Die Greta-Frage: Wie hältst du es mit dem Klimaschutz?
Die Jugendbewegung Fridays4Future schafft das, was diverse UN-Konferenzen zuvor nicht konnten: Die Gesellschaft für den Klimawandel, seine Folgen und Gegenmaßnahmen zu sensibilisieren. Aber wie können gute Absichten in tatsächliches Handeln übertragen werden? Darauf gibt das neue UmweltDialog-Magazin „Die Greta-Frage: Wie hältst du es mit dem Klimaschutz?“ Antworten. Die aktuelle Ausgabe zeigt außerdem, welche Schritte zu einer CO2-neutralen Wirtschaft führen und welche politischen Instrumente das unterstützen. Weniger Fleisch essen, Strom sparen oder öfter mal zu Fuß gehen: Auf den ersten Blick ist jeder bereit, seinen persönlichen CO2-Fußabdruck zu reduzieren. Aber wehe, man soll auf etwas verzichten, das einem wirklich am Herzen liegt. Wie auf Fernreisen in exotische Länder beispielsweise. Da stößt das eigene Engagement schnell an seine Grenzen. Muss sich unsere Klimakommunikation grundlegend ändern, sodass sie Menschen zum klimafreundlichen Handeln ermutigt? Soll der Staat hier eingreifen? Widerspricht das dann unserer freiheitlichen Gesellschaft? Mut für neue Wege Wie wir das Klima schützen können, wird aktuell heiß diskutiert. Dabei geben zurzeit Bürgerschaftsbewegungen wie etwa die Jugendlichen um Fridays4Future den Ton an. Viele Autoren der aktuellen Ausgabe finden diese Entwicklung positiv, reagiert doch die Politik allgemein zu langsam, um den Klimawandel zu begrenzen: „Tatsächlich ist die Welt kompliziert und Zielkonflikte allgegenwärtig. Und auch die Schülerproteste liefern bisher wenige Antworten auf soziale und ökonomische Folgen der Transformation“, so Dr. Elmer Lenzen, Herausgeber des UmweltDialog-Magazins. Das heißt aber nicht, dass dies unmöglich ist, wie die Beiträge der neuen Ausgabe zeigen: „Unternehmer, Ingenieure, Erfinder und Aktivisten haben viele tolle Ideen und Instrumente. Alleine es fehlt uns der Mut, ausgetretene Pfade zu verlassen“, so Lenzen weiter. Das ist aber notwendig, um die Klimaerwärmung auf zwei Grad zu begrenzen. Am wichtigsten wird es hier sein, unsere Stromversorgung, den Verkehr und CO2-intensive Industriezweige zu dekarbonisieren. Wie sinnvoll es ist, diese Transformation durch zusätzliche Klimaschutz-Maßnahmen wie Wettermanipulationen zu flankieren, müssen Forscher weiterhin untersuchen.
Die Jugendbewegung Fridays4Future schafft das, was diverse UN-Konferenzen zuvor nicht konnten: Die Gesellschaft für den Klimawandel, seine Folgen und Gegenmaßnahmen zu sensibilisieren. Aber wie können gute Absichten in tatsächliches Handeln übertragen werden? Darauf gibt das neue UmweltDialog-Magazin „Die Greta-Frage: Wie hältst du es mit dem Klimaschutz?“ Antworten. Die aktuelle Ausgabe zeigt außerdem, welche Schritte zu einer CO2-neutralen Wirtschaft führen und welche politischen Instrumente das unterstützen.
Weniger Fleisch essen, Strom sparen oder öfter mal zu Fuß gehen: Auf den ersten Blick ist jeder bereit, seinen persönlichen CO2-Fußabdruck zu reduzieren. Aber wehe, man soll auf etwas verzichten, das einem wirklich am Herzen liegt. Wie auf Fernreisen in exotische Länder beispielsweise. Da stößt das eigene Engagement schnell an seine Grenzen. Muss sich unsere Klimakommunikation grundlegend ändern, sodass sie Menschen zum klimafreundlichen Handeln ermutigt? Soll der Staat hier eingreifen? Widerspricht das dann unserer freiheitlichen Gesellschaft?
Mut für neue Wege
Wie wir das Klima schützen können, wird aktuell heiß diskutiert. Dabei geben zurzeit Bürgerschaftsbewegungen wie etwa die Jugendlichen um Fridays4Future den Ton an. Viele Autoren der aktuellen Ausgabe finden diese Entwicklung positiv, reagiert doch die Politik allgemein zu langsam, um den Klimawandel zu begrenzen: „Tatsächlich ist die Welt kompliziert und Zielkonflikte allgegenwärtig. Und auch die Schülerproteste liefern bisher wenige Antworten auf soziale und ökonomische Folgen der Transformation“, so Dr. Elmer Lenzen, Herausgeber des UmweltDialog-Magazins.
Das heißt aber nicht, dass dies unmöglich ist, wie die Beiträge der neuen Ausgabe zeigen: „Unternehmer, Ingenieure, Erfinder und Aktivisten haben viele tolle Ideen und Instrumente. Alleine es fehlt uns der Mut, ausgetretene Pfade zu verlassen“, so Lenzen weiter. Das ist aber notwendig, um die Klimaerwärmung auf zwei Grad zu begrenzen. Am wichtigsten wird es hier sein, unsere Stromversorgung, den Verkehr und CO2-intensive Industriezweige zu dekarbonisieren. Wie sinnvoll es ist, diese Transformation durch zusätzliche Klimaschutz-Maßnahmen wie Wettermanipulationen zu flankieren, müssen Forscher weiterhin untersuchen.
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Ausgabe 11
Mai 2019
9,00 EUR
Die Greta-Frage
Wie hältst du es mit dem Klimaschutz?
umweltdialog.de
Studie
Elektrisch beginnt. Jetzt mehr erfahren: volkswagen.de/ID
Klimawandel
Liebe Leserinnen
und Leser,
manchmal sind es nicht die großen
Dinge, die Veränderung bewirken,
sondern eher kleine Schritte. Die Weltgemeinschaft
hat sich bisher schon 24
mal zu internationalen Klimakonferenzen
(sogenannten Conference of
the Parties, COP) getroffen. Das Ergebnis?
Sagen wir: Durchwachsen. Und
dann gibt es die neue Jugendbewegung
Fridays4Future. Das Ergebnis?
Immerhin gelingt es den Kids, das
Thema Klimawandel für eine längere
Zeit in die öffentliche Diskussion zu
bringen. Das ist – zynisch gesagt –
mehr, als UN-Konferenzen schaffen.
in spätestens zehn Jahren der Point of
no Return erreicht und die Welt verloren
sein.“
Tatsächlich ist die Welt komplizierter
und Zielkonflikte allgegenwärtig. Und
auch die Schülerproteste liefern bisher
wenige Antworten auf soziale und
ökonomische Folgen der Transformation.
Das heißt aber nicht, dass dies
nicht möglich ist. Im Gegenteil: Unternehmer,
Ingenieure, Erfinder und
Aktivisten haben viele tolle Ideen und
Instrumente. Alleine es fehlt uns der
Mut, ausgetreten Pfade zu verlassen.
Die Schülerproteste sind in mehrfacher
Hinsicht spannend. Zum einen
meldet sich hier eine neue Stakeholder-Gruppe
zu Wort. Die Welt
für nachfolgende Generationen zu
bewahren, ist zwar schon seit dem
Brundtland-Report der 80er Jahre gelernter
Konsens. Aber wir betreiben
das "enkeltauglich" – also so, dass wir
Erwachsenen Stimme und Mandat für
diese nicht Stimmberechtigen ausüben.
Betreuung und Macht liegen in
unseren Händen. Bei den Teenagern
ist das ganz anders. Die Generation
Greta will und kann selbst entscheiden.
Das stellt Machtfragen.
Zugleich sind auch die Freitags-
Demonstrationen Produkte unserer
Zeit: „Eine Gesellschaft, die mit ihrer
eigenen Komplexität nicht klar
kommt, sehnt sich nach einfachen
Lösungen“, schreibt Hendryk Broder.
„Kohlekraftwerke vom Netz nehmen,
Autofahren verbieten, keine Kinder in
die Welt setzen und Haustiere auswildern
– dann wird die Welt wieder genesen.
Ansonsten“, sagt Greta, „wird
Im aktuellen Themenheft von Umwelt-
Dialog widmen wir uns deshalb ausführlich
dem Thema Klimawandel.
Dabei gehen wir drei Kernfragen nach:
1. Wie bringen wir Wissen und Wollen
zusammen?
2. Wie kann Deutschland CO 2
-arm
werden, ohne dass wir dafür unsere
Wirtschaft, unseren Wohlstand und
unsere Jobs aufgeben?
3. Was haben wir für politische Rahmenbedingungen
und vor allem für
Instrumente? Was taugen sie? Und
wozu?
Viel Spaß beim Lesen wünscht im
Namen der gesamten Redaktion Ihr
Dr. Elmer Lenzen
Chefredakteur
Das nächste
UmweltDialog-Magazin
erscheint am 15.11.2019.
6
Der Klimawandel hat uns
fest im Griff – und jetzt?
Inhalt
„Appelle an klimafreundliches Verhalten
greifen zu kurz“ ...................................................................22
Auf große Reden folgen k(l)eine Taten – wir brauchen
eine neue Art von Klima-Kommunikation. Auch die
Politik ist dabei gefragt.
Klimaskepsis: Fake News über „Fake“ News ...............26
Der Mensch ist nicht schuld an der globalen Erwärmung
und die Erde eine Scheibe: Woher die Skeptiker kommen
und was sie so sagen.
AUF ZU GROSSEM FUSS –
WAS JEDER EINZELNE TUT
„Es macht einen Unterschied, ob man mit 50 oder
100 km/h gegen die Wand fährt!“ ..................................... 6
Die Politik unternehme zu wenig, um den aktuellen Klimawandel
zu bekämpfen. Das sagt Dr. Tobias Bayr vom
GEOMAR in Kiel. Hoffnung machen ihm aber die Jugendlichen,
die jetzt für das Klima auf die Straßen gehen.
Auf (zu) großem Fuß .......................................................... 12
Jeder von uns hinterlässt einen CO 2
-Fußabdruck.
Nur in welcher Größe?
Klimaschutz? Ja bitte! ....................................................... 14
Null Bock auf Engagement? Politikverdrossenheit?
Von wegen: Gerade Jugendliche demonstrieren wieder.
Für die Umwelt und eine bessere Klimapolitik.
„Es ist ein Gewerkschafts-Märchen zu glauben,
es gehe nur um einige Wohlhabende" ............................ 18
Weniger Fleisch und gegen Vielfliegerei: Manche fühlen
sich bevormundet, wenn Politiker Konsumverzicht für
den Klimaschutz fordern. Aber der liberale Staat hat die
Aufgabe, auch die Freiheit von Schwächeren zu
schützen, die Opfer des Klimawandels werden.
Welcher Klimatyp sind Sie? ..............................................20
Vielfahrer, Fleischesser oder Stromsparer:
Wie klimafreundlich ist Ihr Alltag?
EINE CO 2 -ARME WIRTSCHAFT:
WIE GEHT DAS?
Deutschland CO 2
-neutral bis 2050:
So kann es klappen ............................................................32
Substitution, Energieeffizienz oder Suffizienz: Es gibt
unterschiedliche Wege, CO 2
-Emissionen zu reduzieren
oder zu vermeiden. Die Dekarbonisierung wichtiger
Branchen ist dabei entscheidend, um die Klimaziele von
Paris zu erreichen.
Smart trifft Power: Das neue Energiesystem
für die Stadt .........................................................................38
Wie kann die urbane Energieversorgung nachhaltig
gestaltet werden? Antwort gibt E.ON mit einer innovativen
Technologie, die den Energiebedarf in der Stadt
erheblich senkt.
Baustelle Energiewende: Neue Bauleiter gesucht!.......40
Die Energiewende in Deutschland droht zu scheitern –
was nun?
Weniger Stromtrassen gut für die Volkswirtschaft?....44
Strom muss nicht nur erzeugt, sondern auch transportiert
werden. Das aktuelle Stromhandelssystem ist in
Deutschland nicht besonders effizient. Aber es geht auch
anders.
Wer das Klima retten will, benötigt auch Rohstoffe ....46
Ohne Rohstoffe kein Ökostrom. Wird das zum Problem?
Klimawandel
So senken Unternehmen ihren CO 2
-Ausstoß ...............48
Betriebliches Klimamanagement wird beim Klimaschutz
immer wichtiger. Wie lässt sich das im Unternehmen
umsetzen?
„Porsche Impact“: Klimaschutz mit Kleingeld .............54
Autos verursachen bekanntlich viele Emissionen.
Porsche kompensiert jetzt den CO 2
-Ausstoß seiner
Fuhrpark-Flotte. Und bietet das auch seinen Kunden an.
Der lange Weg Richtung Null Emissionen .....................58
KYOCERA macht seine Drucker CO 2
-neutral.
Emissionen, die unvermeidbar sind, werden
kompensiert. Davon profitieren auch Mensch und
Umwelt in Afrika.
14
Von wegen Politikverdrossenheit:
Junge Menschen kämpfen
für ihre Zukunft.
POLITIK UND INSTRUMENTE
Klimawandel: Macht ein halbes Grad wirklich einen
Unterschied? .......................................................................60
Weltklimakonferenz: schlecht geredet oder
schlecht gemacht? .............................................................62
Es kommt Bewegung in die Klima-Politik. Was wurde
beschlossen, wie soll es weitergehen und ist das wirklich
ausreichend?
Im Bundeskabinett stimmt nicht nur
das Betriebsklima nicht ....................................................66
CO 2
-Neutralität in Deutschland bis 2050 – so der Plan.
Wie das gelingen soll? Darüber scheiden sich in Berlin
die Geister.
32
CO 2
-neutral bis 2050?
Ohne Dekarbonisierung wird
das nicht klappen.
Priorität für Wachstum oder Klimaschutz? ...................68
Wirtschaftswachstum und Klimaschutz – das geht nicht,
sagt Prof. Dr. Angelika Zahrnt. Die Lösung: Eine
Postwachstumsgesellschaft.
Klimapolitik per Zertifikatekauf? ..................................... 72
Emissionshandel ist ein Instrument zur Reduzierung
von Treibhausgasen. Das bringt Probleme mit sich,
bietet aber auch Chancen.
Geo-Engineering: Hilft jetzt nur noch
Klima-Klempnern? ............................................................. 76
Terraforming als Retter in der Not?
Was Geo-Engineering kann – und was nicht.
Glossar ..................................................................................80
CO 2
-Budget, Endenergie und Negative Emissionen –
ein Überblick über die wichtigsten Begriffe zum
Klima(wandel).
76
Geo-Engineering: Können wir uns
durch gezielte Klimamanipulationen
vor der Katastrophe schützen?
„
Klimawandel
Es macht einen Unterschied,
ob man mit 50 oder 100 km / h
gegen die Wand fährt!
Foto: NASA
Von Sonja Scheferling
Globale Erwärmung, Kippelemente
und Klimaschutz: Wer wissen will,
wie es um unser Klima bestellt ist,
kann Dr. Tobias Bayr vom GEOMAR
in Kiel fragen. Der Meteorologe bewertet
die aktuelle Klimapolitik eher
kritisch, ist aber davon überzeugt,
dass bürgerschaftliches Engagement
die Verantwortlichen zum Umdenken
zwingt. Im UmweltDialog-Interview
gibt er einen Überblick rund um die
Debatte.
Herr Dr. Bayr, die Weltwetterorganisation sagt, dass 2015
bis 2018 die vier wärmsten Jahre seit Beginn der Aufzeichnungen
waren. Hat uns der Klimawandel schon fest im
Griff?
Ja, das kann man auf jeden Fall sagen. Der Klimawandel
passiert nicht mehr in ferner Zukunft, sondern wir befinden
uns bereits mittendrin. Das zeigen viele Beobachtungen,
wie beispielsweise die Zunahme an Extremniederschlägen
oder auch die extreme Trockenperiode im vergangenen
Jahr in Deutschland und Nordeuropa.
Die Begriffe „Klimawandel“ und „Globale Erwärmung“
werden gerne synonym verwendet. Ist das korrekt?
Nein, eigentlich müssten wir hier differenzieren. „Klimawandel“
besagt zunächst, dass sich das Klima wandelt. Das
bezieht sich auch auf natürliche Klimaschwankungen in
6 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
Bis maximal 2 Grad im Vergleich
zur vorindustriellen Zeit darf sich
die Erde bis 2050 erwärmen, um die
schlimmsten Folgen des Klimawandels
zu vermeiden. Besser wären
1,5 Grad. Was passiert, wenn es beispielsweise
3 oder 4 Grad würden?
der Vergangenheit. Der Begriff wird
nun mit der aktuellen globalen Klimaerwärmung
gleichgesetzt, die menschengemacht
ist.
Für diese Erwärmung sind die Treibhausgase
verantwortlich, die wir
durch Energie, Industrie, Verkehr
und Lebensmittelkonsum zusätzlich
freisetzen, richtig?
Genau. Um das zu verstehen, muss
man zwischen dem natürlichen und
dem anthropogenen Treibhauseffekt
unterscheiden. Den natürlichen Treibhauseffekt
gibt es, seit die Erde eine
Atmosphäre hat, und beschreibt die
Erderwärmung durch Wasserdampf,
CO 2
und andere Treibhausgase in
der Atmosphäre, die eine Wärmerückstrahlung
von der Erdoberfläche
in den Weltraum verhindern. Ohne
diesen Effekt wäre unsere Erde im
globalen Durchschnitt minus 18 Grad
kalt – ein Leben wäre hier kaum möglich.
Durch zusätzliche Treibhausgase,
die wir Menschen durch unser Handeln
emittieren, verstärken wir den
Treibhauseffekt, sodass sich die Erde
weiter erwärmt. Man kann das Ganze
mit einem Auto vergleichen, das im
Sommer in der prallen Sonne steht.
Die Sonnenstrahlen dringen durch
die Glasscheiben ins Innere des Fahrzeugs,
die Wärmeenergie wird zurückgehalten,
kann nicht entweichen
und das Auto heizt sich immer weiter
auf.
Auch hier vielleicht ein anschauliches
Exempel: Es macht schon einen Unterschied,
ob man mit dem Auto mit 50
Stundenkilometer gegen eine Wand
fährt, oder mit 100 km/h. Je mehr sich
also die Erde erwärmt, desto gravierender
sind die Auswirkungen. Denn
eine warme Atmosphäre kann mehr
Wasserdampf aufnehmen als eine kältere.
Der Wasserdampf treibt wiederum
viele Wetterphänomene wie Tiefdruckgebiete,
tropische Wirbelstürme
oder Gewitter an. Und je mehr „Treibstoff“
in der Atmosphäre ist, desto
mehr Kraft entwickeln diese Phänomene.
Außerdem führt ein Anstieg
des Wasserdampfes auch zu häufigeren
und intensiveren Extremniederschlägen,
wie wir das in Deutschland
in den letzten Jahren erlebt haben.
Darüber hinaus können die sogenannten
Kippelemente in unserem
Klimasystem ab einer bestimmten
Temperatur instabil werden und
Veränderungen anstoßen, die unter
Umständen nicht mehr rückgängig
gemacht werden können und damit
gravierende Auswirkungen auf uns
haben. Zu diesen Kippelementen gehören
zum Beispiel die Eispanzer
in Grönland und der Antarktis, die
schmelzen, oder auch die tropischen
Korallenriffe, die absterben. >>
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
7
Klimawandel
Dr. Tobias
„
Bayr ist Meteorologe und arbeitet
in der Klimaforschung am GEOMAR Kiel.
Kattowitz war
für mich leider
nur ein kleiner
„Trippelschritt“
in die richtige
Richtung.
Foto: GEOMAR Helmholtz Centre for Ocean Research Kiel / Jan Steffen
Ist es für den Menschen denn wirklich
so schlimm, wenn wir beispielsweise
keine Korallenriffe mehr haben?
Ja, natürlich. Korallenriffe gehören zu
den artenreichsten Regionen unseres
Planeten, sterben sie, nimmt die Biodiversität
im Ozean dramatisch ab. Wir
wissen ziemlich genau, dass Korallen
bereits eine Erwärmung von 2°C nicht
überleben würden. Außerdem vertragen
sie als kalkbildende Organismen
kein saures Wasser. Durch den Anstieg
an CO 2
in unserer Atmosphäre nehmen
gleichzeitig die Ozeane mehr Kohlendioxid
auf. Dort löst es sich als Kohlensäure
und versauert das Wasser.
Gibt es denn Elemente, die bereits
umgekippt sind?
Da ist sich die Wissenschaft nicht
ganz sicher. Wir haben die Befürchtung,
dass etwa das westantarktische
Eisschild bereits instabil geworden
ist. Eventuell hat sich auch schon der
Jetstream verändert. Letztes Jahr hat
dieser entscheidend dazu beigetragen,
dass sich das Hochdruckgebiet
über Skandinavien so lange halten
konnte und wir den warmen, trockenen
Sommer hatten.
Es gibt aber immer noch Menschen,
die bezweifeln, dass der aktuelle
Klimawandel menschengemacht ist.
Was halten Sie dagegen?
In der Wissenschaft gibt es keinerlei
Zweifel, dass wir Menschen die
Hauptursache für die aktuelle Klimaerwärmung
sind. 97 Prozent der
Wissenschaftler sind sich da einig.
Wenn man sagte, mit 97-prozentiger
Wahrscheinlichkeit ist es gefährlich,
über diese Straße zu gehen, würden
wir vermutlich von einer Straßenüberquerung
absehen, unabhängig davon,
welche Meinung die restlichen drei
Prozent vertreten.
Die erwärmende Wirkung von CO 2
und anderen Treibhausgasen können
wir sowohl molekular erklären als
auch in ganz einfachen Laborexperimenten
nachweisen. Vergangene
Klimaschwankungen sind in ganz anderen
Zeitskalen abgelaufen. Die Erde
erwärmte sich damals innerhalb von
mehreren tausend Jahren um 1 Grad.
Das, was wir im Moment sehen, passiert
so schnell und ist einmalig in der
Erdgeschichte.
Wieso gibt es denn dann überhaupt
noch Klimaskeptiker?
Der Grund, warum es nach wie vor
Menschen gibt, die die menschengemachte
Klimaerwärmung leugnen
oder anzweifeln, ist meiner Meinung
nach, dass das Ursache-
Wirkungs-Prinzip nicht so einfach
nachvollziehbar ist. Denn die Auswirkungen
des Klimawandels sind leider
zeit- und ortsversetzt und nicht unmittelbar
durch unsere Sinne erfahrbar.
Man braucht hier also etwas Abstraktionsvermögen,
um das zu verstehen.
Anders ist das mit dem Plastikmüll:
Hier gibt es keine Skeptiker, dass wir
ein Problem haben, da wir mit unse-
8 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
ren eigenen Augen sehen können, wie etwa Kunststoffabfälle
Strände verschmutzen.
Meine Erfahrung ist leider, dass ein paar Menschen für
Argumente und Fakten nicht zugänglich sind. Sie in einer
Diskussion vom Gegenteil zu überzeugen, ist vergebene
Mühe. Ich denke aber trotzdem, dass das vergangene Jahr
viele Menschen hierzulande wachgerüttelt hat. Außerdem
macht mir die aktuelle Fridays for Future-Bewegung große
Hoffnung, weil sich die Jugendlichen dezidiert für mehr
Klimaschutz stark machen und mehr Einsatz von der Politik
fordern. Dieses Engagement der Schüler unterstütze ich
voll und ganz.
Damit wir die Klimaziele von Paris einhalten können,
müssen die weltweiten Treibhausgase nächstes Jahr ihren
Höhepunkt erreicht haben und danach alle zehn Jahre um
die Hälfte sinken. Jetzt hat Deutschland aber beispielsweise
schon seine Klimaziele für 2020, die CO 2
-Emissionen
um 40 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren, verfehlt.
Dann gibt es noch bestimmte Staatschefs wie Trump oder
Bolsonaro, denen ist das Klima gleich ganz egal. Was
macht Sie dennoch optimistisch, dass die globale Staatengemeinschaft
die Klimaziele von Paris erfüllen wird? Und
inwiefern tragen die Ergebnisse von Kattowitz dazu bei?
Kattowitz war für mich leider nur ein kleiner „Trippelschritt“
in die richtige Richtung. Die Einigung über die genaue
Erfassung der CO 2
-Emissionen und die damit verbundene
Transparenz sind zwar ein Fortschritt, aber insgesamt
sind die Ergebnisse nicht ambitioniert genug, um damit
den Klimawandel in den Griff zu bekommen. Auch bedeuten
natürlich Politiker wie Trump und
Bolsonaro einen großen Rückschritt
für den internationalen Klimaprozess.
effizienz, CO 2
-Abschneidung- und Speicherung (CCS) und
Suffizienz im Privatkonsum. Welche Potenziale bieten die
unterschiedlichen Felder, um CO 2
einzusparen?
In meinen Augen braucht es einen gesunden Mix aus den
unterschiedlichen Bereichen. Wir stehen vor einer riesengroßen
Transformation. Dennoch können wir nicht
von jetzt auf gleich auf Kohle, Öl und Gas verzichten. Wie
würde unsere Gesellschaft dann wohl aussehen? Die Politik
benötigt einen Plan, wie wir Stück für Stück kohlestoffhaltige
Energieträger und Prozesse ersetzen können,
ohne dass unsere Gesellschaft zusammenbricht. In diesem
Zusammenhang müssen wir noch mehr erforschen, wie
wir etwa Dekarbonisierung, also die Abkehr der Nutzung
kohlenstoffhaltiger Energieträger, technisch bewerkstelligen
können. Allerdings dürfen wir nicht allzu lange warten
und müssen einfach mal mit der Umsetzung von Maßnahmen
beginnen, weil uns sonst die Zeit davonläuft. Denn mit
jedem Jahr, in dem wir weiter so wirtschaften wie bisher,
wird es schwieriger, das 2-Grad Ziel einzuhalten. Wichtig
ist, dass wir uns dabei auch eine gewisse Fehlertoleranz
erlauben und experimentierfreudiger werden. Manchmal
hilft es auch, Prozesse erst mal im Kleinen zu erproben, um
ihre Wirkung zu analysieren.
CSS kann aus Klimaschutzperspektive sinnvoll sein, wobei
das Problem der CO 2
-Lagerung nicht hinreichend gelöst
„
ist. Solar Radiation Management, das ebenfalls zum Geo-
Engineering gehört, sehe ich hingegen sehr kritisch. Dabei
handelt es sich um einen Eingriff in unser Klimasystem,
bei dem wir nicht alle Auswirkungen abschätzen können.
Außerdem gehört das für mich eher in die Kategorie >>
Hoffnung macht mir auch hier eher
das bürgerschaftliche Engagement
von unten, das sich für mehr Klimaschutz
stark macht. Ich bin davon
überzeugt, dass je mehr Druck von
den Bürgern auf das politische System
ausgeübt wird, desto eher die Politik
bereit ist zu handeln. Denn die bisherigen
Bemühungen reichen nicht aus.
Beim Klimaschutz gibt es unterschiedliche
Bereiche. Dazu gehören Dekarbonisierung,
Substitution, Energie-
Ich bin davon überzeugt, dass je
mehr Druck von den Bürgern auf
das politische System ausgeübt
wird, desto eher die Politik bereit
ist zu handeln.
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
9
Klimawandel
der Symptombekämpfung, ohne an die Ursachen des Klimaproblems
zu gehen.
Beim Klimaschutz spielt natürlich Suffizienz auch eine
wichtige Rolle. Brauchen wir wirklich so viele materielle
Sachen für unser Glück? Auch sollten wir mehr in Kreisläufen
arbeiten, sodass keine unnötigen Abfälle entstehen.
Beim Klimaschutz geht es nicht nur darum, CO 2
zu vermeiden,
sondern ganzheitlich nachhaltig zu denken.
Gaskraftwerke oder effiziente Verbrennungsmotoren
reduzieren zwar das CO 2
-Aufkommen. Aufgrund von sogenannten
Pfadabhängigkeiten konterkarieren sie aber eine
kohlenstoffneutrale Gesellschaft. Warum?
Ein neues Gaskraftwerk beispielweise wird über viele Jahre
laufen. Damit investieren wir weiterhin in eine Kohlenstofftechnologie.
Aber es ist dennoch sinnvoller, als ein
neues Kohlekraftwerk zu errichten. Gerade Gaskraftwerke
sind wichtig, um sie als Übergangstechnologie zu nutzen,
solange Erneuerbare Energien noch nicht ausreichend gespeichert
werden können. Da Gaskraftwerke schnell zu regulieren
sind, können sie so Energiespitzen ausgleichen.
Und trotzdem ist es wichtig, einen langfristigen Plan zu haben,
wie unsere Gesellschaft CO 2
-neutral gestaltet werden
kann.
Dafür ist die Energiewende eine Grundvoraussetzung.
Laut einer neuen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung
(DIW) reicht der aktuell gesetzlich vorgesehene
Ausbau des Ökostroms nicht aus, um seinen
Anteil am Deutschen Strommix auf die von der Kohlekommission
geforderten 65 Prozent zu steigern. Was läuft
falsch?
Eine Zeit lang war die Bundesrepublik das Pionierland für
Erneuerbare Energien und hat den Begriff der Energiewende
geformt. In den letzten Jahren hat die Bundesregierung
dann leider ihr Engagement zurückgefahren und die Energiewende
nicht konsequent genug verfolgt. Deswegen geht
es in diesem Sektor nicht mehr so schnell voran, wie es für
das Klima gut wäre.
„
Beim Klimaschutz geht
es nicht nur darum, CO 2
zu vermeiden, sondern
ganzheitlich nachhaltig
zu denken.
Zur Dekarbonisierung gehört auch ein kohlenstoffarmer
Verkehr. Momentan scheinen hier E-Autos immer beliebter
zu werden. Nur machen die ohne Ökostrom keinen
Sinn, und sie lösen nicht das Problem des steigenden
PKW-Aufkommens in den Städten. Wie sieht Ihre ideale
Verkehrswende aus?
Für mich braucht es da vor allem ein Umdenken. Gerade in
Städten muss nicht jeder ein Auto besitzen. Hier gilt es, den
öffentlichen Nahverkehr und Fahrradstraßen auszubauen.
10 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
Foto: UN Photo / Eskinder Debebe
Wie das funktioniert, zeigt Kopenhagen.
Ein Paradebeispiel für Fahrradfreundlichkeit.
Außerdem können die
Kommunen dadurch Kosten reduzieren,
weil Fahrradstraßen beim Bau
billiger als Autostraßen sind. Die gesundheitlichen
Vorteile durch mehr
Bewegung für die Menschen sind
natürlich auch nicht von der Hand zu
weisen.
Des Weiteren muss der Verkehr so geregelt
werden, dass Hauptrouten mit
der Bahn zu bewerkstelligen sind. Ich
beispielweise besitze auch kein Auto
und lege längere Strecken grundsätzliche
mit dem Zug zurück. Falls nötig,
nutze ich dann für die letzten Kilometer
Car-Sharing-Angebote, sollte
es keine Busse oder Straßenbahnen
geben.
Der Mobilitätsforscher Prof. Andreas
Knie schlägt vor, dass jeder ein festes
Budget an Flügen hat, die am Markt
verkäuflich sind. Wer weitere Flüge
benötigt, muss sie von anderen kaufen,
die noch Flüge frei haben. Eine
gute Idee gegen Vielfliegerei?
Das widerspricht den Prinzipien unserer
sozialen Marktwirtschaft und hört
sich für mich ein bisschen nach Planwirtschaft
an. Ich würde das beispielweise
eher über eine CO 2
-Steuer und
weitere Abgaben regeln. Natürlich
muss man dabei darauf achten, dass
das Ganze sozialverträglich gestaltet
wird. Es kann nicht sein, dass künftig
nur Reiche fliegen können.
Für mich ist es wichtig, dass Preise generell
die verdeckten Kosten der Umweltzerstörung
berücksichtigen, die
die Herstellung von Produkten oder
das Benutzen von Dienstleistungen
verursachen.
Aber ist es nicht paradox, dass Menschen
aus religiösen Gründen freiwillig
auf Süßes, Alkohol oder Fleisch
verzichten, aber sobald es darum
geht, aus Klimaschutzgründen kein
Steak mehr zu essen oder nicht zu
fliegen, schnell von „Ökodiktatur“
gesprochen wird?
Freiheit ist ein sehr hohes Gut unserer
Gesellschaft, das unangetastet bleiben
muss. Gewohnheiten wie Fleisch essen
oder fliegen gehören indessen zu
unserer Alltagskultur. Da finde ich
es sehr schwierig, mit Verboten zu
arbeiten. Über höhere Preise hingegen
kann man den Menschen besser
verdeutlichen, dass ihr Handeln klimaschädlich
ist. Das bedeutet aber
auch, dass es innerhalb unseres Wirtschaftssystems
ein Umdenken geben
muss. Beispielsweise hat ein unangetastetes
Naturschutzgebiet, aus dem
kein Holz gewonnen oder das nicht zu
Ackerfläche umgewandelt wird, keinen
eigenen wirtschaftlichen Wert.
