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Winterschlaf<br />
Alle Kanten und Stufen strecken sich heraus, damit<br />
ich mich daran stoße. Die Dinge verweigern mir ihren<br />
Dienst, fügen sich nicht ihrer Verwendung. Ich sitze auf<br />
dem Küchenstuhl mit dem blutbefleckten Papier in der<br />
Hand, sehe in den Hof und versuche mir vorzustellen,<br />
dass ich ab nächster Woche an einem Fenster sitzen<br />
werde, ohne den Alltag hinter <strong>mein</strong>em Rücken. Keine<br />
Ahnung was man bei einer Mutter-Kind-Kur macht statt<br />
arbeiten, einkaufen, Essen kochen, Wäsche waschen, sauber<br />
machen, Kinder holen und wegbringen.<br />
Ich finde <strong>mein</strong> Leben eigentlich gut. Mich stört nur der<br />
Abwasch und der Dreck, die leeren Flaschen, der volle<br />
Mülleimer, der leere Kühlschrank und dass ich <strong>mein</strong>en<br />
verdammten zweiten Strumpf nicht finde. Aber ich will<br />
nicht so eine Mutter sein, die eine Kur braucht, um mit<br />
dem gewöhnlichen, langweiligen Kram wieder klarzukommen.<br />
Ich bin doch von gesunder Natur, ich brauch’<br />
keine Hilfe, ich weiß, was mir gut tut!<br />
Ich weiß zum Beispiel, dass mir jetzt irgendetwas Wildes<br />
gut tun würde. Ein hässlicher, kahler Wald voller<br />
Gestrüpp oder eine modrige Abraumhalde mit grauem<br />
Himmel. Aber so was gibt’s hier nicht und ich habe keine<br />
Immerhin finde ich ein anderes Tor und gehe quer über<br />
die matschige Wiese.<br />
Ich stehe an der Kreuzung und mir wird klar, dass ich<br />
seit zehn Jahren nachmittags an dieser Kreuzung stehe,<br />
auf Kinder warte, die mit kurzen Beinen hinterherlaufen<br />
– oder auch nicht. Die Kirchturmglocken schlagen und<br />
mir ist, als würden sie die Jahre zählen, die ich an dieser<br />
Kreuzung stehe oder auf Spielplatzbänken sitze und<br />
darauf warte, dass die Kinder groß werden. Irgendwann<br />
werde ich vielleicht an dieser Kreuzung stehen und die<br />
Kinder werden groß sein und ich werde alt sein und mich<br />
fragen, worauf ich die ganzen Jahre gewartet habe.<br />
In die Baumwipfel zu sehen und in die Wolken, die wie<br />
Rauch übereinander hinziehen, hilft ein bisschen. Mit<br />
dem Kind auf dem Rückweg lande ich schon wieder auf<br />
einer Spielplatzbank. Die steht im Kies. Mit dem wirft<br />
das Kind. Ich warte. Ich habe keine Lust, mit Kies zu<br />
werfen, aber etwas anderes kann man wirklich nicht tun<br />
hier.<br />
Neben mir windet sich Efeu um einen Stamm wie eine<br />
Würgeschlange. Na gut. Ich brauch doch so eine blöde<br />
Kur.<br />
Zeit, mir einen solchen heilsamen Ort zu suchen jetzt.<br />
Der Park hilft auch nicht, durch den ich gehe auf dem<br />
Weg zur Schule, um das Kind zu holen. Die zuckelnden<br />
Kinderwagen auf dem knirschenden Streukies machen<br />
mich noch aggressiver. Am Zaun müssen alle Menschen<br />
durch dasselbe Tor. Ich will aber nicht mit dem trägen<br />
Spaziergängerstrom durch ein Tor geleiert werden. Ich<br />
würde am liebsten über den Scheißzaun klettern oder<br />
mich darunter durchgraben, nur um nicht durch das<br />
Scheißtor gehen zu müssen. Dass es den Menschen<br />
nichts ausmacht, auf denselben Wegen hintereinander<br />
her zu trotten, verstehe ich nicht.<br />
Aus der nassen Stadt kommend fahren wir durch eine<br />
saubere Modelleisenbahnlandschaft mit glitzerndem<br />
Schnee dekoriert und machen uns lustig über sie, damit<br />
sie sich nicht lustig macht über uns. Mareile legt eine<br />
CD ein mit irischer Folkmusik ein. Die Töchter auf der<br />
Rückbank fangen an zu singen. Kalte Bäche rauschen<br />
über Mühlräder an bunten Fachwerkhäusern und die<br />
wenigen Menschen wirken wie im Laden gekauft – „Guten<br />
Tag, ich hätte gerne eine Tüte Reisende.“ Und in die<br />
Landschaft gestellt. Wie auf einer gepflegten nostalgischen<br />
Platte gibt es keine grelle Werbung, keine farblosen<br />
Industriegebäude, kein krankes Schaf. Wir kommen<br />
<strong>mein</strong>/4<br />
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