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CMS-Magazin RADAR Nr. 7 April 2019

Das CMS-Magazin RADAR soll nicht nur ein Lesegenuss sein. Auch das Bild, die Illustration, hat einen besonderen Stellenwert. Kunstschaffende und Fotograf/innen haben für die bisherigen Ausgaben gearbeitet oder ihre Werke zur Verfügung gestellt. Zum 40. Geburtstag des Cartoonmuseums hat RADAR Schmuckstücke aus dem Fundus ausgewählt: Kostproben aus dem reichen Schatz in der St. Alban-Vorstadt 28. Ein Appetizer für die Dauerausstellung und die thematischen Ausstellungen in einem der kleinsten, aber bedeutendsten Museen für die neunte Kunst

Das CMS-Magazin RADAR soll nicht nur ein Lesegenuss sein. Auch das Bild, die Illustration, hat einen besonderen Stellenwert. Kunstschaffende und Fotograf/innen haben für die bisherigen Ausgaben gearbeitet oder ihre Werke zur Verfügung gestellt. Zum 40. Geburtstag des Cartoonmuseums hat RADAR Schmuckstücke aus dem Fundus ausgewählt: Kostproben aus dem reichen Schatz in der St. Alban-Vorstadt 28. Ein Appetizer für die Dauerausstellung und die thematischen Ausstellungen in einem der kleinsten, aber bedeutendsten Museen für die neunte Kunst

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Das <strong>Magazin</strong> der Christoph Merian Stiftung<br />

Cartoonmuseum Basel<br />

Vierzig Jahre für die<br />

neunte Kunst<br />

<strong>Nr</strong>. 7 <strong>April</strong> <strong>2019</strong>


Editorial<br />

Geschenktes<br />

Lächeln<br />

Titelbild<br />

Andreas Gefe (*1966, Schweiz), Der ungläubige Thomas,<br />

2006, 57 × 44 cm, Acryl auf Halbkarton<br />

Schon seit vierzig Jahren gibt es die Sammlung Karikaturen & Cartoons.<br />

Vierzig Jahre sind beachtlich, aber nicht bloss wegen der Anzahl Jahre,<br />

sondern auch wegen der Entwicklung, die die satirische Kunst und die<br />

Sammlung Karikaturen & Cartoons seit 1979 durchlaufen haben. Angefangen<br />

hat alles mit einem grosszügigen Mäzen, Dieter Burckhardt,<br />

dem eigensinnigen Kurator Jüsp (Jürg Spahr) und einem Kabinett, eingemietet<br />

in einem Altstadthaus in der St. Alban-Vorstadt. Die Stars der<br />

damaligen Zeit waren: Mordillo, Loriot, Glück, Sokol, Rosado, Sempé …<br />

Trägerin des Kabinetts war die unselbstständige Stiftung Karikaturen<br />

& Cartoons, welche Dieter Burckhardt mit Kapital geäufnet und der<br />

Christoph Merian Stiftung (<strong>CMS</strong>) geschenkt hatte. Finanziert wurde das<br />

Kulturprojekt vorerst ausschliesslich aus den Erträgen von Burckhardts<br />

Stiftung. Die Ziele der Stiftung sahen eine Beschränkung auf Originalwerke<br />

des 20. Jahrhunderts vor, den Verzicht auf «tagespolitische<br />

Schöpfungen», den Aufbau einer einschlägigen Bibliothek und langfristig<br />

die «Schaffung eines Studienzentrums für diese Kunstrichtung».<br />

Weiter sollte die Stiftung dazu beitragen, Karikaturen und Cartoons<br />

mehr Achtung und Beachtung zu verschaffen und den Besucherinnen<br />

und Besuchern ein «Lächeln und Schmunzeln» zu schenken.<br />

Auf Jürg Spahr folgten weitere Kuratorinnen und Kuratoren. Aus<br />

dem Kabinett wurde 1996 ein veritables Museum, ein Schmuckstück am<br />

neuen, heutigen Domizil in einem alten Haus an der St. Alban-Vorstadt<br />

28 mit einem modernen Hinterhofgebäude von Herzog & de Meuron.<br />

Und vieles mehr hat sich geändert. Heute werden im Museum nicht<br />

mehr nur Originalwerke der Karikatur- und Cartoonkunst gesammelt<br />

und gezeigt. Das Cartoonmuseum hat sich der ganzen Fülle von Ausdrucksformen<br />

und Medien der satirischen Kunst geöffnet: Comics,<br />

digitalen Zeichnungen, Trickfilmen, Videofilmen mit zeichnerischen<br />

Elementen, Mangas, Collagen, plastischen Figuren, Wortbildern, Schabkartons<br />

usw. Das Museum spricht damit ein breites und vor allem auch<br />

ein immer jüngeres Publikum an.<br />

Unter Museumsleiterin Anette Gehrig hat sich das Cartoonmuseum<br />

mit qualitativ hochstehenden und sorgfältig präsentierten Ausstellungen<br />

hervorragend entwickelt. Die <strong>CMS</strong> führt es deshalb seit 2016 –<br />

neben dem Christoph Merian Verlag und den Merian Gärten – als dritte<br />

eigene Institution und alimentiert es mit zusätzlichen Mitteln. Denn die<br />

Erträge der Stiftung von Dieter Burckhardt reichen schon lange nicht<br />

mehr, um den Betrieb in der heutigen Form aufrechtzuerhalten.<br />

Immer häufiger erhält das Museum Rechercheanfragen von Fachleuten,<br />

Medien und Einzelpersonen aus dem In- und Ausland. Erben von<br />

Nachlässen der satirischen Kunst, Bund und Kantone wenden sich im<br />

Zusammenhang mit der Sicherung und Inventarisierung von Kunstbeständen<br />

an das Cartoonmuseum – und Museen bitten um Leihgaben.<br />

So wurde das Cartoonmuseum zum nationalen Kompetenzzentrum der<br />

satirischen Kunst – worauf die <strong>CMS</strong> stolz ist – und der Traum von Dieter<br />

Burckhardt von einem «Studienzentrum» ist nach vierzig Jahren Wirklichkeit<br />

geworden.<br />

Dr. Beat von Wartburg<br />

Direktor der Christoph Merian Stiftung<br />

2<br />

Kostproben aus dem<br />

reichen Fundus<br />

Das <strong>CMS</strong>-<strong>Magazin</strong> <strong>RADAR</strong> soll nicht nur ein Lesegenuss<br />

sein. Auch das Bild, die Illustration, hat<br />

einen besonderen Stellenwert. Kunstschaffende<br />

und Fotograf/innen haben für die bisherigen<br />

Ausgaben gearbeitet oder ihre Werke zur Verfügung<br />

gestellt. Zum 40. Geburtstag des Cartoonmuseums<br />

hat <strong>RADAR</strong> Schmuckstücke aus dem<br />

Fundus ausgewählt: Kostproben aus dem reichen<br />

Schatz in der St. Alban-Vorstadt 28. Ein Appetizer<br />

für die Dauerausstellung und die thematischen<br />

Ausstellungen in einem der kleinsten, aber bedeutendsten<br />

Museen für die neunte Kunst<br />

5 Wie alles begann<br />

Sophie Burckhardt-Furrer<br />

8 Vom Kabinett zum<br />

Kompetenzzentrum<br />

Das Cartoonmuseum gestern<br />

und heute<br />

10 Die Ursprünge des Comic<br />

Basel und Genf!<br />

12 Kunst, kein Kinderkram<br />

Ein Plädoyer für die neunte Kunst<br />

13 Für junge Sprachtalente<br />

Wortstellwerk auf dem Dreispitz<br />

14 Für aussergewöhnliche<br />

Menschen<br />

AHA! im St. Johann<br />

16 Obdachlose in Basel<br />

Die Studie der <strong>CMS</strong><br />

Anna Sommer (*1968, Schweiz), Die Künstler, 2007, 40 × 30 cm, Papierschnitt


Gespräch<br />

«Er war<br />

ein sehr<br />

humorvoller<br />

Mensch!»<br />

Dieter Burckhardt hat zusammen mit seiner Frau Sophie Burckhardt-<br />

Furrer das heutige Cartoonmuseum Basel erst ermöglicht: Das Ehepaar<br />

hat seine umfangreiche Sammlung in eine Stiftung überführt und 1979<br />

der <strong>CMS</strong> anvertraut. Damit legte das Paar den Grundstein für eines der<br />

international bedeutendsten Museen für die neunte Kunst. Im Gespräch<br />

mit <strong>RADAR</strong> erzählt die heute 84-jährige Witwe Sophie Burckhardt-<br />

Furrer, wie es dazu gekommen ist, was sie auf ihren Reisen mit ihrem<br />

Mann und mit dem Basler Karikaturisten Jüsp erlebt hat und wie die<br />

Ankäufe zustande kamen.<br />

Tomi Ungerer (1931–<strong>2019</strong>, Frankreich/Irland), 1996, 30 × 21 cm, Tusche auf Papier<br />

<strong>RADAR</strong>: Frau Burckhardt, Ihr Mann ist 1991 verstorben.<br />

Was für ein Mensch war er?<br />

Sophie Burckhardt-Furrer: Mein Mann war ein sehr origineller Typ.<br />

Er stammte ja aus dem ‹Daig› – aber er fiel aus dem Rahmen der gehobenen<br />

Basler Gesellschaft. Er hatte grossen Sinn für Humor und eine grosse<br />

Affinität zum englischen Humor. Er war ja Direktor in der damaligen<br />

Geigy, hat in den USA gelebt und auch England bereist. Ich selber hatte<br />

eine englische Mutter und deshalb ebenfalls einen starken Bezug zum<br />

englischen Humor. Das hat uns verbunden.<br />

Wie haben Sie Ihren Mann kennengelernt?<br />

Mein erster Mann war Direktor bei der UNO für Science und Technology.<br />

In seiner Funktion musste er viel reisen – und ich begleitete ihn. In<br />

Buenos Aires wartete ich mal in einem Hotel auf ihn. Dann kam ein hochgewachsener<br />