Der Nutzen, den es für die Menschen
hat, weil es die Artenvielfalt erhält
und CO 2
aufnimmt, muss künftig berücksichtigt
werden.
Herr Dr. Bayr, vielen Dank für das
Gespräch! f
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
11
Klimawandel
Auf (zu) großem Fuß
Die Zahlen sprechen für sich und gegen uns – wir leben über unsere Verhältnisse. Insbesondere
in Bezug auf den CO 2
-Ausstoß. Aber wie hoch liegen die Emissionen eigentlich pro Person
im Jahr? Und wo können wir als Endverbraucher etwas einsparen? UmweltDialog gibt Auskunft
über die wichtigsten Daten und Fakten für Deutschland.
Hinweis: Der Einfachheit halber beinhalten die Angaben „CO 2
“ hier auch die CO 2
-Äquivalente (CO 2
-e).
Um die gleichen Emissionen wie ein
Langstreckenflug
auszustoßen, müsste man etwa
100.000 km
Auto fahren.
Für die Produktion von
einem Kilo Butter werden fast
24 kg CO 2
ausgestoßen.
Ungefähr 12,5 t CO 2
produziert jeder von uns
im Schnitt jährlich.
Ungefähr 36 %
der CO 2
-Emissionen
eines Durchschnittsdeutschen
entstehen durch den
Konsum.
Um den
weltweiten Konsum
der Menschheit zu befriedigen,
verbrauchen wir heute rund
1,7 Erden.
Quellen: Utopia, Ökotest, Umweltbundesamt,
Albert-Schweitzer-Stiftung, NABU
Beim Heizen entstehen ungefähr
1,3 t CO 2
.
Um den Treibhauseffekt nicht zu verstärken,
dürften wir maximal
2 t CO 2
pro Kopf im Jahr
verbrauchen.
12 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
Der indirekte CO 2
-Vebrauch durch
Benzinherstellung, Erhalt der Infrastruktur,
Stromproduktion usw. liegt bei knapp
4,3 t CO 2
pro Kopf.
Im Bereich
Mobilität fallen ca.
2 t CO 2
an.
Knapp 1/5 der
Treibhausgas-
Emissionen
in Deutschland entfallen auf
die Lebensmittelindustrie.
Rindfleisch ist mit etwa
13,3 kg CO 2
pro Kilo die
schädlichste Fleischsorte. Dafür könnte man
durchschnittlich ca. 100 km mit dem Auto fahren.
Wer seine CO 2
-Emissionen von Flugreisen, Autofahrten
und Co. einfach kompensieren möchte, kann das etwa über
die Stiftung myclimate oder atmosfair machen.
CO 2
-e: Die Klimaschädlichkeit von Methan, Lachgas und Co.
Die persönliche CO 2
-Bilanz lässt sich online ganz einfach
über den CO 2
-Rechner des Umweltbundesamts berechnen.
Kohlenstoffdioxid (CO 2
) ist nicht das einzige Treibhausgas, das schädlich für das Klima ist. Um die Klimawirkung
verschiedener Gase und Substanzen vergleichen zu können, wurde die Einheit CO 2
-Äquivalente (CO 2
-e) eingeführt. CO 2
dient dabei als Vergleichswert. Somit kann die Treibhauswirkung eines Gases, wie zum Beispiel Methan oder Lachgas,
angegeben werden. Zum Vergleich: Eine Tonne Methan (CH4) entspricht 28 Tonnen CO 2
(1 t CH4 = 28 t CO 2
-e).
Quelle: myclimate
Bild: Creativemarc / stock.adobe.com
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
13
Klimawandel
KLIMASCHUTZ?
JA BIT T E!
JA B
Untätig die Hände in den
Schoß legen – das war
vielleicht einmal. Ob Proteste
gegen den Klimawandel,
den voranschreitenden
Braunkohleabbau oder der
direkte Dialog mit der Politik:
In letzter Zeit machen sich
immer mehr Bürger in
unserem Land für die Umwelt
und Klimaschutz stark –
und finden Gehör.
Der „Hambi“ bleibt?
Die Geschehnisse im Hambacher Forst
sorgten im September und Oktober
2018 für Schlagzeilen. Seit vielen Jahren
protestierten Umweltaktivisten im
„Hambi“ gegen seine geplante Abholzung
durch den Energiekonzern RWE.
Dieser argumentiert laut dem SPIE-
GEL: Die Abholzung des Waldstücks
sei unvermeidbar, um die Stromproduktion
in den Braunkohlewerken zu
sichern. Seit 2012 hielten die Aktivisten
den Wald besetzt, lebten in Baumhäusern,
um die Abholzung zu verhindern.
Im September 2018 schritt die
NRW-Landesregierung ein und ließ
mithilfe von Polizei und Baubehörden
den Wald räumen, damit RWE mit der
weiteren Rodung des Waldes beginnen
kann. Die Räumung erfolgte nicht
ohne Probleme: 144 Personen wurden
festgenommen, 27 Polizisten und ein
Dutzend Aktivisten verletzt, berichtete
SPIEGEL-Autor Lukas Eberle. Ein
Todesfall überschattete die Ausschreitungen.
Ein Journalist verstarb nach
einem Sturz von einer Hängebrücke,
als er den Einsatz filmen wollte.
Doch eine Frage blieb: Musste die
(teils gewaltsame) Räumung sein?
Denn: Das Oberverwaltungsgericht
Münster verbot Anfang Oktober vorerst
die weitere Rodung des Waldes
durch RWE für mindestens ein Jahr,
berichtete der SPIEGEL. Der Konzern
habe nach Einschätzung des Gerichts
die Notwendigkeit für die Versorgungssicherheit
nicht ausreichend
begründet. Trotzdem wurde der Forst
geräumt. In der Gesellschaft machte
sich Unmut breit: Warum sollen noch
mehr Bäume für Braunkohle gefällt
werden? Innerhalb kurzer Zeit trafen
sich an den Wochenenden immer
mehr Menschen, um gegen die Rodung
zu protestieren. Mehrere Tausend Demonstranten,
darunter Lehrerinnen
und Postboten, hielten Transparente
gegen RWE und den Braunkohleabbau
in die Luft. „Die Baumhäuser sind
14 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
der Schweiz bereits seit zehn Jahren
die sogenannte „Lenkungsabgabe“,
die über die dortigen Krankenkassen
erfolgt. „Auch Kanada hat zum Jahresbeginn
2019 in allen Provinzen einen
CO 2
-Preis eingeführt“, berichtet Delker
gegenüber dem Portal. „Mit einer
solchen Gebühr für die Nutzung eines
Gemeinguts wird Klimaschutz viel
einfacher.“ Derzeit hat die Initiative
rund 50 Mitglieder, will aber in Zukunft
weiter wachsen. Dafür plant der
Verein eine Reihe kostenfreier Workshops
in mehreren deutschen Städten.
Foto: MoBIoS / shutterstock.com
geräumt und zerstört, der Protest aber
ist geblieben und hat sich gesteigert“,
so Lukas Eberle im SPIEGEL. Auch
in 2019 geriet die Zukunft des Hambacher
Forsts in den Fokus der Öffentlichkeit.
Wie die Rheinische Post
berichtete, zog der BUND vor Gericht
mit der Absicht, ein Rodungsverbot
bis Ende 2020 durchzusetzen. Sein
Argument: Seltene Tierarten müssten
geschützt werden. Mitte März 2019
wies das Verwaltungsgericht Köln die
Klagen ab. Die Begründung des vorsitzenden
Richters Holger Maurer: Es
gebe keine rechtliche Verpflichtung,
den Braunkohletagebau zu stoppen.
Bürgerlobby führt direkten Dialog
Bürger besuchen Bundestagsabgeordnete
und sprechen offen mit ihnen
über ihre Wünsche und Vorstellungen?
Was ungewöhnlich klingt, ist
der Ansatz der „Bürgerlobby Klimaschutz“.
Die Mitglieder der Initiative
fordern eine ambitioniertere Klima-
Foto: Christopher Ludwig / shutterstock.com
politik. Doch anstatt an Protestaktionen
oder Unterschriftensammlungen
teilzunehmen, setzen die Bürger auf
den direkten Dialog. Sie gehen ins
Parlament und sprechen persönlich
mit den Abgeordneten.
Martin Delker ist Vorsitzender des
Vereins. Der Architekt mit dem
Schwerpunkt Passivhausplanung
erklärt gegenüber der Plattform
klimafakten.de: „Viele Menschen
trauen sich nicht oder glauben nicht
daran, dass Gespräche mit Politikern
etwas bringen. Um so beeindruckter
sind die Abgeordneten, wenn Bürger
doch den Mut finden, mit ihnen zu
reden.“ In ihren Gesprächen machen
die Klimalobbyisten klar, dass der
Klimawandel ein wichtiges Thema
sein muss – besonders für die Politik.
Kernforderung der Aktivisten ist eine
Bepreisung von CO 2
. Der Ausstoß der
Emissionen soll laut der Bürgerlobby
in Zukunft Geld kosten und so ein ökonomischer
Anreiz entstehen, weniger
Öl, Kohle und Gas zu verbrauchen.
Dieser „CO 2
-Preis mit Klimadividende“
soll dabei kontinuierlich steigen
und anschließend wieder an alle Bürger
zu gleichen Teilen ausgezahlt werden.
Was utopisch klingt, ist in anderen
Ländern schon Wirklichkeit. Wie
klimafakten.de berichtet, gibt es in
Klimabewegung „Fridays for
Future“
„Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr
uns die Zukunft klaut“ – mit Sprüchen
wie diesem in Köln demonstrieren
Schülerinnen und Schüler
jeden Freitag in ganz Deutschland
für einen besseren Klimaschutz. Die
16-Jährige Schwedin Greta Thunberg
machte es vor – inzwischen streiken
Schüler weltweit, anstatt freitags zur
Schule zu gehen. Hierzulande sorgen
die Demonstrationen während
der Unterrichtszeit laut SPIEGEL für
heftige Diskussionen. Viele fragen
sich: Dürfen Kinder und Jugendliche
die Schule schwänzen, um demonstrieren
zu gehen? Laut einer Umfrage
des Instituts Civey im Auftrag des
SPIEGEL unterstützen 51 Prozent der
befragten Internetnutzer die Protestaktionen.
Gegenwind erhalten die Protestler aus
der Politik. FDP-Chef Christian Lindner
kritisierte im März 2019 die Protestaktionen
und sprach den Schülern
beim Thema Klima ausreichendes
Wissen ab, so die Rheinische Post.
Das sei, laut Lindner, „eine Sache
für Profis.“ Bildungsministerin Anja
Karliczek erklärte, sie lehne Schülerstreiks
während der Unterrichtszeit
ab, Bundeswirtschaftsminister Peter
Altmaier forderte die Schüler auf, ihre
Klimaschutz-Proteste in die Freizeit
zu verlegen. Zuspruch erhält die junge
Generation von Bundeskanzlerin
Angela Merkel, die laut RP die >>
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
15
Klimawandel
Foto: Rolf G Wackenberg / shutterstock.com
ista bringt Klimaschutz ins Klassenzimmer
Der Energiedienstleister ista engagiert sich mit seiner Initiative „ista macht
Schule“ seit 2017 bundesweit für mehr Klimaschutz und einen transparenten
Energieverbrauch an Schulen. Dabei hilft die Initiative jungen Menschen,
ihren Beitrag zum Klimaschutz zu leisten und unterstützt sie bei der
Umsetzung ihrer Ideen. Das Unternehmen stattete dafür in 2017 mehrere
Essener Schulen mit Technologie zum Messen von Energieverbräuchen
aus und zeigte den Schülern in Workshops, wie sie Energie sparen können.
Ein Highlight des Projekts war die KlimaKiste. Diese wurde von Schülern
konzipiert und mit Messgeräten und Lernmaterialien
befüllt. Innerhalb kürzester
Zeit waren alle 100 Exemplare für
Schulen reserviert. Anfang des Jahres
initiierte „ista macht Schule“ sogar einen
Crowdfunding-Wettbewerb, den Klima-
Helden-Contest. Das Ziel dabei: Überzeugende
Klimaschutzprojekte in Schulen
finden, fördern und finanzieren. Insgesamt
qualifizierten sich 25 nachhaltige Schulprojekte
aus ganz Deutschland für den
Wettbewerb. Die Gewinner wurden im
Mai gekürt und erhielten Preisgelder zur
Förderung ihrer Projekte.
Bild: ista
Foto: Von Liv Oeian / shutterstock.com
Demonstrationen als „sehr gute Initiative“
bezeichnete. Auch die Wissenschaft
steht hinter den Schülern. Berichten
von n-tv zufolge unterstützen
mehr als 12.000 Wissenschaftler in einer
gemeinsamen Stellungnahme die
Klimabewegung. Volker Quaschning
von der Hochschule für Technik und
Wirtschaft Berlin bringt es gegenüber
n-tv auf den Punkt: „Wir sind die Profis
und sagen: Die junge Generation
hat Recht.“
Fakt ist: Jugendliche in Deutschland
sind derzeit so politisch interessiert,
wie selten zuvor. Das Thema,
das sie am meisten interessiere und
umtreibe, sei seit langem der Umweltschutz,
meint Jugendforscher
Klaus Hurrelmann gegenüber der
Deutschen Welle. „Die Jugendlichen
spüren intuitiv: ‚Das sind unsere
existenziellen natürlichen Grundlagen,
die möchten wir nicht in Gefahr
sehen‘. Und wir erwarten auch, dass
das Interesse der jungen Leute bei unseren
kommenden Befragungen noch
einmal gestiegen sein wird.“
Die Zahlen von Umweltverbänden
belegen das gewachsene Umweltbewusstsein
der Jugend. Der BUND verzeichnete
laut der Deutschen Welle
den höchsten Mitgliederzuwachs bei
Menschen unter 27 Jahren und auch
der WWF spricht von bundesweit
rund 12.000 aktiven Jugendlichen. f
16 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Sind wir noch
zu retten?
Klimawandel
ist das philosophische
Wirtschaftsmagazin
» Interdisziplinär
und verständlich,
dazu von hohem
Anspruch. «
SWR2
» Die Zeitschrift trägt lässig
Hemd, hat den Sakko aber
immer in Griffweite. Die Neugestaltung
des Wirtschaftssystems
geht das Magazin
mit einer Mischung aus Pragmatismus,
Idealismus und
Mut an. «
versandkostenfrei
bestellen
engagée Magazin
» Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Philosophie – die
Zeitschrift agora42 informiert aus verschiedenen Perspektiven.
Und auch weil man die Themenhefte immer wieder
mit Gewinn lesen kann, sind sie eigentlich Bücher. «
DRADIO
Testen Sie die agora42 im Probeabo* für 20 EUR. Oder bestellen Sie die aktuelle Aus-
gabe zum Thema NATUR UND WIRTSCHAFT versandkostenfrei unter www.agora42.de
Ausgabe * Das 11 | Mai Probeabo 2019 | Umweltdialog.de
besteht aus zwei Ausgaben der agora42. Zusätzlich bekommen Sie die Ausgabe EINFACH LEBEN gratis dazu.
17
Klimawandel
Foto: Кирилл Рыжов / stock.adobe.com
„Es ist ein
Gewerkschafts-Märchen
zu glauben, es gehe nur um
einige Wohlhabende“
Der liberale Staat habe die Aufgabe, die Freiheit der Schwächeren zu schützen. Das gelte auch
für die Opfer des Klimawandels. Das sagt Prof. Dr. Dr. Felix Ekardt, Gründer und Leiter der
Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik. Gegen die „unzureichende“ deutsche
Klimapolitik hat der Jurist, Philosoph und Soziologe gemeinsam mit anderen Mitstreitern eine
Klage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht.
„Hetzjagd gegen Autofahrer“ lautete
einer der Vorwürfe der „Gelbwesten“
in Frankreich gegen die Erhöhung
der Steuern auf Diesel und Benzin.
In Deutschland sorgte 2013 der Vorschlag
von Bündnis 90/die Grünen,
einen fleischlosen Tag in Kantinen
einzuführen, für eine heftige Debatte.
Warum wird strenger Umwelt- und
Klimaschutz zu einem Minenfeld für
Politiker?
Faktenwissen und Werthaltungen
beeinflussen unsere Verhaltensmotive
nur begrenzt. Auch Eigennutzenkalküle
wirken in uns, ebenso
wie diverse Emotionen wie Bequemlichkeit,
Gewohnheit, Verdrängung
oder die Schwierigkeit, mir Klimatote
vorzustellen, wenn ich gerade in den
Flieger zu meiner Traum-Destination
steige. Zumal stecken wir alle in
den Normalitätsvorstellungen einer
fossil getriebenen Welt fest, zu der
eben auch Flugreisen gehören. Meine
Facebook-Freunde waren schließlich
auch alle schon in Südostasien, und
meine Kollegen im Büro doch auch.
Besonders beliebt ist, von sich selbst
durch Hinweis auf Sündenböcke abzulenken.
Politiker, Manager, die
dummen anderen Verbraucher, andere
Fernreisende, die Chinesen. Weil
Politiker und Bürger wie auch Unternehmer
und Konsumenten wechselseitig
voneinander abhängen, wäre es
jedoch ein Henne-Ei-Spiel zu fragen,
wer den Wandel voranbringen muss.
Ein radikaler fossiler Ausstieg durch
eine Mengenbegrenzung von null auf
EU-Ebene wird nur im Wechselspiel
der Akteure durchgesetzt werden
können.
Keine Bevormundung durch den
Staat ist ein Argument von Bürgern,
die sich etwa das Fleischessen nicht
verbieten lassen wollen. Sie selbst
vertreten eine andere Position und sehen
das vielmehr als Schutz unserer
Freiheit an. Wie das?
Viele fragen auch: Ist es nicht einfach
meine Sache, wo ich meinen Urlaub
verbringe? Doch der liberale Staat hat
gerade die Aufgabe, die Freiheit des
Schwächeren vor der des Stärkeren
zu schützen. Will er zum Beispiel Klimaschäden
durch Fliegen oder hohen
Fleischkonsum verringern, schützt er
nicht die Verursacher vor sich selbst,
sondern sämtliche Mitmenschen –
und das ist gerade der Sinn liberaler
Demokratie. Bevormundend wäre es,
jemanden vor sich selbst zu schützen.
Geht man gegen die Flugbegeisterung
vor, schützt man dagegen schlicht die
Opfer des Klimawandels. Zum Beispiel
Bauern in Bangladesch oder Zentralafrika,
die wegen zunehmender Dürren
oder wegen des steigenden Meeresspiegels
existenziell bedroht werden.
Effiziente Hausgeräte oder energiesparende
Heizungen sind gut fürs
Klima, aber schlecht für den Geldbeutel.
Ist Klimaschutz nur was für
Besserverdiener?
Volkswirtschaftlich ist Klimaschutz
bei weitem billiger als der Klimawandel.
Die fossilen Brennstoffe sind nicht
nur wegen des Klimawandels teuer,
sondern auch, weil sie massive Kosten
im Gesundheitssystem auslösen,
die Biodiversität schädigen, Stickstoffkreisläufe
und damit Gewässer
und Böden schädigen. Auch betriebswirtschaftlich,
also beim Einzelnen,
ist Klimaschutz oft mittelfristig billiger.
Das schließt auch ein, aus Anlass
des Klimawandels einiges als unnötig
zu erkennen. Ich selbst verdiene sehr
gut, bin sehr beschäftigt und lebe
bestens ohne Führerschein, ohne Urlaubsflüge,
auch sonst fast ohne Flü-
18 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
WWW.SMARTCITYSOLUTIONS.EU
Klimawandel
ge, fast ohne tierische Nahrungsmittel, ohne Handy, ohne
Mikrowelle, ohne große Wohnung.
Caritas-Vorständin Eva Welskop-Deffaa hat in einem
SZ-Interview gesagt, dass eine soziale Umverteilungspolitik,
die die gesellschaftliche Mitte stärke, gleichzeitig helfe,
ökologische Ziele zu erreichen. Unter anderem hat sie
das damit begründet, dass das Leben vieler Reicher nicht
mit den ökologischen Grenzen vereinbar sei, da der Verbrauch
von Energie exponentiell mit dem Reichtum steige.
Was ist Ihre Meinung?
Nullemissionen pro Kopf in maximal zwei Dekaden sind
für alle Menschen in Deutschland eine sehr große Herausforderung.
Es ist ein Gewerkschafts-Märchen zu glauben,
es gehe nur um einige Wohlhabende. Selbst unsere
Hartz-IV-Empfänger gehören – kaufkraftbereinigt – weltweit
zu den rund 15 Prozent der Wohlhabendsten.
Sie sagen außerdem, dass das Verfehlen von Klimazielen
völker- und menschenrechtswidrig ist. Bitte erklären Sie
das.
Artikel 2 des rechtsverbindlichen Pariser Klima-Abkommens
schreibt vor, die globale Erwärmung gegenüber vorindustriellem
Niveau auf deutlich unter 2 und möglichst
sogar 1,5 Grad zu begrenzen. Dafür benötigt man letztlich
in allen Sektoren weltweit in ein, zwei Jahrzehnten Nullemissionen.
Der Weltklimarat, der IPCC, sagt drei Jahrzehnte,
aber nur, weil er die 1,5 Grad nur mit 50 Prozent
Wahrscheinlichkeit einhalten will – was rechtlich unzulässig
ist. Hinter dem Paris-Abkommen stehen außerdem
auch die Menschenrechte. Zwar können die elementaren
Freiheitsvoraussetzungen Leben, Gesundheit und Existenzminimum,
die durch den Klimawandel bedroht sind, durchaus
mit der Freiheit der Konsumenten und Unternehmen
abgewogen werden. Unzulässig ist jedoch ein Abwägen,
das die physischen Grundlagen künftigen demokratischen
Abwägens als solche gefährdet. Und genau das tun wir mit
unserer aktuellen Klimapolitik. Deshalb habe ich mit anderen
kürzlich eine Klage vor das Bundesverfassungsgericht
gebracht – gegen die völlig unzureichende deutsche und
mittelbar auch europäische Klimapolitik.
part of
#SCSEXPO
STUTTGART
17 – 19 SEPTEMBER 2019
INSPIRATION
FÜR DIE STADT
VON MORGEN
MOBILITÄT UND VERKEHR
ENERGIE UND UMWELT
SICHERHEIT UND RESILIENZ
OPEN DATA UND DATENMANAGEMENT
STADT- UND RAUMPLANUNG
Umweltfreundliche Energiesysteme erfordern große Mengen
an Rohstoffen, die zumeist aus Minen in Entwicklungsländern
stammen. Dort sind Menschenrechtsverletzungen
und Verstöße gegen Umweltauflagen immer noch
an der Tagesordnung. Was muss passieren, damit der Klimaschutz
nicht auf Kosten der Menschen dort geht?
Genau die gleichen Probleme bestehen auch, wenn sie auf
die Rohstoffe des alten Energiesystems setzen. Unabhängig
davon gilt: Mehr Genügsamkeit, also eine geringere Energienachfrage,
reduziert alle denkbaren Zielkonflikte. f
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
SICHERN SIE SICH
IHR GRATIS-TICKET!
GUTSCHEINCODE: SCS19-MP04
www.smartcitysolutions.eu/tickets
19
Klimawandel
Welcher
Klimatyp
sind Sie?
Täglich mit dem Auto zur
Arbeit, den Fernseher
immer auf Standby und
viel Fleisch auf dem Teller.
Das verursacht eine
Menge Emissionen. Laut
dem Verbundprojekt
KlimaAlltag sind
Verbraucher der drittgrößte
Verursacher von CO 2
in Deutschland. Aber wie
verhält sich jeder Einzelne?
Klimaschonende Typen
Typ 1 Umfassend klimaschonend
aktiv
Diese Gruppe hat ein ausgeprägtes
Klimabewusstsein und ist gut über
die Klimawirkungen des eigenen
Handelns informiert. Außerdem haben
Personen dieses Typs eine starke
Gesundheitsorientierung. In den
Handlungsfeldern Mobilität, Energie
und Ernährung verhalten sie sich
besonders klimafreundlich. Ihr Bildungsniveau
ist überdurchschnittlich
hoch und sie verfügen über ein durchschnittliches
Jahreseinkommen. Dieser
Klimatyp hat die beste CO 2
-Bilanz.
Typ 2 Klimaschonend aktiv im
Bereich Energie
Bei den Akteuren dieser Gruppe
herrscht ein hohes Klimabewusstsein.
Sehr klimaschonend verhalten
sie sich vor allem im Bereich Energie.
So wird zum Beispiel der Standby-Modus
von elektrischen Geräten
abgeschaltet und etwa die Hälfte der
Personen nutzt Ökostrom. Sie haben
eine leicht überdurchschnittliche Bildung
und ein vergleichsweise hohes
Einkommen. Personen dieser Gruppe
sind überdurchschnittlich viel sowohl
mit dem Auto als auch mit dem ÖNPV
oder Fahrrad unterwegs.
Typ 3 Klimaschonend aktiv im
Bereich Ernährung
Personen dieser Gruppe kaufen häufig
regionale, saisonale Bio-Lebensmittel
und ernähren sich mehrmals in
der Woche vegetarisch. Sie verfügen
über überdurchschnittlich hohe Bildungsabschlüsse
sowie das höchste
Vergleichseinkommen. Diese Gruppe
nutzt sehr oft das Auto und belastet
damit das Klima stark. Dennoch sind
auch sie über den Klimaschutz gut informiert.
Typ 4 Klimaschonend aktiv im
Bereich Mobilität
Die Akteure dieser Gruppe verhalten
sich im Bereich Mobilität besonders
klimaschonend. Sie haben ein unterdurchschnittliches
Einkommen, viele
sind nicht erwerbstätig oder im Ruhestand
und leben alleine. Etwa die Hälfte
dieser Gruppe muss nach eigenen
Angaben sparsam leben. Personen
dieses Typs nutzen häufig den öffentlichen
Nahverkehr, viele besitzen
kein eigenes Auto. Dadurch hat diese
Gruppe die zweitbeste Klimabilanz.
Typ 5 Mittelmäßig klimaschonend
aktiv
Diese Gruppe legt in allen drei Bereichen
ein eher durchschnittliches klimafreundliches
Verhalten an den Tag.
Am stärksten klimabelastend ist ihr
Mobilitätsverhalten. Meistens finden
sich hier Haushalte mit drei und mehr
Personen. Sie sind offen für Verbesserungen
im alltäglichen Klimaverhalten.
Die Bereitschaft, sich für Klimaschutzthemen
zu engagieren, ist aber
eher verhalten.
20 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
Klimabelastende Typen
Typ 6 Klimabelastend aktiv im
Bereich Energie
Zu dieser Gruppe zählen vor allem
Frauen über 60 und Einpersonenhaushalte.
Ihr Bewusstsein für Klimaschutz
ist eher schwach ausgeprägt. Stattdessen
hat diese Gruppe das Bedürfnis
nach Exklusivität und Komfort. Einen
effizienten Umgang mit Energie lehnen
sie als zu umständlich ab, kommunale
Klimaschutzmaßnahmen sehen
sie kritisch. Die Bereitschaft zu klimafreundlichem
Handeln ist nur gering
ausgeprägt.
Typ 7 Klimabelastend aktiv im
Bereich Ernährung
Besonders viel Fleisch steht auf dem
Speiseplan dieser Gruppe. Über die
Auswirkungen dieses Ernährungsstils
auf das Klima sind die Personen
dieser Gruppe eher schlecht informiert.
Zudem empfinden sie die Nutzung
des öffentlichen Nahverkehrs als
lästig und aufwändig. Dieser Typus
hat eher niedrigere Bildungsabschlüsse
und verfügt über ein geringes Einkommen.
Bereitschaft zur Veränderung
des Lebensstils herrscht hier vor
allem im Bereich Energie.
Was können Kommunen tun?
Kommunen können mit verschiedenen
Maßnahmen ein klimafreundliches
Alltagsverhalten beeinflussen
und fördern, heißt es in der Broschüre
von KlimaAlltag. So beispielsweise
beim Hausneubau oder
auch in der Mobilität. Wichtig sei
dabei das 4-E-Modell: Enable, Encourage,
Engage und Exemplify. Das
heißt, Kommunen müssten entsprechende
Rahmenbedingungen schaffen,
monetäre und nicht-monetäre
Anreize geben, die Bevölkerung mobilisieren
und vor allem mit gutem
Beispiel voran gehen. Wichtig sei ein
ausgewogener Mix aus unterschiedlichen
Maßnahmen, um Bürger auf
mehreren Ebenen ansprechen zu
können. Besonderes Augenmerk
müsse auf die begleitende Kommunikation
gelegt werden. Auch solle
man mit verschiedenen Gruppen,
die die Klimapolitik unterstützen
könnten, zusammenarbeiten.
Typ 8 Klimabelastend aktiv im
Bereich Mobilität
Durch eine gute wirtschaftliche Lage
zeichnet sich diese Gruppe aus. Frauen
und Personen im Ruhestand sind
stark vertreten. Personen dieser Gruppe
haben ein hohes Durchschnittsalter,
besitzen Wohneigentum und haben
ein gutes Einkommen. Das Klimabewusstsein
ist nur gering ausgeprägt.
Aufgrund ihrer Wohnsituation benutzen
sie häufig ihr Auto (über 10.000
km/p.a.). Dementsprechend will diese
Gruppe eher nicht auf den PKW verzichten.
Typ 9 Umfassend klimabelastend
aktiv
Für die Personen diese Gruppe spielt
Klimaschutz keine Rolle. Sie sind über
klimafreundliches Verhalten schlecht
informiert, Exklusivität und Spaß stehen
im Vordergrund. Diese Gruppe
agiert in allen Bereichen klimabelastend
und hat Vorbehalte gegenüber klimafreundlichem
Verhalten. Zu einer
Verhaltensänderung sind sie kaum
bereit.
Über das Projekt
Das Verbundprojekt „KlimaAlltag“
vom Institut für sozial-ökologische
Forschung (ISOE) hat untersucht,
wie verschiedene soziale Bedingungen
Einfluss auf den Klimaschutz
im Alltag haben. Die Leitfrage dabei:
Wo wird Klimaschutz im Alltag praktiziert
und wie kann das alltägliche
Verhalten noch klimafreundlicher
gestaltet werden? Anhand von empirischen
Befragungen entwickelten
die Forscher eine Systematik, die
neun Klimatypen identifiziert.
Außerdem untersuchte das Team,
wie Kommunen das Klimabewusstsein
in unterschiedlichen sozialen
Schichten steigern und einen
CO 2
-armen Lebensstil fördern
können.
Quelle: Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE),
gekürzte Fassung durch die UmweltDialog-Redaktion
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
21
Klimawandel
Bild: SimpLine / stock.adobe.com
”
Appelle an
klimafreundliches
Verhalten greifen
zu kurz
Viele Menschen fühlten sich ohnmächtig bei dem Versuch,
durch ihr individuelles Handeln etwas gegen den Klimawandel
zu tun, sagt die Kommunikationswissenschaftlerin
Imke Hoppe von der Universität Hamburg. Daher brauche es
mehr Debatten über politische Regelungen für alle.
Frau Hoppe, in Ihrer Forschung beschäftigen
Sie sich mit der Kommunikation
über den Klimawandel. Das
Problem der globalen Erwärmung ist
seit langem bekannt, gesellschaftlich
und politisch ändert sich aber insgesamt
nur wenig. Was läuft da in der
Kommunikation schief?
Historisch gesehen bestand die Klimakommunikation
lange daraus, Menschen
erst mal davon zu überzeugen,
dass es überhaupt ein Problem gibt.
In den USA ist das immer noch die
größte Herausforderung. In Europa
22 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
Als ein Beispiel von vielen: Wir reden viel zu wenig über
den öffentlichen Nahverkehr. Sehen Sie sich an, wie viele
Menschen heutzutage schon mit Bus und Bahn fahren und
das Auto stehen lassen – und das trotz ständiger Verspätungen
und häufig miserablem Service. Was könnten wir
da verkehrspolitisch erst erreichen, wenn es uns endlich
gelingen würde, die Infrastruktur auszubauen und das
Bahnfahren attraktiver zu machen? Das Thema interessiert
unzählige Berufstätige, die jeden Tag zur Arbeit pendeln.
Aber es passt eben nicht zur klassischen Nachrichtenlogik:
Es ist nicht neu, wirkt nicht dramatisch genug und geht selten
mit Prominenz einher. Daher lesen wir darüber wenig,
zumindest in den überregionalen Medien.
Was hieße „lösungsorientiert“ in diesem Fall? Tipps, wie
der Umstieg vom Auto besser gelingt?
Grundsätzlich reicht der Fokus auf das Verhalten des Einzelnen
nicht mehr aus. Dafür ist das Problem zu drängend.
Zu diesem Zeitpunkt braucht es auch eine gesellschaftliche
Debatte über die Regeln, die wir uns selbst geben wollen.
