichen Studiengängen<br />
ausgebildet werden.<br />
Oder Unternehmen gründen.<br />
OderinParlamenten sitzen.<br />
Gutes Stichwort! Lass mich<br />
dir eine Anekdote aus dem<br />
Jahr 2019 erzählen, aus der<br />
Debatte im <strong>Berliner</strong> Abgeordnetenhaus<br />
zum neuen Feiertag.<br />
Ines Schmidt von der Linken<br />
stand am Rednerpult und<br />
sprach darüber, dass sie dafür<br />
sei, dass Parlamente in Zukunft<br />
zu gleichen Teilen mit<br />
Männern und Frauen besetzt<br />
werden.<br />
Zwischenruf von rechts, wo<br />
die AfD sitzt, mit einem Frauenanteil<br />
von neun Prozent in<br />
der Fraktion: „Die Frauen müssen<br />
aber auch was leisten, so<br />
einfach ist das!“ Worauf Frau<br />
Schmidt kurz die Fassung verlor:<br />
„Wat meinen Sie, dass unsere<br />
Frauen bei den Linken<br />
nüscht leisten? Wat ist denn<br />
mit Ihnenlos?“<br />
Du siehst, wie viel es 2019<br />
noch zu tun gab. Und ich habe<br />
noch nicht mal von Paragraf<br />
218 gesprochen. Übrigens sind<br />
Frauen schon vor neunzig Jahren<br />
auf die Straße gegangen am<br />
8. März, um für ihr Recht auf<br />
Schwangerschaftsabbrüche zu<br />
protestieren – apropos langwierige<br />
Veränderungsprozesse.<br />
Mir selbst hat der Frauentag<br />
lange nichts bedeutet, bei uns<br />
im Norden, wo ich groß geworden<br />
bin, gab es Blumen zum<br />
Muttertag. Ich habe nichts gegen<br />
Blumen, aber jetzt, wo ich<br />
selbst Mutter bin, hätte ich lieber<br />
eine Politik, die Frauen die<br />
gleichen Chancen wie Männern<br />
verschafft. Dafür gehen<br />
wir beide amFreitag auf die<br />
Straße. Damit ich eine gute<br />
Antwort habe, wenn du mich<br />
später fragst: Und wo warst du<br />
an dem Tag, als der Frauentag<br />
in Berlin ein Feiertag wurde?