Mann herein, Hartmann Koechlin – mit Dieter, seinem Vetter.<br />

Dieter war in dieser Zeit in der Geigy für das Argentinien-Geschäft ver-<br />

Winsor McCay (1869–1934, USA), Little Nemo in Slumberland, 1908, 58 × 42 cm, Tusche auf Halbkarton<br />

antwortlich. Mein erster Mann kannte Dieter, und so kamen wir vier ins<br />

Gespräch. Dann haben Dieter und ich uns länger nicht mehr gesehen.<br />

Dieter hat uns später ins Gellertgut nach Basel eingeladen, das er später<br />

ja der <strong>CMS</strong> geschenkt hat. Ich fand Dieter ungemein lustig. So hat das<br />

angefangen …<br />

Später haben Sie Dieter Burckhardt geheiratet …<br />

Ja, das war auch ziemlich ungewöhnlich: Dieter ist zu unserer Hochzeit<br />

mit einem roten Schal und einer Dächlikappe erschienen. Er war<br />

schon ein ziemlich schräger Vogel.<br />

Sie haben mit Ihrem Mann eine der bedeutendsten Sammlungen<br />

von Karikaturen und Cartoons aufgebaut. Weshalb?<br />

Dieters Wunsch war es, die besten Karikaturen und kritischen Zeichnungen<br />

der Welt zu sammeln. Er fand, dass die Schweizer vieles viel zu<br />

ernst nehmen. In dieser Zeit traf er auf dem Flohmarkt auf dem Petersplatz<br />

Jüsp, Jürg Spahr, der damals schon ein bekannter Schweizer Karikaturist<br />

war. Sie kamen ins Plaudern, und Dieter erzählte ihm von seinem<br />

Vorhaben. Und Jüsp war Feuer und Flamme. Jüsp wurde danach quasi<br />

unser Kurator. Und dann sind wir zu dritt auf Reisen gegangen und haben<br />

die Sammlung aufgebaut.<br />

5<br />

Ronald Searle (1920–2011, Grossbritannien), Der Babysitter, 1976, 66 × 51 cm, Tusche und<br />

Aquarell auf Papier


Gespräch<br />

Erinnerungen an Begegnungen mit Künstlern?<br />

An Saul Steinberg natürlich. Der war damals schon ein älterer Herr.<br />

Er hat uns Basler in einer richtigen Ritterrüstung empfangen, als Gag.<br />

Und natürlich auch an Sempé – ein Gentleman alter Schule. Oder Loriot,<br />

den haben wir in der Nähe von München besucht. Ein aristokratischer<br />

Landlord. Viel ernster, als man es erwarten würde. Und Martial Leiter!<br />

Jesses, war das eine Nummer! Und Claire Bretécher, eine der wenigen<br />

Frauen. Eine beeindruckende, sehr direkte, sehr kritische Frau. Ich habe<br />

sie in Basel getroffen, und wir schrieben uns eine Zeit lang.<br />

Welche Karikaturisten mögen Sie am liebsten?<br />

Den grossen britischen Zeichner Ronald Searle mag ich sehr. Seine<br />

Katzen! Ich bin ein Katzennarr. Ein Bild von ihm habe ich behalten. Und<br />

Jüsp hat mir zum 60. Geburtstag ein Katzenbild geschenkt.<br />

Wer waren die Lieblinge Ihres Mannes?<br />

Vor allem Karikaturisten, die im ‹New Yorker› publiziert haben. Etwa<br />

Peter Arno. Diese Art von Humor gefiel Dieter ganz besonders: Wenn man<br />

die Karikaturen mit wenigen oder, noch besser: ohne Worte versteht. Oder<br />

Charles Addams: herrlich! Dieter mochte speziell auch jene Künstler,<br />

welche die bürgerliche Gesellschaft aufs Korn genommen haben. Das hat<br />

vielleicht auch mit seiner Herkunft zu tun: Er, der selber aus dem ‹Daig›<br />

Claire Bretécher (*1940, Frankreich), Die Schwangere, aus: Die Frustrierten, 1978,<br />

38 × 37 cm, Tusche und farbige Tusche auf Papier<br />

stammte, konnte sehr bissige Bemerkungen machen. Er hatte auch Spitznamen<br />

für Familienmitglieder: den gefrorenen Bajass zum Beispiel.<br />

Wie kamen Sie auf die Idee eines Museums?<br />

Dieter sagte einmal: «Auch du lebst nicht ewig.» Und wir waren uns<br />

einig: Unsere Arbeit und die Werke sollten in guter Hand und öffentlich<br />

zugänglich sein. Deshalb haben wir unsere Stiftung 1979 der Christoph<br />

Merian Stiftung übergeben. Unsere Sammlung ist jetzt vor einigen Jahren<br />

Wie muss man sich diese Reisen und Ankäufe vorstellen?<br />

aus dem alten Haus umgezogen in das von Herzog & de Meuron reno-<br />

Wir haben uns direkt mit den Künstlern in Verbindung gesetzt oder<br />

vierte neue Cartoonmuseum. Schön!<br />

über die Botschaften deren Adressen erhalten. Dann haben wir mit ihnen<br />

einen Termin abgemacht und sind in verschiedene Länder gereist: Argen-<br />

Verfolgen Sie die Aktivitäten des Cartoonmuseums noch?<br />

tinien, Japan, Brasilien, Frankreich, Belgien, Polen … Meistens haben wir<br />

Dieter ist vor bald dreissig Jahren gestorben, und ich bin jetzt selber<br />

sie in unser Hotel eingeladen. Zum Beispiel ins Hotel Lancaster in Paris<br />

alt. Letzten Sommer war ich noch im Cartoonmuseum und habe dem<br />

oder ins Algonquin in New York. Sie kamen und brachten ihre Mappen mit.<br />

Museum nach meinem Umzug in die Altersresidenz noch Werke aus mei-<br />

Wir haben mit den Künstlern diskutiert, ihre Werke ausgebreitet und<br />

nem privaten Bestand übergeben. Ich freue mich, dass das Museum so<br />

nahmen dann eine erste Auswahl vor. Und eine zweite und dritte. Jeder<br />

erfolgreich ist – und dass ich regelmässig eingeladen werde.<br />

von uns dreien sagte, welches Werk uns am besten gefiel. Und am Schluss<br />

sind Dieter und ich aus dem Zimmer raus und Jüsp hat mit den Künstlern<br />

Interview<br />

allein über das Finanzielle weiterverhandelt. Jüsp war der Profi und auch<br />

Sylvia Scalabrino und Anette Gehrig<br />

ein guter Geschäftsmann – er hatte ja eine eigene Werbeagentur. Aber wir<br />

haben nicht ‹gemärtet›. Wir haben den Künstlern immer gesagt, dass wir<br />

die Werke nicht weiterverkaufen, sondern einer breiten Öffentlichkeit<br />

zugänglich machen wollen. Das hat bei ihnen ‹gezündet› – deshalb haben<br />

sie uns oft auch Werke und Bücher dazugeschenkt. Und natürlich haben<br />

wir die Künstler auch in ihren Ateliers besucht.<br />

Zu dritt reisen ist ja noch speziell …<br />

mit zwei sehr selbstbewussten Männern!<br />

Wir waren ein eingeschworenes Trio. Jeder hat seine Rolle gehabt, ich<br />

war nicht nur das ‹Fraueli›. Mein Métier war es, mich in den Buchhandlungen<br />

der Länder umzuschauen und einzukaufen: Kataloge, Publikationen,<br />

Zeitschriften und Bücher. Da haben sie mir auch nicht reingeredet.<br />

Wir haben auf unseren Reisen laufend schwere Pakete nach Hause<br />

geschickt – so kam auch die internationale Bibliothek des heutigen Cartoonmuseums<br />

zustande, die ich in der Anfangszeit mit aufgebaut und<br />

betreut habe. Mit vielen historischen Standardwerken wie dem französischen<br />

‹Rire›, ‹L’assiette au beurre›, den ‹Münchner Bilderbogen›, dem<br />

amerikanischen ‹The New Yorker› oder dem ‹Simplicissimus›. Und ich<br />

habe während der Treffen auch übersetzt. Ich beherrsche mehrere<br />

Sprachen, und Dieter und Jüsp konnten kein Spanisch.<br />

Erinnern Sie sich noch an besondere Erlebnisse auf Ihren Reisen?<br />

In Buenos Aires zeigten uns mal zwei Herren das dortige Karikaturenmuseum<br />

am Stadtrand. Zwei Herren mit gelackten Haaren. Als wir<br />

dort waren, gab’s einen Wolkenbruch mit sintflutartigen Regenfällen.<br />

Und dann brach das Wellendach ein und wir standen buchstäblich im<br />

Regen. Wir haben so gelacht – aber den beiden Museumsbesitzern war<br />

das natürlich sehr peinlich.<br />

6<br />

Sempé (*1932, Frankreich), Ohne Titel, 1974, 45 × 41 cm, Aquarell, Kreide und Farbstift<br />

auf Papier<br />

Joann Sfar (*1971, Frankreich), Le chat du rabbin, Bd. 7, La tour de Bab-El-Oued, 2017, 42 × 29,6 cm, Tusche und farbige Tusche auf Papier