Wenn unser Verkehr und unser Konsum nachhaltig werden
sollen, müssen sie sich so grundlegend ändern, dass es
ohne politischen Druck, ohne entsprechende Gesetze nicht
schnell genug funktionieren wird. Wenn man das erklärt,
wittern viele gleich eine „Öko-Diktatur“. Dabei wissen die
Leute eigentlich, was zu tun wäre – den Autoverkehr einschränken
etwa oder das Pendeln über weite Strecken nicht
mehr subventionieren. Aber wenn man das vorschlägt, ist
der Aufschrei riesig.
Das heißt, wer über den Klimawandel spricht, sollte nicht
bei alltäglichen Entscheidungen ansetzen, sondern gleich
bei der großen Politik?
dagegen haben mittlerweile rund 90 Prozent der Menschen
akzeptiert, dass der Klimawandel real ist. Aber dieses Problembewusstsein
allein verändert oft noch nicht das Verhalten.
Auch wenn es weiterhin wichtig und richtig ist, auf
die Gefahren durch die globale Erwärmung hinzuweisen,
müsste es jetzt mehr darum gehen, über konkrete Maßnahmen
dagegen zu sprechen, also lösungsorientiert zu kommunizieren.
Was könnte das zum Beispiel sein?
Beides ist nötig. Klimapolitische Maßnahmen brauchen
natürlich die Unterstützung der Bevölkerung. Es ist aber
so, dass viele umweltbewusste Leute mittlerweile denken:
Mit unseren kleinen, alltäglichen Handlungen können wir
doch eh nichts ändern. Wer in der Klimakommunikation
arbeitet, sagt oft, eine solche Einstellung müssten wir
durch gute Argumente überwinden. Dabei haben die Leute
leider recht! Mikro-Aktionen bringen insgesamt gesehen
tatsächlich nur wenig. Und diese Erkenntnis kann für alle
sehr frustrierend sein. Deshalb muss man zusätzlich noch
darüber sprechen, auf welche größeren Maßnahmen man
sich als Gesellschaft einigen kann, sei es der Ausbau der
Verkehrsinfrastruktur oder die Förderung regional produzierter
Lebensmittel. Eine solche Debatte wirkt dann wiederum
motivierend auf den Einzelnen.
Was sagt die Forschung dazu, unter welchen Bedingungen
diese Art der Kommunikation funktioniert?
Es gibt beispielsweise Untersuchungen zum „konstruktiven
Journalismus“, der derzeit in vielen Medienhäusern
diskutiert wird. Das bedeutet: weg von negativen Nachrichten
und hin zu lösungsorientierten Texten, etwa bei
Themen wie Armut, Migration oder eben Klimawandel. >>
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
23
Klimawandel
Studien zeigen, dass es Menschen zuversichtlicher
und positiver stimmt,
wenn Themen konstruktiv behandelt
werden. Zu unmittelbaren Veränderungen
im individuellen Handeln
führt das zwar meist nicht – aber Menschen
sind dann eher bereit, politische
Regulierungen in Kauf zu nehmen.
Sie sagen, Medien haben generell keine
großen Wirkungen auf das Verhalten.
Ist das für Kommunikatorinnen
und Kommunikatoren nicht ernüchternd?
Klimawandel: Viel wissen. Wenig tun?
Es gibt Effekte. Sie sind nur für einzelne
Medienberichte sehr überschaubar
und schwierig nachzuweisen. In
der Masse dürfte der Medienkonsum
schon eine Rolle spielen, wobei er
natürlich immer mit einer Vielzahl
anderer Einflüsse konkurriert und in
Wechselwirkung steht. Es gibt aber
auch Ausnahmen. Ermutigend ist zum
Beispiel, was wir über die Wirkung
von Dokumentarfilmen wissen.
Sind Dokumentarfilme etwas Besonderes
in dieser Hinsicht?
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Klimaschutzmanager in Behörden
oder Unternehmen, Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen
– wohl jede und jeder, der in der Klimakommunikation aktiv ist, kennt
diese Erfahrung: Man vermittelt Fakten, Fakten, Fakten. Und man hat
auch den Eindruck, dass diese bei vielen Menschen ankommen, sie also
eigentlich eine Menge wissen über den Klimawandel, seine Ursachen und
seine Folgen. Und dennoch werden nur relativ wenige Leute aktiv.
Praktiker ärgern sich oft hierüber. Sie haben (meist unbewusst) das
sogenannte „Informations-Defizit-Modell“ im Kopf: Wenn jemand nicht
das tut, was aufgrund bestimmter Informationen rational wäre, dann
liege das bestimmt an einem Mangel an Informationen.
Psychologen wundert die Kluft zwischen Wissen
und Handeln nicht
Eine Kluft zwischen Wissen und Handeln gibt es übrigens auch bei
vielen anderen Themen jenseits des Klimawandels. Und Umwelt- und
Sozialpsychologen wundert diese Kluft überhaupt nicht. Neben den
Informationen, die eine Person hat oder bekommt, haben nämlich noch
viele andere Faktoren einen Einfluss darauf, ob jemand aktiv wird. Dies
können zum Beispiel individuelle Erfahrungen der Person sein, ihre
Wertvorstellungen und (politische) Identität oder auch die persönliche
Einschätzung, ob der Klimawandel sie selbst betrifft oder eigene
Handlungen überhaupt irgendwelche Folgen haben - konkret: Ob man
überhaupt etwas gegen den Klimawandel tun kann.
Übrigens: Einer der Faktoren, warum Menschen nicht aktiv werden, ist
die Orientierung am sozialen Umfeld. So folgen viele Menschen dem,
was Menschen um sie herum tun – und wenn sie dort wenig Einsatz
beim Klimaschutz sehen, ist das zumindest kein Anreiz, selbst aktiv zu
werden.
Quelle: klimafakten.de
Meine Kollegin Ines
Lörcher hat Menschen
zu ihrer Medienbiografie
befragt und herausgefunden:
Personen, die
im Alltag sehr klimabewusst
handeln, wurden
zwar von ihren Eltern
und Freunden geprägt,
aber auch ganz stark von
Dokumentarfilmen. Natürlich
setzt es schon eine gewisse
Bereitschaft voraus,
sich überhaupt mit einem
Stoff zu beschäftigen, bevor
man sich 90 Minuten
lang vor eine Klima-Doku
setzt. Aber wenn man sich
darauf einlässt, kann das
einen starken Effekt haben.
Vermutlich, weil das Ganze
so realistisch ist, weil man
in eine lange Narration eintaucht
und Zeit hat, gründlich
über ein Thema nachzudenken.
Man sieht Menschen, die
mit ihrem Handeln die Welt
verändern, und oft emotional
berührende Bilder. Das wirkt.
Mit welchem Aspekt der Klimawandel-Kommunikation
beschäftigen Sie sich selbst
gerade?
Ich untersuche derzeit in einem
fächerübergreifenden Netzwerk
von Forschenden, wie in verschiedenen
Ländern der Welt in
den sozialen Medien über Ernährung
diskutiert wird. Also: Wie begründen
Menschen ihre Ernährungsentscheidungen?
Spielt Nachhaltigkeit dabei
eine Rolle? Denn was Menschen essen,
hat einen unglaublichen Einfluss
auf den Verbrauch natürlicher Ressourcen.
Es ist aber gleichzeitig ein
wichtiger Teil ihrer Identität, den viele
nur schwer verändern wollen.
Was haben Sie herausgefunden?
In Deutschland gab es zum Beispiel in
den vergangenen Jahren einige Kampagnen
von Supermärkten, die sich
24 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Was bewegt Menschen angesichts des Klimawandels zum Handeln?
Reine Wissensvermittlung reicht nicht
Sozialer, kultureller, ökonomischer, politischer, infrastruktureller und naturräumlicher Kontext
Auslöser Problembezogene
Überlegungen
Auslöser für Überlegungen zum
Klimawandel sind vielfältig.
Dabei nehmen die folgenden
Auslöser nicht in der gezeigten
Reihenfolge Einfluss, sondern
rufen Überlegungen einzeln
oder kombiniert hervor.
• Nicht-persönliche
Wissensvermittlung
(z.B. auf Webseiten)
• Persönliche Wissens
vermittlung(z.B. durch
„trusted messengers“)
• Lernen von Vorbildern
Lernen durch
Erfahrung
• Persönlichkeitsfaktoren
• Identitätsvorstellungen
Persönliche Face-to-Face-Kommunikation
ist zur Handlungsmotivation oft
wirksamer als unpersönliche
schriftliche Informationen.
Vielfältige Kontextfaktoren können das Klimahandeln unterstützen oder behindern.
Was bedeutet
der Klimawandel
für mich und für
mir wichtige
Personen und
Dinge?
Wie die Frage von einer Person
beantwortet wird, hängt von den
folgenden psychologischen
Faktoren ab. Dabei nehmen die
Faktoren nicht in der hier
gezeigten Reihenfolge Einfluss,
sondern beeinflussen die
Überlegungen meist ungeordnet
und unsystematisch.
• Wissen zu Klimawandel
und Klimafolgen
• Vertrauen in Medien und
Klimawissenschaften
• Problem- und Risikowahrnehmung
• Erinnerung an persönliche
Schäden durch Klimawandel
• Emotionen
• Wertvorstellungen
Informationen zu Klimaproblemen sollten
in einem Gleichgewicht zu handlungsbezogenen
Informationen stehen,
um Ohnmachtsgefühle zu verhindern.
Handlungsbezogene
Überlegungen
Was kann und
soll ich tun, um
dem Klimawandel
zu begegnen?
Wie die Frage von einer Person
beantwortet wird, hängt von den
folgenden psychologischen
Faktoren ab. Dabei nehmen die
Faktoren nicht in der hier
gezeigten Reihenfolge Einfluss,
sondern beeinflussen die
Überlegungen meist ungeordnet
und unsystematisch.
• Handlungswissen zu Klimaschutz
und Klimaanpassung
• Überzeugungen zu Handlungsmöglichkeiten
und -wirksamkeiten
• Kosten-/Nutzen-Überlegungen
• Wahrgenommene Barrieren
• Emotionen und Einstellungen
• Soziale, Gruppen- und
personale Normen
• Wertvorstellungen
Informationen zu Klimaproblemen sollten
in einem Gleichgewicht zu handlungsbezogenen
Informationen stehen,
um Ohnmachtsgefühle zu verhindern.
Absicht
Ja, ich werde
was tun!
Ob eine Absicht in Klimahandeln
umgesetzt wird, hängt
von dem wiederum ungeordneten
und unsystematischen
Einfluss der folgenden
Faktoren ab.
• Klarheit und Stärke der
Absicht
• Günstige Gelegenheit
Klimawandel
• Innere und äußere Handlungsbarrieren
• Emotionen
• Gewohnheiten
• Soziale Unterstützung
Nicht jede Handlungsabsicht wird sofort
in die Tat umgesetzt. Oft müssen innere
und äußere Handlungsbarrieren
überwunden werden.
Basierend auf dieser Infografik von klimafakten.de: bit.ly/2WYFlya
Klimahandeln
ein grüneres oder nachhaltigeres
Image geben wollten, indem sie
in den sozialen Netzwerken für ihre
Bio- und Fairtrade-Produkte warben.
Das führte allerdings häufig zu enormer
Kritik. Menschen fühlten sich
davon persönlich angegriffen, waren
wütend. Das waren nicht unbedingt
Klimawandel-Leugner, sondern eher
Leute, die schrieben: Ich esse nun
mal gerne Fleisch, kann mir aber kein
Biofleisch leisten, bin ich jetzt etwa
schuld, wenn ich mir eure nachhaltigen
und teuren Produkte nicht kaufen
kann? Diese Gruppe, die sich ökonomisch
und sozial abgehängt fühlt,
wird in der Forschung bislang noch
zu wenig beachtet.
Haben Sie dafür schon Lösungsansätze?
Es verdeutlicht vor allem, wie komplex
die Zusammenhänge sind. Wenn
sich jemand wirklich keine nachhaltigen
Produkte leisten kann, hilft Kommunikation
auch nicht weiter. Dann
braucht es eine faktische Verbesserung
der Lebensverhältnisse, und das
ist Aufgabe der Politik. Womit wir
wieder bei der Erkenntnis wären: Appelle
an klimafreundliches Verhalten
sind immer noch wichtig, aber allein
greifen sie zu kurz, weil der Einzelne
schnell an die Grenzen seiner Möglichkeiten
stößt. Dann ist die Politik
gefragt. f
Imke Hoppe ist Kommunikationswissenschaftlerin
und promovierte
an der Technischen Universität
Ilmenau zum Thema „Klimaschutz
als Medienwirkung“. Sie lehrt und
forscht an der Fakultät für
Wirtschafts- und Sozialwissenschaften
sowie dem CEN (Centrum
für Erdsystemforschung und
Nachhaltigkeit) der Universität
Hamburg.
Im Original erschienen bei Wissenschaftskommunikation.de.
Das
Gespräch führte Joachim Retzbach.
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
25
Klimawandel
Bild: Jr Casas / stock.adobe.com
Klimaskepsis:
Fake News über „Fake“ News
Dass der aktuelle Klimawandel menschengemacht ist, steht aus
wissenschaftlicher Sicht außer Frage. Hier herrscht ein allgemeiner
Konsens in der Forschung. Dennoch behaupten zahlreiche Klimaleugner
und -skeptiker das Gegenteil. Sie geben der Sonne die Schuld, nennen CO 2
unschädlich, sogar hilfreich, und halten die Klimadebatte für Panikmache.
Viele Medienberichte zeigen: Diese Klimaskeptiker-Szene ist organisiert
und zudem noch schwer aufzuhalten.
Von Elena Köhn
„Ja. Es ist warm. Sehr sogar. Aber dieses hysterische
#Klimakrisen-Gekreische der Klimanazis ist wirklich unerträglich.“
So lautete ein Tweet von Beatrix von Storch
während der Hitzewelle im Sommer 2018. Mit ihrer Meinung
ist die AfD-Politikerin nicht alleine. Schon seit einigen
Jahren kann man eine zum Teil hitzig geführte Debatte
um den Klimawandel beobachten. Dabei herrscht in
der Klimawissenschaft eigentlich ein Konsens: „Es ist wissenschaftlich
gesichert und gut belegt, dass der Mensch
Hauptverursacher der bereits laufenden globalen Erwärmung
ist“, informiert die Plattform klimafakten.de. Laut
einer Studie liegt diese Einigkeit sogar bei 97 Prozent,
heißt es bei Sceptical Science. Nur: Die Klimaskeptiker
sind weiterhin skeptisch.
26 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
„Gezielte Desinformation“
Das Leugnen des (menschengemachten) Klimawandels
hat – so scheint es zumindest – System. Mehreren Medienberichten
zufolge hat die organisierte Klimaskepsis schon
Anfang der neunziger Jahre begonnen. Redakteure der Zeit
sprechen sogar von einer „Desinformationskampagne“ einiger
Energiekonzerne und konservativer Medien: „Es ist
ein Krieg, der sich gegen die liberale Öffentlichkeit wendet
und eiskalt deren Schwäche ausnutzt: den Glauben an
die Gültigkeit des besseren Arguments.“ Als Beispiel führt
die Zeitschrift den Ölkonzern Exxon (später ExxonMobil)
an. Dieser wisse eigentlich, aufgrund konzerninterner
Untersuchungen, bereits seit Anfang der 80er-Jahre, dass
der vermehrte CO 2
-Ausstoß auch zu einem globalen Temperaturanstieg
führe. Trotzdem habe das Unternehmen gemeinsam
mit anderen Akteuren der Ölindustrie mehrere
Milliarden Dollar in politische Kampagnen investiert – mit
dem Ziel, den Konsens in der Bevölkerung über den menschengemachten
Klimawandel zu zerstreuen.
Dazu kommt außerdem der Aufbau der Global Climate Coalition,
wie die Zeit weiter berichtet. Dieser „Zusammenschluss
von Lobbyisten“, unter anderem finanziert und
aufgebaut von Exxon, habe „klimaskeptische Desinformation“
betrieben. Ähnlich verhält es sich mit sogenannten
Thinktanks, wie dem bekannten Heartland Institute. Laut
der Publikation „Und sie erwärmt sich doch“ vom Umweltbundesamt
erhielt die Organisation ebenfalls Gelder von
ExxonMobil. Sie streute, auch mit Hilfe von Blogs, Zweifel
am menschengemachten Klimawandel. In Deutschland gilt
der Verein „Europäisches Institut für Klima und Energie
(EIKE)“ als eine der zentralen Lobbyorganisationen, die
nicht an den anthropogenen Klimawandel glauben und
dies auch medial verbreiten. „EIKE lehnt folglich jegliche
‚Klimapolitik‘ als einen Vorwand ab, Wirtschaft und Bevölkerung
zu bevormunden und das Volk durch Abgaben zu
belasten“, erklärt der Verein auf seiner Website.
„Wissenschaft wurde als Nebelwand missbraucht“
Die Desinformationsstrategie der Klimaskeptiker ist nicht
neu. Eine ähnlich organisierte Vorgehensweise kennt man
bereits aus der Tabakindustrie. „Wissenschaft wurde als
Nebelwand missbraucht“, erklärt Naomi Oreskes, Geologin
und Wissenschaftshistorikerin an der Harvard University,
„Wieder einmal geht die Welt unter, die
einzigen die uns retten können sind linksgrüne
Fanatiker. Genauso als in den 80er
Jahren alle Bäume in Deutschland gestorben
sind, wie in den 90er Jahren das Ozonloch so
riesig ist, dass wir uns nur noch nachts im
Freien aufhalten können. Leute werdet wach,
geht wählen und unterstützt nicht diese
Ökoterroristen“,
findet E.R. unter einem Artikel von Focus Online vom
13.02.2019.
in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Schon
damals hätten Tabakfirmen einzelne Wissenschaftler beauftragt
und Thinktanks gegründet, um Zweifel an der
Forschung zu säen: „Dieser Strategie folgen Unternehmen
seit 60 Jahren.“ Belege dafür gäbe es an der Universität San
Francisco, in Form einer Sammlung interner Dokumente
aus der Tabakindustrie.
Die Klimaskeptiker greifen auch gezielt einzelne Forscher
an. Als „Climategate“ bekannt wurde ein Hackerangriff
Ende 2009 auf das Klimaforschungszentrum der University
of East Anglia. Unbekannte Hacker stahlen Klimaforschern
E-Mails und veröffentlichten sie zum Teil im
Internet. Daraus entwickelte sich ein Skandal, über den
viele Medien berichteten. Der Vorwurf: Die Forscher hätten
Daten manipuliert und „Untersuchungsergebnisse unterdrückt“,
erklärt die Zeit. Viele sahen darin den Beweis,
dass der Klimawandel eine Verschwörungstheorie sei, wie
es in der Veröffentlichung des Umweltbundesamts heißt.
Die Beschuldigungen gingen vor allem an die US-Klimaforscher
Michael Mann und Phil Jones. Als Beleg für die
Vorwürfe sollten Zitate in den E-Mails dienen. Diese rissen
die Klimaskeptiker allerdings aus dem fachlichen Kontext.
Mehrere unabhängige Untersuchungen fanden schließlich
keine Hinweise auf eine vorsätzliche Manipulation seitens
der Wissenschaftler: „Kritisch angemerkt wurde lediglich
ein falscher Umgang mit Anträgen zur Offenlegung von Daten“,
schreibt das Umweltbundesamt.
Medien als Meinungsmacher
Dass solche Falschinformationen von Klimaskeptikern in
der Öffentlichkeit so präsent sind, ist auch die Schuld der
Medien, meinen Redakteure der Zeit. Besonders kon- >>
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
27
Klimawandel
„Ich glaube nicht an den
menschengemachten Klimawandel.
Alle möglichen und
unmöglichen klimatischen
Verhältnisse gab es schon
ohne den Menschen. Insofern
werden alle menschlichen
Bemühungen keine
Änderung bewirken“,
schreibt ein Kommentator unter
einen Online-Artikel der Zeit vom
03.12.2018.
servative Medien, wie das Wall Street
Journal von Rupert Murdoch und
Fox News, würden oft Klimaleugner
einladen. Die Autoren des Zeit-Artikels
sprechen von einer „medial
vermittelten Scheinrealität.“ Auch in
liberalen Medien, die ausgewogen
berichten wollen, kämen die Klimaleugner
ausführlich und oft zu Wort.
„Das Ergebnis ist eine katastrophale
Verzerrung.“ Denn: Naomi Oreskes
untersuchte diverse Publikationen
in Fachzeitschriften zur globalen Klimaerwärmung,
die 1993 bis 2003
erschienen sind. Sie fand nicht eine
Veröffentlichung, die den menschengemachten
Klimawandel verneinte.
In den Medien hingegen waren fast
die Hälfte der Beiträge klimaskeptisch
eingestellt.
Heutzutage verbreiten sich insbesondere
dank Blogs und Social Media klimaskeptische
Positionen sehr schnell.
Empfänger würden so auch wiederum
zu Sendern werden: „Auf diese Weise
erreichen Fake-News und Schmierkampagnen
im Internet heute ungefiltert
mehr Menschen, als es etablierte
Printmedien je getan haben“, mahnen
die Redakteure der Zeit an.
Rechts im Kampf gegen das Klima?
In der Politik ist die Klimaskeptiker-Szene
ebenfalls schon längst angekommen.
Wie der
Tagesspiegel berichtet,
hat auch zum Beispiel der
Verein EIKE Verbindungen zur
AfD. Michael Limburg, Vizepräsident
des Instituts, habe sogar am Programm
der Partei mitgearbeitet. Außerdem
sitze er in deren Bundesfachausschuss
Energie. Das kommt nicht
von ungefähr. Eine aktuelle Studie
des Forschungs- und Beratungsinstituts
adelphi zeigt, dass rechtspopulistische
Parteien häufig Klimaleugner
sind. „Sieben der 21 stärksten rechtspopulistischen
Parteien in Europa
bestreiten, dass es ein Problem gibt“,
beschreibt ntv die Studie. Elf der Parteien
würden die Erkenntnisse der
wissenschaftlichen Klimaforschung
zwar nicht bestreiten, eine explizite
Klimapolitik stehe aber nicht auf deren
Agenda. Die
AfD sei dabei
einer der stärksten
Klimawandelleugner.
„Das
Märchen vom
menschengemachten
Klimawandel
glauben
wir nicht,“ zitiert
ntv den AfD-Chef
Alexander Gauland.
Wie leugnet man den anthropogenen
Klimawandel?
Die Argumente der Klimawandelskeptiker
sind aber wissenschaftlich
nicht haltbar. 2017 behauptete Beatrix
von Storch in einem Interview
mit dem Journalisten Tilo Jung (Jung
& naiv), dass die Sonne schuld an der
Erderwärmung sei. Unstrittig ist, dass
sie einen Einfluss auf das Klima hat.
Die globale Erwärmung verursacht
die Sonne aber nicht. Tatsächlich zeigen
verschiedene Messungen, dass
ihre Aktivität seit ihrem Hoch in den
60ern Jahren sogar wieder abnimmt:
„In den letzten 30 bis 40 Jahren haben
sich Temperatur und Sonnenaktivität
also in unterschiedliche Richtungen
entwickelt“, informiert Sceptical
Science. Daraus ließe sich schließen,
dass es einen anderen Grund für die
Klimaerwärmung geben müsse.
„Ach nee, wir werden immer noch von der
medienbeherrschenden Klimamafia penetrant
und arrogant belogen und betrogen. Wo
ist denn der Physiknobelpreis für die bewiesene
Erkenntnis, dass die Menschheit nur
die CO 2
Reduzierung retten kann?“,
meint ein User bei einem Zeit
Online-Artikel vom 03.12.2018.
Bild: Jr Casas / stock.adobe.com
Oft hört und liest man auch das Argument,
der vom Menschen gemachte
CO 2
-Anteil sei ja viel zu gering, um relevant
zu sein. Und überhaupt sei CO 2
ja sogar gut für das Pflanzenwachstum.
Das Magazin Geo klärt auf: Die
Menschen setzten zwar jährlich zirka
25 Milliarden Tonnen CO 2
(durch
28 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
„97 Prozent der jährlichen Kohlendioxidemissionen entstammen
der Natur, also nur höchstens drei Prozent aus der
Verbrennung fossiler Rohstoffe durch den Menschen. Der
Mensch ist nur ein kleines Rad in der Klimageschichte, also
zu vernachlässigen“,
heißt es in einem Kommentar unter einem Artikel vom Tagesspiegel
vom 26.02.2019.
Klimapopulisten an der Macht
Zurzeit sind einige Politiker an der Macht, die den
anthropogenen Anteil am Klimawandel leugnen und
Klimaschutzmaßnahmen torpedieren. Der bekannteste
ist wohl US-Präsident Donald Trump. Er stieg
aus dem Pariser Klimavertrag aus, verharmlost die
globale Erwärmung und macht sich darüber sogar
noch lustig: „Was zur Hölle ist mit der Erderwärmung
los? Bitte komm schnell zurück, wir brauchen dich!“,
twitterte Trump Anfang des Jahres als Kommentar
zu der Kältewelle im Westen der USA. Berichten der
Tagesschau zufolge herrschten dort teilweise bis zu
minus 35 Grad. Trumps neuester Streich ist die Einrichtung
einer Klimakommission. Sie soll die Bedrohung
für die USA durch den Klimawandel untersuchen,
weiß der Stern. Den Vorsitz soll ausgerechnet
William Happer, Angehöriger des Nationalen Sicherheitsrates
(NSC), übernehmen, der den Klimawandel
schon mehrfach vehement bestritt.
Als „Tropen-Trump“ bekannt ist Jair Bolsonaro, der
seit diesem Januar Präsident von Brasilien ist. Seine
Wahl ist eine schlechte Nachricht für die Umwelt,
findet die Deutsche Welle (DW). Die Brasilianer
hätten sich damit gegen Umweltschutz entschieden.
Schon vor seiner Wahl hatte Bolsonaro angekündigt,
Regierungsagenturen, die für den Schutz der
Regenwälder verantwortlich sind, zu schließen. Auch
die indigenen Völker Brasiliens stehen bei ihm nicht
gerade hoch im Kurs: „Seine Feindseligkeit bezüglich
der Landrechte von indigenen und traditionellen Gemeinschaften
und seine Verachtung für den Umweltschutz
könnten weite Teile von Waldschutzgebieten
gefährden, die dann rücksichtslosen Projekten der
Agrarindustrie oder dem Bergbau zum Opfer fallen
könnten“, gibt Christian Poirier, Programmdirektor
von Amazon Watch, im Interview mit der DW zu
bedenken.
Verbrennung fossiler Stoffe und Entwaldung)
frei, während die gesamte
Biosphäre für die Freisetzung von
etwa 550 Milliarden CO 2
verantwortlich
wäre. Bloß: Das CO 2
, das auf natürlichem
Weg entsteht, werde auch
auf natürliche Weise, zum Beispiel
durch das Meer oder durch Einlagerungen
im Holz, wieder gebunden.
„Die Verbrennung von Kohle, Gas und
Öl dagegen setzt über Jahrmillionen
gelagertes CO 2
aus solchen Speichern
frei – es bringt deshalb die eigentlich
ausgeglichene Kohlenstoff-Bilanz der
Atmosphäre durcheinander“, weiß Geo. Laut klimafakten.
de ergaben zwar Studien, dass CO 2
die Photosynthese von
Pflanzen anrege. Solche Effekte seien aber sehr gering und
hätten nur kurzzeitig eine Wirkung. Zudem sei das Wachstum
von Pflanzen stark abhängig vom Klima: „Im Freiland
werden die negativen Effekte (zum Beispiel von wahrscheinlich
zunehmenden Hitzewellen und Trockenheit)
überwiegen“, informiert die Website.
„Die Klimawandel-Hysterie wird künstlich
über die Medien aufgebaut, dabei ist der Klimawandel,
egal in welche Richtung, ein normaler
Prozess, der schon immer die Temperatur
auf der Erdoberfläche beeinflusst hat,
natürlich unterschiedlich in den verschiedenen
Klimazonen. Also Ruhe bewahren und
mit der Klimahysterie gelassen umgehen“,
weiß der User D.W unter einem Artikel der Welt vom
12.03.2019.
Wie kommt man dagegen an?
Erfahrungsgemäß kommt man mit solchen wissenschaftlichen
Argumenten bei Klimaskeptikern leider oft nicht
weit. Was ist also zu tun? Die Autoren der Zeit fordern ein
Umdenken. Zunächst einmal wäre es wichtig, die „Dramatik
der Situation“ zu erkennen. Und zwar auch von politischer
Seite. Man müsse zudem Aufklärung betreiben,
damit die Bürger zukünftig Fake News besser erkennen
würden. Außerdem sollten Facebook, Twitter und Co. mehr
Verantwortung übernehmen. „Sie müssten sich zu einem
journalistischen Ethos bekennen und redaktionelle Standards
implementieren“, finden die Autoren. Am wichtigsten
sei schließlich die weltweite Energiewende: „Sie dreht
der fossilen Industrie, den Rechtsnationalisten und Klimaleugnern
den Geldhahn zu.“ f
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
29
Klimawandel
Europäische Klimaziele
bis 2050
im Vergleich zu 1990
2050 -93 % -99 %
-83 % -87 %
-54 % -67 %
2030
-54 % -68 %
-34 % -40 %
+20 % -9 %
2005
-7 % -20 % +30 %
Energie
(Co 2
)
Industrie
(Co 2
)
Transport
(inkl. Co 2
der Luftfahrt,
exkl. Seefahrt)
30 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
-88 % -91 %
-42 % -49 %
-79 % -82 %
-37 % -53 %
-36 % -37 %
-40 % -44 %
-12 % -20 % -7 %
Wohnen und
Dienstleistungen
(Co 2
)
Landwirtschaft
(alle Treibhausgase)
Total
Quelle: Europäische Kommission
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
31
Klimawandel
Deutschland CO 2
-neutral bis 2050
So kann es klappen
95 Prozent weniger Treibhausgase bis 2050 im Vergleich zu 1990:
Das ist die Vorgabe der deutschen Bundesregierung, um die
Klimaschutzziele von Paris zu erreichen. Damit das gelingt,
müssen der Energie- und Verkehrssektor sowie energieintensive
Industriezweige und die Landwirtschaft radikal umdenken.
Aber wie funktioniert das?
Seit dem Pariser Klimagipfel von 2015 ist der Begriff der
Dekarbonisierung in aller Munde, wenn es um Klimaschutz
geht. Dekarbonisierung bedeutet, dass die Gesellschaft auf
kohlenstoffartige Energieträger verzichtet und durch kohlenstofffreie
ersetzt. Das kann durch Erneuerbare Energien
oder durch Kernenergie passieren. Zweite Variante birgt
aber unkontrollierbare gesellschaftliche und ökologische
Risiken, wie die Nuklearkatastrophen Tschernobyl und Fukushima
gezeigt haben. Der Fokus auf Erneuerbare Energien
bedeutet gleichzeitig eine tiefgreifende Umstrukturierung
unseres bisherigen Energiesystems, also das, was in
Deutschland allgemein als Energiewende bezeichnet wird.
CO 2
-Minderung: Mehr als nur Dekarbonisierung
„Treibhausgasneutralität“ meint, dass Deutschland
seine CO 2
-Emissionen bis 2050 um 95 Prozent im
Vergleich zu 1990 reduzieren muss. Dementsprechend
haben wir dann nur noch ein Emissionsbudget von
60 Millionen Tonnen CO 2
pro Jahr zur Verfügung. Das
wird laut der Studie „Treibhausgasneutrales Deutschland
2050“ vom Umweltbundesamt vor allem von der
Landwirtschaft und im geringeren Umfang von Industrieprozessen,
Lösemitteln und Produktanwendungen
verbraucht.
Neben der Dekarbonisierung unserer Gesellschaft gibt
es weitere Möglichkeiten, CO 2
-Emissionen zu reduzieren
und/oder das Klima zu schützen.
• Substitution von Kohle als Energieträger durch kohlenstoffärmere
wie Erdgas. Aber Achtung: Pfadabhängigkeiten
berücksichtigen.
• Effizienzmaßnahmen wie Wärmedämmung in Gebäuden
oder Kraftwerke mit höherem Wirkungsgrad etc.
• CO 2
-Abscheidung und -Speicherung
• Nutzung von Biomasse (allerdings nur Abfall; kein zusätzlicher
Anbau, da die Flächen sonst der Nahrungsmittelproduktion
verloren gehen)
• Naturschutz: Schutz von Wäldern und Mooren als
wichtige CO 2
-Speicher
• Sparmaßnahmen wie der Verzicht auf Flugreisen, Tempolimit
auf Autobahnen, geringer Einsatz von Klimaanlagen
etc.
