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4 6./7. APRIL 2019<br />
Es sind lange Schlangen an diesem<br />
Spätfrühlingstag vor den schmalen<br />
Holztüren des staatlichen Krankenhauses<br />
Herat. Zahlreiche Menschen<br />
warten im Schatten einer Baumreihe<br />
vordem Eingang in die psychiatrische Abteilung,<br />
andere lehnen mit ihren Schultern an<br />
den Wänden der blau gestrichenen Gänge<br />
vor den Ärztezimmern. Wieder andere umringen<br />
in den Krankenzimmern ihre Angehörigen,<br />
die unter schweren, braunen Wolldecken<br />
auf eng gestellten Stahlbetten liegen.<br />
Dazwischen huschen Männer und Frauen in<br />
weißen Kitteln über die Gänge.<br />
Einer von ihnen ist Wahid Noorzad, der<br />
stellvertretende Leiter der psychiatrischen<br />
Abteilung, die täglich rund 200 Menschen<br />
aus der ganzen Provinz aufsuchen. Er öffnet<br />
einer jungen Patientin die Tür zum Besprechungsraum;<br />
Marwa heißt sie. Üblicherweise<br />
finden hier Familientherapien statt,<br />
seltener eine Einzelberatung. Als Marwa gedankenverloren<br />
ihre Hand ausstreckt, um<br />
mit den Blüten der Plastikblumen am Besprechungstisch<br />
zu spielen, rutscht der Ärmel<br />
ihres Mantels zurück und entblößt ihren<br />
linken Unterarm. Er ist übersät mit tiefen<br />
Schnitt- und Brandwunden.<br />
DIE JUNGE FRAU zählt ihrebisherigen Suizid-<br />
Versuche im Stakkato-Ton auf. „Ich habe Tabletten<br />
genommen, dann Mäusegift gegessen,<br />
und ich sprang vomDach. Einmal habe<br />
ich mir auch die Pulsadern aufgeschnitten“,<br />
sagt sie und dreht weiter an einer roten Blüte.<br />
Im Vorjahr kam sie wöchentlich zur Individualberatung<br />
hierher, eine zeitlang arbeiteten<br />
die Berater auch mit ihrer Familie. Doch seit<br />
diese nicht mehr kommt, hat Marwa begonnen,<br />
sich zu ritzen. „Es gibt nur schlechte<br />
Tage“, sagt sie,legt ihreHand wieder in ihren<br />
Schoß und zieht den Mantel zurück übers<br />
Handgelenk.<br />
Marwahat sich in einen jungen Mann verliebt,<br />
doch ihre Familie erlaubt ihr nicht, ihn<br />
zu heiraten. Ihre Eltern wollen, der Tradition<br />
entsprechend, den Ehemann für ihreTochter<br />
selbst wählen. Noch vor weniger als zwanzig<br />
Jahren wurden arrangierte Ehen nur selten<br />
vonden Kinderninfrage gestellt. Wersich bei<br />
älteren Frauen erkundigt, ob sie denn mit der<br />
Wahl ihrer Elternzufrieden waren, erhält nur<br />
verständnislose Blicke. Oder Sätze wie: „Darüber<br />
habe ich noch nie nachgedacht.“<br />
Doch die jungen Afghanen haben begonnen,<br />
diese Praxis zu hinterfragen. Die Bereitschaft,<br />
sich demWillen der Elternzufügen, ist<br />
gesunken, seitdem im afghanischen Fernsehen<br />
Bollywood-Filme und türkische Serien<br />
gezeigt werden, in denen selbstbewusste<br />
Hauptdarstellerinnen ihreEhemänner selber<br />
wählen; am Ende siegt stets pompös die<br />
Liebe.<br />
Das gewandelte Verständnis von Partnerschaft<br />
und Liebe ist nur ein Aspekt der Modernisierung<br />
der vergangenen eineinhalb Dekaden<br />
in Afghanistan. Die rasche Öffnung des<br />
Landes nach dem Fall der Taliban durch die<br />
amerikanische Intervention im Jahr 2001<br />
schleuderte die Menschen in eine neue,ihnen<br />