Entwicklung<br />

Seit 1979 unterwegs<br />

für die Zeichnung<br />

Schon kurz nach der Eröffnung 1996 begann das Cartoonmuseum<br />

Basel unter der Leitung des Direktors und<br />

Kurators Daniel Bolsiger mit der Präsentation thematischer<br />

Wechselausstellungen, die nicht mehr nur auf<br />

Werke aus Burckhardts Sammlung zurückgriffen. Wenn<br />

das Museum heute Zeichnung zeigt, deckt es deshalb<br />

mit so unterschiedlichen Künstlern wie Lorenzo Mattotti,<br />

Robert Crumb, Jacques Tardi, Joe Sacco, Ulli Lust,<br />

Joann Sfar und Christoph Niemann ein viel breiteres<br />

Spektrum ab als zu den Zeiten seiner Gründung.<br />

Die Bilderzählung im erweiterten Sinn ist zur<br />

Klammer der Ausstellungstätigkeit geworden. Das<br />

Cartoonmuseum ist genauso offen für eine winzige<br />

Tuscheskizze wie für einen abendfüllenden Zeichentrickfilm,<br />

eine aquarellierte Illustration wie eine 400<br />

Seiten starke Graphic Novel, eine grossformatige Kohlezeichnung<br />

wie eine 3-D-Animation für VR-Brillen. Es<br />

hat sich in den vierzig Jahren seines Bestehens von<br />

einem aus der eigenen Sammlung heraus wirkenden<br />

Kabinett zu einem neugierigen Ort für die erzählende<br />

Zeichnung entwickelt. Zu einem Haus für die sorgfältige<br />

und qualifizierte Vermittlung einer hochaktuel-<br />

Ausstellung ‹Christoph Niemann. That’s How!›, 2017<br />

len, aber immer noch unterschätzten Kunst, das<br />

international wahrgenommen und gewürdigt wird<br />

Ausstellung ‹Ulli Lust. Zu viel ist nicht genug›, 2018<br />

und ein grosses, interessiertes und durchmischtes<br />

Publikum anspricht.<br />

In den vierzig Jahren seines Bestehens hat sich das<br />

plastische Rahmung von Zeichnungen, die eigentlich<br />

Das Cartoonmuseum ist aber nicht nur Ausstel-<br />

Cartoonmuseum Basel vom kleinen Kuriositäten-<br />

für die Publikation in Zeitschriften geschaffen worden<br />

lungsort, sondern auch Kompetenzzentrum, das dank<br />

kabinett für Karikaturen zu einem international<br />

waren, ironisierte und miniaturisierte zudem das nahe<br />

seiner öffentlichen Bibliothek, der Aufnahme von<br />

bedeutenden Kompetenzzentrum für die gezeichnete<br />

gelegene Kunstmuseum mit seinen schweren Gold-<br />

bedeutenden Nachlässen und seiner aktiven Vernet-<br />

Erzählung entwickelt.<br />

rahmen. Dieser humorvolle Kontrast zum bürgerli-<br />

zungsarbeit fest in die Zeichnerszene eingebunden ist<br />

chen Kunstbetrieb war eine subversive Triebfeder<br />

– und diese mitgestaltet. Dazu gehört beispielsweise<br />

Der Basler Dieter Burckhardt-Furrer (1914–1991) trug<br />

Burckhardts, der Parodien auf Kunst und Künstler zu<br />

das von ihm jüngst mitinitiierte, schweizweit aktive<br />

neben seiner beruflichen Tätigkeit als Agrochemiker<br />

einem inhaltlichen Schwerpunkt seiner Sammlung<br />

Réseau BD Suisse (Comic Netzwerk Schweiz).<br />

aus persönlichem Interesse eine hochkarätige und<br />

machte. Den Umzug ins grössere, von Herzog & de<br />

Zum 40. Geburtstag des Cartoonmuseums wün-<br />

repräsentative Sammlung von Originalwerken der gros-<br />

Meuron rückseitig mit einem Neubau ergänzte spät-<br />

sche ich dem Haus weiterhin viel Aufmerksamkeit von<br />

sen humoristischen Zeichner des 20. Jahrhunderts<br />

gotische Altstadthaus an der St. Alban-Vorstadt 28 im<br />

seinem Publikum und eine innovative und breit aufge-<br />

zusammen. Dabei folgte er einerseits persönlichen Vor-<br />

Jahr 1996 hat Dieter Burckhardt leider nicht mehr<br />

stellte Unterstützung, die mithilft, den Schub und die<br />

lieben und besuchte andererseits mit systematischer<br />

erlebt.<br />

Leuchtkraft der zeitgenössischen narrativen Zeichnung<br />

Akribie Künstler aus rund vierzig Ländern, um Werke<br />

Ein bedeutendes Leitmedium für Burckhardts<br />

und des Comic weiter zu fördern und zu vermitteln.<br />

anzukaufen. Sein Interesse galt weniger den tagespo-<br />

Sammlung war das 1925 erstmals erschienene Maga-<br />

litischen Karikaturen als vielmehr Cartoons und Zeich-<br />

zin ‹The New Yorker›, das seine Kurzgeschichten, Kri-<br />

Anette Gehrig<br />

nungen aus gesellschaftskritischer oder alltagsphilo-<br />

tiken und Essays mit Cartoons der besten internatio-<br />

Leiterin und Kuratorin Cartoonmuseum Basel<br />

sophischer Warte mit entsprechend längerer Lesbarkeit.<br />

nalen Zeichner ergänzt und dessen Titelblatt immer<br />

Um seine Sammlung öffentlich zugänglich zu machen,<br />

eine Zeichnung ziert. Burckhardt stellte zu Lebzeiten<br />

baute Burckhardt zusammen mit seinem Freund, dem<br />

vor allem jene Künstler aus, die im ‹New Yorker› pub-<br />

Zeichner und ersten Kurator Jürg Spahr (Jüsp, 1925–<br />

lizierten. Später öffnete sich das <strong>Magazin</strong> auch dem<br />

2002), das Museum vor vierzig Jahren auf.<br />

Comic – insbesondere, seit Françoise Mouly dessen<br />

Der erste Ausstellungsort an der St. Alban-Vorstadt<br />

9, die ‹Sammlung Karikaturen und Cartoons›,<br />

wie das Museum 1979 hiess, war ein verwinkeltes Altstadthaus<br />

und als klassisches Kabinett eingerichtet.<br />

Die meist kleinformatigen Bilder zeitgenössischer<br />

Zeichner wurden in nostalgischen, von Spahr mit<br />

Liebhaberblick zusammengetragenen Rahmen präsentiert.<br />

Die pittoreske Inszenierung der holzgetäferten<br />

kleinen Zimmer machte bewusst Anleihen bei<br />

Kuriositätenkabinetten und Wunderkammern und<br />

betonte die Vielfalt der thematisch und stilistisch<br />

zusammengewürfelten Sammlung. Die aufwendige,<br />

Bildredaktorin ist (Mitbegründerin des Comicmagazins<br />

‹RAW› und Frau des ‹Maus›-Zeichners Art Spiegelman).<br />

Diese Öffnung vollzog auch das Cartoonmuseum<br />

Basel, denn viele der besten und wichtigsten<br />

Zeichnerinnen und Zeichner arbeiten heute im Comic.<br />

Der Comic hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts<br />

fundamental verändert, zielt thematisch<br />

und inhaltlich auf ein erwachsenes Publikum und ist<br />

in Teilen zu einer literarisch und zeichnerisch bedeutenden<br />

Kunstform herangereift. Er vereint heute Elemente<br />

aus freier Kunst und Literatur zu kraftvoller,<br />

gezeichneter Erzählung.<br />

8<br />

Ausstellung ‹Lorenzo Mattotti. Imago›, 2017<br />

Ausstellung ‹Joost Swarte. Zeichner und Gestalter›, 2014


Le neuvième art<br />

Die neunte Kunst<br />

3 + 5 = 9<br />

La puissance narrative du dessin<br />

Die narr-ative Kraft der Zeichnung<br />

3 + 5 = 9<br />

C’est à Bâle où il réside de l’été 1492 à l’automne 1493<br />

que le jeune Albrecht Dürer, 21 ans, participe à l’illustration,<br />

sous la forme de bois gravés, d’un poème satirique<br />

appelé à devenir un best-seller : Das Narrenschiff<br />

de Sebastian Brant. Paru en 1494, ce livre décrit la folie<br />

humaine en 112 chapitres et donne naissance à un nouveau<br />

genre littéraire : la Narrenliteratur.<br />

À Bâle aussi que le dessinateur, graveur et orfèvre<br />

d’origine soleuroise Urs Graf s’établit dès 1509, pionnier<br />

d’une autonomisation du dessin, premier « dessinateur<br />

» de l’histoire de l’art suisse, qui pratique le dessin<br />

non comme étape préparatoire au tableau, mais le<br />

dessin pour lui-même, un dessin puissamment narratif,<br />

qu’il peuple de soldats, de filles d’auberge et de fous.<br />

Voyez son Champ de bataille de Marignan ou sa Scène<br />

de taverne de 1521 (dans ce dernier dessin, la Mort s’exprime<br />

dans des phylactères).<br />

À Bâle encore que Hans Holbein projette en 1520-<br />

22 le décor fantasmagorique et en strips architecturaux<br />

de la maison « Zum Tanz » à l’angle de Eisengasse et<br />

Tanzgässlein (détruite hélas, mais documentée par des<br />

dessins). À Bâle que le même Holbein orne de savoureux<br />

dessins les marges d’un exemplaire de L’Éloge de<br />

la folie d’Érasme et qu’il compose, vraisemblablement<br />

en 1526, son Totentanz, une suite de 41 bois gravés qui<br />

sera publiée à Lyon en 1538 sous le titre Les Simulachres<br />

et historiées faces de la mort.<br />

« Historiées faces »…Si l’humanisme rhénan ne<br />

fait pas encore de bande dessinée, il participe de la<br />

façon la plus décisive au genre « historié » et à l’avènement<br />

d’une puissance folle (comme toutes les puissances),<br />

la puissance narrative, pour ne pas dire Narrative,<br />

du dessin. Et ladite puissance narrative ne<br />