Aber: Maßnahmen wie Energieeffizienz und Suffizienz
haben im Vergleich zur Dekarbonisierung nur ein beschränktes
CO 2
-Minderungspotenzial, wie etwa Dr. Rüdiger
Paschotta auf energie-lexikon.info schreibt: „Da aber
die CO 2
-Emissionen langfristig auf ein weitaus tieferes
Niveau als heute gesenkt werden müssen, während der
weltweite Energiebedarf zunimmt, ist eine umfangreiche
Dekarbonisierung mittel- bis langfristig unumgänglich.“
32 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
Foto: Dirk / stock.adobe.com
In einem „sauberen“ Energiesystem wird der Strom über
Wind- und Sonnenkraft gewonnen. Auch Wasserkraft und
Geothermie können eine Rolle spielen: „Zentraler Baustein
einer vollständig regenerativen Energieversorgung ist die
Erzeugung von Wasserstoff durch Wasserelektrolyse mit
Hilfe von erneuerbar erzeugtem Strom. Aus Wasserstoff
können durch weitere katalytische Prozesse Methan (Power-to-Gas)
und weitere Kohlenwasserstoffe (Power-to-Liquid)
erzeugt werden“, schreibt das Umweltbundesamt.
Diese könnten wiederum als Brenn- und Kraftstoffe dienen
und seien in der Industrie und in einem sauberen Energiesystem
essentiell.
Wasserstoff als Baustein für
saubere Energie
Wasserstoff kann im Energiewandler Brennstoffzelle
am effizientesten und sauber verstromt
werden, wie die NOW-GmbH sagt. Gemeinsam
können sie überall dort eingesetzt werden, wo man
Strom und Wärme benötigt. Beispielsweise kann
Wasserstoff Brennstoffzellen-Fahrzeuge wie Autos,
Lkws oder Züge antreiben, ohne dass sie schädliche
Emissionen ausstoßen. Da neben Strom in den
Brennstoffzellen auch Wärme entsteht, eignen sie
sich auch zur Energieversorgung
von
Gebäuden: „Brennstoffzellen-Heizgeräte
sind hocheffiziente
Kraft-Wärme-
Anlagen, die heute
schon von verschiedenen
Herstellern
zum Kauf angeboten
werden.“
Damit die Energiewende ein Erfolg wird, gilt es nicht nur,
den Stromsektor zu dekarbonisieren, sondern auch in den
Bereichen Wärme und Verkehr mit Hilfe von Ökostrom und
moderner Technik auf fossile Energie zu verzichten. Dabei
ist der Einsatz von Wasserstoff nur eine Möglichkeit. Die
Vernetzung von Strom, Mobilität und Wärme zur Optimierung
des Energiesystems wird Sektorkopplung genannt.
Das gilt unabhängig davon, ob die Energie aus regenerativen
oder fossilen Quellen stammt.
Sektorkopplung
Noch heizen die Deutschen vor allem mit fossilen Energieträgern
wie Öl und Gas, wie das Bundeswirtschaftsministerium
schreibt. Ein großes Potenzial für eine saubere Lösung
bieten hier zum Beispiel Power-to-Heat-Technologien,
die Strom nutzen, um Wärme zu gewinnen. Dazu zählen
Wärmepumpen im Heizungskeller. Diese nutzen Strom,
um die vorhandene Erdwärme aufzunehmen, zu verdichten
und damit dann die Heizung zu betreiben: „Das ist auch
noch effizient: In energetisch sanierten Gebäuden machen
gute Wärmepumpen aus einer Kilowattstunde Strom mehrere
Kilowattstunden Wärme.“
Auch der Verkehrssektor lässt sich in vielen Bereichen
auf Strom umstellen. So fahren viele Züge bereits elektrisch;
an der E-Mobilitätsoffensive bei PKWs und LKWs
wird von Seiten der Automobilindustrie massiv gearbeitet.
Allerdings bedeutet das gleichzeitig, dass künftig der
Strombedarf für den Betrieb der Fahrzeuge extrem ansteigen
wird.
Darüber hinaus wird für die Herstellung stromerzeugter,
synthetischer Kraftstoffe viel Energie benötigt. „Es ist daher
unumgänglich, den Endenergiebedarf des gesamten
Verkehrssektors deutlich zu senken – trotz des prognostizierten
Verkehrsanstiegs“, fordert das Umweltbundesamt.
Das sei u.a. durch Verkehrsvermeidung, Verkehrsverlagerung
auf umweltfreundliche Verkehrsmittel oder Effizienzsteigerung
möglich.
>>
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
33
Klimawandel
Sektorkopplung: Umwandlungspfade
Gas als Rohstoff
heute wirtschaftlich darstellbar
Brennstoffzelle
Demonstrations- / Forschungsprojekte
Verkehr
Power-to-Liquid (PtL)
Elektromobilität
Elektromobilität
Gasmotor
Gaskraftwerke
Power-to-Gas (PtG)
Gas
Wasserstoff /
Methan
Heizkessel
KWK
Gas- / Wärmepumpe
Industrie
Strom
Wärmepumpe
Wärme
Power-to-Product (PtP)
Power-to-Heat (PtH)
Power-to-X (PtX)
ist ein Überbegriff für Verfahren zur Umwandlung von Strom in
flüssige und gasförmige Energieträger, Wärme sowie Industrieprodukte.
Power-to-Gas (PtG)
Power-to-Liquid (PtL)
Langzeitstromspeicherung
möglich
Speicherung in Erdgasnetz
und -speicher hat großes
Potenzial
Dekarbonisierung des
Gassektors bei PtG mit
erneuerbarem Strom
noch nicht volkswirtschaftlich
darstellbar
noch nicht entsprechende
Mengen an Überschussstrom
vorhanden
geringer Wirkungsgrad
hohe Kosten
bezeichnet die Umwandlung
von Strom in chemische
Energieträger mit Elektrolyse
als erstem Schritt, teilweise
nachgeschaltete Synthese.
Quelle: Stiftung Energie & Klimaschutz – Energiezukunft im Dialog
34 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
Brennstoffzelle
wandelt chemische Energie eines Brennstoffes (z.B
Wasserstoff) durch Oxidation direkt in elektrische
Energie und Wärme (geringer Anteil) um.
Wärmepumpen
transformieren Umgebungswärme mithilfe von
elektrischer Energie auf ein höheres Temperaturniveau;
diese Technik ist ein
wichtiger Teil effizienter Gebäudebeheizung.
sehr effiziente Stromerzeugung
kaum Verschleiß
hohe Kosten
geringer Wirkungsgrad bei zweifacher
Umwandlung (Strom-Gas-Strom)
Effizienz
wartungsfrei
Anforderungen an Gebäude,
z.B. Flächenheizungen, Dämmung
notwendig
Power-to-Product (PtP)
Power-to-Chemicals (PtC)
Elektrolyse
Kraft-Wärme-
Kopplung (KWK)
bezeichnet die Nutzung von
„Überschussstrom” zur
Herstellung von Industrieprodukten
/chemischen Stoffen,
die bis zur weiteren Verwendung
relativ einfach
gelagert werden können.
ist ein umgekehrter Prozess zur
Brennstoffzelle; wandelt durch
Einsatz elektrischer Energie
Wasser in Wasserstoff und
Sauerstoff um. Dieses Verfahren
ist die Grundlage für Powerto-Gas-Verfahren.
ist der Überbegriff für Prozesse
zur gleichzeitigen Gewinnung
von elektrischer Energie und
nutzbarer Wärme.
KWK-Kraftwerke gibt es in
zahlreichen Größen und mit
Nutzung verschiedenster
Energieträger.
>>
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
35
Klimawandel
CO 2
-neutrale Industrie nur über
technische Innovation
Führt Dekarbonisierung zu Deindustrialisierung?
Oder lässt sich ein treibhausgasneutraler
und energieeffizienter
Industriesektor in Deutschland
entwickeln? Ja, sagt das Umweltbundesamt:
Während die energiebedingten
Emissionen durch den Einsatz von
Ökostrom, Wasserstoff und Methan
vollständig vermieden werden könnten,
könnten die prozess- bzw. rohstoffbedingten
Emissionen erheblich
gesenkt werden. Dabei seien 2050 die
Zement-, Kalk- und Glasindustrie die
größten Emittenten.
Um den CO 2
-Austoß innerhalb der
Industrie zu reduzieren, bedürfe es
in vielen Branchen aber angepasster
Herstellungsprozesse und geeigneter
Anlagetechniken. Beispielsweise geht
das Umweltbundesamt davon aus,
dass es in der Stahlindustrie keine
Primärstahlerzeugung über die Hochofen-Oxygenstahl-Route
mehr gibt.
Dafür würde die Elektrostahlerzeugung
mittels Schrott und Schwammeisen
massiv ausgebaut.
Und was sagen Industrie und Forschung zur Dekarbonisierung?
Stimmen aus der Wirtschaft
„Dekarbonisierung bedeutet eine
komplette Umgestaltung der Wirtschaft,
aber auch des alltäglichen
Lebens – unter Wahrung unseres
Wohlstands. Dafür benötigen wir
völlig neue Technogien und innovative
Verfahren – kurz: es handelt
sich um eine dem Wirtschaftswunder
vergleichbare Herausforderung“,
sagt der Verband der
Industriellen Energie- und Kraftwirtschaft.
„Ohne Kohlenstoff wird aktuell kein
Roheisen gewonnen, und ohne
Roheisen gibt es keinen Stahl. Den
Eisenerzen, wie sie in der Natur
vorkommen, muss Sauerstoff
entzogen werden – dafür werden
heutzutage kohlenstoffhaltige
Reduktionsmittel eingesetzt“, so
Marten Sprecher vom Stahlinstitut
VDEh auf stahl-blog.de
„Wenn die Chemiebranche bis 2050
auf Erdöl und Erdgas als Rohstoff
verzichtet, so bräuchte sie dafür
Ökostrom in der Kapazität von 60
Wasserkraftwerken Freudenau (Wasserkraftwerk
bei Wien). Das entspricht
fast dem Stromverbrauch von ganz
Österreich im Jahr 2016.“, so FCIO
Fachverband der Chemischen
Industrie Österreich gegenüber der
Presse.
Stimmen aus der Forschung
„Zentral ist, nicht nur die Grundstoffindustrie
selbst zu verändern,
sondern die gesamte Wertschöpfungskette
einzubeziehen. Besonders
die Bauwirtschaft sollte sich
als größter Nachfrager von CO 2
-intensiven
Produkten wie Stahl,
Zement und Glas daran orientieren,
wie viel Emissionen bei der
Herstellung ausgestoßen werden.
Deshalb müssten die Kosten der
CO 2
-Emissionen in der Produktverwendung
eingepreist werden“, sagt
Dr. Tobias Fleiter, Projektleiter am
Fraunhofer ISI.
36 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
Foto: tomas / fotolia.com
Auch das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung
ISI sieht eine umfassende Dekarbonisierung
nur mit Hilfe von CO 2
-neutraler Technologien und einem
umfassenden technischen Wandel; insbesondere bei der
sogenannten Grundstoffindustrie. Diese umfasst alle Industriebranchen,
die Rohstoffe gewinnen und weiterverarbeitet
bereitstellen. Das Forschungsinstitut plädiert dabei
für eine verbesserte Energieeffizienz, da diese die Kosten
für eine Dekarbonisierung reduziere und einen wichtigen
Beitrag zur CO 2
-Einsparung leisten könne: „Doch das alleine
reicht nicht, um die Emissionen ausreichend zu mindern.
Ein entscheidender Faktor ist ein schneller Ausbau
der Erneuerbaren Energien, um CO 2
-freien Strom zu gewinnen“,
so das Fraunhofer ISI. „Dies ist insbesondere deshalb
wichtig, da sich der Stromverbrauch des Industriesektors
bis 2050 stark erhöhen könnte“, etwa durch Einsetzen von
Strom für die Prozesswärmeerzeugung.
Klimasünde durch Fleischkonsum
2017 war die deutsche Landwirtschaft für zirka sieben
Prozent der Treibhausgas-Emissionen verantwortlich, wie
das Thünen-Institut berichtet. Die eigentlichen „Klimakiller“
im Agrarsektor sind insbesondere Lachgas (Stickstoffdünger
auf landwirtschaftlichen Flächen) und Methan
(verdauungsbedingter Ausstoß der Nutztiere). „Vor allem
die weltweite Nachfrage nach Fleisch bestimmt, wie viele
Tiere gehalten werden. Die Viehwirtschaft ist der größte
Nutzer von Landflächen, wobei eine Verschiebung von
Weiden hin zum Anbau von Futterpflanzen auf Ackerflächen
stattfindet“, informiert eine Greenpeace-Studie
zum Thema Landwirtschaft und Klima. Ein zusätzliches
Problem: Für den Anbau von Futterpflanzen werden große
Flächen Regenwald abgeholzt, die damit als CO2-Speicher
wegfallen.
Es gibt unterschiedliche Maßnahmen, die Treibhaus-Emissionen
der Landwirtschaft zu senken. Dazu zählen natürlich
eine Reduzierung des Fleischkonsums und ein verantwortungsvoller
Umgang mit Lebendmitteln, um Abfälle zu
vermeiden. Darüber hinaus gilt es, die Effizienz im Bereich
der Tierfütterung und Düngung zu optimieren: „Nachhaltige
Strategien erfordern ressourcenschonende und effiziente
Bewirtschaftung unter besonderer Berücksichtigung
von ökologischem Landbau, Präzisionslandwirtschaft und
Pflanzenzucht unter Erhaltung der genetischen Vielfalt“,
so eine Studie von Greenpeace Österreich. Ein wichtiger
Schritt kann etwa die Einführung einer Stickstoff-Überschussabgabe
sein, um seinen Einsatz auf den Feldern zu
senken. f
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
37
Klimawandel
Advertorial
Smart trifft Power:
Das neue Energiesystem für die Stadt
Gemeinsam Energie nutzen,
die Umwelt schonen und
Kosten sparen. E.ON will mit
seiner neuen Technologie
ectogrid das urbane
Wärme-, Kälte- und Stromnetz
revolutionieren. Die
Innovation ermöglicht den
Kunden, gegenseitig
Wärme- und Kälteenergie
ihrer Gebäude zu nutzen.
Dadurch sinkt der Bedarf an
benötigter Energie erheblich.
ectogrid ist ein Beitrag,
die Urbanisierung der Zukunft
nachhaltig zu gestalten und
den Klimawandel zu
bekämpfen.
Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung
lebt heute in Städten. Tendenz
steigend. Im urbanen Alltag wird viel
Energie benötigt. Diese stammt oft
aus der Verbrennung fossiler Rohstoffe.
Dadurch verursachen Städte heute
70 Prozent der globalen Treibhausgase
und sind zu einem wichtigen
Klimafaktor geworden. Neue Energielösungen
müssen genau dieses
Problem aufgreifen, um die urbane
Umweltverschmutzung zu reduzieren
und den Menschen ein gesundes
Leben in der Stadt zu bieten. „Unsere
Energiesysteme sind so konzipiert,
dass sie jeweils nur eine Funktion
zur selben Zeit erfüllen können.
Durch einen integrierten Ansatz ist
es aber möglich, ein viel effizienteres
System zu entwickeln“, sagt Dr. Per
Rosén, der ectogrid erfunden hat.
„Ein Gebäude, das Energie zum Heizen
benötigt, produziert gleichzeitig
einen kalten Energiestrom und umgekehrt.
ectogrid verbindet diese
thermischen Energieströme und hilft
den Nutzern gegenseitig voneinander
zu profitieren.“ Das Ergebnis: Durch
das gemeinsame Nutzen thermischer
Energie reduzieren sich die Umweltauswirkungen
beider Gebäude und
ihre Energiekosten sinken.
Eine intelligente Energielösung für
die Stadt
ectogrid ist für moderne Städte konzipiert
und wurde von schwedischen
Fernwärme-Spezialisten und Experten
für Wärmepumpen entwickelt.
Die Smart Grid Technologie sorgt für
die Interaktion im Netz. Dabei nutzt
das Energiesystem jene thermischen
Energieströme, die in modernen Städten
täglich durch unser Handeln entstehen.
Mit Hilfe eines hocheffizienten
kalten Nahwärmenetzes verbindet es
verschiedene Häuser innerhalb einer
Stadt oder eines Quartiers, sammelt
überschüssige Wärme- und Kälteenergie
und gleicht diese selbständig zwischen
den Gebäuden aus. Auch eine
gesamte Stadt kann theoretisch in das
Energiesystem integriert werden. Das
smarte Cloudsystem nutzt darüber hinaus
Algorithmen und Datenanalysen
über Verbraucherverhalten, Jahreszeiten,
Wetter oder Energiepreise, um
die Energieverteilung und -speicherung
optimal zu steuern.
Die im Netz verbundenen Häuser verwenden
Wärmepumpen und Kältemaschinen,
die je nach Bedarf der Gebäude
genutzt werden: Die Abwärme
der Kälteanlagen dient zum Heizen
und die Abkälte der Wärmepumpen
zum Kühlen. In Verbindung mit Verteilnetzen
und Speichern im Erdreich
entsteht eine Art thermische Batterie,
die den Kälte- und Wärmebedarf der
angeschlossenen Gebäude intelligent
ausbalanciert. Da das System mit derselben
niedrigen Temperatur arbeitet
wie seine Umgebung, geht kaum
Energie bei der Verteilung verloren.
Es benötigt nur dann externe Energie,
wenn das Potenzial der thermischen
Energieströme erschöpft ist.
Entstehen Energieüberschüsse oder
wird der Strom dringend für andere
Zwecke benötigt – etwa zum Aufladen
elektrischer Fahrzeuge – passt
38 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
Bis 2020 dauern die unterschiedlichen
Konstruktionsphasen im Medicon
Village; insgesamt soll das Energiesystem
zwölf Gebäude integrieren:
„Für uns und unsere Mieter ist es
wichtig, dass der ökologische Fußabdruck
unserer Tätigkeiten so niedrig
wie möglich ist. ectogrid ist eine Innovation,
die das widerspiegelt, was
wir sein wollen – ein nachhaltiger und
innovativer Forschungs- und Wissenschaftspark“,
sagt Mats Leifland, CEO
von Medicon Village.
Bild: E.ON
Energetische Nachhaltigkeit ist auch
einer der Grundsätze der Europäischen
Spallationsquelle ESS in Lund,
die dieses Jahr fertiggestellt wird. Die
weltweit modernste Neutronenquelle,
wie das Forschungszentrum Jülich
sagt, soll komplett CO 2
-neutral sein.
Dafür beziehe sie Strom aus Erneuerbaren
Energien und die entstehende
Abwärme werde in Lunds Fernwärmenetz
eingespeist. Davon profitiert
u.a. das neue Quartier „Science Village
Scandinavia“: „Der Kern unserer Nachhaltigkeitsvision
ist es, das ESS zu einer
der effizientesten und nachhaltigsten
Forschungseinrichtungen der Welt
zu machen. Die Wahl eines innovativen
Energiekonzepts wie ectogrid
für den ESS Campus steht damit völlig
im Einklang“, so Kent Hedin, Head of
Conventional Facilities, ESS.
ectogrid selbständig die Systemtemperatur
an den Bedarf an. ectogrid
kann außerdem als hybride Lösung
in bestehende Energiesysteme wie
Erdgasnetze oder Fernwärme integriert
werden: „Durch ectogrid ist es
möglich, sowohl die Verschmutzung
als auch den Energieverbrauch in
Städten drastisch zu senken. Damit
bekämpfen wir den Klimawandel und
transformieren gleichzeitig den urbanen
Energiemarkt“, erklärt Fredrik
Rosenqvist, Head of Business Innovation
und Miterfinder des neuen Energiesystems.
Leuchtturmprojekte in Lund
Wer sich ein eigenes Bild machen will,
wie ectogrid künftig in der Praxis
funktioniert, kann nach Lund fahren.
In der schwedischen Stadt wird Innovation
groß geschrieben, finden sich
hier doch verschiedene Forschungsund
Wissenschaftsquartiere, die an
die Bedürfnisse moderner Stadtentwicklung
angepasst sind und die von
dem neuen Energiesystem profitieren
wollen. So beispielsweise der Wissenschaftspark
Medicon Village, in
dem das erste ectogrid der Welt installiert
wird. Über 1.600 Menschen
in 120 Organisationen arbeiten hier
im Bereich Life Science. Jeder erwirtschaftete
Überschuss wird in weitere
Forschungs- und Innovationsvorhaben
reinvestiert. Das gilt auch für das
Geld, das die Betreiber durch die neue
Lösung von E.ON einsparen.
Markteinführung in Deutschland
ectogrid begeistert aber nicht nur
Menschen in Lund. Auch in Deutschland
konnte E.ON mit dem Kälte- und
Wärmenetz überzeugen. So hat kürzlich
die Jury des Handelsblatt Energy
Awards ectogrid als TOP 3 Technologie
in der Kategorie Smart Infrastructure
ausgezeichnet. E.ON führt derzeit
die Technologie in den deutschen
Markt ein. In Kooperation mit der
RWTH Aachen setzt das Unternehmen
eine vom Bundeswirtschaftsministerium
geförderte Machbarkeitsstudie
um. In einem Pilotprojekt sollen im
Baden-Württembergischen Immendingen
verschiedene Quartiere mit
ectogrid miteinander vernetzt werden,
um den Kälte- und Wärmebedarf
der Gebäude lokal auszugleichen. Auf
diese Weise werden die Quartiersnetze
zu Plattformen für die Umsetzung
der urbanen Energiewende –
partizipativ und bürgernah. f
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
39
Klimawandel
Baustelle Energiewende
Neue Bauleiter gesucht!
Gut ein Drittel des Stroms in Deutschland kommt bereits aus Erneuerbaren Energien, die
Energiewende genießt breite Zustimmung in der Bevölkerung. Doch Deutschland reguliert seit
Jahren seine eigene Energiewende erfolgreich herunter. Die Klimaziele sind unter den jetzigen
Rahmenbedingungen nicht mehr zu erreichen. Der Bundesrechnungshof hat 2018 gewarnt,
dass die Bundesregierung mit ihrem Generationenprojekt der Energiewende zu scheitern drohe.
Von Nicole Allé, Chefredaktion energiezukunft
EU-Kommissar Cañete wollte vor der Weltklimakonferenz
in Polen im vergangenen Jahr ein Zeichen
setzen und die Partner dazu ermutigen, mehr gegen
die Erderwärmung zu tun. Er hatte dafür plädiert, auf internationaler
Ebene bis 2030 das Niveau für die Senkung
der Treibhausgase weiter anzuheben. Doch sein Vorschlag
stieß auf Ablehnung. Widerstand kam auch aus Deutschland
von Seiten der Bundesregierung und der Industrie
– kein Wunder, wird Deutschland ja selbst das 2020-Ziel
klar verfehlen. Dabei hat Angela Merkel einst die internationalen
Klimaverhandlungen mitgeprägt, mit ehrgeizigen
Zusagen beschleunigt und Skeptiker überzeugt. Doch in
Deutschland hat sie kaum etwas davon umgesetzt. Dabei
ist alles bekannt. In den Ministerien sitzen kluge Berater
und Experten, doch sie finden kein Gehör. Stattdessen wurde
in den vergangenen Jahren der Fortschritt der Energiewende
totreguliert. Dabei sinken die Gestehungskosten
für Erneuerbare Energien, die Erträge steigen. Heute
lässt sich Solarstrom so günstig erzeugen wie
noch nie. In den ersten neun Monaten 2018
etwa wurde in Deutschland bereits so
viel Solarstrom erzeugt wie im Jahr
2017, berichtet der Bundesverband
Solarwirtschaft.
Trotz guter Zahlen ist
die Branche verärgert.
„Es
herrscht
40 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
großes Unverständnis, warum der
Ausbau der Solarenergie in Deutschland
noch immer so erschwert wird“,
sagt Carsten Körnig, Geschäftsführer
des BSW. Die Bundesregierung hat
den Ausbau von Solaranlagen ab einer
Leistung von 750 Kilowatt gedeckelt,
2018 wurden in drei Ausschreibungen
nur 600 Megawatt neue Kapazitäten
ausgeschrieben. Viel zu wenig,
um das eigene Ziel von 65 Prozent
Erneuerbaren Energien am
Stromverbrauch bis 2030
zu erreichen.
Foto: denisismagilov / stock.adobe.com
Bäume statt Kohle – die Wende im
Wald
Nach Rekordsommer und einer
alarmierenden Heißzeitstudie sind
zunehmend Menschen für das Thema
Klimaschutz und Energiewende sensibilisiert.
Dabei erfahren beispielsweise
Klimaaktivisten, die 2018 im Hambacher
Wald demonstriert haben, eine
ungeahnte Unterstützung von einem
breiten zivilgesellschaftlichen Bündnis.
Es erinnert an die Anti-AKW-Bewegung
der 80er-Jahre. RWE und die
nordrhein-westfälische Landesregierung
bewegen sich zwar noch im gesetzlichen
Rahmen, doch das Beharren
auf veralteten Strukturen verstößt
gegen jede ökologische als auch ökonomische
Vernunft. Zumal die Kohle
unter dem Wald für eine verlässliche
Stromversorgung in den kommenden
Jahren noch nicht mal benötigt wird.
500 Windkraftanlagen oder 29 Quadratkilometer
Solaranlagen könnten
die Menge Strom ersetzen, die RWE
mit der Braunkohle unter dem Hambacher
Wald erzeugen will, hat Volker
Quaschning, Professor für das Fachgebiet
Regenerative Energiesysteme an
der Hochschule für Technik und Wirtschaft
HTW Berlin, ausgerechnet. Die
Folgekosten mit eingerechnet, wäre
der vergleichbare Ökostrom nicht nur
klima- und umweltschonender, sondern
sogar deutlich günstiger.
Energiewende um Faktor vier
beschleunigen
Doch die Regierung macht einmal
mehr den Kotau vor der klimaschädlichen
Industrie. „Sie schadet damit
der gesamten deutschen Volkswirtschaft
und verspielt genau die Jobs,
die sie angeblich retten will“, sagt der
Autor Franz Alt. Ohne Einbeziehung
klima- und energiepolitischer Ziele
in ihrer strategischen Ausrichtung
könnten wichtige deutsche Industriesparten
bald immens an Vermögenswerten
verlieren, warnt die Stiftung
2 Grad. Bisher werden immer noch
große Summen in Öl-, Gas- und Kohleprojekte
investiert. Eine wachsende
Divestment-Bewegung versucht gegenzusteuern:
Fonds und Institutionen
ziehen ihr Geld aus klimaschädlichen
Energien ab und lenken es
in nachhaltige Kapitalanlagen und
klimaschützende Unternehmen. Jede
Einsparung von fossilen Energieimporten
hat positive Effekte auf die
Energiesicherheit und die Volkswirtschaft.
Für Menschen, die in der alten
fossilen Energiewirtschaft beschäftigt
sind, geht die Energiewende jedoch
meist mit Zukunftsangst einher. Ihnen
müssen Chancen aufgezeigt werden
anstatt ihnen vorzugaukeln, dass
ihre Arbeitsplätze auf Jahre sicher
bleiben. „Wenn wir die Probleme ignorieren,
werden sie am Ende nicht
verschwinden, sondern uns mit noch
größerer Wucht treffen“, warnt Professor
Quaschning und fordert, das
Tempo der Energiewende „um den
Faktor vier“ zu steigern. „Wir müssen
endlich akzeptieren, dass die Zeit für
den Abschied von den fossilen Brennstoffen
gekommen ist. Für eine erfolgreiche
Sektorenkopplung brauchen
wir eine Elektrizitätsversorgung, die
vollständig durch Erneuerbare Energien
gedeckt wird.“
Preise müssen die ökologische
Wahrheit sagen
Laut des Sozialen Nachhaltigkeitsbarometers
zur Energiewende, die das
Potsdamer Institut IASS erstellt hat,
erhält der Kohleausstieg eine ähnlich
hohe Zustimmung wie der Atomausstieg.
Eine große Mehrheit in Deutschland
empfindet die Transformation
in der jetzigen Form jedoch als ungerecht,
chaotisch und teuer – dabei geht
es um die ungerechte Verteilung der
Kosten. 72 Prozent der Bevölkerung
lehnen die Ausnahmeregelungen für
die Industrie bei der EEG-Umlage ab
und 60 Prozent fordern: „Wer mehr klimaschädliche
Emissionen verursacht,
soll mehr dafür zahlen.“ Zu diesem
Schluss kam auch der Bundesrechnungshof
und kritisiert, dass Aufwand
und Ertrag beim ökologischen Umbau
der Energieversorgung in einem
„krassen Missverhältnis“ stehen. >>
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
41
Klimawandel
Die Steuerung der Energiewende durch das Wirtschaftsministerium
sei mangelhaft und erreiche ihr zentrales Ziel
nicht – nämlich die Senkung der CO 2
-Emissionen. Statt die
Energiewende mit einer Vielzahl komplizierter Gesetze und
Verordnungen zu regeln, solle die Bundesregierung einen
rechtlichen Rahmen und ökonomische Anreize zu umweltverträglichem
Verhalten setzen – mit einer allgemeinen
CO 2
-Bepreisung, wie es viele Energieexperten und Klimaökonomen
längst fordern. Damit würde der Ausstoß von
Treibhausgasen für Industrie, Gewerbe und Verbraucher
teurer und der Umstieg auf klimafreundliche Technologien
wirtschaftlich angetrieben. Umlagen und Steuern könnten
entfallen und das Regelungsdickicht gelichtet werden.
Nachhilfe für den Energieminister
Und was sagt der schlecht benotete Steuermann Peter
Altmaier dazu? Er sieht immer noch keinen Handlungsbedarf.
In einem Interview erzählt er dagegen wie selbstverständlich,
dass er sich just zuhause eine neue Ölheizung
hat einbauen lassen. „Daran kann man ermessen, wie es
im einstigen Vorreiterland um Energiewende und Klimaschutz
steht“, kommentiert der Grünen-Fraktionsvize im
Bundestag Oliver Krischer auf Twitter. „Was hätten Sie
denn einbauen lassen?“, twittert Altmaier zurück. Krischer
schickt ein Foto vom eigenen Haus mit begrünter Fassade,
PV-Anlage und Solarthermie auf dem Dach. „Ich wollte
ja Wärmepumpe + Solarthermie und PV + alten Kessel für
Extremlagen. Gab dafür leider keine Steuerung“, antwortet
der Bundesenergieminister. Dass es bei der Steuerung der
Energiewende auch mächtig schief läuft wurde ihm ja nun
bestätigt. Es fehlt die ausreichende Lenkung für Investitionen
in saubere Technologien, im Gegenteil gibt es Steuerboni
und Zuschüsse für fossile Heizsysteme und Brennstoffe.
„Statt Stückwerk bei der Energiewende braucht es
endlich grundlegende Reformen“, sagt Jan Dobertin, Geschäftsführer
des Landesverbands Erneuerbare Energien
NRW. Auch er befürwortet eine CO 2
-Bepreisung, doch dabei
müsse das System insgesamt aufkommensneutral umgesetzt
werden und in der Summe keine zusätzlichen Steuereinnahmen
entstehen. Bekommen wir den Klimawandel
also in den Griff, wenn CO 2
teurer wird? „Politische Reden
bewirken wenig, aber die Macht der Preise schlägt massiv
zu“, sagt Prof. Ottmar Edenhofer, Direktor des Potsdam-
Instituts für Klimafolgenforschung. Hans-Josef Fell, Präsident
der Energy Watch Group und Mitautor des EEG, geht
noch einen Schritt weiter und fordert eine Steuer auf alles,
was klimaschädlich ist – nicht nur auf CO 2
, sondern ebenso
auf Methan, auf Radioaktivität, auf Feinstaub und Stickoxide,
klimaschädliche Kältemittel und Glyphosat.
Totalausfall beim Klimaschutz wird teuer
Über viele Jahrzehnte hat sich eine Gesetzgebung entwickelt,
die die Interessen der fossilen Wirtschaft befördert.
Dabei sind alle notwendigen Technologien und auch marktwirtschaftlichen
Konzepte für eine CO 2
-arme Zivilisation
verfügbar – und sie sind auch bezahlbar. Doch wenn die
Bundesregierung Energiewende und Klimaschutz weiterhin
blockiert, werden die europarechtlich verbindlichen
Ziele in allen folgenden Jahren weit verfehlt werden – und
das wird teuer für die Steuerzahler, warnt eine Studie
von Agora Energiewende. Um die Defizite auszugleichen,
müsste Deutschland bis 2030 für bis zu 60 Milliarden Euro
Emissionsberechtigungen von anderen EU-Ländern zukaufen.
Dabei sind die Erneuerbaren Energien der große Klimaschutz-Faktor
in Deutschland. Sie allein vermieden 180
Mio. Tonnen CO 2
im Jahr 2017 – so viel, wie der gesamte
deutsche Verkehrssektor ausstieß. Die erneuerbare Energieversorgung
darf dabei nicht nur Aufgabe der ländlichen
Räume sein, auch Ballungsräume bieten große Potenziale:
Kluge Energiekonzepte für Quartiere, E-Car-Sharing-
Modelle, Solarpachtmodelle, Mieterstrom und vieles mehr.
Häufig mangelt es auch nur an der Vorstellungskraft, wie
ein verändertes Energiesystem aussehen und funktionieren
könnte. Für Nutzer, Eigentümer oder Mieter von Autos
oder Wohnungen ist die Komplexität der Gesetze, Verordnungen
und Normen zudem oft nicht mehr überschaubar,
noch weniger nachvollziehbar. Täuschungsmanöver der
Industrie erschüttern zudem die Glaubwürdigkeit.