unbekannte Welt. Wenn sie sich heute umsehen,<br />
finden sie sich umringt von modernen<br />
Ideen und alternativen Lebensbildern, die<br />
sich in Europa über Jahrzehnte, jaüber Jahrhunderte<br />
entwickelt hatten. Undnicht nur die<br />
internationalen Truppen und westlichen<br />
Hilfsorganisationen brachten das alte Wertesystem<br />
ins Wanken, sondern auch Hunderttausende<br />
Flüchtlinge,die aus dem liberaleren<br />
Ausland zurückkehrten.<br />
Über viele Jahredavor hatte das Land sich<br />
genau gegensätzlich entwickelt. Weil sich der<br />
Mensch in Zeiten der Krise stets auf das Gelehrte<br />
und Bewährte zurückbesinnt, haben<br />
bald vierzig Jahre Krieg und Terror– erst der<br />
Widerstand der Mudschaheddin gegen den<br />
Einmarsch der Sowjets, danach der Bürgerkrieg<br />
und schließlich die Machtübernahme<br />
der radikalislamischenTaliban –die Afghanen<br />
in die Vormoderne zurückkatapultiert. Die<br />
Umwälzungen der vergangenen Jahreführten<br />
bei manchen, vor allem bei Frauen und der<br />
jüngeren Generation, zu einer Befreiung.<br />
Viele andere erleben sie als Verunsicherung<br />
und Belastung, die ihnen Familienzerwürfnisse<br />
und Gewalt bescheren. Sie entwickeln<br />
psychische Probleme,die bis zum Suizid führen<br />
können. Psychologen beschreiben die<br />
heutige Situation als „absolutes Chaos“ –ein<br />
Chaos,das auch ein ernsthaftes Hemmnis für<br />
die Entwicklung des Landes insgesamt darstelle.<br />
Nicht zuletzt, weil es an ausreichender<br />
psychologischer Fürsorge fehlt.<br />
„Die Konflikte,die daraus erwachsen, dass<br />
junge Menschen nicht mehr so leben wollen<br />
wie ihreEltern, werden vonTag zu Tagmehr“,<br />
sagt Psychologe Noorzad. Vor allem beim<br />
Thema Heirat sei dies ein Problem, mit dem er<br />
täglich zu tun habe.„Früher kannte die afghanische<br />
Gesellschaft ganz wenig Liebe“, erklärt<br />
Noorzad. Nicht miteinander verwandte Männer<br />
und Frauen waren räumlich praktisch<br />
ständig getrennt, es gab nicht die Möglichkeit,<br />
jemanden kennenzulernen. Heute aber seien<br />
die Menschen im Land freier,ihreEinstellungen<br />
hätten sich geändert, sagt Noorzad.<br />
Frauen könnten sich heute draußen bewe-<br />
Verlorene<br />
Seelen<br />
Lange Zeit war Afghanistan von der<br />
Welt abgeschnitten. Die internationale<br />
Intervention und die Globalisierung<br />
spülten seit 2001 moderne Ideen in das<br />
erzkonservative Land –mit massiven<br />
Folgen für die psychische Gesundheit<br />
der Menschen<br />
VonVeronika Eschbacher (Text und Fotos)<br />
gen, sich Männer ansehen, und umgekehrt.<br />
Über Handys oder soziale Medien könnten<br />
sie Kontakt aufnehmen und einander kennenlernen.<br />
„Irgendwann verlieben sie sich“,<br />
sagt der Psychologe.„Doch meistens können<br />
sie diese Liebe nicht leben, sie ist unerreichbar.“<br />
Während junge Frauen in dieser Atmosphäre<br />
Symptome von Depressionen und<br />
Suizidgedanken entwickeln, sind junge Männer<br />
stärker vonselbstverletzendem Verhalten<br />
betroffen, erklärtNoorzad. Ob der offensichtlichen<br />
Unmöglichkeit, die eigene Zukunft zu<br />
gestalten, ziehen sich die jungen Leute in der<br />