répond-elle pas à un besoin primordial de l’homme ?<br />

Ne nous ramène-t-elle pas par le chemin des écoliers<br />

à une période antérieure aux premières écritures ? La<br />

grotte Chauvet (Aurignacien) nous met en présence de<br />

représentations d’animaux qui semblent témoigner<br />

déjà d’un besoin originel de communiquer avec le seul<br />

moyen pré-scriptural, l’image, le dessin.<br />

« Raconter des histoires…. », c’est ainsi que le<br />

célèbre dessinateur de bande dessinée et théoricien Will<br />

Eisner ouvre son livre sur Le Récit graphique. « Raconter<br />

des histoires est une habitude profondément ancrée<br />

dans les groupes humains, tant anciens que modernes.<br />

On utilise des histoires pour enseigner le comportement<br />

social, pour débattre de morale et de valeurs, ou<br />

pour satisfaire la curiosité. La narration d’une histoire<br />

requiert une habileté à dramatiser les relations des individus<br />

et les problèmes du quotidien, à communiquer des<br />

idées ou à mettre en scène des fictions. »<br />

Trois petits siècles et 250 kilomètres séparent la<br />

Renaissance bâloise de l’invention de la bande dessinée.<br />

C’est à un Genevois en effet, l’artiste et pédagogue<br />

Rodolphe Töpffer, que revient l’idée, en 1827, d’exploiter<br />

la puissance narrative du dessin sous forme d’albums<br />

qui combinent texte et dessin dans des strips. « Ce petit<br />

livre, explique-t-il au sujet de Histoire de Monsieur<br />

Jabot, est d’une nature mixte. Il se compose de dessins<br />

autographiés au trait. Chacun des dessins est accompagné<br />

d’une ou deux lignes de texte. Les dessins, sans<br />

le texte, n’auraient qu’une signification obscure ; le<br />

texte, sans les dessins, ne signifierait rien. » Immédiatement<br />

l’invention de Töpffer séduit Goethe, Balzac,<br />

l’Europe des lettres.<br />

Car elle est une littérature, mais aussi un langage, et<br />

surtout un art. En 1964, elle obtient sa place dans la<br />

fameuse classification universelle des arts en devenant<br />

le neuvième art. Comme quoi la classification des arts<br />

est mauvaise mathématicienne : la bande dessinée est<br />

une combinaison du troisième art (les arts du dessin)<br />

avec le cinquième (la littérature), autrement dit : 3 + 5<br />

=… 9.<br />

Rendez-vous compte ! Elle est le seul médium<br />

artistique jamais inventé par un Suisse ! La Suisse n’at-elle<br />

pas de quoi être fière ? Et si aujourd’hui, la bande<br />

dessinée se cherche encore un toit dans son lieu de<br />

naissance au bout du lac Léman, elle s’en est déjà<br />

trouvé un à Bâle. Depuis plusieurs années en effet, à<br />

un kilomètre des strips architecturaux de la défunte<br />

Haus zum Tanz de Holbein, se dresse le Cartoonmuseum.<br />

Principal lieu de conservation (avec le Centre BD<br />

de Lausanne) et unique lieu d’exposition de la bande<br />

dessinée en Suisse, son architecture se compose de<br />

deux maisons reliées entre elles par des passerelles,<br />

un peu à l’image du médium qu’il défend et qui opère<br />

la réunion des arts. Au fil d’une programmation intelligente<br />

et rigoureuse alternant les scènes nationale et<br />

internationale, les sujets patrimoniaux et les nouvelles<br />

tendances, on a vu défiler des artistes aussi remarquables<br />

que (pour me limiter à quelques noms) : Anna<br />

Sommer et Noyau, Winsor McCay, Joost Swarte, ATAK,<br />

Joe Sacco, Robert Crumb, Zep, Lorenzo Mattotti, Ulli<br />

Lust, et actuellement Jacques Tardi….<br />

Responsable de cette programmation et du repositionnement<br />

du musée, sa directrice Anette Gehrig est<br />

également cofondatrice et présidente du Réseau BD<br />

Suisse, toute jeune association qui s’est créée l’année<br />

dernière dans le but d’acquérir à la bande dessinée ses<br />

lettres de noblesse, la reconnaissance, les espaces, la<br />

visibilité, le soutien, les prix qu’elle mérite.<br />

Longtemps décriée – mes parents ne pensaient-ils<br />

pas que c’était une sous-littérature ? –, la bande dessinée<br />

s’impose désormais à côté (et non plus en dessous)<br />

de la littérature, de la peinture, du cinéma,<br />

comme l’un des médiums artistiques les plus fascinants<br />

et les plus innovants. Et aux côtés de Holbein,<br />

Füssli, Vallotton, Giacometti ou Godard, aux côtés de<br />

Rousseau, Walser ou Dürrenmatt, il y a Töpffer et ses<br />

disciples, la puissance narrative du dessin pour faire<br />

rayonner la Suisse artistique loin à la ronde….<br />

Dominique Radrizzani<br />

directeur artistique de BDFIL<br />

Dominique Radrizzani: Historien de l’art, directeur artistique<br />

de BDFIL et de la revue Bédéphile, ex-directeur du Musée Jenisch<br />

Vevey, Prix Malraux 2004, commissaire de la rétrospective<br />

Balthus (Tokyo-Kyoto, 2014) et de L’Écriture dessinée (Maison<br />

Balzac, Paris, 2015). Il a notamment écrit sur Alechinsky, Boltanski,<br />

Duchamp, Lemancolia, Vallotton.<br />

10<br />

Robert Crumb (*1948, États-Unis, France), Couple Bigfoot, 2000,<br />

45 × 36 cm, Aquarelle sur Papier (détail)<br />

Robert Crumb (*1948, USA/Frankreich), Bigfoot Couple, 2000,<br />

45 × 36 cm, Aquarell auf Papier (Detail)<br />

In Basel schuf der junge, gerade 21-jährige Albrecht<br />

Dürer während seines Aufenthaltes vom Sommer 1492<br />

bis zum Herbst 1493 einige der Holzschnitte für die<br />

Publikation eines satirischen Gedichts, das zum Bestseller<br />

avancieren sollte: ‹Das Narrenschiff› von Sebastian<br />

Brant. Das 1494 veröffentlichte Werk beschreibt die<br />

menschliche Torheit in 112 Kapiteln und begründete ein<br />

neues literarisches Genre: die Narrenliteratur.<br />

Ebenfalls in Basel wurde 1509 Urs Graf ansässig.<br />

Der Zeichner, Stecher und Goldschmied aus Solothurn<br />

war ein Pionier der Zeichnung als Gattung per se, der<br />

erste eigentliche ‹Zeichner› der Schweizer Kunstgeschichte,<br />

der seine Zeichnungen nicht als erste Schritte<br />

zu einem Gemälde betrachtete, sondern als eigenständige<br />

Kunstform, durch und durch narrativ geprägt und<br />

bevölkert von Soldaten, Kneipendirnen und Narren.<br />

Siehe hierzu seine ‹Schlacht von Marignano› oder ‹Werbung›<br />

von 1521, wo der Tod seine Meinung auf Spruchbändern<br />

kundtut.<br />

Wiederum in Basel entwarf Hans Holbein 1520–<br />

1522 die phantasmagorische Bemalung des Hauses<br />

‹Zum Tanz› an der Ecke Eisengasse und Tanzgässlein<br />

(leider zerstört, aber in Zeichnungen erhalten), die wie<br />

in Comicstrips in eine Scheinarchitektur integriert ist.<br />

Im selben Basel schmückte derselbe Holbein die Seiten<br />

eines Exemplars von Erasmus’ ‹Lob der Torheit› mit<br />

köstlichen Zeichnungen und schuf wohl 1526 seinen<br />

‹Totentanz›: eine Folge von 41 Holzschnitten, die 1538<br />

in Lyon unter dem Titel ‹Les Simulachres et historiées<br />

faces de la mort› (Die Erscheinungen und erzählerischen<br />

Gesichter des Todes) veröffentlicht wurde.<br />

«Erzählerische Gesichter». Auch wenn der Humanismus<br />

in der Stadt am Rheinknie damals noch keine<br />

Comics hervorbrachte, trug er doch überaus entscheidend<br />

zum ‹erzählerischen› Genre und zum Entstehen<br />

einer ungezähmten Kraft (ungezähmt wie alle Kräfte)<br />

bei: der narrativen, wenn nicht sogar der narr-ativen<br />

Kraft der Zeichnung. Und entspricht diese narrative<br />

Kraft nicht einem grundlegenden Bedürfnis des Menschen?<br />

Holt sie uns nicht über einen Umweg in eine Zeit<br />

zurück, die vor den ersten Schrifterfahrungen liegt? Die<br />

Chauvet-Höhle im Tal der Ardèche (Aurignacien-Kultur)<br />

zeigt uns Darstellungen von Tieren, die bereits Zeugnis<br />

von einem ursprünglichen Bedürfnis ablegen, anhand<br />

des einzigen vorschriftlichen Mittels zu kommunizieren:<br />

des Bildes, der Zeichnung.<br />

«Geschichten erzählen» ... So beginnt der berühmte<br />

Comiczeichner und Theoretiker Will Eisner sein Buch<br />

über ‹Grafisches Erzählen›: «Geschichten erzählen ist<br />

eine tief verwurzelte Gewohnheit in Menschengruppen,<br />

sowohl der alten als auch der modernen Zeit. Geschichten<br />

nutzt man, um soziales Verhalten zu schulen, um<br />

sich mit Moralvorstellungen und Werten auseinanderzusetzen,<br />

oder um die Neugier zu stillen. Die Erzählung<br />

einer Geschichte erfordert ein bestimmtes Geschick<br />

darin, die zwischenmenschlichen Beziehungen und die<br />