Klient Erde
Man kann nicht mehr darauf warten, dass Politiker auf die
Klimabedrohung angemessen reagieren, meint der Jurist
und ehemalige Bundestagsabgeordnete Hermann Ott und
ruft deshalb die Juristen auf den Plan. Die Gesetze zu mehr
Klimaschutz seien ja längst da – sie müssten nur eingehalten
werden. In der gerade erst eröffneten Berliner Dependance
der internationalen Umweltrechtsorganisation
ClientEarth will er die Causa Klimaschutz in Deutschland
voranbringen – denn die Organisation zieht Regierungen
und Konzerne vor Gericht, um sie zum Klimaschutz zu
zwingen. In den Niederlanden hat die Organisation Urgenda
es geschafft, dass die Regierung von einem Gericht dazu
verurteilt wurde, strengere Klimaschutzmaßnahmen zu ergreifen.
Das ließe sich auf Deutschland übertragen. Liefert
die Kohlekommission nicht, muss der Klimaschutz juristisch
durchgesetzt werden, fordert Ott.
Klimaschutz in die Verfassung
Die Grünen im Bundestag schlagen deshalb vor, die Verpflichtung
zum Klimaschutz im Grundgesetz zu verankern,
dafür müsste Artikel 20a erweitert werden. Wer dann verbindliche
Klimaziele wie das Pariser Abkommen ignoriert,
beginge Verfassungsbruch. Und auch die Nutzung der
Kernenergie zur Stromerzeugung soll nach Vorstellung der
Grünen untersagt werden. Zusätzlich angepasst werden
soll der Artikel 106 und somit eine Besteuerung von CO 2
42 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
möglich werden. In Bayern hatte der Verein
„Klimaschutz – Bayerns Zukunft“ im September
2018 ein Volksbegehren gestartet,
um den Klimaschutz und damit auch eine
vollständige Umstellung der Energieversorgung
auf Erneuerbare Energien in die
Bayerische Verfassung zu heben. Kurz
davor hatten in Frankreich nach einer
Initiative des französischen Umweltministers
Nicolas Hulot die Abgeordneten
in der Nationalversammlung den „Schutz
der Umwelt, einschließlich Schutz der Artenvielfalt
und Maßnahmen gegen die globale
Erwärmung“ in Artikel 1 der französischen
Verfassung aufgenommen. Doch in der
gesamten europäischen Energiepolitik gibt es
derzeit kein gemeinsames ehrgeiziges Ziel, alle
verfolgen nationale Energieinteressen – von Kohle
in Polen und Deutschland bis zu Atom in Frankreich.
Anreize statt politische Hürden
Die Studie „Transparenz Stromnetze“ des Öko-Instituts
zeigt, dass ein kompletter Kohleausstieg bis 2030 möglich
wäre und Erneuerbare Energien mit 85 Prozent an der gesamten
Stromerzeugung dann zum dominanten Akteur
werden können. Für eine dezentrale Bürgerenergiewende
mit einem Kohleausstieg bis 2030 müsste das Marktdesign
kräftig umgekrempelt werden, sagt Malte Zieher,
Vorstandsmitglied im Bündnis Bürgerenergie, und sieht
gerade das als große Chance. „Das Szenario kommt mit einem
geringeren Netzausbau aus, als es die Übertragungsnetzbetreiber
für 2030 vorsehen, obwohl diese nur von 52,5
Prozent Erneuerbaren und noch 19 Gigawatt an Kohlekapazitäten
ausgehen. Eine beschleunigte Energiewende wäre
dementsprechend nicht nur möglich, sondern es gibt viele
gute Gründe, sie auch anzugehen“, sagt Zieher. „Geringere
variable Stromerzeugungskosten, deutlich geringere
CO 2
-Emissionen, ein guter Ausgleich von Stromerzeugung
und -nachfrage, eine ausgeglichene Import-Export-Bilanz
und 34 statt 48 nötige Netzausbauvorhaben.“ Im Zusammenspiel
mit Energieeinsparungen und -effizienzmaßnahmen
müssten der Ausbau von Wind- und Solarenergie in
allen Bundesländern gleich verteilt und Speichermöglichkeiten
vor Ort erweitert werden. Das unsinnige System der
Ausschreibungen müsste abgeschafft werden, das zu einer
starken Verunsicherung aller Akteure geführt habe, was
bspw. an der dramatisch eingebrochenen Zahl der Genehmigungen
für Windkraftanlagen abzulesen sei. Für Photovoltaik-Anlagen
würde ein solcher Anreiz z.B. in einem
Bürgerstromhandel auf der untersten Netzebene bestehen,
den die neue Erneuerbare- Energien-Richtlinie der EU vorsieht.
In Griechenland werde das bereits praktiziert. Die
regionale Sektorenkopplung werde nur möglich, so Zieher,
wenn die Abgaben auf Energie dafür Anreize bieten.
Energiewende selber machen
Es ist ja vieles schon da: Gebäude, die kaum mehr Energie
verbrauchen oder sogar produzieren, Heizen mit der
Sonne, Nullemissionsfabriken, Autos, die mit Ökostrom
fahren, energieautarke Dörfer und Inseln oder Bioenergie-Kommunen.
Manchmal fehlen nur die Kenntnisse
zur Nutzung der neuen Energien und Systeme. Die Nordseeinsel
Borkum testet solche Systeme in der Praxis. Der
Standort ist ideal für die Erprobung von Energiespeichern
und Energiemanagementsystemen, also genau jenen Technologien,
die in Zukunft für die Energiewende notwendig
werden, wenn die wetterabhängige Wind- und Solarstromerzeugung
zunehmen wird. Bis 2030 will die Gemeinde
klimaneutral sein. Seit rund acht Jahren energieautark ist
auch das kleine Dorf Feldheim im südlichen Brandenburg,
wo der größte Batteriespeicher Europas am Netz ist. Es ist
das erste Dorf in Deutschland, das sich zu 100 Prozent eigenständig
mit Ökostrom versorgt – und andere mit. Die
Dorfbewohner haben vor acht Jahren die Energiewende auf
eigene Faust umgesetzt und investierten gemeinsam in
das eigene Strom- und Wärmenetz. Wirtschaftliche Gründe
standen hier im Vordergrund, sagen die Feldheimer, der
Klimaschutz ist ein schöner Nebeneffekt. f
Im Original erschienen im Magazin „energiezukunft“;
Ausgabe „Baustelle Energiewende – Was jetzt zu tun ist",
Heft 25, Herbst 2018
Bild: Ismagilov / stock.adobe.com
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
43
Klimawandel
Weniger
Stromtrassen
gut für die
Volkswirtschaft?
Forscher haben den deutschen Stromhandel
analysiert: Regionale Preise und
weniger Stromtrassen können zu einem
großen volkswirtschaftlichen Gesamtnutzen
führen.
Foto: Marion Lenzen
Das System, wie in Deutschland Strom gehandelt und
verteilt wird, könnte effizienter sein. Zu diesem Ergebnis
kommt eine Untersuchung von Mathematikern und
Volkswirten der Universität Trier und des Energie Campus
Nürnberg. Die Großhandelspreise für Strom entstehen in
Deutschland an der Strombörse in Leipzig. Dort handeln
Stromproduzenten mit den -verbrauchern die Strommengen
für den kommenden Tag.
„Was bei diesem Handel allerdings nicht berücksichtigt
wird, ist die Frage, ob der Strom überhaupt transportiert
werden kann“, schildert Martin Schmidt, Mathematik-Professor
an der Universität Trier, das Problem. Im Norden
Deutschlands wird unter anderem durch Windkraftanlagen
vergleichsweise viel Strom produziert, während im Süden
sehr viel Strom verbraucht wird. Doch aktuell fehlt es oft an
den notwendigen Leitungen, um diesen Strom zu transportieren.
So kann es dazu kommen, dass die Netze gar nicht
die notwendigen Kapazitäten frei haben, um den Strom
zum Endkunden zu bringen. Die Netzbetreiber müssen sich
daher häufig mit den Kraftwerksbetreibern abstimmen, um
die Handelsergebnisse so zu modifizieren, dass der Strom
auch transportiert werden kann – und das bedeutet bis zu
einer Milliarde Euro pro Jahr an Mehrkosten.
„Eine mögliche Lösung wäre der Ausbau von Stromtrassen.
Doch Hochspannungsleitungen, die quer durch das
Land laufen, stoßen in den betroffenen Regionen auf Widerstand.
Zudem ist dieser Ausbau sehr teuer. Letztendlich
werden die Kosten mit den Netzgebühren auf die Stromverbraucher
umgelegt“, erklärt Martin Schmidt. Er und seine
Foto: Marion Lenzen
44 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
Grün-grüner Konflikt: Fledermausschutz
im Kontext der Energiewende
Der schrittweise Umstieg der Energieversorgung auf regenerative Quellen ist ein Prozess mit hoher gesellschaftlicher
und politischer Akzeptanz. Der Hauptgrund für die Abkehr von fossilen und nuklearen Brennstoffen für die Stromerzeugung
ist umweltpolitischer Natur: Windräder, Solarzellen und Biogasanlagen wirken sich positiv auf die CO 2
-
Bilanz aus und bergen keine Langzeitrisiken. Dennoch haben diese Anlagen keine reine „grüne“ Weste, denn ihre
Produktion selbst ist oft energieaufwändig und ressourcenintensiv. Dazu kommt, dass Windräder ein erhebliches
Risiko für Vögel und Fledermäuse darstellen können.
Foto: Eric Isselée / stock.adobe.com
Leibniz-IZW-WissenschaftlerInnen der Abteilung für Evolutionäre Ökologie erforschen seit geraumer Zeit das Risiko,
welches für Fledermäuse von Windkraftanlagen ausgeht. Dieses Risiko besteht in erster Linie in der Kollision mit den
Anlagen beziehungsweise in für Fledermäuse tödlichen Luftturbulenzen, denen die Tiere durch die enorme Rotationsgeschwindigkeit
der Rotorblätter ausgesetzt sind. Trotz der behördlichen Auflagen im Betrieb von Windkraftanlagen
verstirbt immer noch eine große Zahl an Fledermäusen in Deutschland. Die Dunkelziffer scheint hoch zu sein. Die ForscherInnen
um Abteilungsleiter Christian Voigt haben zudem herausgefunden, dass Fledermäuse vor allem während
ihrer jährlichen Migration an Windkraftanlagen versterben. Deswegen sind nicht nur lokale Bestände bedroht, sondern
auch mitunter weit entfernte Populationen in Skandinavien, Finnland, dem Nordwesten Russlands oder dem Baltikum.
Die Arbeitsgruppe arbeitet daran, die zu Tage tretenden Konflikte zwischen Artenschutz und Energiewende zu lösen.
Problemfall Windenergie
Ab 2020 endet für viele Windräder die staatliche
Förderung nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz
(EEG). Das Problem: Aufgrund der niedrigen Börsen-
Strompreise können viele der Anlagen ohne den öffentlichen
Zuschuss nicht rentabel arbeiten. Nach 20
Jahren Laufzeit kommen viele Windräder außerdem
in die Jahre. Aus diesen Gründen werden wohl künftig
viele Windkraftanlagen zurückgebaut. Denn ungenutzte
Windräder dürfen laut Baugesetzbuch nicht herumstehen,
wie die Stuttgarter Nachrichten berichten.
Bodenversiegelungen sind darüber hinaus zu beseitigen.
Doch wie sieht es mit dem Recycling der Windräder
aus? Das Zentrum für Ressourceneffizienz des
Vereins Deutscher Ingenieure sagt, dass 80 bis 90
Prozent der Materialien wie Stahl, Kupfer und Beton
wiederverwertet werden können.
Anders sieht es mit den Rotorblättern neuerer Generationen
aus, da sie aus Verbundstoffen bestehen: „Diese
Stoffe sind nur schwer voneinander zu trennen und
damit schwierig zu recyceln. Mitunter auch, weil CFK
(Kunststoff) und GFK (Glasfaserverstärkter Kunststoff)
mitverarbeitet sind – Stoffe, die nicht abbaubar sind“,
erklärt das energieverbraucherportal.
Kollegen haben alternative Ansätze untersucht, die bereits
in Teilen von Skandinavien oder Nordamerika praktiziert
werden: Der Stromhandel könne dezentralisiert werden,
sprich, Strom könnte zu regional unterschiedlichen Preisen
gehandelt werden, falls die Netzkapazitäten zwischen
den Regionen nicht ausreichen. Die Wissenschaftler kommen
zu dem Ergebnis, dass dadurch weniger neue Stromtrassen
gebaut werden müssten.
Schon wenn Deutschland in nur zwei Regionen – eine nördliche
und eine südliche – unterteilt würde, gäbe es ein Einsparpotenzial
von bis zu einer Milliarde Euro pro Jahr. Die
Wissenschaftler bezeichnen diesen Wert als Wohlfahrtsgewinn.
„Bisher ist das jedoch politisch noch nicht gewollt.
Die Preise für Strom in Norddeutschland würden vorerst
sinken, während Kunden in Süddeutschland mehr bezahlen
müssten“, erklärt Martin Schmidt.
Der Vorschlag der Wissenschaftler hätte noch einen zweiten
Vorteil: Bisher aufgrund mangelnder Wirtschaftlichkeit
nicht genutzte Energieerzeugungsanlagen im Süden
Deutschlands wären dann konkurrenzfähig.
Auch alternative regionale Aufteilungen des Strommarkts
– beispielsweise in drei, vier oder noch mehr Gebiete – haben
die Wissenschaftler mit komplexen mathematischen
Verfahren durchkalkuliert. „Mit mehr als zwei Gebieten
würde sich der Wohlfahrtsgewinn noch steigern lassen,
allerdings nicht in einem Ausmaß, dass sich der noch
größere Systemwechsel lohnen würde“, erklärt Martin
Schmidt. f
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
45
Klimawandel
Wer das Klima retten will,
benötigt auch Rohstoffe
Ressourceneffizienz ist ein Kernbereich einer nachhaltigen
Wirtschaftsweise. Im Fokus: Verantwortungsvolles, ökonomisches
Wachstum soll weitestgehend vom Rohstoff-Einsatz
entkoppelt werden. Auf diese Weise würden der Ressourcenverbrauch
und damit die Umweltbelastung nicht weiter ansteigen,
ohne Wohlstand und Wirtschaftswachstum
grundsätzlich in Frage zu stellen. Was sich in der Theorie so
einfach anhört, stößt aber in der Realität schnell an Grenzen.
Beispielsweise bei der Umsetzung der
nachhaltigen Entwicklungsziele der
Vereinten Nationen oder des Pariser
Klimaabkommens, wie Professor
Mario Schmidt vom Institute for
Industrial Ecology der Hochschule
Pforzheim sagt: „Nachhaltigkeit heißt,
dass wir weltweit die sozialen Bedingungen
verbessern und gleichzeitig
Klimaschutz betreiben wollen, dass
wir einen großen Teil unserer Energieversorgung
auf regenerative Energien
umbauen müssen. Dafür benötigen
wir enorme, rohstoffintensive
Infrastrukturmaßnahmen.“
Herausforderung und zeitliches
Problem
Warum ist das so? Weil regenerative
Energien eine niedrigere Exergiedichte
als fossile Energieträger haben.
Dementsprechend werden riesige
Flächen an Solar- oder Windkraftanlagen
benötigt, um den globalen Strombedarf
zu decken: „Aufgrund des
schwankenden Energieangebots brauchen
wir außerdem große Netze und
Speicher.“ Wie sich das auf den Rohstoffbedarf
auswirken könnte, verdeutlicht
Schmidt am Beispiel Kupfer:
So werden etwa alleine für einen
Kilometer HGÜ-Leitung, die Energie
über große Distanzen transportiert,
28 Tonnen Kupfer verarbeitet. Wenn
man den Bedarf des Metalls für neue,
emissionsarme Technologien für das
Jahr 2050 global hochrechnet, müssten
viele neue Minen erschlossen werden,
so Schmidt.
Das Problem: Kupferminen benötigen
eine Vorlaufzeit von 15 bis 20 Jahren,
bevor sie in Betrieb gehen können.
Demzufolge müssten die Besitzer jetzt
in die Minen investieren, damit sie
Jahrzehnte später das Kupfer für die
neuen Technologien liefern: „Im privaten
Sektor wird aber erst investiert,
wenn der Bedarf wirklich absehbar
ist. Wenn wir also heute nicht die Signale
für den weltweiten Umstieg auf
regenerative Energien und die Erfüllung
des 1,5-Grad-Ziels geben, wird
sich der Prozess verzögern und wir
werden aufgrund fehlender Rohstoffe
das Klimaziel für 2050 nicht erreichen
können.“
Das Narrativ der versiegenden
Rohstoffquellen
ist falsch!
Herr Professor Schmidt, Sie sagen,
dass wir die Erfüllung der Nachhaltigkeitsziele
der Vereinten Nationen
nur unter Einsatz großer Rohstoffmengen
umsetzen können. Es heißt
aber, dass uns die Rohstoffe ausgehen.
Die jüngsten Prognosen des International
Resource Panels gehen
selbst im besten Fall von einem
weiteren Anstieg des Rohstoffbedarfs
bis 2060 aus. Die Angst vor einem
Versiegen der Rohstoffe steht
dabei nicht im Vordergrund, das ist
eher ein immer wiederkehrendes
Narrativ in der Öffentlichkeit. Es war
mit dem Bericht des Club of Rome
wichtig für das Erstarken der Umweltbewegung,
um auch politisch
Gehör zu finden. Aber wir wissen
heute: Es ist falsch. Die Rohstoffe
versiegen nicht, zumindest nicht in
für die Menschen überschaubaren
Zeiträumen.
Aber viele Wissenschaftler behaupten
das.
Es gibt hier seit Jahren einen Streit
zwischen Geowissenschaftlern und
Umweltwissenschaftlern, der auf
ganz unterschiedlichen argumentativen
Ebenen ausgetragen wird
und manchmal skurril anmutet.
Die Fakten aus der Geologie sprechen
aber dafür, dass wir noch sehr
lange genügend Rohstoffe fördern
können.
46 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
Also ist das Ressourcenproblem gar
keines?
Nein, so kann man das nun auch wieder
nicht sagen. Vor allem gehören zu
den natürlichen Ressourcen nicht nur
Metalle und Baumineralien, sondern
auch fossile Energieträger, die nach
derzeitigem Wissensstand hauptverantwortlich
für die Klimaerwärmung
sind. „Peak Oil“ ist hier eher Wunschdenken
als Realität: Es gibt leider noch
viel zu viel an fossilen Ressourcen.
Dazu kommt Wasser als Ressource,
die wir verschmutzen, und die Biodiversität,
die wir durch Eingriffe in die Natur
dramatisch verringern. Das Ressourcenproblem
ist also vielschichtiger, übrigens
auch im Bereich der Metallerze.
Was ist das Problem bei den Metallen?
Einerseits die ökologischen und sozialen
Bedingungen, unter denen mineralische
Rohstoffe abgebaut werden. Hier
gibt es einen riesigen Handlungsbedarf,
aber das betrifft eben hauptsächlich
die Abbausituation in Ländern des
sogenannten „Global South“, während
die Hauptkonsumenten der Rohstoffe
im „Global North“ sitzen. Wir haben
2018 viele solcher Minen besucht und
die Verhältnisse sind erschreckend.
Andererseits treffen wir mit dem Narrativ
der versiegenden Quellen die falschen
politischen Entscheidungen.
Was meinen Sie damit?
Wenn ein Rohstoff, auf den unsere
moderne Gesellschaft unersetzlich
angewiesen ist, wirklich versiegen
würde, dann müssten wir alles tun,
um ihn zu recyceln. Total! Das Schließen
von Kreisläufen ist aber ebenfalls
mit Aufwand verbunden, der ab einem
bestimmten Punkt auch mit sehr viel
Energieeinsatz und mit Umweltbelastungen
verbunden ist. Das war gerade
Gegenstand von Forschungsprojekten,
die wir durchgeführt haben.
Recycling schadet also der Umwelt?
Nein, das wäre falsch formuliert. Bei
geringen oder mittleren Recyclingquoten
ist Recycling besser als die Gewinnung
aus primären Quellen, also
aus Bergwerken. Wenn man aber die
Recyclingquote stark steigert, dann
braucht man dafür enorm viel Energie.
Denn viele Metalle sind in nur geringen
Konzentrationen in unseren Produkten.
Dieses Aufkonzentrieren kostet die viele
Energie. Wenn die Energie dann aus
fossilen Quellen kommt, haben wir einen
Konflikt zwischen verschiedenen
Umweltzielen – der Schonung von
Ressourcen auf der einen Seite und
dem Schutz des Klimas auf der anderen
Seite.
Aber es werden doch immer mehr regenerative
Energien eingesetzt, so dass
das irgendwann keine Rolle mehr spielt
und die Vision von der Circular Economy
wahr werden könnte.
Der weltweite Rohstoffbedarf steigt angesichts
der wachsenden Weltbevölkerung
sowie der Armutsbekämpfung
und lässt sich in absehbarer Zeit nicht
durch Recycling decken, höchstens etwas
verlangsamen. Die regenerativen
Energien sind erst langsam im Kommen,
global betrachtet. Das Problematische
ist, dass wir in Deutschland zwar
für Recycling sind, aber die dafür notwendige
Industrie verdrängen wollen,
weil sie zu viel Strom verbraucht oder
keine EEG-Umlage bezahlt. Die geht
dann nach China oder Russland, wo
Kohle, Erdöl und Kernenergie weiterhin
die Basis der Energieversorgung sind.
Für das Klima ist damit nichts gewonnen.
Und obendrein begeben wir uns
damit – selbst beim Recycling – in eine
ökonomische Abhängigkeit von diesen
Ländern, also nicht nur bei der Belieferung
aus primären Rohstoffquellen. In
der Fachszene spricht man hier von der
„Kritikalität der metallurgischen Infrastruktur“,
die man sehr ernst nehmen
muss. Diese Zusammenhänge werden
von der Politik bislang kaum beachtet.
Was ist Ihre Empfehlung?
Natürlich müssen wir mit Rohstoffen
sparsam umgehen und auch Recycling
bei uns fördern, weil es in den meisten
Bereichen noch zu gering ist und verbessert
werden kann, auch zum Nutzen
der Umwelt. Dafür brauchen wir zwingend
die industrielle Infrastruktur, und
das auf höchstem technischen Niveau.
Und wir müssen für die sogenannte
„Circular Economy“ klare umweltpolitische
Ziele vorgeben – das wichtigste
ist hier nun mal der Klimaschutz. „Close
the Loop“ als Selbstzweck macht
keinen Sinn. Das ist die Lehre aus der
Rohstoffdiskussion. Weiterhin müssen
die Auswirkungen von Maßnahmen
global betrachtet werden und dürfen
nicht an Ländergrenzen Halt machen.
Deshalb reicht die Fixierung auf das
Erreichen nationaler Klimaschutzziele
nicht aus. Aber wir erreichen damit leider
eine Komplexität, die die Öffentlichkeit
und auch die Politik überfordert.
Das ist unser Dilemma. f
Foto: Thomas Linß / stock.adobe.com
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
47
Klimawandel
Von Dr. Elmer Lenzen
So senken Unternehmen ihren
CO 2
-Ausstoß
Der letzte Sommer war viel zu trocken. Landwirtschaft,
aber auch Industrie litten darunter. Diesen Frühling sorgen
wiederum Stürme und sinnflutartiger Regen rund um
den Globus für enorme Schäden. Extremwetter-Ereignisse
werden zur Regel.
Um diese Entwicklung einzuhegen, setzt die internationale
Staatengemeinschaft auf eine gemeinsame Klimapolitik.
„Wir wissen, dass wir im Laufe des Jahrhunderts eine Dekarbonisierung
brauchen“, sagte Bundeskanzlerin Angela
Merkel im Sommer 2015 zum Abschluss des G7-Gipfels.
In Berlin drückt man dafür mittlerweile auf´s Tempo. Allen
voran Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) verlangt,
dass alle ihren Beitrag leisten und verlässliche Pfade
einschlagen sollen. Das Pflichtenheft für die Wirtschaft
trägt den Titel „Dekarbonisierung im Industriesektor“ und
kursiert seit einigen Monaten. Darin ist nachzulesen: „Das
Förderprogramm soll ein wesentlicher Baustein sein, um
das Ziel einer weitgehenden Treibhausgasneutralität bis
2050 in emissionsintensiven Industriebranchen mit treibhausrelevanten
Energie- und Prozessemissionen zu erreichen.
Für das 2030-Ziel werden erste Beiträge erwartet.“
Wie kann dieser Beitrag konkret aussehen? Was heißt das
für Unternehmen ganz konkret?
1. Wenn die Politik die selbstgesteckten Ziele des Pariser
Klimaabkommens ernst nimmt, dann muss rigoroser
CO 2
eingespart werden. Von allen. Die staatlichen Auflagen
werden in diese Richtung gehen.
2. Klare Zielvorgaben verlangen Nachprüfbarbeit. Angaben
über den Emissionsausstoß werden auf Dauer verbindlicher
sein, als es heute noch der Fall ist. In diese
Richtung drängt etwa die „Task Force on Climate-Related
Financial Disclosures“ (TCFD) unter Leitung von Michael
Bloomberg.
3. Bereits mittelständische Unternehmen tun daher gut
daran, sich darauf einzustellen, weil spätestens der Einkauf
der Großunternehmen hier in naher Zukunft belastbare
Kennzahlen abfragen wird.
48 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
Zudem sollte von Anfang an Klarheit herrschen bei Fragen
des Zeithorizonts (Geht es um kurzfristige oder langfristige
Ziele?), der Systemgrenzen (Welche Standorte und Emissionsquellen
sollen einbezogen werden?) sowie des Ambitionsniveaus
(Wie viele THG-Emissionen sollen eingespart
werden?). Auch gesetzgeberische Entwicklungen und
Erwartungen seitens der Stakeholder sollten vorab mitgedacht
werden. Eine ganz praktische Alltagsproblematik ist
auch die Erhebung der Daten. Hier sollten frühzeitig Mitwirkende
eingebunden werden.
Was ist der Corporate Carbon Footprint?
Der Carbon Footprint beschreibt die Gesamtmenge
an Treibhausgasemissionen, die direkt und indirekt
von einer Person, einer Organisation, einem Event
oder einem Produkt ausgehen. Der Corporate Carbon
Footprint (CCF) betrachtet die Emissionen eines
Unternehmens in t CO 2
e pro Jahr.
Mit Klimamanagement anfangen
Die Einführung eines betrieblichen Klimamanagements ist
eine sinnvolle Ergänzung zu bestehendem Umwelt-, Energie-
und/oder Nachhaltigkeitsmanagement. Vieles wird an
diesen Stellen oft bereits erfasst, neu sind dann eher die
Maßnahmen, die sich ergeben.
Etablierte Methodenstandards wie etwa das GHG Protocol
oder ISO 14064 bieten Orientierung bei der Berechnung
und Berichterstattung eines Corporate Carbon Footprints,
beantworten aber nicht alle Fragen. Unternehmen sollten
deshalb intern festlegen, was das Klimamanagement erreiche
will. Ein Ziel kann etwa die Identifikation von Emissions-Hotspots
im eigenen Unternehmen oder entlang der
Wertschöpfungskette sein, oder auch Möglichkeiten der
effektiven Emissions- und Kostenreduktion.
Bild: Foto: Marion Lenzen
Messen und berechnen
„Das Greenhouse Gas Protocol (Treibhausgas-Protokoll)
ist ein weltweit gültiges Instrument zur Berichterstattung
über Treibhausgasemissionen. Entwickelt wurden die Standards
vom World Resource Institute (WRI) und dem World
Business Council for Sustainable Development (WBCSD).
Unternehmen nutzen die Standards für das Management
ihrer Treibhausgasemissionen“, schreibt Josephin Lehnert
im CleanEnergy-Blog. Gemäß Greenhouse-Gas-Protokoll
werden die Emissionsquellen eines Unternehmens in drei
Kategorien unterschieden.
Scope 1: Darunter versteht man direkte Emissionen aus
eigenen Verbrennungsprozessen. Dazu zählen stationäre
oder mobile Anlagen, chemische Prozesse sowie eigene
Ernergieerzeugung. Emissionsquellen sind etwa Erdgasheizung,
eigene Kraftwerke auf dem Gelände oder Verbrennungsanlagen,
Firmenwagen, Gabelstapler, Kühlgeräte etc.
Scope 2: Darunter versteht man indirekte Emissionen aus
dem Bezug von leitungsgebundener Energie. Dazu zählen
z.B. der eingekaufte Strom, Dampf, Heizung, Kühlung.
Scope 3: Das sind Emissionen aus den vor- und nachgelagerten
unternehmerischen Aktivitäten. Dazu zählen u.a.
eingekaufte Güter und Dienstleistungen, deren Transport
und Verteilung, Pendeln der Arbeitnehmer, Geschäftsreisen,
Nutzung der verkauften Produkte und der Umgang an
deren Lebenszyklusende. >>
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
49
Klimawandel
CO 2
CH 4
N 2
O HFCs PFCs SF 6
SCOPE 2
INDIRECT
SCOPE 1
DIRECT
purchased goods
and services
capital goods
fuel and energy
related activities
purchased electricity,
stream, heating and
cooling for own use
transportation and
distribution
waste generated
in operations
SCOPE 3
INDIRECT
leased assets
employee
commuting
business travel
company facilities
company vehicles
transportation and
distribution
processing of
sold products
use of sold
leased assets
products
end-of-life treatment
sold products
SCOPE 3
INDIRECT
investments
franchaises
Upstream activities
Reporting company
Downstream activities
Quelle: Deutsches Global Compact Netzwerk
Scope 1 und Scope 2 sind Emissionen,
die unmittelbar vom Unternehmen
verursacht werden. Scope 3 wiederum
lässt sich über die Vertragsgestaltung
mit Lieferanten steuern. Letzteres ist
insofern wichtig, als dass ein Großteil
der Emissionen eben in dieser Scope
3-Ebene stattfindet. Nach Berechnungen
des Deutschen Global Compact
Netzwerkes aus 2017 fallen 87 Prozent
aller Emissionen in der Automobilbranche
erst nach Auslieferung der
Fahrzeuge an. Nämlich bei der Nutzung
der Fahrzeuge durch uns Verbraucher.
In der IT-Branche beträgt
der Wert 78 Prozent, bei Immobilien
immerhin noch 70 Prozent. Nur in der
Energiewirtschaft ist der größte Klimaschaden
bereits bei der Erzeugung
verursacht. Hier beträgt der Scope
3-Anteil nur 18 Prozent.
Schritt 1 im Unternehmen ist daher
das strukturierte Sammeln von Aktivitätsdaten
zu den Emissionsquellen.
Bei Scope 1 heißt das zum Beispiel:
Wie viel und welche Art von Brennstoff
(sei es Öl, Erd- oder Biogas, Plastik
oder Restmüll) wird in den Anlagen
verbrannt? Wie viele Liter Kraftstoff
hat die eigene Fahrzeugflotte im letzten
Jahr verbraucht? Bei Scope 2 wird
der gekaufte Strom-, Kühlungs- und
Wärmeverbrauch erfasst. Mit Scope 3
tun sich die meisten Unternehmen
schwer. Hier gibt es auch kaum Verpflichtungen,
so dass die meisten Betriebe
Rosinenpicken betreiben und
meist jene Werte erfassen, die leicht
zugänglich sind: Geschäftsreisen etwa
oder bestenfalls noch Teilangaben zu
Logistik.
Schritt 2 ist die Auswahl geeigneter
Kennzahlen. Je nach Komplexität des
Unternehmens empfiehlt es sich, Einzelkennzahlen
(z.B. pro Standort) zu
wählen und/oder aggregierte Kennzahlen
für das Gesamtunternehmen.
Zudem sollte das Unternehmen sich
überlegen, ob es Sinn macht, absolute
Kennzahlen (z.B. Kilowattstunden/
Jahr) auszuweisen oder besser intensitätsbezogene
Kennzahlen. Dann
werden die CO 2
-Angaben z.B. pro Produkteinheit,
pro Quadratmeter, pro
Mitarbeiter, pro Euro Umsatz oder
Euro Gewinn ausgegeben. Je nach
Geschäftsmodell sind solche intensitätsbezogenen
Kennzahlen sinnvoll:
Bei Immobilien ist die Quadratmeter-Angabe
griffig. Firmen mit hohen
Beschäftigtenzahlen wiederum, z.B.
Logistiker, nutzen gern die Angaben
/Mitarbeiter, um ihre hohen CO 2
-
Gesamtwerte kleinzurechnen.
Schritt 3 ist schließlich die Berechnung
der THG-Emissionen nach folgender
Formel:
Verbrauchte Materialmenge (z.B. in
kg oder Liter) x GHG Emissionsfaktor
(z.B. 3,14 kg CO 2
e/l bei Diesel-Treibstoff)
= GHG Emissionen in kg CO 2
e.