Familie zurück. Oft verlieren sie das Interesse<br />
an ihrem Studium, an ihrer Entwicklung allgemein.<br />
Marwas Gesicht ist nicht eine Regung<br />
zu entnehmen bei der Frage, was sie<br />
denn in der Zukunft machen möchte.<br />
„Heech“ sagt sie.Nichts.<br />
AUCH FARESHTA QUEDEES hat dieses<br />
„heech“ in den vergangenen Jahren ungezählte<br />
Male gehört. DiePsychologin und Leiterin<br />
des Psychosocial and Mental Health<br />
Centers blickt aus dem Fenster in den strahlend<br />
blauen Himmel über Kabul. Knapp über<br />
ihr ziehen zwei amerikanische Kampfhubschrauber<br />
vorbei, unten auf der Straße warten<br />
Tagelöhner in ihren Schubkarren sitzend auf<br />
Auftraggeber. Der Hubschrauberlärm zwingt<br />
Quedees und ihre Dutzenden Mitarbeiter,<br />
psychosoziale Berater,ihreGespräche kurzzu<br />
unterbrechen.<br />
Zwischen 400 und 600 Klienten strömen<br />
jede Woche in die Klinik, die von der deutschen<br />
NGO Ipso betrieben wird. Mobile<br />
Teams des Zentrums fahren regelmäßig in<br />
Flüchtlingscamps in Kabul, um dort Binnenvertriebene<br />
oder Rückkehrer zu betreuen. Direkt<br />
hinter Quedees sind vier schmucklose<br />
Boxen, in denen Berater per Videoanruf weitere<br />
Klienten auch aus abgelegenen Dörfern<br />
beraten.<br />
DasZentrum verdeutlicht die Fortschritte,<br />
die Afghanistan in Sachen mentale Gesundheit<br />
in den vergangenenJahrengemacht hat.<br />
Als im Jahr 2001 die Taliban von der Macht<br />
vertrieben waren, lag das Gesundheitssystem<br />
in Afghanistan darnieder. Lediglich zwanzig<br />
Prozent der Bevölkerung hatten Zugang zur<br />
Gesundheitsversorgung. Der Bereich psychische<br />
Gesundheit existierte praktisch nicht.<br />
Vordem Jahr 2000 gab es lediglich ein Krankenhaus<br />
für mental Kranke mit 68 Betten, abgeschieden<br />
weit außerhalb Kabuls.<br />
Vier Jahre später wurde im afghanischen<br />
Gesundheitsministerium eine Abteilung für<br />
mentale Gesundheit gegründet, auf Anraten<br />
der WHO. Als sich 2007 die Ansicht durchgesetzt<br />
hatte, dass Menschen mit psychischen<br />
Problemen nicht nur Medikamente wie Antidepressiva<br />
oder Schlafmittel brauchen, sondern<br />
vielmehr psychosoziale Hilfe, wurde<br />
diese in die medizinische Grundversorgung<br />
aufgenommen. Auch hier musste vonnull angefangen<br />
werden, denn das in Afghanistan<br />
herrschende Stigma für psychische Probleme<br />
umfasste nicht nur die Patienten, sondern<br />
auch das Gesundheitspersonal. Gut 700 psychosoziale<br />
Berater durchliefen seither eine<br />
einjährige Ausbildung. DerGroßteil davon arbeitet<br />
nun in kleinen, ländlichen Kliniken<br />
quer über das Land verstreut nebst Ärzten,<br />
Hebammen und Pharmazeuten; sie sind für<br />
„Wenn meine Eltern erfahren,<br />
wovon wir reden und was wir<br />
tun, werden sie sagen, wir<br />
müssen getötet werden.“<br />
Hussein Binish, Student in Kabul<br />
„Die Konflikte, die daraus erwachsen, dass junge Menschen nicht mehr so leben wollen wie ihre Eltern, werden von<br />
Afghanen gratis zugänglich. An klinischen<br />
Psychologen, also Psychologen mit umfassender<br />
Therapieausbildung, stehen dem 35-<br />
Millionen-Einwohner-Land heute weiterhin<br />
keine 20 zurVerfügung.<br />