alltäglichen Probleme zu dramatisieren, Ideen zu vermitteln<br />

oder Fiktionen zu inszenieren.»<br />

Knapp drei Jahrhunderte und 250 Kilometer trennen<br />

die Basler Renaissance des Comics von seiner<br />

Erfindung. Es war tatsächlich einem Genfer, dem<br />

Künstler und Pädagogen Rodolphe Töpffer, vergönnt,<br />

1827 die narrative Kraft der Zeichnung in Alben zu<br />

erschliessen, die Text und Zeichnung in Strips verbinden.<br />

«Dieses kleine Buch hat einen gemischten Charakter»,<br />

11<br />

sagt er über ‹Histoire de Monsieur Jabot›. «Es besteht<br />

aus hektografierten Zeichnungen. Jede Zeichnung wird<br />

mit ein oder zwei Zeilen Text ergänzt. Ohne den Text<br />

hätten die Zeichnungen eine unklare Bedeutung; ohne<br />

die Zeichnungen würde der Text nichts bedeuten.» Und<br />

sofort waren Goethe, Balzac, die europäische Intelligentsia<br />

von Töpffers Erfindung fasziniert.<br />

Denn der Comic ist eine Literatur für sich, aber<br />

auch eine Sprache und nicht zuletzt eine Kunstform.<br />

1964 wurde ihm in der berühmten universellen Klassifizierung<br />

der Künste der Rang der neunten Kunst zugewiesen.<br />

Demzufolge erweist sich die Klassifizierung der<br />

Künste als schlechte Mathematikerin: Der Comic ist eine<br />

Kombination der dritten (der Zeichnung) und der fünften<br />

Kunst (der Literatur), anders gesagt: 3 + 5 =… 9.<br />

Man stelle sich vor – der Comic ist das einzige künstlerische<br />

Medium, das je von einem Schweizer erfunden<br />

wurde! Sollte die Schweiz darauf nicht stolz sein? Auch<br />

wenn heute die Comic-Kunst in ihrem Geburtsort am<br />

Ende des Genfer Sees noch immer eine Bleibe sucht, so<br />

hat sie jedenfalls eine solche in Basel bereits gefunden.<br />

Denn seit mehreren Jahren befindet sich einen Kilometer<br />

von den Architekturstrips des ehemaligen Holbeinschen<br />

Hauses ‹zum Tanz› entfernt das Cartoonmuseum.<br />

Als zentraler Aufbewahrungsort (zusammen mit dem<br />

Centre BD in Lausanne) und einziger permanenter Ausstellungsort<br />

für Comic-Kunst in der Schweiz besteht<br />

das Museum aus zwei Häusern, die miteinander durch<br />

Brücken verbunden sind. Darin ähnelt es dem Medium,<br />

das es vertritt und das verschiedene Künste vereint.<br />

Aufgrund einer intelligenten und durchdachten Programmgestaltung<br />

wechseln sich hier die nationale und<br />

internationale Comicszene, die Tradition und neue<br />

Strömungen ab. Hier wurden so bedeutende Künstler<br />

gezeigt wie (um nur wenige Namen zu nennen): Anna<br />

Sommer und Noyau, Winsor McCay, Joost Swarte, ATAK,<br />

Joe Sacco, Robert Crumb, Zep, Lorenzo Mattotti, Ulli<br />

Lust, und aktuell Jacques Tardi.<br />

Anette Gehrig ist für diese Programmgestaltung<br />

und die Ausrichtung des Museums verantwortlich. Sie<br />

leitet nicht nur das Museum, sondern ist auch Mitbegründerin<br />

und Präsidentin des ‹Comic Netzwerks<br />

Schweiz›. Diese noch junge Vereinigung gründete sich<br />

im Jahr 2018 mit dem Ziel, der Comic-Kunst die Ehre,<br />

Anerkennung, Räume, Sichtbarkeit, Unterstützung und<br />

die Preise zu erkämpfen, die ihr zustehen.<br />

Der lange von oben herab betrachtete Comic<br />

(dachten meine Eltern nicht, das sei keine Literatur?)<br />

schafft sich inzwischen einen Platz neben (und nicht<br />

mehr unter) der Literatur, der Malerei, dem Film, als<br />

eines der faszinierendsten und innovativsten künstlerischen<br />

Medien der heutigen Zeit. Und an der Seite von<br />

Holbein, Füssli, Vallotton, Giacometti oder Godard, an<br />

der Seite von Rousseau, Walser oder Dürrenmatt stehen<br />

Töpffer und seine Schüler und die narrative Kraft der<br />

Zeichnung und lassen die Kunstszene der Schweiz weit<br />

über die Grenzen hinaus leuchten.<br />

Dominique Radrizzani<br />

künstlerischer Leiter BDFIL<br />

Dominique Radrizzani ist Kunsthistoriker, künstlerischer Leiter des<br />

bedeutenden Genfer Comicfestivals BDFIL (Festival de bande<br />

dessinée) und Herausgeber des <strong>Magazin</strong>s ‹Revue Bédéphil›.


Appell<br />

Wortstellwerk<br />

Brian Gallagher (*1967, Grossbritannien/Irland), The Mystery of Curating, 2012, 26 × 19 cm, Schabkarton<br />

Kunst oder<br />

Kinderkram?<br />

Plädoyer für eine stärkere Förderung<br />

der neunten Kunst<br />

Die private und öffentliche Kulturförderung in der Schweiz ist im internationalen<br />

Vergleich einzigartig. Fast für jede Sparte gibt es einen Fördertopf,<br />

mit dem Institutionen, Kunst- und Kulturschaffende und<br />

deren Projekte unterstützt werden. Einzige Ausnahme: der Comic.<br />

Comiczeichnerinnen und -zeichner werden kaum gefördert, und die<br />

entsprechenden Fördersummen sind im Vergleich zu anderen Sparten<br />

verschwindend klein.<br />

In der Schweiz können sich Genferinnen und Genfer um den Prix Rodolphe<br />

Töpffer de la bande dessinée bewerben. Der Genfer Rodolphe Töpffer<br />

(1799– 1846) gilt als Erfinder des Comics. Seit 1998 vergeben Stadt und Kanton<br />

Genf den inzwischen international angesehenen Preis. Vor sechs Jahren<br />

riefen Luzern, Zürich, Bern, St. Gallen und Winterthur die ‹Comic-Stipendien<br />

der Deutschschweizer Städte› ins Leben. Zeichnerinnen und<br />

Zeichner dieser Städte hatten bisher die Möglichkeit, sich für eines von<br />

drei Stipendien zu bewerben. Bern, St. Gallen und Winterthur sind aufgrund<br />

des Spardrucks im Kulturbereich unterdessen wieder ausgestiegen.<br />

Es blieben also noch Zürich und Luzern. Dafür kam vor drei Jahren dank<br />

der Initiative der Christoph Merian Stiftung die Stadt Basel dazu, deren<br />

Anteil die <strong>CMS</strong> finanziert.<br />

Das Migros-Kulturprozent unterstützt als einzige Förderinstitution<br />

die Vermittlung und Verbreitung von Comics als spezifische Kunstsparte.<br />

Wie lange es diesen Förderbereich bei Migros-Kulturprozent aber noch<br />

geben wird, ist unsicher, da der Förderinstitution grosse Umstrukturierungen<br />

bevorstehen. Pro Helvetia, der Bund, die Kantone und auch viele<br />

der privaten Förderstiftungen anerkennen den Comic noch immer nicht<br />

als eigenständige Kunstform. Sie fördern ihn, wenn überhaupt, über die<br />

traditionelle Literatur- oder Kunstförderung. Als Zwitter zwischen diesen<br />

beiden ‹Hochkulturen› fällt der Comic deshalb oft zwischen Stuhl und<br />

Bank. Für die Literaturförderung sind die in der Form von Comics erzählten<br />

Geschichten zu wenig komplex und zu wenig literarisch – und für die<br />

Kunstförderung Comics zu alltäglich und zu ‹angewandt›.<br />

Natürlich gibt es auch indirekte Arten der Comicförderung: Festivals,<br />

Verlage und Galerien ermöglichen den Kunstschaffenden Plattformen<br />

und Auftrittsmöglichkeiten. Eine sehr wichtige Stellung nimmt dabei das<br />

Cartoonmuseum Basel ein, das einzige Museum für das Genre in der<br />

Schweiz, das sich um das Sammeln, Erforschen, Ausstellen und Vermitteln<br />

von Comic-Kunst kümmert. Das ist zwar verdienstvoll, ändert aber nichts<br />

an der Tatsache, dass es Comics im Vergleich zu anderen Kunstsparten<br />

schwerhaben. Comics gelten im offiziellen Kulturbetrieb noch immer als<br />

Kinderkram, Schmuddel-Lektüre oder minderwertige Kunst – Comic-Künstler<br />

als unzureichende Literaten oder gescheiterte Künstler. Das hört man<br />

zwar nie offiziell, aber immer wieder hinter vorgehaltener Hand, zum Beispiel<br />

bei Jurierungen. Vorurteile und Klischees eben.<br />

Warum ist das so? Wohl ganz einfach deshalb, weil der Comic eine<br />

vergleichsweise junge Kunstform ist. Und weil er vielleicht auch (zu) populär<br />

ist. Er zieht Menschen jeglichen Alters aus allen sozialen Schichten an.<br />

Gerade der niederschwellige Zugang und seine Popularität machen ihn<br />

für den traditionellen Kulturbetrieb offensichtlich verdächtig und minderwertig:<br />

Was zu vielen gefällt, darf nicht gut sein. Dem Comic haftet zudem<br />

der Makel des Massenerzeugnisses an. Das mag für die Asterix- und Superman-Hefte<br />

gelten oder für die japanischen Mangas und ähnliches. Aber<br />

auch hier gibt es sehr unterschiedliche Qualitäten.<br />

Der Comic hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant weiterentwickelt<br />

und ist zu einer eigenen Kunstform geworden. Der moderne Comic<br />

kann alles sein: einfache Figuren, schnell aufs Papier geworfen, oder<br />

kunstvoll designte Graphic Novels, die Jahre bis zur Fertigstellung brauchen.<br />