Den Multiplikationsfaktor der jeweiligen
GHG-Emissionen einzelner
Prozesse oder Warengruppen können
Unternehmen aus einschlägigen
Datenbanken ableiten. Das britische
Umweltministerium DEFRA veröffentlicht
jährlich aktualisierte Emissionsfaktoren
für eine Vielzahl unterneh-
50 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
mensrelevanter Prozesse. Auch die
Deutsche Emissionshandelsstelle gibt
eine Liste von Emissionsfaktoren für
Standardbrennstoffe heraus. Konkretere
Tipps liefern außerdem die jeweiligen
Branchenverbände.
Ziele setzen
Immer mehr Unternehmen orientieren
ihre Klimastrategie an den
Vorgaben der Science Based Target
Initative (SBTi). Die wird unter anderem
von der Umweltstiftung WWF
getragen und wirbt bei Unternehmen
dafür, sich wissenschaftsbasierte Reduktionsziele
zu setzen. Sie sollen
im Einklang mit den Ergebnissen des
Paris-Abkommens stehen und helfen,
die Erderwärmung auf deutlich unter
zwei Grad Celsius zu beschränken.
Neue Technologien und Praktiken
z.B. zeigen, dass Unternehmen die
Umweltauswirkungen von der Wirtschaftstätigkeit
entkoppeln können.
Unternehmen können anschließend
ihre jeweilige Klimaperformance bei
der Initiative prüfen lassen. Stehen
sie in Einklang mit dem Paris-Abkommen,
werden sie von ihr als wissenschaftlich
fundiert anerkannt.
Welche Methode sollte ein Unternehmen
bei der Festlegung eines
wissenschaftlich fundierten Ziels
wählen? Die Science Based Target Initative
empfiehlt hier den sogenannten
„Sectoral Decarbonisation Approach“
(SDA), um seine Ziele für die Scopes
1 und 2 festzulegen. Unternehmen
sollten sich dabei nicht bloß an das
Ziel halten, das am einfachsten zu
erreichen ist. Vielmehr empfiehlt die
SDA-Methode Unternehmen, die ambitioniertesten
Dekarbonisierungsszenarien
einzusetzen, die zu den
frühesten und massivsten Reduzierungen
führen. Das Unternehmen
sollte dafür mehrere mögliche Pfade
durchleuchten und das Ziel wählen,
das die eigene Marktführerschaft am
besten demonstriert. Die Methodenauswahl
kann auch durch praktische
Überlegungen beeinflusst werden,
wie z.B. die Verfügbarkeit von Inputdaten
für das Basisjahr und das Zieljahr.
Sind absolute oder relative
Klimaziele besser?
Absolute Ziele – also beispielsweise
eine feste Vorgabe wie
Senkung von 20 Prozent CO 2
im
Unternehmen bis 2020 – haben
den Vorteil, dass sie leicht zu
kommunizieren und zu verstehen
sind. Andererseits kann das
dazu führen, dass man an den
falschen Ecken CO 2
einspart, zu
sehr auf schnelle Erfolge setzt
und spätestens bei Unternehmenswachtum
oder Unternehmensveränderungen
anfängt,
Äpfel mit Birnen zu vergleichen.
Relative Ziele orientieren sich
meist an intensitätsbezogenen
Kennzahlen. Der Vorteil liegt
somit in Flexibilität in Bezug auf
Wachstumserwartungen oder
veränderte Systemgrenzen. Aber
Obacht: Ein relatives Ziel führt
allerdings nicht zwangsläufig zu
absoluten THG-Emissionsminderungen.
Selbst wenn ein Produkt
CO 2
-ärmer als der Vorgänger
ist, dafür aber mehr verkauft
werden, hat das Weltklima nichts
gewonnen.
Einschränkend heißt es dazu bei
SBTi: „Unternehmen, die ökonomische
Methoden zur Festlegung von
Intensitätszielen verwenden möchten,
können dies tun, beachten Sie
aber, dass Intensitätsziele nur dann
als wissenschaftlich fundiert gelten
würden, wenn sie zu absoluten Reduktionen
im Einklang mit der Klimawissenschaft
führen oder mit einem
anerkannten Sektorpfad oder einer
von der Science Based Targets-Initiative
genehmigten Methode (z.B. dem
Sectoral Decarbonization Approach)
modelliert werden.“
Ist die Science Based Target Initative
(SBTi) die einzige Methode? Nein,
zahlreiche weitere Methoden sind am
Markt. Auf diese soll an dieser Stelle
nicht näher eingegangen werden.
imug, das Hannoveraner Beratungsunternehmen,
schreibt: „In den letzten
Jahren haben sich verschiedene Initiativen
verstärkt damit auseinander- gesetzt,
wie die Klimaziele von Unternehmen
mit den politischen Vorgaben
in Einklang gebracht werden können.
Zu den als „wissenschaftsbasiert“ bezeichneten
Ansätzen zählen beispielsweise
„The 3 % Solution“, „Corporate
Finance Approach to Climate- Stabilizing
Targets“, „Context-Based Carbon
Metrics“, „Greenhouse Gas Emissions
per Unit of Value Added“, „British
Telecommunications Climate Stabilization
Intensity Targets“ sowie die
„Mars Methode“.“
Maßnahmen ergreifen
Was man messen kann, kann man
auch steuern. Dieser bekannte Satz
von Peter Drucker gilt natürlich auch
beim Klimamanagement. Firmen können
dazu ganz konkrete Maßnahmen
ergreifen. In der Lieferkette kann >>
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
51
Klimawandel
Scope 3 etwa durch entsprechende Einkaufsrichtlinien,
Reiserichtlinien, die Auswahl alternativer Verpackungsmaterialien,
Training und Qualifikation der Lieferanten
gesteuert werden.
Das Unternehmen selbst kann nachhaltige Produkte und
Geschäftsmodelle sowie entsprechende Produktrücknahme-
und Entsorgungskonzepte entwickeln. Zudem kann es
in Scope 1 Maßnahmen in den Bereichen Energieeffizienz
und Flotteneffizienz ergreifen oder einfach anfallendes CO 2
durch Kompensation ausgleichen.
Der interessanteste und häufigste Hebel ist jedoch der Bereich
Scope 2: Hier kann über entsprechende Verträge bei
Versorgern relativ einfach und konkret Klimaschutz betrieben
werden.
Strom ist nicht gleich Strom
Seit der Deregulierung des europäischen Strommarktes
gibt es eine Vielzahl an Stromanbietern und Stromprodukten.
Jedes davon hat einen eigenen CO 2
-Fußabdruck,
weshalb sich ein genauer Blick in die Vertrags-Modalitäten
lohnt. Wenn wir noch einmal zurückkehren zur erwähnten
Berechnung der THG-Emissionen, so gibt es bei Strom zwei
Faktoren, die zur Auswahl stehen:
a) Länderspezifische Emissionsfaktoren
(location-based method)
Dieser basiert auf dem jeweiligen nationalen bzw. regionalen
Strommix. Dieser Mix wird berechnet nach Energieträgern,
die im jeweiligen Land verbraucht werden. Viel Kohle
und Öl bedeuten viel CO 2
, viele erneuerbare Energien wenig
CO 2
. Der Vorteil der Nutzung dieser landesweiten Angaben
ist die bessere Vergleichbarkeit bei mehreren Standorten
innerhalb eines Unternehmens oder der Vergleich mit Wettbewerbern.
Allerdings lassen sich diese Werte in keiner
Weise durch das Unternehmen steuern oder verbessern.
b) Anbieterspezifische Emissionsfaktoren
(market-based method)
Hierbei werden die jeweiligen CO 2
-Angaben des Anbieters
berechnet. Diese ergeben sich aus dem spezifischen Energiemix.
Ökostrom beispielsweise ist naturgemäß CO 2
-ärmer.
Daher kann ein Unternehmen durch den gezielten
Anbieterwechsel und entsprechende Vertragsgestaltung
seinen CO 2
-Verbrauch selbst steuern. Wichtig ist dabei allerdings,
dass der Kunde auch die Nachweise und Zertifikate
vom Stromhändler erhält. Ohne diesen Nachweis gilt die
grüne Berechnung nicht, und es wird dann automatisch der
Landes - bzw. Residualmix zu Grunde gelegt. Grünstrom ist
also gut für´s Klima, anderseits verschleiern solche Stromverträge
durchaus den dahinterliegende Energieverbrauch.
Beispiel: Wenn man zwei Lampen anschaltet und beide mit
Grünstrom betrieben werden, so liegt der Verbrauch zwar
bei 0 gr CO 2
, aber dennoch ist der Stromverbrauch doppelt
so hoch wie bei einer Lampe. Effizienzmaßnahmen können
also durch Ökostrom ausgebremst werden.
Machen wir eine fiktive Berechnung, um den Verbrauch
nach Landesmix- bzw. Anbieter-spezifischem Wert zu
berechnen: Nehmen wir an, eine Firma hat Produktionsstandorte
in Deutschland, den USA, China und Belgien. Der
Verbrauch ist der Einfachheit überall gleich. Nach location
based method würde der Stromverbrauch mit der Landeskennzahl
multipliziert. Dieser ist in China hoch (hoher
Kohleanteil) und in Belgien niedrig (hoher Atomstromanteil).
Bei der market-based method lässt sich der Verbrauch
fast überall positiv steuern. Ausnahme China: Hier gibt es
keinen freien Strommarkt und damit keine Alternative zum
Landesmix. Liegen allerdings keine Zertifikate vor, dann
wird auf den Residualmix zurückgegriffen, und der ist in
Belgien deutlich schlechter als der Landesmix. In unserem
u.g. fiktiven Beispiel lassen sich also 38 Prozent CO 2
nur
durch entsprechendes Stromvertrags-Management einsparen.
Das ist ein echter Beitrag zum Klimaschutz.
Fiktives Beispiel der Scope 2-Berechnung
a) location based method
Land
Verbrauch
MWh
Deutschland 10.000 MWh
USA 10.000 MWh
China 10.000 MWh
Belgien 10.000 MWh
Emissionsfaktor
528 gr
CO 2
/ kWh
561 gr
CO 2
/ kWh
749 gr
CO 2
/ kWh
187 gr
CO 2
/ kWh
CO 2
-
Ausstoß
5.280 t
5.610 t
7.490 t
1.870 t
Summe 40.000 MWh 20.250 t
52 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
b) market based method Wie die Klimabilanz ausfällt, hängt aber auch schon von
der Auswahl der Datenquelle ab. So sind die Angaben
Land
Verbrauch
MWh
Emissionsfaktor
Deutschland 10.000 MWh 0 gr
CO 2
/ kWh *
USA 10.000 MWh 0 gr
CO 2
/ kWh *
China 10.000 MWh
Belgien 10.000 MWh
749 gr
CO 2
/ kWh
500 gr
CO 2
/ kWh **
CO 2
-
Ausstoß
0 t
0 t
7.490 t
5.000 t
des Umweltbundesamtes UBA zum nationalen regionalen
Strommix traditionell strenger als die der Internationalen
Energieagentur IEA. Demnach betrug etwa der
deutsche Strommix in 2007 bei der UBA 608 g CO 2
/ kWh
und bei der IEA nur 504 g CO 2
/ kWh. Dank der Energiewende
sanken die Angaben in den letzten Jahren dann
kontinuierlich in beiden Berechnungsmodellen: Auf 544
g CO 2
/ kWh laut UBA und 461 g CO 2
/ kWh laut IEA.
Aufgrund der durchgehend günstigeren Zahlen der IEA
wird bei den allermeisten Unternehmen in der Bilanzierung
stets der IEA Referenzwert genutzt. So fällt der Carbon
Footprint um 15 Prozent besser aus als nach UBA-
Angaben.
Summe 40.000 MWh 12.490 t
* PPA mit RECS Zertifikat
** fehlender Nachweis, daher Residualmix (RE-DIS II Belgien 2013)
Wer sich die eigene Performance übrigens rückwirkend
schön rechnen will, der berechnet alte CO 2
-Werte nach
UBA und wechselt dann zu den IEA-Zahlen. Zwischen 2007
und 2010 lassen sich so 25 Prozent Emissionen mit bloßem
buchhalterischem Trick auf dem Papier einsparen. f
Was ist der Residualmix eines Landes?
Der Residualmix ist der um den Handel mit
Herkunftsnachweisen bereinigte Strommix eines
Landes. Zwischen dem im Land produzierten und im
Land verbrauchten Strom kann nämlich ein gewaltiger
Unterscheid liegen, wie das Beispiel Norwegen
zeigt: Norwegen produziert zu 98 Prozent umweltfreundlichen
Strom aus Wasserkraft. Grüner geht es
nicht, sollte man meinen. Tatsächlich sind die Norweger
aber auch gute Kaufleute und exportieren einen
Großteil dieses Grünstroms ins europäische Ausland.
Dort herrscht große Nachfrage nach nachhaltigem
Strom, und die Preise sind entsprechend hoch. Zum
Ausgleich kauft Norwegen günstig Strom auf dem
europäischen Markt zu, um die eigene Versorgung
sicherzustellen. Das Ergebnis ist schockierend: Aus
einem 98 Prozent Sauberland wird eine echte Dreckschleuder:
Norweger konsumieren zu 54 Prozent
Strom, der aus fossiler Verbrennung gewonnen wurde,
zu 33 Prozent aus Kernenergie und nur zu 13 Prozent
aus erneuerbaren Energien. Diesen Verbrauchsmix
nennt man auch Residualmix.
Herausgeber:
Deutsches Global Compact Netzwerk,
Berlin 2017
Einführung
Klimamanagement
Schritt für Schritt zu
einem effektiven
Klimamanagement
in Unternehmen
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
53
Klimawandel
„Porsche Impact“:
Klimaschutz mit Kleingeld
Fotos: Porsche
Von Thomas Wischniewski
Ablasshandel? Abgashandel? Oder sinnvoller Klimaschutz? Porsche-Fahrer können jetzt
die CO 2
-Emissionen kompensieren, die sie übers Jahr mit ihren Flitzern verursachen,
durch freiwillige Zahlungen an Klimaschutzprojekte. Der Zuffenhausener Sportwagenhersteller
hat dazu die Initiative „Porsche Impact“ gestartet – und gleich den eigenen Firmen-Fuhrpark
ins Rennen geschickt.
54 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
empfohlen wird. Freigeschaltet ist der Rechner derzeit in
Deutschland, Großbritannien und Polen, weitere Länder
sollen folgen.
Wer den Ausgleich zahlen will, wird an den Porsche Kooperationspartner
South Pole weitergeleitet, ein international
tätiges Unternehmen mit Hauptsitz in der Schweiz, das
seit dem Jahr 2006 Kompensationsvorhaben entwickelt.
Die von Porsche ausgewählten Projekte konzentrieren
sich auf den Aufbau von Wasser- und Sonnenenergie sowie
den Schutz von Wald und Artenvielfalt, befinden sich
in den USA, Mexiko, Vietnam sowie Simbabwe und damit
in Ländern, in denen sich nach Porsche-Einschätzung „ein
besonders wirkungsvoller Beitrag zum Umwelt- und Klimaschutz
erzielen lässt“.
Projekt-Portfolio: Wald-, Arten- und Klimaschutz
Knapp 6.100 Kraftfahrzeuge umfasst die Flotte nach Unternehmensangaben.
Das Kohlendioxid, das sie in die Luft
stoßen, gleicht Porsche seit November durch Zahlungen
an Klima- und Nachhaltigkeitsprojekte aus. Die Summe
berechnet sich je nach Fahrzeugtyp und Fahrleistung. Bei
einem Porsche Cayenne aus der aktuellen Baureihe mit
jährlich 15.000 Kilometern auf dem Tacho kommen beispielsweise
62,70 Euro zusammen.
„Besonders wirkungsvoller Beitrag zum Umwelt- und
Klimaschutz“
Ermitteln lässt sich das mit einem Emissionsrechner auf
der Porsche-Website. Einfach Jahresfahrleistung und
Durchschnittsverbrauch eingeben, schon wird angezeigt,
wie viele Tonnen CO 2
dadurch im Jahr in die Atmosphäre
entweichen und welche Summe zur Kompensation
Im mexikanischen Bundesstaat Baja California Sur unterstützt
der Autobauer zum Beispiel eines der ersten großen
Photovoltaik-Projekte in Lateinamerika, den Solarpark
Aurora Solar I. Die Anlage erzeugt bereits 82.000 Megawattstunden
Sonnenstrom im Jahr und ist laut Porsche
„zentraler Bestandteil der in Mexiko dringend benötigten
Energiewende“. Das Projekt diene Umwelt und Menschen
vor Ort, schaffe Arbeitsplätze und Ausbildungsmöglichkeiten.
Ein weiteres Kompensationsprojekt findet sich im US-Bundesstaat
Alaska, genauer: auf Afognak, einer Insel an der
Südküste Alaskas, auf der in den 1980-er Jahren die Holzindustrie
gewütet hat – bis 15 Prozent des artenreichen
Areals kahlgeschlagen waren. Die „Porsche Impact“-Gelder
sollen unter anderem in die Restauration dieser Flächen
fließen. Ein ähnliches Forstschutz-Projekt unterstützt der
Konzern in Simbawe an der Südküste des Kariba-Sees.
Klimaschutz? Durch Kompensation?
Neu ist die Idee vom Klimaschutz durch Kompensationszahlungen
nicht. Flug- oder Bahnreisende können seit
geraumer Zeit mit ähnlichen Programmen ihre CO 2
-Emissionen
ausgleichen. Unumstritten ist das nicht, zumin- >>
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
55
Klimawandel
dest nicht in Hinsicht auf den Nutzen fürs Klima. „Kompensation
kann das Klimaproblem nicht lösen, weil sie nichts
an den eigentlichen CO 2
-Quellen ändert“, heißt es etwa seitens
der gemeinnützigen atmosfair gGmbH, dem wohl bekanntesten
Kompensations-Anbieter in Deutschland. Aber:
Sie sei „als zweitbeste Lösung notwendig, solange die beste
Lösung noch nicht existiert“.
Fotos: Porsche
atmosfair konzentriert sich auf den Flugverkehr, und
das aus gutem Grund: Für den, heißt es auf der Website
der Organisation, „gibt es derzeit noch keine technische
Lösung wie problemfreie Biotreibstoffe oder das Null-Emissions-Flugzeug“.
Anders sei das beim Autofahren. Da sei
eine CO 2
-Kompensation nicht sinnvoll. Schlicht, weil es
nachhaltigere Alternativen gibt: Elektro- oder Hybridautos,
Carsharing-Angebote, den Öffentlichen Personennahverkehr,
das gute alte Fahrrad.
So geht’s: Vermeidung – Reduktion – Kompensation
Einerseits. Andererseits schadet das neue Porsche-Angebot
dem Klima auch nicht. Es lenkt Geld in Projekte, die
unter Nachhaltigkeitsaspekten sinnvoll sein können. Und
es schärft vielleicht das Bewusstsein der Konzernkunden
dafür, dass der CO 2
-Ausstoß ihrer Boliden einen Schaden
verursacht. Einen Schaden, der sich mit einem Preis
beziffern lässt. Im besten Fall wächst so das Verständnis
dafür, dass das Klima kein frei verfügbares Allgemeingut
ist. Trotzdem, da sind sich Klimaschützer einig, sollten die
Vermeidung und Reduktion von Klimagasen stets vor der
Kompensation stehen.
Porsche sagt, das habe man verstanden. Man unternehme
„alles, um CO 2
zu vermeiden oder wenigstens zu reduzieren“,
und zwar über die komplette Wertschöpfungskette.
So nutze man mittlerweile für Produktion und Bahnlogistik
zu 100 Prozent Naturstrom. Und bei der Entwicklung neuer
Fahrzeuge habe man nicht nur deren Leistungsfähigkeit
im Blick, sondern ebenso die Minimierung von Emissionen
und Verbrauch. Ein Beleg, den die Zuffenhausener anführen:
Die jüngste Generation des Porsche 911 Carrera, die
gegenüber dem Vorgänger zehn Prozent weniger CO 2
ausstoße.
Der Wert liegt jetzt bei 205 Gramm Kohlendioxid je
Kilometer. f
Im Original erschienen bei umweltdialog.de
56 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
SCHON BEGONNEN
Die Reinsten
IMMER
HAT
ZUKUNFT
DIE
Wir wissen, dass wir an dem Ast sägen, auf welchem wir
selbst sitzen: dass wir die Ressourcen der Erde über Gebühr
ausbeuten und trotzdem mit unserem wachstumsgeprägten
Wirtschaftssystem weitermachen, dass wir – obwohl
der Klimawandel uns bedroht – immer mehr CO 2
in
die Atmosphäre pusten und dass das massive Insektenund
Artensterben das Überleben unserer Spezies selbst
bedroht. Trotzdem steuern wir nicht gegen. Ist die Menschheit
noch zu retten? Und wenn es der Mensch selbst nicht
kann, schafft das die Künstliche Intelligenz?
2019
R HJAH FRÜ
Diesen und weiteren spannenden gesellschaftskritischen
Fragen widmet sich der Science Fiction-Roman „Die
Reinsten“ von Thore D. Hansen. In einer „weit entfernten
Zukunft“ im Jahr 2191 wird ein Großteil der vorhandenen
menschlichen Bevölkerung von insgesamt nur noch rund
10 Millionen Menschen weltweit in Paradise, einer künstlich
geschaffenen Welt von acht Metropolen, von Askit,
der alles umfassenden KI, versorgt und kontrolliert. Über
Implantate werden „Ausgewählte“ von Askit ausgebildet
und altruistisch erzogen, das sind die Reinsten. Auch Eve
Legrand wird von der KI als Reinste anerkannt, und Askit
sieht in ihr großes Potential.
Askits primäres Ziel ist: den Planeten Erde und alle auf ihm
befindlichen Lebewesen und Arten – Pflanzen, Insekten,
Tiere und Menschen – zu erhalten, dem weiter fortschreitenden
Klimawandel zu trotzen, Wälder zu regenerieren
und bewohnbare Zonen zu schaffen. Dabei geht Askit bedingungslos
nach dem Grundsatz: Nur soviel Ressourcen
zu verbrauchen, wie nachwachsen können.
Ein weiterer Teil der Menschen, die nicht in den Metropolen
in Paradise leben, bewohnen Waldrandgebiete in
sogenannten Kolonien. In diese werden auch Menschen
aus Paradise, die sich egoistisch verhalten oder über Gefühlsausbrüche
dem Gemeinwohl schaden, verbannt. Die
sogenannten Degenerierten fristen dann ihr Leben bei den
Kolonisten.
Und es gibt noch einen kleinen Kreis von Menschen, die
als Nachkommen der ehemaligen Gründer von Askit und
der neuen Weltordnung und als Ausgewählte der besonders
Reinsten „Askit City“ bewohnen und nicht von Askit
kontrolliert werden.
Unter allen Beteiligten beginnt ein Wettstreit um die Zukunftsfähigkeit
der Gattung Mensch! Spannend!
Thore D. Hansen Die Reinsten
422 Seiten, 22 Euro, Verlag Golkonda
ISBN: 978-3-946503-90-3 (Buchausgabe)
ISBN: 978-3-946503-91-0 (E-Book)
www.golkonda-verlag.de
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
57
Klimawandel
Foto: Kyocera
Der lange Weg Richtung
NULL EMISSIONEN
Von Umweltverbänden bis zur Wirtschaft: Viele kritisieren die Ergebnisse der letzten Klimakonferenz
als nicht ausreichend. Dabei besteht dringender Handlungsbedarf – laut der Weltorganisation
für Meteorologie war der CO 2
-Gehalt in der Atmosphäre 2017 so hoch wie nie.
Eins ist sicher: Staatliches Handeln allein reicht nicht aus.
Von Julia Arendt
„Hearing no objections – it is so decided”
– mit diesen Worten griff Michał
Kurtyka, Sitzungspräsident der 24.
UN-Klimakonferenz, laut Berichten
des Deutschlandfunks zum Hammer
und beendete die Veranstaltung im
polnischen Kattowitz. Nach zwei Verhandlungswochen
einigten sich die
Staaten auf gemeinsame Regeln zur
Umsetzung des Pariser Klimaabkommens.
Das verabschiedete Regelbuch
– eine Art Gebrauchsanweisung – enthält
Vorgaben, nach denen die Länder
und ihre Klimaschutzbemühungen
gemessen und verglichen werden
können.
Ein Schritt in die richtige
Richtung, aber…
Die Reaktionen darauf waren geteilt.
Kritik kam vor allem von Umweltschützern,
Ökonomen und Wissenschaftlern,
die mehr politischen
Willen zur Begrenzung der Erderwärmung
fordern. Politiker gaben
sich hingegen optimistisch. „Wir
haben erreicht, dass sich zum ersten
Mal nicht nur die halbe, sondern die
ganze Welt beim Klimaschutz in die
Karten schauen lässt“, betonte Bundesumweltministerin
Svenja Schulze
gegenüber der Presse. „Das Pariser
Abkommen beruht auf dem gegenseitigen
Vertrauen, dass alle Staaten
ihren Beitrag zum Klimaschutz >>
58 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
leisten. Darum ist entscheidend, dass
jeder sehen kann, was der andere tut.“
Doch trotz einiger Erfolge sei die Bilanz
der Klimakonferenz überschaubar,
so Ottmar Edenhofer, Direktor
des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung
(PIK) gegenüber dem
Handelsblatt: „Die dringend notwendige
Steigerung des Ambitionsniveaus
ist im Wesentlichen ausgeblieben,
und beim Regelbuch haben wir
nur ein Minimum erreicht. Die Welt
braucht konkrete Maßnahmen zur
Verringerung der Treibhausgase; und
sie braucht diese Maßnahmen nicht
irgendwann, sondern jetzt.“ Sein Kollege
Johan Rockström pflichtet ihm
bei: „Der Klimagipfel in Kattowitz hat
versäumt klarzumachen, dass die globalen
Emissionen aus fossilen Brennstoffen
bis 2030 halbiert werden müssen.
Wir alle müssen jetzt aufhören,
herumzutrippeln. Wir müssen unsere
Schritte beschleunigen“, mahnt der
Schwede.
Mission: Klimaneutralität
Dies hat auch das Bundesministerium
für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung erkannt: „Staatliche
Anstrengungen reichen allein
nicht aus, um die internationalen
Klima- und Entwicklungsziele zu erreichen.
Alle sind gefordert: Politik,
Wirtschaft, Gesellschaft, jede Einzelne
und jeder Einzelne von uns“, heißt
es vom Ministerium zur neu gegründeten
„Allianz für Entwicklung und
Klima“. Bundesentwicklungsminister
Dr. Gerd Müller präsentierte dieses
Bündnis bereits im vergangenen November
im Bundestag. Das Ziel aller
Mitglieder: Klimaneutralität mithilfe
von Vermeidung und Reduzierung der
CO 2
-Emissionen. „Was übrig bleibt,
wird mit Projekten in Entwicklungsund
Schwellenländern kompensiert,
vor allem durch den Aufbau erneuerbarer
Energien und den Schutz und
die Aufforstung von Wäldern“, erklärt
Müller in einer Presseerklärung zur
Allianz.
Klimapionier KYOCERA
Bereits 70 Unternehmen, Behörden
und zivilgesellschaftliche Organisationen
sind Teil der Allianz. KYOCERA
Document Solutions Deutschland gehörte
zu den ersten Unternehmen, die
sich ihr anschlossen. „Die Aufnahme
in die Allianz für Entwicklung und
Klimaschutz macht uns stolz und ist
ein wichtiger Ansporn, unser Nachhaltigkeitsengagement
fortzuführen“,
so Daniela Matysiak, Umwelt- und
CSR-Managerin des Unternehmens.
Mit seiner Mitgliedschaft setzt der
Konzern sein bisheriges Klimaengagement
konsequent fort. Bereits seit fünf
Jahren kompensiert er im Rahmen
von KYOCERA PRINT GREEN, dem
hauseigenen Klimaschutzprogramm,
den CO 2
-Ausstoß aller Drucker und
Multifunktionsgeräte. „Unsere Produktverantwortung
endet nicht am
Werkstor, sondern erstreckt sich über
die gesamte Produktlaufzeit“, betont
Matysiak im Interview mit Umwelt-
Dialog. „Neben eigenen Analysen
haben wir im Rahmen unseres Klimaschutzprogramms
PRINT GREEN
durch die Klimaschutzorganisation
myclimate den CO 2
-Fußabdruck unserer
Produkte über die Lebenszeit berechnen
lassen. Dies gibt uns Antworten
auf die Fragen, wie viel CO 2
zum
Beispiel bei der Produktion oder dem
Transport verursacht wird.“
Was übrig bleibt, wird
kompensiert
Die Emissionen, die unvermeidbar
sind, kompensiert der Konzern mit
seiner Unterstützung des Projekts
„Effiziente Kocher für Kenia“ von
myclimate. „Im Westen Kenias wird
meist auf offenen Feuerstellen gekocht,
was Unmengen an Feuerholz
verbraucht. Dank eigens aufgebauter
kommunaler Spar- und Darlehensgemeinschaften
können sich Frauen
dort nun bessere Kocher leisten“, erklärt
Dr. Anne Rheinlaender, Projektleiterin
von myclimate, gegenüber
UmweltDialog. Diese seien wesentlich
effizienter und reduzierten die
Nachfrage nach Feuerholz. Die Folge:
Lokale Wälder werden geschützt
und CO 2
-Emissionen vermindert. Die
Effekte sind enorm: „Jeder installierte
Kocher spart im Jahr 2,2 Tonnen
CO 2
-Emissionen ein“, erklärt Daniela
Matysiak.
Außerdem setzt das Unternehmen bei
seinen Farbdruckern und Multifunktionssystemen
auf die eigens entwickelte
ECOSYS-Technologie. Diese steht
für besonders ressourcenschonendes
Drucken und Kopieren. Bei Druckern
muss beispielsweise nur der Toner als
Verbrauchsmaterial nachgefüllt werden.
Alle anderen Komponenten sind
in der Regel für die gesamte Einsatzzeit
des Druckers ausgelegt. Die Folge:
Im Vergleich zu anderen Drucksystemen
reduzieren ECOSYS-Systeme die
entstehenden Abfallmengen um bis
zu 75 Prozent. f
Im Original erschienen bei
umweltdialog.de
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
59
Klimawandel
Klimawandel: Macht ein halbes Grad wirklich
EINEN UNTERSCHIED
1,5 °C 2 °C
gegenüber
mittlerer Erderwärmung
bis Ende des Jahrhunderts
Maximaltemperaturen in Teilen Europas
3-4 °C 5 °C
Um so viel Grad Celsius steigen die höchsten Temperaturen,
die im Verlauf eines Jahres erreicht werden
heutige Rekorde werden Normalität
Beispiel Hitze: Wahrscheinlichkeit, dass jedes Jahr so heiß
52 %
wird wie das bisherige weltweite Rekordjahr 2016 – in einer
88 %
1,5°-Welt würde also etwa jedes zweite Jahr so heiß wie 2016,
bei 2 °C wären es neun von zehn Jahren
42 % 59 %
Wahrscheinlichkeit, dass es jedes Jahr zu einer
Hitzewelle kommt wie 2003, die europaweit
Zehntausende Todesfälle verursachte
fast 700
Millionen
Zahl der Menschen weltweit, die alle 20 Jahre oder noch
öfter extremen Hitzewellen ausgesetzt sein werden –
betroffen wären also entweder etwa jeder zehnte
oder aber etwa jeder vierte Mensch auf der Erde
mehr als 2
Milliarden
Überschwemmungen
Anteil der Landfläche weltweit, auf der das Risiko von
Überschwemmungen an Flüssen deutlich steigt. Hintergrund
sind stärkere Niederschläge infolge des Klimawandels in
vielen Regionen
11 % 21 %
60 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
2,6
Dürremonate
Dürren
Dürremonate pro Jahr in Mitteleuropa; im
Mittelmeerraum wären es sogar 3,2 bzw. 3,7 Monate
2,8
Dürremonate
4 mm
pro Jahr
34 cm
Anstieg des Meeresspiegels
Zunahme des mittleren Meeresspiegels weltweit
zum Ende unseres Jahrhunderts
Anstieg des mittleren Meeresspiegels der Nordsee
bei Cuxhaven (Niedersachsen)
5,5 mm
pro Jahr
53 cm
alle 100
Jahre
Gefahr von Sturmfluten
Häufigkeit, mit der künftig an der Nordseeküste bei
Cuxhaven eine Sturmflut von einer Stärke zu erwarten
ist, mit der bislang statistisch nur einmal in 500 Jahren
gerechnet werden musste
alle 33
Jahre
alle 40
Jahre
eisfreier Nordpol
durchschnittliche Häufigkeit, mit der das Nordpolarmeer
im September, also zum Ende des arktischen Sommers,
eisfrei ist
alle 3-5
Jahre
Korallensterben
Anteil der Korallenriffe weltweit, die dem Risiko von
70 % Korallenbleiche ausgesetzt wären 99 %
8 %
Planzen
4 %
Wirbeltiere
6 %
Insekten
Artenvielfalt
Anteil der Pflanzen-, Wirbeltier- und Insektenarten weltweit,
die infolge des Klimawandels mehr als die Hälfte ihres
Verbreitungsgebiets verlieren.
