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The Red Bulletin Mai 2019

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Es ist zwei Uhr in dieser klammen,<br />

pechschwarzen Septembernacht in der<br />

bhutanischen Kleinstadt Bumthang,<br />

kurz vor dem Start eines der härtesten<br />

Radrennen der Welt, und es stinkt nach Kuhmist.<br />

Scheinwerfer leuchten die Szenerie grell aus, in ihrem<br />

Schein tanzt der Ordnerdienst eine Art Macarena,<br />

mit Zeitlupen-Karate-Moves zu Flötenklängen. Die<br />

6000 Einwohner der Stadt sind fast vollzählig erschienen<br />

und vertreiben sich die letzten Minuten bis<br />

zum Start damit, der Zeremonie zu folgen (oder den<br />

Porridge-Stand zu plündern).<br />

An der Startlinie starren 48 Mountainbiker auf die<br />

ölfleckige Straße, die Gesichter rot von den Reflexion<br />

der Rücklichter. In der ersten Reihe ist keiner der<br />

Fahrer größer als 1,70, Fliegengewichte, zierlich wie<br />

Jockeys in der Startbox. Am liebsten würde ich gleich<br />

ein paar Riegel wegwerfen, um Gewicht zu verlieren.<br />

Während die anderen Fahrer herumwitzeln, drückt<br />

meine Blase zum dritten Mal in 20 Minuten. Jetzt ist<br />

meine letzte Chance, mich ein bisschen zu entspannen,<br />

bevor ich mindestens zwölf Stunden lang im<br />

Sattel kämpfen werde. Ich atme tief durch, doch<br />

mein Magen verkrampft sich immer mehr. Jemand<br />

vom Organisationskomitee klopft auf sein Mikro und<br />

verkündet: „Wir haben ein bisschen Pech mit dem<br />

Wetter. Die Straßen sind rutschig. Bitte versuchen<br />

Sie, ohne unser medizinisches Team auszukommen.“<br />

PENG! Dann geht es ab in die Dunkelheit.<br />

Der Grund meiner Reise ins Königreich Bhutan<br />

ist die „Tour of the Dragon“, ein 270 Kilometer<br />

langes Mountainbike-Rennen auf<br />

gefährlichen Serpentinenstraßen. Es führt<br />

über vier Pässe – drei davon über 3000 Meter hoch –<br />

und mehr als 4500 Höhenmeter. Zum Vergleich:<br />

Dieselbe Höhendifferenz forderte 2018 die härteste<br />

Tour-de‐France-Etappe von den weltbesten Profis,<br />

allerdings auf ultraleichten Rennrädern und perfekt<br />

asphaltierten Straßen. Zum anerkannt härtesten<br />

Eintages-Mountainbike-Rennen der Welt machen<br />

die Drachen-Tour aber die apokalyptischen Straßenverhältnisse,<br />

die definitiv nicht für 23 Millimeter<br />

breite Rennradreifen geeignet sind.<br />

Zur Stärkung gibt es Äpfel, frisch von Mönchen gepflückt.<br />

„Um hier durchzukommen, musst du alles geben,<br />

was in dir steckt“, sagt Joel Einhorn, der mit seiner<br />

Firma Hanah Nahrungsergänzungsmittel aus bhutanischen<br />

Heilkräutern vertreibt. Er war im Vorjahr der<br />

einzige US-Amerikaner, der es ins Ziel schaffte – nach<br />

halsbrecherisch gefährlichen Begegnungen mit starrsinnigen<br />

Kühen, Affen und Lkw-Fahrern und trotz des<br />

allgegenwärtigen tiefen, zähen Schlamms, der zwei<br />

Sätze Bremsgummis bis aufs Metall abschliff.<br />

Als mich Einhorn zur Teilnahme einlud, musste<br />

ich Bhutan erst einmal auf der Landkarte suchen.<br />

Ich fand es eingeklemmt zwischen Indien und Tibet,<br />

etwa so groß wie die Schweiz, abgeschirmt durch<br />

einen besonders unzugänglichen Abschnitt des östlichen<br />

Himalaya. Historisch gesehen hat diese Lage<br />

durchaus ihre Vorteile: Bhutan zählt zu den wenigen<br />

Nationen, die niemals von einer fremden Macht ko lonialisiert<br />

wurden. Die geografische und politische<br />

Isolation verzögerte allerdings auch die Entwicklung.<br />

Erst 1962 wurde die erste asphaltierte Straße fertiggestellt,<br />

und ausländische Besucher dürfen erst seit<br />

1974 ins Königreich. Viele Bhutaner leben noch immer<br />

von der eigenen Landwirtschaft. Und im ganzen Land<br />

gibt es bis heute keine einzige Ampel.<br />

THE RED BULLETIN 77

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