Auch bei den Themen geht es längst nicht mehr nur um leichte<br />

Kost. Gute Comiczeichnerinnen und -zeichner schaffen es, historische<br />

Motive, klassische Literatur, aktuelle (gesellschafts)politische Themen<br />

und Botschaften und auch Autobiografisches virtuos in sequenzielle<br />

Geschichten und Zeichnungen zu übertragen. In den besten Beispielen<br />

in einer Qualität, die den traditionellen Kunstformen in nichts nachsteht.<br />

Ist die Comicszene Schweiz zu klein, als dass es sich lohnen würde,<br />

sie stärker zu unterstützen und sich für ihre Förderung einzusetzen? Ein<br />

seltsames Argument, zumal an Schweizer Hochschulen entsprechende<br />

Ausbildungsgänge auf grosses Interesse stossen und viele junge Talente<br />

ausgebildet werden. Und wie soll sich eine Kunstszene weiterentwickeln,<br />

professioneller werden und wachsen, wenn sie nicht anerkannt, unterstützt<br />

und gefördert wird?<br />

Darum, liebe Förderinnen und Förderer: Nehmt euch endlich der<br />

neunten Kunst an und erkennt das grosse Potenzial dieser Kunstsparte!<br />

Höchste Zeit, dass die neunte Kunst auch in der nationalen, kantonalen<br />

und privaten Kulturförderung in der Schweiz jene Unterstützung und Förderung<br />

erhält, die sie schon längst verdient.<br />

Nathalie Unternährer<br />

Leiterin Abteilung Kultur Christoph Merian Stiftung<br />

Schreiblabor<br />

für junge<br />

Sprachtalente<br />

Auf dem Dreispitz können Kinder und junge Erwachsene zwischen<br />

11 und 25 Jahren seit Februar schreiben, mit Sprache experimentieren,<br />

Spoken-Word-Formen erproben, mit professioneller Begleitung an<br />

Texten feilen und in Wettbewerben auftreten. Damit hat auch Basel<br />

endlich eine eigene Textwerkstatt für junge Sprachbegeisterte.<br />

scy. Kinder, die lustvoll auf Instrumenten rumklimpern, mit ihren Fantasiegebilden<br />

ganze Malblöcke füllen oder mit ihren Spielkameraden Theaothek<br />

Bäumlihof) vertreten sind. Operativ geleitet wird das Projekt von<br />

Marion Regenscheit (Literaturhaus, BuchBasel) und Cyril Werndli (Mediter<br />

spielen … kennen wir alle. Wie kreativ! Und manifestiert sich da nicht Daniela Dill und Hannes Veraguth.<br />

schon ein grosses Talent? Aber Kinder oder Jugendliche, die schreiben? Das Basler Projekt arbeitet eng mit den Basler und Baselbieter Schulen<br />

zusammen, mit dem Zürcher JULL und anderen Partnern wie dem<br />

Womöglich noch so, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist? Da ist dann<br />

mal schnell fertig lustig: Das ist falsch. Das sagt man so nicht. Hier Kulturverein Slam Basel, mit Theater-Jugendclubs und Laienbühnen, mit<br />

kommt ein Komma. Das ist nicht richtiges Deutsch.<br />

dem ‹jungen theater basel›, mit Medien und Jugendfestivals. Es bietet<br />

Musik, bildende Kunst, Theater und Literatur gehören zum Kulturkanon jeden Mittwochnachmittag offene Text-Coachings, massgeschneiderte<br />

und zu unserem kulturellen Erbe. Dagegen haben Sprache und Schreiben Workshops und Schreibwerkstätten für Schulklassen an, organisiert Spoken-Word-Performances<br />

und Wettbewerbe und vieles andere mehr.<br />

sozusagen das Pech, dass wir sie für unsere unmittelbare Handlungsfähigkeit<br />

in der Gesellschaft brauchen. Wer ihre standardisierten Regeln als Kind<br />

nicht lernt und beherrscht, wird es später als Erwachsener schwer haben. Am 8. Februar wurde das Junge Schreibhaus Basel mit einem fulminanten<br />

Also bitte zuerst Grammatik und Rechtschreibung – die Kunst kann warten. Fest eingeweiht.<br />

Entsprechend schreiben Kinder und Jugendliche auch in Basel, abgesehen<br />

von ganz wenigen Nischenangeboten, ausschliesslich in der Schule. www.wortstellwerk.ch<br />

Oder individuell für sich oder auf Social Media, oft auch in Mundart. Demgegenüber<br />

ist das begleitete ausserschulische Angebot für die übrigen<br />

Kunstformen für Kinder und Jugendliche in Basel sehr gross. Es gibt es<br />

zahlreiche Musikschulen, die Bildschule K’Werk, die Druckwerkstatt,<br />

Angebote der Basler Museen, das ‹junge theater basel›, das Junge Haus<br />

des Theaters Basel und vieles mehr.<br />

Die Christoph Merian Stiftung (<strong>CMS</strong>) hat die Lücke erkannt und hat<br />

mit dem ‹Wortstellwerk› im Februar ein grosses eigenes Projekt lanciert,<br />

das Kinder und junge Erwachsene zwischen 11 und 25 Jahren zum Schreiben<br />

ermutigt, sie unterstützt, begleitet und coacht mit pädagogisch<br />

geschulten Fachleuten und Autorinnen und Autoren. Die <strong>CMS</strong> finanziert<br />

das Wortstellwerk in den nächsten fünf Jahren mit jährlich CHF 200 000.<br />

Das neue Schreiblabor ist im gut erreichbaren ehemaligen Vereinslokal<br />

der aufgelösten Werksfeuerwehr auf dem Dreispitz untergebracht und<br />

liegt zwischen stillgelegten Gleisen, Stellwerken und Weichen. Dort experimentieren<br />

seit Februar junge Menschen mit Sprache und stellen im<br />

Wortstellwerk vielleicht auch ihre biografischen Weichen neu.<br />

Das Konzept für das ‹Junge Schreibhaus Basel›, wie es auch heisst,<br />

hat die <strong>CMS</strong> zusammen mit der Spoken-Word-Künstlerin Daniela Dill,<br />

dem Schriftsteller Guy Krneta und dem Baselbieter Gymnasiallehrer Hannes<br />

Veraguth erarbeitet. Eines der Vorbilder ist das Zürcher Junge Literaturlabor<br />

JULL, das 2015 gegründet wurde und das wöchentlich rund 150<br />

Jugendliche besuchen. Im Gegensatz zum JULL wird sich das Basler<br />

Wortstellwerk noch etwas stärker auf performatives Schreiben, Slam und<br />

Spoken-Word-Formen konzentrieren. Und vor allem auch auf Jugendliche<br />

mit einer anderen Muttersprache als der deutschen.<br />

Getragen wird das Projekt von einem Verein, in dessen sechsköpfigem<br />

Vorstand neben Guy Krneta (Präsident) Petra Dokic (Kulturverein<br />

Slam Basel), Christoph Meneghetti (<strong>CMS</strong>), Richard Reich (JULL-Gründer),<br />

12 13


AHA!<br />

AHA!<br />

Derya Kulak (18)<br />

Praktikerin Hauswirtschaft im 2. Lehrjahr<br />

Chancengeberin<br />

für aussergewöhnliche<br />

Menschen<br />

Die Arche Hauswirtschaftliche Ausbildungsstätte<br />

(AHA!) im St. Johann ermöglicht jungen<br />

Menschen mit besonderen Bildungsbedürfnissen<br />

Lehren im Bereich Küche, Service, Wäscherei<br />

und Reinigung. Das Ziel: professionelle Qualifikation<br />

für den ersten Arbeitsmarkt. Der Ansatz:<br />

Stärken stärken, individuelle Begleitung und<br />

massgeschneidertes Coaching. <strong>RADAR</strong> hat den<br />

aussergewöhnlichen Betrieb mit integrierter<br />

Berufsschule an einem Freitag im Januar besucht<br />

und mit Lernenden gesprochen.<br />

scy Das Haus an der Friedensgasse 59, schmucke vorletzte Jahrhundertwende,<br />

unterscheidet sich kaum von den dreistöckigen Wohnhäusern des<br />

oberen Mittelstands im Quartier. Und doch ist das Haus ein ganz spezielles.<br />

Wer etwa an einem Freitag ins ehemalige Pfarrhaus der Peterskirche<br />

eintritt, wird überwältigt vom Duft frisch gebackener Zöpfe. Die Nachbarschaft<br />

gibt sich die Klinke in die Hand und kauft im zum nostalgischen<br />

Krämerladen umfunktionierten Vorzimmer im Parterre ein: Gebäck, Eingemachtes,<br />

Konfitüren und Chutneys aller Art. Gleich nebenan bringen<br />

junge Erwachsene das ‹Le Bistrot› auf Hochglanz und decken die Tische,<br />

wie auch im etwas grösseren ‹Le Restaurant› im ersten Stock. In der<br />

Küche bereitet das junge Küchenpersonal das Mittagessen für die täglich<br />

sechzig bis achtzig Gäste vor: für Nachbarn, Leute aus dem nahen Biozentrum,<br />

Stammgäste aus allen Quartieren der Stadt. Die Plätze sind<br />

meist schnell ausgebucht. Das Essen ist gut und preiswert.<br />

Laden und Restaurationsbetrieb an der Friedensgasse sind aber nur<br />

der kleinste, öffentlich sichtbare Teil. Die AHA! bildet jährlich in der Hauswirtschaft<br />

rund zwanzig Lernende zwischen 16 und 22 Jahren mit verschiedenen<br />

Beeinträchtigungen aus. Sie kommen aus heilpädagogischen<br />

Schulen, Integrationsklassen, aus Brückenangeboten und Weiterbildungsschulen.<br />

In den meist zweijährigen Ausbildungen lernen und arbeiten die<br />

jungen Menschen in der Praxis in Küche, Service, Wäscherei und Reinigung,<br />

erproben ihre Kenntnisse vor Ort an der Friedensgasse, besuchen<br />

einmal pro Woche die eigene interne Berufsschule oder Unterstützungsangebote<br />

zur öffentlichen Berufsschule und absolvieren externe Praktika.<br />

Die praktische Ausbildung in der Wäscherei wurde vor fünf Jahren ins<br />

Lehenmattquartier in ein stillgelegtes Postgebäude ausgelagert.<br />

Die AHA! bietet praktische Ausbildungen (PrA gemäss dem nationalen<br />

Branchenverband der Institutionen für Menschen mit Behinderung<br />

INSOS), Lehren für eidgenössische Berufsatteste (EBA) sowie eidgenössische<br />

Fähigkeitszeugnisse als Fachfrau/Fachmann Hauswirtschaft EFZ<br />

an. Darüber hinaus Supported Education (Ausbildungsbegleitung von<br />

Lernenden, die eine Lehrstelle im ersten Arbeitsmarkt haben) und Coaching<br />

bei der Lehrstellensuche. Und sie beliefert mit ihren Dienstleistungen<br />

Private und Unternehmen (Wäscherei und Reinigung).<br />

Die Erfolgsbilanz der AHA! ist beeindruckend, fast ausnahmslos alle Lernenden<br />

finden nach Abschluss ihrer Lehre auch Anschlussengagements:<br />

Vollzeitstellen auf dem ersten Arbeitsmarkt, Teilzeitstellen mit entsprechender<br />

