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mein/4 März 2019

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Winterschlaf<br />

Alle Kanten und Stufen strecken sich heraus, damit<br />

ich mich daran stoße. Die Dinge verweigern mir ihren<br />

Dienst, fügen sich nicht ihrer Verwendung. Ich sitze auf<br />

dem Küchenstuhl mit dem blutbefleckten Papier in der<br />

Hand, sehe in den Hof und versuche mir vorzustellen,<br />

dass ich ab nächster Woche an einem Fenster sitzen<br />

werde, ohne den Alltag hinter <strong>mein</strong>em Rücken. Keine<br />

Ahnung was man bei einer Mutter-Kind-Kur macht statt<br />

arbeiten, einkaufen, Essen kochen, Wäsche waschen, sauber<br />

machen, Kinder holen und wegbringen.<br />

Ich finde <strong>mein</strong> Leben eigentlich gut. Mich stört nur der<br />

Abwasch und der Dreck, die leeren Flaschen, der volle<br />

Mülleimer, der leere Kühlschrank und dass ich <strong>mein</strong>en<br />

verdammten zweiten Strumpf nicht finde. Aber ich will<br />

nicht so eine Mutter sein, die eine Kur braucht, um mit<br />

dem gewöhnlichen, langweiligen Kram wieder klarzukommen.<br />

Ich bin doch von gesunder Natur, ich brauch’<br />

keine Hilfe, ich weiß, was mir gut tut!<br />

Ich weiß zum Beispiel, dass mir jetzt irgendetwas Wildes<br />

gut tun würde. Ein hässlicher, kahler Wald voller<br />

Gestrüpp oder eine modrige Abraumhalde mit grauem<br />

Himmel. Aber so was gibt’s hier nicht und ich habe keine<br />

Immerhin finde ich ein anderes Tor und gehe quer über<br />

die matschige Wiese.<br />

Ich stehe an der Kreuzung und mir wird klar, dass ich<br />

seit zehn Jahren nachmittags an dieser Kreuzung stehe,<br />

auf Kinder warte, die mit kurzen Beinen hinterherlaufen<br />

– oder auch nicht. Die Kirchturmglocken schlagen und<br />

mir ist, als würden sie die Jahre zählen, die ich an dieser<br />

Kreuzung stehe oder auf Spielplatzbänken sitze und<br />

darauf warte, dass die Kinder groß werden. Irgendwann<br />

werde ich vielleicht an dieser Kreuzung stehen und die<br />

Kinder werden groß sein und ich werde alt sein und mich<br />

fragen, worauf ich die ganzen Jahre gewartet habe.<br />

In die Baumwipfel zu sehen und in die Wolken, die wie<br />

Rauch übereinander hinziehen, hilft ein bisschen. Mit<br />

dem Kind auf dem Rückweg lande ich schon wieder auf<br />

einer Spielplatzbank. Die steht im Kies. Mit dem wirft<br />

das Kind. Ich warte. Ich habe keine Lust, mit Kies zu<br />

werfen, aber etwas anderes kann man wirklich nicht tun<br />

hier.<br />

Neben mir windet sich Efeu um einen Stamm wie eine<br />

Würgeschlange. Na gut. Ich brauch doch so eine blöde<br />

Kur.<br />

Zeit, mir einen solchen heilsamen Ort zu suchen jetzt.<br />

Der Park hilft auch nicht, durch den ich gehe auf dem<br />

Weg zur Schule, um das Kind zu holen. Die zuckelnden<br />

Kinderwagen auf dem knirschenden Streukies machen<br />

mich noch aggressiver. Am Zaun müssen alle Menschen<br />

durch dasselbe Tor. Ich will aber nicht mit dem trägen<br />

Spaziergängerstrom durch ein Tor geleiert werden. Ich<br />

würde am liebsten über den Scheißzaun klettern oder<br />

mich darunter durchgraben, nur um nicht durch das<br />

Scheißtor gehen zu müssen. Dass es den Menschen<br />

nichts ausmacht, auf denselben Wegen hintereinander<br />

her zu trotten, verstehe ich nicht.<br />

Aus der nassen Stadt kommend fahren wir durch eine<br />

saubere Modelleisenbahnlandschaft mit glitzerndem<br />

Schnee dekoriert und machen uns lustig über sie, damit<br />

sie sich nicht lustig macht über uns. Mareile legt eine<br />

CD ein mit irischer Folkmusik ein. Die Töchter auf der<br />

Rückbank fangen an zu singen. Kalte Bäche rauschen<br />

über Mühlräder an bunten Fachwerkhäusern und die<br />

wenigen Menschen wirken wie im Laden gekauft – „Guten<br />

Tag, ich hätte gerne eine Tüte Reisende.“ Und in die<br />

Landschaft gestellt. Wie auf einer gepflegten nostalgischen<br />

Platte gibt es keine grelle Werbung, keine farblosen<br />

Industriegebäude, kein krankes Schaf. Wir kommen<br />

<strong>mein</strong>/4<br />

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