Eine Erwärmung um 0,5 °C bedroht bei den Pflanzen und
Wirbeltieren also doppelt so viele, bei den Insekten sogar
dreimal so viele Arten.
16 %
Planzen
8 %
Wirbeltiere
18 %
Insekten
Basierend auf dieser Infografik von klimafakten.de: bit.ly/2OROHrR
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
61
Klimawandel
Weltklimakonferenz
schlecht geredet oder schlecht gemacht?
Foto: UN Photo / James Dowson
Von Germanwatch
Das auf der Weltklimakonferenz
im polnischen
Kattowitz (COP24) vereinbarte
Regelwerk ist eine
solide technische Grundlage
für die weltweite
Umsetzung des Pariser
Klimaabkommens. Aber
zur Abwendung der Klimakrise
kommt es nun darauf
an, dass alle Staaten
deutlich mehr politischen
Willen zur zügigen Umsetzung
des Abkommens
zeigen.
Das Ergebnis von Kattowitz ist vor allem
deswegen beachtlich, weil es einige
Sabotageversuche aus dem Weißen
Haus, Saudi-Arabien und Brasilien
gab. Es ist vor allem der Verdienst der
ärmsten und durch die Klimakrise verletzlichsten
Entwicklungsländer, die
sich für starke Beschlüsse eingesetzt
haben. Die Abwendung der Klimakrise
ist gerade für diese Länder eine
Frage des Überlebens. Auch Deutschland
hat durch seine Finanzzusagen
und sein Auftreten innerhalb der sogenannten
“High Ambition Coalition”
von Industrie- und Entwicklungsländern
zu diesem Ergebnis konstruktiv
beigetragen.
Das Ergebnis von Kattowitz ist auch
ein Sieg für den Multilateralismus.
Die Bewährungsprobe folgt aber nun,
wenn es an die Umsetzung des Pariser
Abkommens geht. Die Regierungen
müssen jetzt für entschiedenen
Klimaschutz zuhause handeln. Die
Klimabewegung, die sich gerade vom
Hambacher Wald über Widerstand
gegen Pipelines bis zu Klima-Schulstreiks
weltweit formiert und auch
hier in Kattowitz sichtbar geworden
ist, wird von den Regierungen nun
immer vehementer den notwendigen
Klimaschutz einfordern. In Deutschland
muss der Anfang des Jahres von
der Kohlekommission beschlossene
Ausstiegspfad mit den Pariser-Klimazielen
vereinbar in einem Klimaschutzgesetz
festgeschrieben werden.
Reaktion auf den IPCC-Sonderbericht
zu 1,5 Grad und höhere
Anstrengungen im Klimaschutz
In welcher Form im Abschlussdokument
Bezug auf den Sonderbericht
des Weltklimarats (IPCC) genommen
62 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
wird, war eines der umstrittensten Themen der Konferenz.
Hier versuchten vor allem Saudi-Arabien und die USA,
zeitweise unterstützt durch andere arabische Länder und
durch Russland, eindeutige Bezüge auf die Klimawissenschaft
zu verhindern. Einer Koalition aus der Gruppe der
sogenannten am wenigsten entwickelten Länder (LDCs),
der Allianz der kleinen Inselstaaten (AOSIS), einer Gruppe
lateinamerikanischer Staaten (AILAC), der EU und weiteren
Ländern ist es dennoch gelungen, eine umfassende
Sprache zum IPCC im Konferenzbeschluss durchzusetzen.
Es wird betont, dass der IPCC die Funktion hat, den Vertragsstaaten
Informationen für die Verstärkung globaler
Klimapolitik zur Verfügung zu stellen und ihm wird für die
Arbeit am Sonderbericht gedankt. Zudem wird anerkannt,
dass der Bericht die beste verfügbare Wissenschaft widerspiegelt.
Ein eindeutiger Bezug auf die im Jahr 2030 noch
möglichen globalen Emissionen, wenn die Erwärmung auf
1,5 Grad begrenzt werden soll, wurde durch das Veto der
USA verhindert. Aus diesem Wert – 25 bis 30 Gigatonnen
CO 2
eq – hätte sich noch deutlicher ableiten lassen, wie
stark die Länder ihre Klimapolitik verschärfen müssen,
um das in Paris formulierte 1,5-Grad-Limit einzuhalten. Im
globalen Durchschnitt ginge es dabei um eine Emissionsreduktion
von jährlich etwa vier Prozent.
In der COP-Entscheidung wird die bereits in Paris vereinbarte
Aufforderung an alle Länder unterstrichen, bis 2020
ihre 2030-Klimabeiträge (NDCs) einzureichen oder zu aktualisieren.
Viele der verletzlichsten sogenannten Entwicklungsländer
hatten hier für eine noch eindeutigere Formulierung
gekämpft, die explizit besagt, dass diese Ziele höher
sein müssen als die bisherigen und sich am IPCC-Sonderbericht
orientieren sollen. Da jedoch in anderen Absätzen
im selben Dokument sowohl die Dringlichkeit von Ambitionserhöhung
als auch die Funktion des IPCC, Orientierung
für die Klimapolitik zu liefern, betont werden, ist diese
Aussage zumindest indirekt verankert. Positiv ist, dass in
der Konferenzentscheidung der Sondergipfel des UN-Generalsekretärs
im September 2019 als ein Ort erwähnt wird,
an dem erhöhte Ambition gezeigt werden soll, d.h. dort sollten
die erhöhten Klimaziele vorgestellt werden.
Auch wenn die COP-Entscheidung zu diesem Punkt sehr
verklausuliert bleibt, so haben doch zumindest die Mitglieder
der “High Ambition Coalition”, darunter auch der
EU-Klimakommissar und die deutsche Umweltministerin,
sich in ihrer am 12. Dezember in Kattowitz veröffentlichten
Erklärung eindeutig festgelegt. Sie verpflichten sich,
bis 2020 dreierlei zu tun: 1. mehr sofortige Klimaschutzmaßnahmen,
2. Erhöhung ihrer 2030-Klimaziele und
3. Vorlage einer Langfriststrategie für die Zeit bis 2050.
Wenn Deutschland und die EU zur Erhöhung der 2030-Ziele
von Anfang der Konferenz an klarer aufgetreten wären
(Deutschland hatte in EU-internen Diskussionen zur Zielerhöhung
im Gegenteil sogar gebremst), dann wäre in Kattowitz
wahrscheinlich auch mehr zu erreichen gewesen,
um mehr Länder mit an Bord zu holen.
Mit den Entscheidungen der COP24, den Selbstverpflichtungen
der „High Ambition Coalition“ und der Einladung
des Generalsekretärs zu seinem Sondergipfel ist aber klar:
Die erste Runde Zielanhebungen läuft jetzt an und muss bis
Frühjahr 2020 beendet sein.
Umsetzungsregeln für das Paris-Abkommen
Das wesentliche Ergebnis der COP24 ist das sogenannte
Regelbuch zur Umsetzung des Pariser Klimaabkommens.
Im Zentrum des Pariser Klimaabkommens stehen die sogenannten
national bestimmten Beiträge (nationally determined
contributions, NDCs) der Staaten. In Kattowitz
wurden Regeln für die Struktur und Inhalte dieser Klimabeiträge
sowie für Berichterstattung und Überprüfung
festgelegt.
Es ist in Kattowitz gelungen, einen gemeinsamen Transparenzrahmen
für alle Länder zu beschließen. Unter anderem
müssen nunmehr alle Länder mindestens die IPCC-Richtlinien
für Treibhausgas-Berichte (engl. GHG inventories)
von 2006 verwenden. Das Transparenz-Regelwerk sieht
Flexibilität für Entwicklungsländer vor, die diese nach
Selbsteinschätzung aufgrund noch unzureichender Kapazitäten
benötigen. Langfristige Verbesserungen derer Berichte
werden allerdings mit dem Ziel unterstützt, dass alle
Länder quantitativ und qualitativ gleichwertige Transparenz-Berichte
erstellen können. Enttäuschend ist, dass die
ersten Transparenz-Berichte aller Länder erst Ende 2024
eingereicht werden. Das ist zu spät, um es für die erste
Runde der Zielüberprüfung 2023 nutzen zu können. Vor
allem Brasilien drängte darauf, dass es Ländern freigestellt
wird, ob sie quantitative Indikatoren in ihre Treibhausgas-Berichte
aufnehmen oder sich auf eine rein qualitative
Beschreibung beschränken können. Diese Verwässerung
der Transparenzregeln konnte allerdings weitgehend vermieden
werde.
Transparenz in der Klimafinanzierung
Die Regeln zur Berichterstattung über geplante und geleistete
Beiträge zur Klimafinanzierung liefern ein detailliertes
Rahmenwerk, um zukünftig mehr Klarheit und Planungssicherheit
für Entwicklungsländer zu liefern. Trotzdem gibt
es darin noch gewisse Spielräume für Geberländer, zum
Beispiel den Detailgrad ihrer Berichte zu begrenzen, sowie
das, was sie als Klimafinanzierung ansehen, zu bestimmen.
Insbesondere ist es nicht schlüssig, dass Kredite oder Risikoabsicherungen
mit ihrer Gesamtsumme angerechnet
werden können, genauso wie Zuschüsse. Hier müsste für
eine Vergleichbarkeit jeweils nur der Zuschussanteil ausgewiesen
werden dürfen, auch um die Summe nicht >>
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
63
Klimawandel
künstlich aufzublähen. Es ist zu hoffen,
dass die progressiven Länder die
Messlatte vorgeben, an der sich bald
schon alle Länder orientieren. In einigen
Jahren sollte dies allerdings verpflichtend
für alle werden. Positiv ist
zu bewerten, dass ein Synthesebericht
über geplante Finanzierung als Input
für die Zielüberprüfungs-Runden alle
fünf Jahre Berücksichtigung findet.
Anpassungskommunikation
Wie im Paris-Abkommen festgeschrieben,
sollen die Staaten regelmäßig
ihre Prioritäten, Unterstützungsbedarf,
Pläne und Aktivitäten für die Anpassung
an den Klimawandel kommunizieren.
Dazu wurden in Kattowitz
Richtlinien verabschiedet. Obwohl
deren Einhaltung freiwillig ist, waren
sie umstritten, da sie einen Standard
setzen, was Berichterstattung und Unterstützung
dafür betrifft. Es wird den
berichtenden Ländern selbst überlassen
sein, in welchem Dokument die
Informationen übermittelt werden.
Sie können zum Beispiel Teil der Nationalen
Anpassungspläne (NAPs) oder
der NDCs sein. Die Richtlinie zum Inhalt
ist aber für alle Dokumente identisch
– hier hatten einige Länder unterschiedliche
Richtlinien gefordert,
was die Vergleichbarkeit verschlechtert
hätte. Weiterhin enthalten die
Richtlinien wichtige Berichtspunkte
wie den Einbezug traditionellen und
indigenen Wissens oder Genderresponsive
Anpassungsmaßnahmen.
Wichtig ist auch, dass der Fokus auf zukünftigen
Anpassungsbedarfen liegt,
auch wenn man im Bericht über die
Anpassung auch über Erreichtes informieren
kann. Um zukünftige Bedarfe
und Lücken erkennen und angehen
zu können, ist der Blick nach vorn
jedoch unerlässlich. Zu bemängeln ist,
dass ärmeren Ländern keine direkte
Unterstützung der Erstellung der Berichte
zugesagt wurde. Diese Lücke zu
schließen ist nun auch Aufgabe bilateraler
Unterstützung.
Regelmäßige Runden zur Überprüfung
und Verschärfung der Ziele
In Paris wurde vereinbart, alle fünf
Jahre zu überprüfen, wie weit die
Weltgemeinschaft in der Erreichung
der globalen Ziele des Paris-Abkommens
gekommen ist und inwiefern
die nationalen Beiträge nachgeschärft
werden müssen. Die sogenannte globale
Bestandsaufnahme (engl. global
stocktake, GST) ist das Kernstück
dieses Ambitionsmechanismus im
Pariser Klimaabkommen. Sie hat zum
Ziel, eine gemeinsame Bewertung der
bisherigen globalen Maßnahmen zu
Klimaschutz, Anpassung und Unterstützung
im Lichte der Paris-Ziele zur
Begrenzung des Temperaturanstiegs,
zu Resilienz und der Ausrichtung
der Finanzflüsse, zu überprüfen. Die
globale Bestandsaufnahme wurde in
Kattowitz mit ausreichend robusten
Regeln ausgestattet: Sie wird die kollektiven
Bemühungen der internationalen
Staatengemeinschaft unter
Berücksichtigung von Gerechtigkeit
überprüfen und erlaubt auch eine
(eingeschränkte) Rolle für nichtstaatliche
Akteure.
Klimafinanzierung
Die Beschlüsse zur Klimafinanzierung
sind in der Summe eher als
gut zu bewerten. Zentral sind die
oben genannten Vereinbarungen zur
Transparenz der Klimafinanzierung.
Außerdem wurde die Zukunft des Anpassungsfonds
unter dem Paris-Abkommen
durch einen Beschluss in
Kattowitz gesichert. Der Fonds soll
zukünftig über eine Abgabe auf den
internationalen Emissionshandel sowie
öffentliche und private Quellen
gespeist werden. Auch für die Festlegung
eines neuen langfristigen Ziels
für Klimafinanzierung ab 2025 konnte
ein Prozess eingerichtet werden,
der 2020 beginnt. Dabei muss nun
sichergestellt werden, dass das Ziel
durch konkrete Unterziele so präzise
wie möglich festgelegt wird, um möglichen
Interpretationsspielraum zu
minimieren.
Auf der ersten Weltklimakonferenz
in Genf warnen
Forscher vor den negativen
Folgen von Treibhausgasen
in der Atmosphäre.
Die EU und weitere 23 Industriestaaten
beschließen das
Kyoto-Protokoll, das einzige
rechtlich bindende Abkommen zur
Begrenzung der Emissionen.
Weil nun alle Voraussetzungen
erfüllt sind, tritt das Kyoto-Protokoll
in Kraft und die EU führt ein
Handelssystem für CO 2
-Emissionsberechtigungen
ein.
1979 1997
1992 2001
155 Staaten unterzeichnen in
Rio de Janeiro die Klimarahmenkonvention
zur Stabilisierung der
Treibhausgase.
2005
Mit den „Marrakesh Accords“ dürfen
die Unterzeichner auch Wälder als
Ausgleich für Emissionen angeben;
Industriestaaten ist es erlaubt,
Emissionsausgleichsprojekte im
Ausland geltend zu machen.
64 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
Darüber hinaus wurden dem Finanzausschuss der Klimarahmenkonvention
wichtige Arbeitsmandate gegeben, deren
Ergebnisse für die weitere Debatte, auch im Rahmen der globalen
Bestandsaufnahme, als wichtiger Input dienen können.
Dazu gehörten ein regelmäßiger Bericht zur Ermittlung
der Bedürfnisse von Entwicklungsländern zur Umsetzung
des Paris-Abkommens sowie eine regelmäßige Bestandsanalyse
darüber, wie globale Finanzflüsse umgelenkt werden.
Die Regeln und Institutionen zur Klimafinanzierung wurden
gestärkt – aber jetzt ist auch mehr Geld notwendig. Für
den Anpassungsfonds wurden auf der COP24 über 129 Millionen
US-Dollar zugesagt, das ist ein neuer Rekord. Da es
sich dabei aber um einmalige freiwillige Beiträge handelt,
wird es in den nächsten Jahren darauf ankommen, dem
Anpassungsfonds stabilere Finanzquellen zu sichern. 2019
steht außerdem die Wiederauffüllung des Grünen Klimafonds
(Green Climate Fund, GCF) an. Mit Ankündigungen
zur Verdopplung der Beiträge für den Grünen Klimafonds
haben Deutschland und Norwegen vorgelegt; auch die anderen
reichen Länder müssen kommendes Jahr ihre Beiträge
verdoppeln.
Umgang mit klimabedingten Schäden und Verlusten
Das Thema klimabedingte Schäden und Verluste konnte
unter der globalen Bestandsaufnahme verankert werden –
dies ist eine klare Aufwertung gegenüber Texten, die hierzu
zwischenzeitlich auf der COP24 vorlagen. Dies ist ein
richtiger Schritt, der widerspiegelt, dass die Wichtigkeit
des Themas – also wie mit Schäden und Verlusten durch
den Klimawandel, die nicht verhindert werden können, umgegangen
wird – durch einen eigenen Artikel im Paris-Abkommen
anerkannt wurde. Allerdings ist immer noch kein
Prozess vorgesehen, der klärt, wie die Finanzierung für
klimabedingte Schäden und Verluste sichergestellt werden
kann. Damit reichen die Beschlüsse von Kattowitz insgesamt
nicht, um die am stärksten vom Klimawandel Betroffenen
zu schützen. Sie leiden heute schon unter den Folgen
von Extremwetterereignissen wie Stürmen oder Dürren,
die durch den Klimawandel intensiver und häufiger werden.
In Zukunft wird aber auch der Umgang mit langsam
einsetzenden Ereignissen, wie dem Anstieg des Meeresspiegels
oder die Versalzung der Böden, zunehmend wichtig.
Oftmals sind es die Ärmsten, die am meisten verletzlich
gegen die Auswirkungen dieser Ereignisse sind und deshalb
unbedingt Unterstützung benötigen.
Marktmechanismen
Im Artikel 6 des Paris-Abkommens sind Mechanismen
für den internationalen Emissionshandel vorgesehen, mit
denen Länder sich Klimaschutzmaßnahmen in anderen
Ländern auf eigene Klimaziele anrechnen lassen können.
Wenn hierbei keine Vorsorge gegen doppelte Anrechnung
getroffen wird, können dadurch große Schlupflöcher entstehen,
die die Integrität des gesamten Paris-Abkommens
bedrohen würden. Insbesondere Brasilien hat bis in die
letzten Stunden der Konferenz erbitterten Widerstand gegen
Regeln geleistet, die solche Doppelanrechnung ausschließen
sollen – sowohl in den Umsetzungsregeln zum
Artikel 6 als auch im Transparenzrahmenwerk. Im Ergebnis
wurden alle Entscheidungen zu Marktmechanismen
auf die Konferenz im kommenden Jahr (COP25) vertagt.
Es ist sehr zu begrüßen, dass die anderen Länder hier dem
brasilianischen Druck nicht nachgegeben haben. Marktmechanismen
sind hochkomplex und können ohne stringente
Regeln mehr Schaden als Nutzen anrichten. Dass die
VerhandlerIinnen sich hier ein weiteres Jahr gegeben haben,
um diese Regeln zu entwickeln, ist richtig. f
Im Original erschienen auf Germanwatch.org
Die Teilnehmerstaaten
beschließen in Cancún auf der
COP 16, die Erderwärmung auf
zwei Grad begrenzen zu wollen.
US-Präsident Donald Trump gibt
bekannt, dass die USA aus dem
Pariser Abkommen aussteigen.
2009
2010
2015
2017
2018
Aufgrund der Weigerung vieler
Staaten scheitert der „Copenhagen
Accord“ als Nachfolgevertrag
für das Kyoto-Protokoll.
Mit dem Pariser Klimaabkommen
(COP 21) verpflichten sich 195
Staaten dazu, die Erderwärmung
auf deutlich unter zwei Grad,
möglichst auf 1,5 Grad, zu begrenzen.
In Kattowitz einigt man sich
nach langen Verhandlungen
auf Regeln zur Umsetzung der
Pariser Klimaziele.
Quellen: Bundeszentrale für politische Bildung, Greenpeace, FAZ
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
65
Klimawandel
Foto: adrenalinapura / stock.adobe.com
Im Bundeskabinett stimmt nicht
nur das Betriebsklima nicht
Deutschland will bis zur zweiten Hälfte dieses
Jahrhunderts weitgehend treibhausgasneutral sein –
das ist das ambitionierte Ziel der Bundesregierung, das sie
im Klimaschutzplan 2050 formuliert hat. Doch der Weg dahin
ist umstritten. Die Einhaltung der Klimaschutzziele sorgt derzeit
für erhitzte Gemüter in Berlin. Bundesumweltministerin
Svenja Schulze legte im Februar ihren Entwurf für ein
Klimaschutzgesetz im Bundestag vor – und entfachte
so die nächste Runde im Koalitionskampf.
Von Julia Arendt
Bundeskanzlerin Angela Merkel bezog
zu dem Thema klar Stellung: Sie
halte an der Verabschiedung eines
Klimaschutzgesetzes für die Etappenziele
bis 2030 (55 Prozent weniger
Treibhausgase gegenüber 1990) noch
in diesem Jahr fest. „Ich erinnere an
den Koalitionsvertrag, in dem wir gemeinsam
festgelegt haben, dass die
Bundesregierung in diesem Jahr gesetzliche
Regelungen verabschieden
will, um die Einhaltung der Klimaschutzziele
2030 zu gewährleisten“,
betont dazu Steffen Seibert, Sprecher
der Kanzlerin, gegenüber n-tv.
Die Bundesumweltministerin Svenja
Schulze erhielt bisweilen viel Kritik,
zu untätig in puncto Klimaschutz zu
sein. Im Februar machte sie ernst
und legte ihren Entwurf für ein Klimaschutzgesetz
vor. Kern des Dokuments:
Der Ausstoß von Treibhausgasen
soll bis 2050 um mindestens
95 Prozent im Vergleich zu 1990
gesenkt werden. Dem Papier zufolge
sollen für die einzelnen Sektoren
zunächst für die Jahre bis 2030 verbindliche
Emissionshöchstmengen
festgelegt werden. Laut Angaben der
Südwest Presse sollen zum Beispiel
die Emissionen im Verkehrsbereich
von 170 Millionen auf 95 Millionen
Tonnen reduziert werden. Entsprechende
Vorgaben gibt es auch für die
Energiewirtschaft, Industrie, Gebäude,
Landwirtschaft und Abfallwirtschaft.
Wie genau die Vorgaben umgesetzt
werden, sollen die Ressorts
selbst entscheiden. „Wir brauchen einen
verlässlichen Rahmen für Klimaschutz
in Deutschland. Erneute Zielverfehlungen
können wir uns weder
politisch noch finanziell leisten“, twitterte
die Bundesumweltministerin am
20. Februar 2019. „Deshalb habe ich
einen Entwurf für ein Klimaschutzgesetz
vorgelegt, den wir jetzt innerhalb
der Bundesregierung konstruktiv diskutieren.“
66 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
Von konstruktiver Kritik kann bei der Reaktion ihrer Koalitionspartner
jedoch nicht die Rede sein. Bundeswirtschaftsminister
Peter Altmaier griff Schulze gegenüber der
Bild-Zeitung hart an: „Das einseitige Vorgehen dient weder
dem Klimaschutz, noch dem Erhalt von Arbeitsplätzen in
Deutschland.“ Auch die stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende
Gitta Connemann kritisiert laut der Berliner
Zeitung Schulzes Vorgehen. Der Klimaschutz sei „zu wichtig
für Alleingänge und Effekthascherei einer Ministerin.“
Ökonomen schlagen CO 2
-Preisreform vor
Christoph Schmidt, Vorsitzender der Wirtschaftsweisen vom RWI Essen
und Ottmar Edenhofer, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung
(PIK) sowie des Mercator Research Institute for Global Commons
and Climate Change (MCC), haben Ende 2018 Eckpunkte für einen
marktwirtschaftlichen Weg raus aus der Kohle entworfen. Der Ausstoß
von klimaschädlichem CO 2
soll teurer werden, zugleich aber die Stromsteuer
billiger. Ein sozial gerechter und effizienter Übergang zu nachhaltigem
Wirtschaften ist möglich, so die Professoren. „Wir wollen die
Steuerlast nicht erhöhen, sondern nur anders verteilen“, sagte Ottmar
Edenhofer gegenüber dem SPIEGEL. „Heute besteuern wir zum Beispiel
das vergleichsweise weniger klimaschädliche Erdgas viel höher als
Heizöl. Mit solchem Unfug wollen wir Schluss machen und künftig alle
Energieträger einheitlich nach ihrem CO 2
-Gehalt mit Abgaben belegen.
Und noch etwas gehört zu unserem Konzept: Was der Staat zusätzlich
einnimmt, gibt er eins zu eins wieder an Wirtschaft und Verbraucher zurück.“
Dabei setzen die beiden Ökonomen darauf, dass Deutschland den
Klimaplan gemeinsam mit einer Pionier-Koalition anderer europäischer
Länder umsetzen könnte – insbesondere Frankreich setzt sich stark
für eine wirksame CO 2
-Bepreisung ein, aber auch die Niederlande und
skandinavische Länder haben das Thema erkannt.
Sie wirft der Ministerin außerdem Planwirtschaft und Aktionismus
vor.
Rückendeckung erfährt die Politikerin aus den eigenen
Reihen. SPD-Fraktionsvize Matthias Miersch wies Altmaiers
Kritik zurück: „Wenn Wirtschaftsminister Altmaier der
Umweltministerin Schulze einseitiges Verhalten vorwirft,
ist das ein Witz“, sagte er laut der Berliner Zeitung. Die
Umweltministerin wolle genau das nicht, sondern strebe
vielmehr die Verantwortung aller zuständigen
Minister an. Auch Carsten
Träger, umweltpolitischer Sprecher
der SPD-Fraktion, unterstützt Schulze.
Deutschland könne bereits jetzt die
Klimaziele 2020 nicht erreichen, so
Träger gegenüber der Südwest Presse.
„Es ist klar, dass wir jetzt große
Schritte gehen müssen, um die Lücke
zu schließen“, betonte er und warnte
davor, dass Deutschland andernfalls
Strafzahlungen in Milliardenhöhe an
die Europäische Union zahlen müsse.
Als Orientierung für ein Klimaschutzgesetz
gilt der Abschlussbericht der
Kommission für Wachstum, Strukturwandel
und Beschäftigung, kurz Kohlekommission.
Die Bundesregierung
setzte diese im Juni 2018 selbst ein,
um im Rahmen der Klimakrise einen
Vorschlag für den Kohleausstieg zu
erarbeiten. Dieser soll den Klimaschutz,
das Wirtschaftswachstum
und den Arbeitsplatzschutz berücksichtigen.
Ein Staatsfonds für den Klimaschutz
Anlässlich der vergangenen Klimakonferenz in Kattowitz hat u.a.
Prof. Hans Joachim Schellnhuber, ehemaliger Leiter des Potsdam-
Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), die Gründung eines Klimaschutz-Staatsfonds
vorgeschlagen. Dieser solle mit einem Volumen von
bis zu 0,6 Billionen Euro ausgestattet werden, wie die Frankfurter
Allgemeine Sonntagszeitung berichtet hat. Das Geld dafür solle aus
höheren Abgaben auf CO 2
-Emissionen sowie aus einer höheren
Erbschaftsteuer gespeist werden. Ziel: Während ein Teil des Geldes
an die Haushalte durch eine geringere Mehrwertsteuer zurückfließen
solle, könne der Rest dann beispielsweise direkt in Infrastrukturprojekte
fließen oder in den Staatsfonds. Dieser könne dann nach festgelegten
Kriterien in Unternehmen investieren, die einen Nutzen für Klimaschutz
und Energiewende bringen.
Das 28-köpfige Gremium, in dem Vertreter
aus Industrie, Gewerkschaften,
Umweltverbänden und Wissenschaft
sitzen, stellte Ende Januar seinen
Abschlussbericht vor. Laut EURAC-
TIV Deutschland einigten sich die
Mitglieder unter anderem auf einen
Kohleausstieg bis spätestens zum
Jahr 2038 und einen Strukturwandel
in den Kohleländern Nordrhein-Westfalen,
Brandenburg, Sachsen und
Sachsen-Anhalt. Diese sollen Unterstützung
beim Umbau ihrer Industrie
erhalten. Der Bericht der Kohlekommission
dient lediglich als Vorschlag
für die Bundesregierung, ein Gesetz
für den Kohleausstieg zu erlassen.
Verpflichtend sind die Angaben des
Berichts nicht. f
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
67
Klimawandel
Priorität für Wachstum
oder Klimaschutz?
Vor dem Hintergrund der
alarmierenden Ergebnisse der
Klimaforschung ist klar: „Wir
müssen das menschliche
Handeln in eine neue Richtung
lenken, von der Ausbeutung
zu einem verantwortungsvollen
Umgang mit dem
Erdsystem“, so Will Steffen
vom Stockholm Resilienz
Center.
Von Prof. Dr. Angelika Zahrnt,
Ehrenvorsitzende des BUND
Aber wie sehen die Klimaschutzszenarien
des IPCC-Sonderberichts
aus? Und hier setzt bei aller Wertschätzung
der Klimaforschung des
IPCC (Weltklimarat) unsere kritische
Auseinandersetzung an: denn die
Klimaszenarien werden verbunden
mit fünf sozioökonomischen Entwicklungsszenarien
(Shared Socio-economic
Pathways). Diese Entwicklungsszenarien,
die auf ökonomischen
Modellen beruhen, gehen alle von der
Annahme aus, dass es weltweit weiteres
Wirtschaftswachstum geben wird
bis zum Jahr 2100, weil der Wohlstand
– verstanden als Konsum pro
Kopf – gesteigert werden soll. Unter
dieser Annahme kann ein zumindest
temporärer Überschuss – eine Überschreitung
der kritischen Schwellen
des CO 2
- Ausstoßes – nicht verhindert
werden. Deshalb braucht es Technologien,
die geeignet erscheinen, die – zu
vielen – Emissionen der Erdatmosphäre
wieder zu entziehen. Dabei stehen
derzeit im Mittelpunkt BECCS (Bioenergy
with Carbon Capture and Storage),
der Anbau von Biomasse und die
folgende Verbrennung der Biomasse
mit Abscheidung des CO 2
und danach
die Speicherung des CO 2
.
Diese sozio-ökonomischen Szenarien
gehen von weiterem Wirtschaftswachstum
aus, auch das sogenannte
Sustainability-Szenario, das für
2010-2100 in den Industriestaaten
eine durchschnittliche Wachstumsrate
von 1,0-1,4 Prozent annimmt
und weltweit eine Wachstumsrate
von 2,1-2,2 Prozent. Aber wie steht
es mit dem Verhältnis von Wirtschaftswachstum
und Klimaschutz,
68 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
Bild: pict rider / stock.adobe.com
mit der Vereinbarkeit von Wirtschaftswachstum und
Klimaschutz? Welche Erfahrungen gibt es, seitdem Klimaschutz
seit der Rio-Konferenz 1992 und den Klimavereinbarungen
von Kyoto ein herausragendes politisches
Ziel der Staatengemeinschaft wurde? Es gibt weltweites
Wachstum und weltweit steigende CO 2
Emissionen, und
auch in den Industriestaaten ist die absolute Entkoppelung,
d.h. weniger CO 2
-Emissionen bei steigender Wirtschaftsleistung,
nicht gelungen. In den Industriestaaten
kommt hinzu, dass sie im Zuge der Globalisierung mit der
Verlagerung ihrer Produktion in Länder des Südens und
dem Import von Konsumgütern ihre CO 2
-Emissionen ins
Ausland verlagern.
Rebound-Effekt macht Erfolge zunichte
Die Hoffnung, über Energieeffizienz und über eine Green
Economy auch bei Wirtschaftswachstum die nötigen
CO 2
-Reduktionen und nationalen Klimaziele zu erreichen,
haben sich auch wegen des Rebound-Effekts nicht erfüllt.
Die Bundesregierung hat ihre Klimaziele für 2030, weil sie
absehbar nicht erreicht werden würden, von 40 Prozent auf
35 Prozent reduziert.
Deutschland ist in der europäischen Klimapolitik vom Vorreiter
zum Mitläufer und jetzt zum Hauptbremser geworden
– wie beim EU-Gipfel im Oktober 2018 zur Reduzierung
der CO 2
-Emissionen bei Automobilen. Und warum?
Weil im Automobilland Deutschland die Autoindustrie mit
dem Verlust von Arbeitsplätzen gedroht hat und die Bundesregierung
Wachstumseinbußen befürchtete. „Auch der
Klimaschutz steht unter Wachstumsvorbehalt“, so prägnant
hat es der frühere Wirtschaftsminister Clement bei
der Entscheidung über die Einführung des Emissionshandels
formuliert, worauf dieses Instrument so durchlöchert
wurde, dass es – wie beabsichtigt – wirkungslos wurde.