Zusatzfinanzierung durch die IV oder geschützte Arbeitsplätze.<br />

Was den jungen Menschen ein eigenes (Berufs-)Leben ermöglicht. Diese<br />

Erfolgsbilanz verdankt die AHA! auch ihrer engen Vernetzung mit und<br />

Kontakten zu zahlreichen Unternehmen in der Stadt.<br />

Gegründet wurde die ‹Arche›, wie sie früher noch hiess, 1960 von<br />

einem der reformierten Kirche nahestehenden privaten Kreis rund um<br />

Theo Buser und Eltern von Kindern, welche in der Regelschule in den<br />

60er-Jahren noch nicht die nötige individuelle Unterstützung erhielten,<br />

um auf dem ersten Arbeitsmarkt überhaupt eine Chance zu haben. Ihr<br />

Potenzial war nicht gefragt und blieb ungenutzt. Mittlerweile ist die ehemalige<br />

private Sonderschule ein konfessionell unabhängiger, breit abgestützter<br />

Verein mit Einbindung in staatliche Ausbildungsstrukturen. Die<br />

Ausbildungs- und Integrationsreformen der letzten Jahre haben die Defizite<br />

der Vergangenheit denn auch korrigiert. Auch die erst 1960 in der<br />

Schweiz eingeführte Invalidenversicherung IV hat ihre Strategie geändert<br />

und ist heute eine enge und zuverlässige Partnerin der AHA!. Sie finanziert<br />

die Lehrgänge und teilt sich mit der heute selbsttragenden AHA! vor allem<br />

ein Ziel: Jugendliche mit besonderen Bildungsbedürfnissen und Handicaps<br />

in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren.<br />

Dass dies der AHA! seit Jahren so gut gelingt, hat viel mit Nicole<br />

Bernet zu tun, die seit vier Jahren deren Geschäftsleiterin ist. Die 48-jährige<br />

Betriebsökonomin in Facility Management mit Zusatzausbildung in<br />

Betriebswirtschaft in Nonprofit-Organisationen kann sich dabei auf ein<br />

gut eingespieltes und engagiertes Team verlassen, vor allem auch auf die<br />

Ausbildungsleiterin Christa Sturm. Das kleine Team ist sich der besonderen<br />

Herausforderung bewusst und ist so geduldig wie anspruchsvoll gegenüber<br />

den Lernenden: «Wir legen hohen Wert auf Professionalität, fördern<br />

konsequent die Stärken unserer Lernenden und gehen auch individuell<br />

intensiv auf sie ein, damit sie Selbstvertrauen gewinnen, ihr Potenzial<br />

ausschöpfen können und weiterkommen», betont Bernet. «Wer die Anforderungen<br />

auf dem ersten Arbeitsmarkt aber erfüllen will, muss sich auch<br />

anstrengen. Da kennen wir kein Pardon.»<br />

Die AHA! kann sich mittlerweile vor Anfragen kaum retten. Die neuen<br />

Lehrstellen sind jeweils ein halbes Jahr vor Lehrbeginn bereits ausgebucht.<br />

Expandieren will die Institution aber nicht. Bernet: «Wir wollen<br />

nicht wachsen und wollen mit unseren Dienstleistungen wie der Wäscherei<br />

und Reinigung den ersten Arbeitsmarkt nicht konkurrenzieren. Wir<br />

wollen klein bleiben. Familiär. Nur so ist auch eine geborgene Atmosphäre<br />

möglich. Klein … aber aha!»<br />

Die <strong>CMS</strong> hat CHF 200 000 zum dringend nötigen Ausbau des Dachstocks<br />

im Altbau beigesteuert. Dieser soll als Mehrzweckraum künftig für<br />

Schulung, Coaching, Gruppenarbeiten und Rückzugsort für Lernende, für<br />

Sitzungen und weiterhin als Materiallager dienen.<br />

Vipulan Arulampalam (22)<br />

Praktiker Küche im 2. Lehrjahr<br />

Ich habe eine Sehbehinderung und sehe nur noch etwa<br />

fünfzehn Prozent. Auch mein Gesichtsfeld ist eingeschränkt.<br />

Und trotzdem kann ich hier eine massgeschneiderte<br />

Lehre in der Küche machen. Das ist nicht<br />

selbstverständlich, denn normalerweise wird man in<br />

der AHA! ja auf verschiedenen Gebieten ausgebildet.<br />

Service, Reinigung und Wäscherei ist aber schwierig für<br />

mich, weil ich zu wenig sehe. Ich darf meine zwei Lehrjahre<br />

ausschliesslich in der Küche machen. Das finde<br />

ich super. Sie gehen individuell auf uns Lernende ein<br />

und unterstützen uns bei allem. Jeden einzelnen von<br />

uns und vor allem unsere Stärken.<br />

Ich liebe die Arbeit in der Küche und das Zubereiten<br />

von Essen! Vor allem die warme Küche. Braten<br />

mache ich gerne. Und schneiden, die verschiedenen<br />

Schnitttechniken. Das braucht viel Übung, bis man’s<br />

kann. Ich habe sehr viel geübt und mache das jetzt sehr<br />

Meine Familie stammt ursprünglich aus der Türkei. Ich ja nicht nur drauf an, wie die Speisen schmecken – sie<br />

bin hier geboren und lebe bei meiner Mutter. Nach der müssen auch schön aussehen! Sorry, aber wenn ich in<br />

Schule habe ich zuerst in der Migros und anderen Be- einem Restaurant Essen vorgesetzt kriege, das einfach<br />

trieben geschnuppert. Aber dort hat’s mir gar nicht so hingeklatscht ist, dann vergeht einem doch die Lust<br />

gefallen. Es hat einfach nicht gepasst zu mir. Meine aufs Essen. Das ist nicht professionell.<br />

Lehrer haben mich dann auf die AHA! aufmerksam Ja, ich habe Sinn für Ästhetik. Ich zeichne zum Beispiel<br />

sehr gerne und habe für die AHA! auch schon Ge-<br />

gemacht. Ich habe hier geschnuppert und fand: Super!<br />

Was es braucht, damit ich mich wohlfühle? Eigentlich burtstags- und Einladungskärtchen gestaltet. Und ich<br />

nicht viel. Halt das Gefühl, akzeptiert zu werden, so wie fotografiere und filme gerne. Ein paar Sachen sind auf<br />

ich bin. Und gutes Teamwork ist mir wichtig. Deshalb der Website der AHA!. Schön, nicht wahr?<br />

fühle ich mich hier in der AHA! auch so mega wohl. Und Skateboarden ist meine Leidenschaft! Ich<br />

In meiner Hauswirtschaftslehre arbeite und lerne mache das seit vier Jahren und bin … glaub schon noch<br />

ich in der Küche, in der Wäscherei, der Reinigung und gut. Ich trainiere in einer Gruppe. Als einzige Frau mit<br />

im Service. Die Küche mag ich besonders. Ich schneide neun Jungs! Die führen sich manchmal schon affig auf.<br />

gerne: Gemüse…alles….zack, zack, zack. Das beruhigt Aber ich kann mich durchsetzen, klar. Die habe ich im<br />

mich mega. Toll ist, wenn der Küchenchef mich lobt. Griff.<br />

Das letzte Mal war das, als ich mein erstes Dessert zubereitet<br />

habe: Tiramisu. Ich achte bei der Arbeit auf Per-<br />

arbeiten. Wo? Hmmm … eigentlich am liebsten hier.<br />

Nach dem Lehrabschluss möchte ich in der Küche<br />

fektion, auch beim Dekorieren der Speisen. Es kommt Oder vielleicht im Bürgerspital. Mal sehen.<br />

intuitiv und auch gut. Zu Hause koche ich nicht, nein.<br />

Ich koche ja hier den ganzen Tag, das ist mein Beruf!<br />

Zu Hause kocht meine Mutter, meist Gerichte meiner<br />

Heimat Sri Lanka, manchmal auch europäisch. Hier in<br />

der AHA! koche ich vor allem europäisch. Ein spannender<br />

‹Kultur-Mischmasch› ist das!<br />

In meiner Freizeit bin ich viel mit meinen Freunden<br />

unterwegs. So oft als möglich. Auch ins Kino gehe ich<br />

gern. Ok, ich sehe nicht mehr viel – aber mit meinen<br />

Freunden zusammen ist das trotzdem lässig.<br />

Ich hoffe, ich kriege mal eine gute Stelle. Das wird<br />

schwierig mit meiner Sehbehinderung auf dem ersten<br />

Arbeitsmarkt. Teller anrichten ist zum Beispiel ein Problem.<br />

Ich brauche ein gutes Team wie hier. Ich möchte<br />

in einem Betrieb arbeiten mit schöner Atmosphäre und<br />

Stimmung. Das ist für mich das Allerwichtigste. Dann<br />

kann ich auch viel leisten.<br />

Sophie Allemann (19)<br />

Praktikerin Hauswirtschaft in Kindertagesstätten (Kitas) im 2. Lehrjahr<br />

Ich habe die Sekundarschule besucht. Dann bin ich in In meiner Freizeit gehe ich tanzen: Four Dance. Das ist<br />

die AHA! gekommen. Ich habe zuerst geschnuppert – eine Mischung aus Bollywood, Jazz – alles. Das mache<br />

und war sehr froh, dass ich 2017 hier die Lehre anfangen ich seit sieben Jahren. Ich geniesse es sehr, mich zu<br />

konnte. Ich arbeite und lerne in der Küche, im Service, bewegen. Und Yoga liebe ich. Meditieren. In sich hineinschauen,<br />