Das„Mental Health Center“inKabul istsozusagen<br />
der Gipfel dieses Ausbaus –und der<br />
gestiegenen Akzeptanz für die Existenz psychischer<br />
Probleme und einer Anerkennung<br />
der Notwendigkeit, diese zu behandeln. Die<br />
Probleme, mit denen die Menschen in das<br />
Zentrum kommen, hingen freilich mit ihrer<br />
aktuellen Lebenslage zusammen, sagt Quedees.Esist<br />
eine bunte Mischung an Afghanen,<br />
die in dem kargdekorierten Zentrum mit den<br />
vielen weißen Trennwänden Hilfe suchen.<br />
Zurückgekehrte Flüchtlinge müssen damit<br />
zurechtkommen, sich aus dem Nichts wieder<br />
ein Leben aufzubauen. BeiMenschen aus Regionen<br />
mit sehr schlechter Sicherheitslage<br />
dominieren Themen wie Angst und Verlust.<br />
Ein„wirklich großes Thema“ im ganzen Land<br />
seien aber die Familienkonflikte, die durch<br />
den Wertewandel in der Gesellschaft hervorgerufen<br />
werden. „Ob wir es wollen oder<br />
nicht“, sagt Quedees und zieht die Schultern<br />
hoch, „wir sind in Afghanistan in einer Übergangsperiode<br />
voneinem traditionellen zu einem<br />
modernen Land. Und Konflikte liegen<br />
nun mal in der Natur einer Übergangsperiode.“<br />
Der Wertewandel fordere Menschen aller<br />
Altersgruppen und aller Bildungsschichten<br />
heraus,Universitätsabgänger wie Analphabeten.<br />
Er habe nicht nur die städtische Bevölkerung<br />
erfasst, sondern auch die Menschen in<br />
den Dörfern. „Medien oder Internet kommen<br />
doch überall hin.“<br />
Es ist aber nicht nur die minimale Zeitspanne,die<br />
Afghanen hatten, um sich mit den<br />
neuen Ideen und Lebensbildern anzufreunden.<br />
Verschärft werden die Konflikte zusätzlich<br />
dadurch, dass in Afghanistan noch immer<br />
Krieg herrscht. Dieständige Übererregbarkeit<br />
aus früheren Traumatisierungen –wenn also<br />
Menschen permanent Angst haben, dass ihnen<br />
vergangenes Leid wieder zustößt –hält<br />
sie inkonstanter emotionaler Anspannung.<br />
„Bei kleinen Änderungen im Familiensystem<br />
kann das dann schnell in extremes Kontrollverhalten,<br />
Schläge oder sogar Folter umschlagen“,<br />
sagt Quedees.<br />
HUSSEIN BINISH ÜBERLEGT lange. „Nein,<br />
nein“, winkt er schließlich ab.Mit seinen Eltern<br />
habe er mittlerweile rein gar nichts<br />
mehr gemeinsam. Der 27-Jährige, geboren<br />
in derProvinz Daikundi, warimAlter von19<br />
mit mehreren Freunden von seinem Heimatdorf<br />
nach Kabul gezogen, um zu studieren.<br />
Als sie damals in Kabul ankamen, hatten<br />
sie nichts.„EinFreund hat während der Vorlesungen<br />
mit offenen Augen geschlafen –<br />
weil wirnie genugzuessen hatten. Aber Bildung<br />
war für uns das Wichtigste“, erinnert<br />
sich Binish.<br />
Es dauerte nicht lange, bis Philosophen<br />
wie Heidegger, Camus, Kant oder ihr iranischer<br />
Kollege Mustafa Malikian die Weltanschauung<br />
von Binish auf den Kopf stellten.<br />
Nächtelang sah er YouTube-Videos und las<br />
sich durch Stapel vonBüchern,wie eine Sardine<br />
zwischen seinen fünf Zimmer-Mitbewohnern<br />
liegend. Heute, sagt er, glaube er<br />
nicht mehr an afghanische Traditionen, an<br />
„Meine Mutter weiß nichts von dem, wasich weiß“: Getrennte Generationen in der Provinz Bamiyan.