Berliner Kurier 03.04.2019
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*<br />
POLITIK<br />
MEINE<br />
MEINUNG<br />
Von<br />
Markus<br />
Decker<br />
Auch die Kanzlerin<br />
braucht „Freiraum“<br />
Die Affäre um das<br />
Schmähgedicht von Jan<br />
Böhmermann auf den türkischen<br />
Präsidenten hatte monatelang<br />
Aufsehen erregt.<br />
Dafür sorgte das „Gedicht“<br />
selbst, das unter anderem die<br />
fragwürdige Vokabel „Ziegenficker“<br />
enthielt. Dafür<br />
sorgte vor allem, dass sich<br />
zwei Fragen überschnitten:<br />
Was darf Kunst? Und wie<br />
verhält man sich gegenüber<br />
dem Herrscher eines Landes,<br />
das für Deutschland ein zentraler<br />
Partner ist? Dass Böhmermann<br />
nun dieKanzlerin<br />
verklagt, sollte juristisch haltlos<br />
sein. Auf jeden Fall wird<br />
es der komplizierten Gemengelage,<br />
in der sich Merkel befindet,<br />
nicht gerecht.<br />
Es ist gewiss nachvollziehbar,<br />
dass Böhmermann sich über<br />
Merkel ärgert. Doch sie muss<br />
schließlichmanövrieren und<br />
auch mal Fehler machen können.<br />
Zudem hatte das Landgericht<br />
Hamburg Erdogans<br />
Beleidigungsklage gegen<br />
Böhmermann teilweise stattgegeben.<br />
Wir haben hier<br />
einen Satiriker, der für sich<br />
einen maximalenFreiraum<br />
beansprucht, während er<br />
einer politisch Verantwortlichen<br />
ihren viel geringeren<br />
Freiraum weiterbeschneiden<br />
will. Das passt nichtzusammen.<br />
MANN DESTAGES<br />
Ekrem Imamaglu<br />
Der nächste Bürgermeister<br />
von Istanbul –der 49-jährige<br />
Ekrem Imamaglu –ist kein<br />
Parteiideologe, sondern ein<br />
pragmatischer<br />
Lokalpolitiker.<br />
Vor allem<br />
ist der ehemalige<br />
Bezirksbürgermeister<br />
und<br />
CHP-Politiker<br />
erfolgreich,<br />
weil er gut<br />
integrieren kann –anders als<br />
Präsident Recep Tayyip Erdogan.<br />
Imamaglu steht für<br />
eine säkulare Republik und<br />
wirkt unbestechlich und bescheiden,<br />
aber trotzdem<br />
selbstbewusst.<br />
Foto: Lefteris Pitarakis/AP<br />
Foto: Henning Kaiser/dpa<br />
Böhmermann<br />
zerrt Merkel<br />
vorGericht<br />
Hintergrund: Die Äußerung der<br />
Kanzlerinüber das Erdogan-<br />
Schmähgedicht des Satirikers<br />
Jan Böhmermann geht juristisch<br />
gegen die Kanzlerin vor.<br />
Berlin – Satiriker verklagt<br />
Politikerin: TV-Entertainer<br />
Jan Böhmermann zerrt Kanzlerin<br />
Angela Merkel (CDU)<br />
vor Gericht. Hintergrund ist<br />
das Schmähgedicht Böhmermanns<br />
auf den türkischen Präsidenten<br />
Recep Tayyip Erdogan<br />
aus dem Jahr 2016. Die Regierungschefin<br />
hatte das Gedicht<br />
damals als „bewusst ehrverletzend“<br />
bezeichnet. Diese<br />
Bewertung stand ihr nicht zu,<br />
ist Böhmermanns Anwalt<br />
überzeugt. Experten räumen<br />
der Klage Chancen ein.<br />
Die Klage, die sich formal gegen<br />
das Kanzleramt richte, sei zweistufig,<br />
erläuterte ein Sprecher<br />
des Verwaltungsgerichts Berlin.<br />
Im Hauptantrag wolle Böhmermann<br />
der Kanzlerin untersagen<br />
lassen, öffentlich zu wiederholen,<br />
dass sein Schmähgedicht<br />
„bewusst ehrverletzend“ sei.<br />
Werde dieser Hauptantrag abgewiesen,<br />
wolle Böhmermann in<br />
einem Hilfsantrag feststellen<br />
lassen, dass die von Regierungssprecher<br />
Steffen Seibert vorgetragene<br />
Einschätzung Merkels<br />
rechtswidrig gewesen sei, erklärte<br />
der Sprecher weiter.<br />
Böhmermanns Anwalt Christian<br />
Schertz argumentiert laut<br />
„Tagesspiegel“: Die Äußerungen<br />
der Kanzlerin seien rechtswidrig<br />
gewesen, da Merkel für eine<br />
solche Einordnung nicht zuständig<br />
sei. Damals sei bereits ein<br />
Hättesie sich mit einer<br />
eigenen Beurteilung<br />
zurückhalten müssen?<br />
Bundeskanzlerin Angela<br />
Merkel (CDU).<br />
strafrechtliches Ermittlungsverfahren<br />
gegen Böhmermann wegen<br />
Beleidigung gelaufen. Die<br />
Kanzlerin habe sich als„höchste<br />
Vertreterin der Exekutive“ zu<br />
dieser Rechtslage geäußert und<br />
„damit erhebliche Folgen ausgelöst“.<br />
Merkel bezeichnete ihre<br />
Äußerung später als „Fehler“,<br />
hat sie aber bis heute nicht zurückgenommen.<br />
„Diese Entschuldigung Merkels<br />
heilt die Sache aus juristischer<br />
Sicht nicht“, erklärte Ma-<br />
Foto: Christophe Gateau/dpa<br />
rian Lamprecht, Fachanwalt für<br />
Verwaltungsrecht in Berlin, dem<br />
RedaktionsNetzwerk Deutschland<br />
(RND). „Die Chancen auf<br />
eine erfolgreiche Klage stehen<br />
nicht schlecht.“ Es gebe entsprechende<br />
Präzedenzfälle. Politiker<br />
hätten ein Recht darauf, Öffentlichkeitsarbeit<br />
zu betreiben,<br />
müssten dabei aber vorsichtig<br />
sein. „Es gilt das Neutralitätsgebot“,<br />
so der Jurist. Die Aussagen<br />
Merkels könnten unter anderem<br />
als rechtswidriger Angriff in die<br />
Kunstfreiheit verstanden werden.<br />
Sollte Böhmermann recht bekommen,<br />
hätte dies keine unmittelbaren<br />
Auswirkungen. Die<br />
Kanzlerin müsste keine öffentliche<br />
Abbitte leisten. Lamprecht:<br />
„Herr Böhmermann wäre aber<br />
künstlerisch ein Stück weit rehabilitiert.“<br />
Böhmermann hatte das Gedicht<br />
am 31. März 2016 im Rahmen<br />
eines sechsminütigen Bei-