den Weg nach innen suchen. Das tut mir gut.<br />

in der Reinigung, der Wäscherei und zusätzlich im<br />

hauswirtschaftlichen Bereich einer Kita. Am besten Ich liebe Kinder und bin auch oft mit meinen<br />

gefällt mir der Service. Mit den Gästen umgehen kann kleinen Neffen und Nichten und meinem Halbbruder<br />

ich gut. Das sagen mir alle. Ich habe hier in der AHA! zusammen. Ich habe ihnen auch ein bisschen Yoga<br />

viel gelernt von Frau Bernet und Frau Dalipi (Berufsbildnerin<br />

Service). Sie unterstützen und ermuntern Am liebsten würde ich nach der Lehre in einer Kita<br />

beigebracht. Das fanden sie schön – und ich auch.<br />

mich sehr. Ich habe grosse Fortschritte gemacht. Am arbeiten. Wenn ich Glück habe, klappt das. Und wenn<br />

meisten stolz auf mich bin ich, wenn ich die Tische nicht, dann Service. Oder Yoga-Lehrerin!<br />

besonders sorgfältig und schön gedeckt habe. Unsere<br />

Gäste schätzen das und sagen es auch. Das ist ein<br />

gutes Gefühl.<br />

In der AHA! finde ich toll, dass wir so gut im Team<br />

arbeiten – und auch lernen, wie man in einem Team<br />

richtig gut zusammenarbeitet. Und dass Frau Sturm,<br />

unsere Lehrerin, uns so gut unterstützt.<br />

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Studie<br />

«Obdachlosigkeit<br />

erfordert eine<br />

Gesamtbetrachtung»<br />

Erstmals liegen Zahlen zur Obdach- und Wohnungslosigkeit in Basel-<br />

Stadt vor. Eine Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz gibt<br />

Einblick in die Lebenswelt und aktuelle Bedarfslage von obdach- und<br />

wohnungslosen Menschen und liefert Handlungsempfehlungen.<br />

Linda lebt seit 32 Jahren in Basel-Stadt. Sie bezieht eine Invalidenrente<br />

und Sozialhilfe. Einmal mehr muss sie ihre Wohnung räumen; Nachbarn<br />

haben sich über Unrat beschwert, der sich ansammelt. Nun fürchtet sie,<br />

keine neue Bleibe in der Nähe zu finden und ihre wenigen Kontakte zu<br />

verlieren.<br />

Schweizweit erste Studie mit konkreten Zahlen zur Obdach-<br />

und Wohnungslosigkeit<br />

Ähnlich wie Linda geht es vielen Menschen in Basel-Stadt. Sie sind zwar<br />

nicht obdachlos im wörtlichen Sinn, doch sie leben in einer prekären<br />

Wohnsituation. Dies ist eines der Resultate einer Studie der Fachhochschule<br />

Nordwestschweiz, die in den vergangenen zwei Jahren Ausmass<br />

und Formen der Obdach- und Wohnungslosigkeit in Basel-Stadt untersucht<br />

hat. In Auftrag gegeben und finanziert wurde sie von der <strong>CMS</strong> mit<br />

dem Ziel, statistische und wissenschaftliche Informationen über Obdach-<br />

und Wohnungslosigkeit in Basel-Stadt zu erhalten und auf deren Grundlage<br />

ihren Förderschwerpunkt ‹Prävention und Bekämpfung von Armut›<br />

den Erfordernissen anzupassen.<br />

Das Forscherteam befragte Besucher und Besucherinnen von Obdachlosen-Einrichtungen,<br />

interviewte Fachleute und führte eine Nachtzählung<br />

durch. Statistiken, Berichte von Betroffenen und die dreimonatige Mitarbeit<br />

eines Mitglieds des Forschungsteams in Tageseinrichtungen ergänzen<br />

die Informationen.<br />

Weit über 300 Menschen haben kein Daheim<br />

Rund 100 Menschen in Basel-Stadt schlafen gemäss der Zählung tatsächlich<br />

‹auf der Strasse› oder übernachten in der Notschlafstelle. Hinzu<br />

kommen über 200 Menschen, die der europaweit gebräuchlichen ETHOS-<br />

Typologie entsprechend als wohnungslos gelten, obwohl sie de facto ein<br />

Dach über dem Kopf haben. Das kann heissen, dass sie bei Freunden,<br />

Freundinnen oder Bekannten temporären Unterschlupf gefunden haben,<br />

dass sie in einer unzureichenden oder unzumutbaren Wohnung leben oder<br />

dass sie ihre Miete nicht mehr aufbringen können und keine günstigere<br />

Wohnung finden.<br />

Rund viermal mehr Männer als Frauen sind von Obdachlosigkeit im<br />

weiteren Sinn betroffen, bei Frauen gibt es eher eine versteckte Wohnungslosigkeit.<br />

Etwas über die Hälfte aller Wohnungslosen sind Wanderarbeiterinnen<br />

und -arbeiter, Aslysuchende oder Sans-Papiers. Letztere können<br />

aufgrund ihres ungesicherten Aufenthaltsstatus keinen Mietvertrag<br />

abschliessen und sind einem allfälligen Vermieter ausgeliefert.<br />

Eine Kette von Ursachen<br />

Dem Verlust der eigenen Wohnung gehen meist eine Reihe von Schicksalsschlägen<br />

voraus. So war es auch bei Linda. Sie war verheiratet, hatte zwei<br />

Kinder und arbeitete in einer Fabrik. Die Ehe zerbrach, Rückenprobleme<br />

führten zur Arbeitsunfähigkeit, Linda verschuldete sich und versuchte mit<br />

aller Kraft, sich und ihre Kinder durchzubringen.<br />

Finanzielle Probleme sind gemäss der Studie der häufigste Auslöser<br />

für den Verlust der eigenen Wohnung. Gerade bei Männern setzt oft die<br />

Kündigung der Arbeitsstelle eine Abwärtsspirale in Gang. Die finanzielle<br />

und berufliche Verarmung wird verstärkt durch gesundheitliche Probleme<br />

und zunehmende soziale Isolation. Diese Mehrfachbelastungen erschweren<br />

den Betroffenen den Weg zurück und lassen das bestehende Hilfesystem<br />

an Grenzen stossen.<br />

Ein Teller Suppe reicht nicht<br />

In Basel-Stadt fehlt günstiger Wohnraum. Betroffene und Fachleute sind<br />

sich einig, dass es mehr bezahlbare Wohnungen für armutsbetroffene<br />

Menschen braucht. Fleur Jaccard, die Leiterin der Abteilung Soziales der<br />

<strong>CMS</strong>, betont: «Die Studie verdeutlicht auch, dass Obdachlosigkeit eine<br />

Gesamtbetrachtung und die Koordination aller Akteure erfordert. Soforthilfe<br />

ist zwar wichtig, aber ein Teller Suppe und ein Schliessfach reichen<br />

nicht. Obdachlose müssen befähigt werden, wieder selbstbestimmt und<br />

autonom zu leben.» Viele Betroffene seien zudem gesundheitlich angeschlagen.<br />

«Sie brauchen einen niederschwelligen Zugang zu medizinischer<br />

Versorgung.»<br />

Für die <strong>CMS</strong> ist die Prävention und Bekämpfung von Armut ein Förderschwerpunkt.<br />

Christoph Merian gründete die Stiftung mit dem Ziel der<br />

«Linderung der Noth und des Unglückes» und der «Förderung des Wohles<br />

der Menschen». Die Stiftung plant folgende Massnahmen:<br />

Mittelfristig soll in Zusammenarbeit mit den verschiedenen Fachstellen<br />

des Kantons unter Federführung des Departements für Wirtschaft,<br />

Soziales und Umwelt eine Gesamtstrategie zur Bekämpfung der Wohnungslosigkeit<br />

erarbeitet werden, mit besonderem Augenmerk auf den<br />

Übergängen von der Strassenobdachlosigkeit zu Notwohnen, begleitetem<br />

Wohnen bis zum selbstständigen Wohnen.<br />

Kurzfristig will die <strong>CMS</strong> ihre Liegenschaften auf Möglichkeiten für<br />

soziales Wohnen analysieren und finanzielle Hilfeleistungen für Armutsbetroffene<br />

prüfen, wo es um Garantien für Wohnraum geht. Mit den<br />

bestehenden Hilfseinrichtungen für Obdach- und Wohnungslose wird<br />

geklärt, wie Infrastruktur, medizinische Ersthilfe und Beratung optimiert<br />

werden können. Die Schnittstellen zwischen Liegenschaftsverwaltungen<br />

und Mietenden sollen so ausgestaltet werden, dass angemessener Wohnraum<br />

nachhaltig gesichert werden kann.<br />

Die Publikation der <strong>CMS</strong> ‹(K)ein Daheim?› fasst die wichtigsten<br />

Erkenntnisse der FHNW-Studie zusammen und zeigt auf, welche Massnahmen<br />

die <strong>CMS</strong> für die nächsten Jahre daraus ableitet.<br />

Andrea Kippe<br />

text & redaktion<br />

www.cms-basel.ch<br />

im Bereich ‹Medien› unter ‹Publikationen›<br />

Redaktion: Sylvia Scalabrino (scy), Basel; Elisabeth Pestalozzi, Carlo Clivio, Kommunikation <strong>CMS</strong><br />

Gestaltung: BKVK, Basel – Beat Keusch, Anna Klokow<br />

Korrektorat: Dr. Rosmarie Anzenberger, Basel<br />

Druck und Bildbearbeitung: Gremper AG, Basel/Pratteln<br />

Auflage: 5 000 Exemplare; erscheint dreimal jährlich (<strong>April</strong>, August, Dezember)<br />

Bildnachweis: Alle Abbildungen © Sammlung Karikaturen & Cartoons, Cartoonmuseum Basel (S. 1–12),<br />

Début Début – Marisa Zürcher (S. 13), © Kathrin Schulthess (S. 14–15), BKVK (S. 16)<br />

St. Alban-Vorstadt 12<br />

Postfach<br />

CH-4002 Basel<br />

T + 41 61 226 33 33<br />

www.cms-basel.ch<br />

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