Klimaschutzmaßnahmen und Wirtschaftswachstum können
miteinander vereinbar sein, wie beim Ausbau der
erneuerbaren Energien, aber Klimaschutz darf nicht vom
Wachstum abhängig sein. Die planetaren Grenzen sind
auch unsere menschlichen Grenzen, und Wirtschaft und
Gesellschaft müssen so organisiert werden, dass diese
Grenzen eingehalten werden – auch wenn das Änderungen
in unserem Wirtschaftssystem und eine Abkehr vom
Wachstumsparadigma bedeutet. Wir brauchen eine Postwachstumsgesellschaft,
in der Wirtschaft und Gesellschaft
auch ohne Wachstum funktionieren. >>
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
69
Klimawandel
Konsumsteigerung versus Suffizienz
Die seit den „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome
1972 immer wieder aufkommende Debatte lässt sich nicht
mit neuen Wortschöpfungen entschärfen oder gar lösen,
mit qualitativem Wachstum, mit grünem Wachstum oder
auch nachhaltigem Wachstum – wie das auch in den Sustainable
Development Goals oder jetzt in dem Nachhaltigkeitsszenario
des IPCC angenommen wird. Die Auseinandersetzung
mit dem Paradigma Wirtschaftswachstum und
unserer derzeitigen tatsächlichen Abhängigkeit des Wirtschafts-
und Gesellschaftssystems vom Wirtschaftswachstum
ist zentral für die Klimapolitik.
Dies ist auch meine persönliche Erfahrung. Als Misereor
und der BUND in die Mitte der Neunzigerjahre als deutsche
Übersetzung der Agenda 21 von Rio die Studie „Zukunftsfähiges
Deutschland“ veröffentlichten, mit den gleichen weitreichenden
Reduktionszielen für CO 2
und Rohstoffe, wie
sie heute gefordert werden, gab es kein extra Kapitel zum
Thema Wachstum, sondern die Aussage: Die ökologischen
Grenzen, damals Umweltraum genannt, seien die Grenzen
für die wirtschaftliche Entwicklung. Wachstumsraten seien
ein Ergebnis wirtschaftlicher Aktivität und kein eigenständiges
Ziel. Wir waren damals überzeugt, dass die Weltgemeinschaft
die Brisanz der Klimaentwicklung erkannt
hätte und klimapolitisches Handeln Priorität hätten. Das
war ein Irrtum – und diesen dürfen wir nicht wiederholen.
Die Debatte um Wirtschaftswachstum muss offensiv in die
Debatte um Klimaschutzpolitik eingeführt werden. Denn in
den Klimaschutzszenarien werden Wachstumsraten angenommen,
die zu so hohen Treibhausgasemissionen führen,
dass das 1,5-Grad-Ziel überschritten würde.
Die Integrated Assessment Modelle arbeiten mit Nutzenund
Wohlfahrtsfunktionen, die das Ziel haben, den materiellen
Wohlstand zu maximieren. Der Gesamtnutzen ergibt
sich dabei aus dem Konsum pro Kopf multipliziert mit der
Anzahl der Menschen. Dabei erhöhen – wegen der logarithmischen
Funktion – Konsumzugewinne in armen Ländern
den Gesamtnutzen stärker als Konsumzugewinne in reichen
Ländern.
Foto: gustavofrazao / stock.adobe.com
Das Dilemma ist: Die Konsumsteigerung ist das Ziel, aber
gleichzeitig sind wirtschaftliche Aktivitäten und Konsum
der Hauptmotor für Treibhausgasemissionen.
Dies Dilemma soll nach dem IPCC-Sonderbericht durch
folgende Strategien gelöst werden:
1. Effizienz,
2. andere Formen der Energiebereitstellung,
3. Technologien für negative Emissionen, d.h. Technologien,
die CO 2
-Emissionen wieder aus der Atmosphäre
zurückholen und unwirksam werden lassen.
Welche Optionen dabei zum Einsatz kommen, wird nach
Grenzvermeidungskosten entschieden (gesamtwirtschaftliche
Kosten pro eingesparter Tonne CO 2
). Dabei werden
die gesellschaftlichen und Umweltkosten der Maßnahmen
nicht berücksichtigt.
Eine gesellschaftliche Debatte über die Annahmen dieser
ökonomischen Modelle, die die Höhe der angenommenen
C0 2
-Emissionen zentral bestimmen, findet nicht statt. Die
Debatte wird sich absehbar an den Auswirkungen der
Technologien für negative Emissionen entzünden.
So halten wir von Friends of the Earth die Risiken von BEC-
CS (das in allen Szenarien vorgesehen ist) für zu hoch:
1. Für die zu eliminierenden Mengen an CO 2
sind riesige
Flächen Land nötig, ca. ein Drittel der aktuellen
Anbaufläche weltweit, und es besteht daher die Gefahr
weiterer Waldrodungen für den Anbau von Biomasse.
2. Der Anbau von Biomasse erfolgt in Monokulturen mit
einem hohen Einsatz von Pestiziden und gefährdet
die Biodiversität.
3. Die Risiken der Speicherung von CO 2
sind zu hoch.
Ist das 1,5-Grad-Ziel noch zu schaffen?
Erreichen wir das 1,5-Grad-Ziel nicht, drohen dramatische
Konsequenzen. Das ist ein Ergebnis des IPCC-Sonderberichts
von Oktober 2018, der die Grundlage für die
Klimakonferenz in Kattowitz war. Grundsätzlich sei das Ziel
noch machbar. Dafür müsse allerdings der CO 2
-Ausstoß ab
Quelle: br.de/klimawandel/weltklimabericht-weltklimarat-ipccklimawandel-100.html
70 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
Wir halten deshalb den Ansatz für
falsch, bei Rückholtechniken für die
Emissionen anzusetzen, sondern setzen
darauf, die Entstehung von CO 2
zu
verringern, nicht nur über Effizienz
und alternative Energiebereitstellung,
sondern auch über Suffizienz. Aber
diese Option zur Reduzierung der
Treibhausgasemissionen wird überhaupt
nicht angesprochen – über Verhaltensänderungen
in Konsum und
Lebensstilen die Emissionen zu verringern,
z. B. in den Bereichen Ernährung/insb.
Fleischkonsum, Verkehr/
Sharing-Modelle, Flugverkehr, Regionalisierung.
Effizienzmaßnahmen und neue Energieformen
sind wichtig, aber ohne
Suffizienzmaßnahmen wird das Klimaziel
1,5 Grad nicht zu erreichen
sein. Um Suffizienz im nötigen Umfang
wirksam werden zu lassen, brauchen
wir fördernde Suffizienzpolitik.
Wirksame Suffizienz steht allerdings
im Konflikt mit Konsumsteigerung.
Der IPCC-Bericht selbst fordert einen
Systemwechsel, „a completely new
paradigm“. Systemwechsel bedeutet
nach unserer Einschätzung den Abschied
von der gegenwärtigen Priorität
für Wirtschaftswachstum und das
Ziel einer Postwachstumsgesellschaft,
in der nicht mehr die Steigerung der
materiellen Güter im Mittelpunkt
steht, sondern ein gutes Leben – weltweit
und für künftige Generationen. f
Im Original erschienen auf
postwachstum.de
2020 sinken, spätestens 2050 bei null
sein. Drastische Maßnahmen seien
nötig. Alleine für den Umbau des
Energiesektors schätzt der IPCC die
Kosten bis 2035 auf ca. 2,1 Billionen
Euro. Die Folgen der Klimaerwärmung
wären allerdings deutlich teurer.
Frau Prof. Zahrnt, um das Klima zu schützen, fordern Sie eine
Postwachstumsgesellschaft, in der Wirtschaft und Gesellschaft
ohne Wachstum funktionieren. Wie soll das gehen?
Die Fakten zeigen: Die „Entkoppelung“ funktioniert nicht, d.h. Effizienzsteigerungen
reichen nicht aus, um die Reduktionsziele zu erreichen, die für
1,5-2-Grad erforderlich sind. Daher sind die Klimaschutzziele bei einem
weiteren Wachstum der Produktion (BIP) nicht erreichbar, da es zu einem
„overshoot“ kommt, einem zu hohen Ausstoß von Treibhausgasen. Wachstum
ist nicht Teil der Problemlösung, sondern Teil des Problems. Daher ist
es höchste Zeit, dass sich Wirtschaftswissenschaft und Gesellschaft mit der
Transformation unserer Wirtschaft befassen – hin zu einer Wirtschaft, die auch
ohne Wachstum funktioniert, zu einer Postwachstumsgesellschaft. Dazu gibt
es Konzepte und im kleinen Rahmen auch Beispiele in der Praxis. Sowohl die
Forschung als auch der gesellschaftliche Diskurs dazu müssen aber dringend
verstärkt werden. Das aufziehende Postwachstumszeitalter wird mit massivem
Strukturwandel (Beispiele Kohle, Auto-Industrie) und mit zunehmenden Verteilungskonflikten
verbunden sein, die – am besten vorausschauend und proaktiv
– aufgearbeitet werden müssen.
In diesem Zusammenhang kritisieren Sie auch die SDGs, die ein nachhaltiges
Wachstum postulieren. Können die SDGs Klimaschutzzielen dennoch dienlich sein?
In SDG 8 wird Wachstum vor allem im Hinblick auf die Entwicklungsländer
gefordert. Das darf nicht auf die reichen Industriestaaten übertragen werden.
Zum Klimaschutz verweist SDG 13 ja auf das Paris-Abkommen, und damit haben
wir die Verbindung in den SDGs zu einem globalen Abkommen mit ambitionierten
Klimaschutzzielen. Das verpflichtet Alt-Industrieländer wie Deutschland
mit weitgehend ausgeschöpftem „Carbon Budget“ (d.h. dem Deutschland
zustehenden Anteil am globalen Kohlenstoffbudget) zur Dekarbonisierung bis
spätestens 2040. Erst wenn neben den Klimazielen auch andere ökologische
und soziale Zielvorgaben eingehalten werden, könnte von „nachhaltigem
Wachstum“ die Rede sein. Ob es unter ökologischen und sozialen Restriktionen
aber noch zu Wachstum kommt, erscheint fraglich. Besser wir bereiten uns auf
die Postwachstumsgesellschaft vor.
Sie wollen Treibhausgasemissionen durch Suffizienz reduzieren. Das betrifft vor
allem den privaten Konsum. Wie wollen Sie davon die Verbraucher überzeugen?
Ohne Wachstum werden auch die Einkommen nicht mehr steigen – und auch
nicht der Konsum. Zusätzlich kann jede(r) das Konsumverhalten ändern, z.B.
beim Fleischverbrauch, SUV oder bei Fernreisen. Die Änderung des Konsumverhaltens
ist aber nicht allein Aufgabe der KonsumentInnen, sondern vor allem
Aufgabe der Politik: Überzeugen durch Information („aufgeklärte Präferenzen“)
– aber auch durch Ordnungsrecht (Tempolimit) und durch Preise: Umweltschädliches
muss teurer werden, Mehreinnahmen können durch Öko-Steuern in
Form eines Öko-Bonus zurückgegeben werden. Wenn Fleisch teurer wird (durch
Vorschriften für artgerechte Tierhaltung) und wenn fossile Brennstoffe höher
besteuert werden, dann ändert sich auch das Verbraucherverhalten. Insgesamt
geht es auch im privaten Konsum um technische Veränderungen
(Innovationen und Effizienz) und Veränderungen
im Verbraucherverhalten (durch andere und weniger Produkte,
durch sparsame und gemeinsame Nutzung). Nur in
Kombination von Effizienz und Suffizienz sind die Reduktionsziele
im privaten Konsum bis 2040 erreichbar.
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
71
Klimawandel
Klimapolitik
Bild: Anterovium / stock.adobe.com
per Zertifikatekauf?
Von Dr. Alexander Fink und
Kalle Kappner
Bis 2020 sollte in Deutschland
der Ausstoß klimaschädlicher
Gase um 40 Prozent gegenüber
1990 sinken, so der 2007 beschlossene
Plan von Kanzlerin
Merkel. Nachdem sich in den
letzten Jahren abzeichnete,
dass dieses Ziel deutlich verfehlt
wird, erklärte die schwarz-rote
Bundesregierung den Klimaplan
Anfang 2018 für gescheitert.
72 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
Umweltpolitiker und Interessengruppen schlugen Alarm.
Vielleicht sei das ursprüngliche Einsparungsziel tatsächlich
nicht mehr zu halten, aber das könne nur bedeuten,
dass künftig noch mehr Anstrengungen für den Klimaschutz
zu unternehmen seien – durch neue Subventionen,
einen schnelleren Kohleausstieg und gesetzliche Anreize
zur Emissionsminderung.
Ein naheliegender Alternativvorschlag findet in der Diskussion
dagegen wenig Gehör: Über das EU-weite Emissionshandelssystem
ETS kann die Bundesregierung Verschmutzungsrechte
erwerben. Lässt sie diese ungenutzt,
trägt sie effektiv zum Klimaschutz bei, da die Gesamtmenge
der Verschmutzungsrechte limitiert ist.
Deutschlands Emissionsziele
Es gibt drei wesentliche staatliche Mechanismen zur Emissionsreduzierung:
➊ Über das Emissionshandelssystem ETS wird der Ausstoß
klimaschädlicher Gase in rund 45 Prozent der
EU-weiten Emissionsquellen reguliert. In jeder mehrjährigen
Handelsperiode stellt die EU eine fixe Menge
an zum Ausstoß klimaschädlicher Gase berechtigenden
Zertifikaten bereit. Alle partizipierenden Unternehmen
müssen anschließend eine ihren Emissionen entsprechende
Menge an Zertifikaten vorweisen, die sie teils
unentgeltlich erhalten, teils per Auktion ersteigern
müssen. Über die Menge der in jeder Handelsperiode
ausgegebenen Verschmutzungsrechte gibt die EU das
Tempo der Emissionssenkungen in Europa – und damit
auch in Deutschland – vor.
➋ Für die nicht im ETS integrierten Emissionsquellen –
im Wesentlichen Verkehr, Gebäudeenergie und Landwirtschaft
– gibt die EU im Rahmen der Lastenteilungsentscheidung
länderspezifische Einsparziele vor. So
soll Deutschland seine Emissionen in diesen Bereichen
zwischen 2005 und 2020 um 14 Prozent senken – ein
Ziel, das zunehmend unrealistisch erscheint.
➌ Darüber hinaus gibt sich die Bundesregierung Selbstverpflichtungsziele,
aktuell etwa im Klimaschutzplan
2050. Frühere Ziele wie die sogenannten Meseberger
Beschlüsse konnten nicht eingehalten werden. Ein
wichtiger Grund für das Scheitern ist die unerwartet
gute Konjunktur der letzten Jahre, die zu höheren Emissionen
geführt hat.
Konventionelle Klimapolitik: Ineffizient und
inflexibel
Vor diesem Hintergrund wird der Ruf nach zusätzlichen
Subventionen und gesetzlichen Anreizen zur Emissionsreduktion
wieder lauter. Doch Subventionen haben unerwünschte
Umverteilungseffekte und sind teuer: Zu den
direkt für die Steuerzahler anfallenden Kosten kommen
indirekte durch Marktverzerrung entstehende Kosten hinzu.
So zahlen deutsche Stromkunden schon heute auch
aufgrund der EEG-Umlage europaweit mit die höchsten
Strompreise.
Subventionsgetriebene Klimapolitik ist nicht nur teuer,
sondern auch inflexibel. So ist etwa eine 2018 ersonnene
Subvention aufgrund langwieriger Gesetzgebungsverfahren
kaum in der Lage, Emissionen schon zwei Jahre später
effektiv zu senken. Einmal eingeführt, ist es allerdings
schwer, eine Subvention wieder abzuschaffen, wenn ihre
ursprüngliche Begründung längst weggefallen ist.
Ein weiteres Problem entsteht aus der Interaktion zwischen
nationaler Klimapolitik und EU-weitem Emissionshandel:
Da die in jeder Handelsperiode zur Verfügung stehende
Menge an Verschmutzungsrechten EU-weit fixiert ist,
führt jede aufgrund einer Subvention in Deutschland eingesparte
Tonne lediglich zur Emission einer zusätzlichen
Tonne in einem anderen europäischen Land – jedenfalls in
den knapp 45 Prozent der Emissionen umfassenden Sektoren,
die derzeit im ETS integriert sind. Zwar verpuffen
Subventionen so nicht gänzlich, doch ihr Einsparpotenzial
wird damit relativ zu den durch sie verursachten Kosten
eingeschränkt. >>
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
73
Klimawandel
Ein unmoralischer Ablasshandel?
Alternative: Regierung kauft
Verschmutzungsrechte
Als Alternative zur teuren und inflexiblen
Subventionspolitik bietet sich
die Beteiligung der Bundesregierung
am europäischen Emissionshandel
an. Kauft die Bundesregierung Unternehmen
Zertifikate ab und lässt diese
anschließend ungenutzt verfallen,
entspricht dies einer durch die deutschen
Steuerzahler finanzierten Reduktion
der weltweiten Emissionen.
Auch zertifikatebasierte Klimapolitik
ist nicht billig. Das Recht zur Emission
einer Tonne CO 2
kostet im ETS derzeit
rund 16 Euro (Stand Juni 2018).
Würde die Bundesregierung eine
Großorder aufgeben, so würde dieser
Preis steigen. Im Vergleich zur konventionellen
Klimapolitik verspräche
eine zertifikatebasierte Klimapolitik
den Steuerzahlern dennoch substantielle
Entlastungen, da die Verzerrungskosten
herkömmlicher Subventionen
vermieden würden. In europaweiter
Perspektive würde zudem dafür gesorgt,
dass die Einsparungen effizient
vorgenommen werden.
Einsparungsziele durch Zertifikatekauf
realisierbar
Auch das 2007 formulierte Ziel,
Deutschlands Emissionen bis 2020
relativ zu 1990 um 40 Prozent zu
senken, könnte mittels eines entsprechenden
Zertifikatkaufs erreicht
werden. 2017 wurden in Deutschland
etwa 904,7 Millionen Tonnen
Treibhausgase freigesetzt. Um die
Differenz zu den ab 2020 nur noch
erlaubten 751 Millionen Tonnen zu
überbrücken, wäre der Kauf von 153
Millionen Zertifikaten nötig – eine solche
Order kostet zu heutigen Preisen
2,4 Milliarden Euro. Zum Vergleich:
Das Erneuerbare-Energien-Gesetz hat
im Jahr 2016 Kosten von rund 22 Milliarden
Euro verursacht.
Die Verpflichtung gegenüber der EU
ließe sich über den Zertifikatekauf
dagegen nicht vertragsgenau einhalten,
schließlich beziehen sich die
darin formulierten Einsparungsziele
auf jene Emissionsquellen, die nicht
vom ETS abgedeckt werden. Das ist
bedauerlich, da effizienter zu realisierende
Einsparungen in durch das
ETS abgedeckten Emissionsquellen
nicht gegen weniger effiziente Einsparungen
in Nicht-ETS-Emissionsquellen
aufgerechnet werden können.
Solange diese Emissionsquellen nicht
integriert sind, sollte die EU erwägen,
es Regierungen zu erlauben, etwaige
Lücken gegenüber den Zielvorgaben
durch den Kauf von ETS-Zertifikaten
zu schließen. Für den Klimaschutz
spielt es keine Rolle, in welchen Industrien
die Einsparungen vorgenommen
werden.
Kritiker bezeichnen Unternehmen,
die ihren Kunden klimaneutrale Produkte
per Zertifikatekauf anbieten als
„moderne Ablasshändler“. Der Kritik
liegt die Vorstellung zugrunde, dass
jeder Emittent für den durch ihn angerichteten
Schaden moralisch verantwortlich
ist und diesen daher selbst zu
beheben hat – selbst, wenn es effizienter
wäre, andere für eine klimaäquivalente
Schadensbehebung zu bezahlen.
Auch die Bundesregierung träfe die
Kritik, sich „freizukaufen“, sollte sie
die Klimapolitik zukünftig auf den
Kauf von Zertifikaten beschränken
und Unternehmen somit dafür bezahlen,
weniger Emissionen auszustoßen.
Derartige Kritik übersieht allerdings,
dass auch die heutige Subventionspolitik
einem „Ablasshandel“ entspricht.
Der Übergang zu einer zertifikatebasierten
Klimapolitik würde lediglich
bewirken, dass die Steuerzahler
zusätzlich zu inländischen Unternehmen
auch ausländische Unternehmen
für Emissionsreduktionen bezahlen.
Emissionshandel stärken
Schwerwiegendere Kritik am Vorschlag
einer zertifikatebasierten Klimapolitik
speist sich aus der derzeit
nur eingeschränkten Reichweite des
ETS. Nur wenn möglichst viele wichtige
Emissionsquellen in das ETS einbezogen
werden, bewirkt dieses eine
EU-weite Priorisierung von Emissionseinsparungen
in jenen Bereichen,
in denen diese am kostengünstigsten
sind.
Zwar werden die Reichweite des ETS
steigernde Reformen bereits diskutiert.
Doch der Einbezug von Privathaushalten
(ca. zehn Prozent der Emissionen),
Dienstleistungssektor (ca. vier
74 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
Prozent) sowie Verkehrssektor (ca.
17,7 Prozent) würde zu erheblichen
Transaktionskosten führen. Zwar ist
vorstellbar, dass die europäischen Regierungen
den notwendigen Zertifikatekauf
stellvertretend für ihre Bürger
vornehmen, etwa auf Basis einer jährlichen
Schätzung der aus diesen Quellen
entsprungenen Emissionen. Eine solche
Stellvertreterlösung würde jedoch
zu Trittbrettfahrerverhalten einladen
und die Effizienz des ETS mindern.
Trotz dieser Schwierigkeiten stellt
das ETS für die Bundesregierung
bereits heute ein vielversprechendes
Instrument zur Realisierung
selbstgesteckter Einsparungsziele
dar. Die Vorteile gegenüber der konventionellen
subventionsbasierten
Klimapolitik – eine geringere Verzerrungswirkung
und flexiblere Anwendungsmöglichkeiten
– wachsen
in dem Maße, in dem es zukünftig
gelingt, weitere Emissionsquellen in
das ETS einzubeziehen. Statt auf die
Einführung neuer Subventionen hinzuwirken,
sollten am Klimaschutz
interessierte Interessengruppen und
Umweltpolitiker daher auf die Ausweitung
des ETS und die Nutzung des
Zertifikatekaufs als klimapolitische
Maßnahme durch die Bundesregierung
pochen. f
Im Original erschienen bei IREF –
Institute for Research in Economic
and Fiscal Issues
Dr. Alexander Fink, Universität
Leipzig, Senior Fellow des IREF –
Institute for Research in Economic
and Fiscal Issues
Kalle Kappner, Promotionsstudent
an der Humboldt-Universität zu
Berlin, Research Fellow bei IREF
>>
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
75
Klimawandel
Geo-Engineering
Hilft jetzt nur noch
Klima-Klempnern?
Von Dr. Elmer Lenzen
Hintergrund: oraziopuccio / stock.adobe.com, Bild: Veniamin Kraskov / stock.adobe.com
Das Wetter zu manipulieren ist
ein alter Menschheitstraum.
Mit dem Klimawandel
bekommt das Thema wieder
neue Bedeutung. Bei dem
sogenannten Geo-Engineering
geht es um gezielte
Veränderungen des Klimas
zur Senkung der Temperatur.
Derartige Projekte zielen
zum Beispiel darauf ab,
die Erde vor der Sonne zu
schützen oder Kohlendioxid zu
binden. Eine gute Idee oder
schlimmer Unfug?
Herman Sörgel hatte in seinem Leben nur ein einziges
Ziel: die Verwirklichung einer gigantischen Vision. Vor
90 Jahren begann der Münchener Architekt, der sich gern
„Weltbaumeister” nannte, mit den ersten Konzepten zum
Bau des neuen Kontinents Atlantropa. Das Herzstück von
Sörgels Plan aus dem Jahr 1928 war ein 2,5 Kilometer breiter,
300 Meter hoher und 35 Kilometer langer Staudamm
an der Straße von Gibraltar. Damit wollte er das Mittelmeer
vom Atlantik trennen und langsam trockenlegen – um bis
zu 200 Meter sollte der Meeresspiegel abgesenkt werden.
Das Mittelmeer sollte um 20 Prozent schrumpfen und neues
Land etwa in der Größe Frankreichs entstehen. Und dort,
wo heute der Nil langsam in einem Delta mündet, wäre ein
gigantischer Wasserfall von 200 Metern Höhe entstanden.
Die Idee dahinter: Die beiden Kontinente Afrika und Europa
sollten zusammenwachsen. Die Ressourcen Afrikas sollten
dem Zugriff Europas zugänglich gemacht werden, und
nebenher würden die Staudämme Unmengen an nachhaltiger
Energie aus Wasserkraft liefern. Sörgel errechnete eine
Dauerleistung von rund „70 Millionen PS“. Der Bau sollte
in zehn Jahren zu schaffen sein, dafür kalkulierte Sörgel
mit je 200.000 Arbeitern in vier Schichten.
76 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
„Was uns heute größenwahnsinnig
erscheint, hatte damals viele prominente
Unterstützer“, erklärt Wilhelm
Füßl, Leiter des Archivs des Deutschen
Museums, wo Sörgels Nachlass
aufbewahrt wird. „Selbst im Nachkriegsdeutschland
hat man an das
Projekt noch geglaubt.“ Während die
deutsche Presse von dem Atlantropa-
Projekt teils sehr begeistert war,
konnten die Italiener der Trockenlegung
„ihres“ Mittelmeeres weitaus
weniger abgewinnen. Der „Corriere
della Sera“ schrieb empört: „Hat denn
der arglose Herr Sörgel keine anderen
Pläne, mit denen er seine wirre Fantasie
beschäftigen kann?“
Alles Spinnerei? Möglich. Aber so
war der Geist der 20er Jahre. In der
gleichen Zeit begann etwa der niederländische
Ingenieur Cornelis Lely
mit der Trockenlegung der Nordsee.
Nur wenige Dekaden später hatten die
Niederländer rund 3.000 Quadratkilometer
Landfläche der Nordsee abgewonnen.
Mit dem Ijsselmeer entstand
zudem ein großer, neuer Binnensee.
Pariser Klimaabkommen setzt auf
„Negative Emissionen“
Zurück in die Gegenwart: Terraforming
oder Geo-Engineering, wie wir es
heute nennen, hat mit dem Klimawandel
neue Aktualität bekommen. „Geo-
Engineering ist der Plan C der Klimapolitik.
Plan A lautet: Die Menschheit
muss weniger CO 2
ausstoßen. Ein guter
Plan, aber es hapert an der Umsetzung.
Plan B ist die Anpassung an den
Klimawandel, beispielsweise durch
hitzeresistente Getreidesorten. Früher
tabu, heute Realpolitik“, schreibt Max
Rauner in der ZEIT.
Um die schlimmsten Folgen des Klimawandels
abzuwenden, soll das Pariser
Klimaabkommen die Erderwärmung
auf deutlich unter zwei Grad
und möglichst auf eineinhalb Grad
begrenzen. Das ist nur möglich, wenn
die Staaten ihre Emissionen erheblich
stärker reduzieren, als sie es bisher
im Rahmen des Abkommens zugesagt
haben. Fragt sich nur: Wie?
Das Intergovernmental Panel on Climate
Change (IPCC) hat unterschiedliche
Szenarien durchgerechnet. Nur
im optimistischsten Szenario kann
das Klimaziel durch sofortige und
drastische Maßnahmen in allen >>
Abbildung: Deutsches Museum
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
77
Klimawandel
Sektoren (Verkehr, Landwirtschaft, Bau, Energie etc.) noch
erreicht werden. In den weniger optimistischen Szenarien
muss die Weltgemeinschaft ab 2030 oder spätestens 2050
zusätzliche Maßnahmen ergreifen: Sie muss große Mengen
an CO 2
aus der Atmosphäre entnehmen oder dauerhaft lagern,
um mit „negativen Emissionen“ die Bilanz auszugleichen.
Dafür sind die Selbstverpflichtungen der Staaten bei weitem
nicht ehrgeizig genug. Die aktuelle Rechnung sieht
nämlich so aus: Um die Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen,
dürfen weltweit bis 2050 nur noch knapp 400 Gigatonnen
CO 2
emittiert werden. Aktuell beträgt der globale
Ausstoß jedoch 40-42 Gigatonnen im Jahr. Also ausgehend
vom Pariser Klimaabkommen in 2015 wären die 400 Gigatonnen
CO 2
damit spätestens bereits im Jahr 2026 aufgebraucht.
„Die Welt steuert derzeit auf eine Erderwärmung
von drei Grad oder mehr zu“, sagt Katja Frieler vom Potsdam-Institut
für Klimafolgenforschung. Deshalb bringt die
UN seit längerem schon als Lösung die sogenannten „negativen
Emissionen“ ins Gespräch. Dabei werden Klimagase
aus der Atmosphäre entnommen. Das geht nur mit
viel Technik und bedeutet einen fundamentalen Paradigmenwechsel
in der Klimapolitik.
Grundsätzlich kann man die Vielzahl der Maßnahmen
in zwei Lösungsansätze unterscheiden:
1. Beim Carbon Dioxide Removal (CDR) wird überschüssiges
CO 2
in der Atmosphäre herausgefiltert und in
anderer Form genutzt oder gespeichert.
2. Beim Solar Radiation Management (SRM) wiederum
geht es darum, die ankommenden Sonnenstrahlen zu
reflektieren und so die Erwärmung zu begrenzen.
Aufforsten, Filtern, Verarbeiten – CDR-Maßnahmen im
Überblick
A) AUFFORSTEN
Ein Beispiel für negative Emissionen sind
Aufforstungen – Wald bindet CO 2
im Holz, so
lange das Holz nicht später als Brennstoff genutzt
wird. Das Aufforsten oder der Anbau von Biomasse
zur CO 2
-Reduktion konkurriert allerdings um die gleichen
Flächen, die auch für die Landwirtschaft benötigt werden.
Allein mit mehr Biomasse ist es somit schwierig, die Klimaziele
zu erreichen, denn die natürliche Photosynthese
ist kein besonders effizienter Prozess. Maximal zwei Prozent
des Lichts können Blätter nutzen, um CO 2
und Wasser
in neue chemische Verbindungen umzuwandeln. Um
beispielsweise zehn Gigatonnen CO 2
pro Jahr im Wald zu
binden, argumentieren Physiker, müssten etwa zehn Millionen
Quadratkilometer der fruchtbaren Flächen auf der
Erde mit neuem Wald bepflanzt werden. Dies entspricht
der Fläche des Kontinents Europa (bis zum Ural!).
B) KÜNSTLICHE PHOTOSYNTHESE
Auch mit Systemen, die eine „künstliche
Photosynthese“ ermöglichen, könnte CO 2
aus
der Atmosphäre entnommen und gebunden
werden. Ähnliche Materialsysteme, wie sie derzeit für
die künstliche Photosynthese erforscht werden, könnten
deutlich effizienter CO 2
binden. Bei einer angenommenen
Effizienz von 19 Prozent und 50 Prozent Systemverlusten
könnten Module von etwa 30.000 Quadratkilometern
schon ausreichen, um jährlich zehn Gigatonnen CO 2
aus
der Atmosphäre zu entnehmen. Dies entspricht etwa der
Fläche des Bundeslands Brandenburg.
„Es könnte zwar möglich sein, solche Module zu entwickeln,
aber selbst wenn wir sie dann bauen könnten, wird
die Umwandlung nach unserer Schätzung mindestens
65 Euro pro Tonne CO 2
kosten. Damit verursacht die Entnahme
von zehn Gigatonnen CO 2
jedes Jahr erneut Kosten
von 650 Milliarden Euro“, sagt Dr. Matthias May vom HZB-
Institut für Solare Brennstoffe.
C) FILTERN & SPEICHERN
Beim „Direct Air Capture“ (DAC) Verfahren
wird CO 2
mithilfe chemischer Verfahren aus
der Luft extrahiert. Anschließend muss das gewonnene
CO 2
in unterirdischen Gesteinsschichten gespeichert
oder anderweitig verarbeitet werden. Experten haben
vor allem die Speicherung im Blick: Sogenannte "Carbon
Sinks", also Lagerstätten von Kohle- und Erdölförderung,
sind geologisch schon seit Jahrmillionen stabil und könnten
als CO 2
-Speicher herhalten. Diese CCS-Technologie (Carbon
Dioxide Capture and Storage) steht für die Abscheidung und
Speicherung des in Kraftwerks- und Industrieprozessen anfallenden
CO 2
. Ob die Technik wirklich sicher ist, wird von
vielen jedoch bezweifelt. Hinzu kommen immense Kosten:
Diese liegen laut dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung
bei 200 bis 1.000 Dollar je Tonne CO 2
.
D) INDUSTRIELLE ANWENDUNGEN
Bisher wenig entwickelt ist der Einsatz von
Kohlendioxid als Rohstoff für die industrielle
Nutzung. Das entnommene CO 2
könnte zu
Ameisensäure, Alkohol oder Oxalat umgewandelt werden
und mit weiteren Verbindungen (zum Beispiel Kalziumchlorid)
zu festen Mineralien reagieren, die gelagert
oder sogar in Form von Kunststoff als Baumaterial genutzt
werden können. Bei Bayer verwandelt man in einem Pilot-
78 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
projekt das Treibhausgas in einen nützlichen Rohstoff. Ein
neues Verfahren gestattet es, CO 2
in Schaumstoffe einzubauen
und so einen Teil des knappen Erdöls zu ersetzen,
aus dem sie sonst komplett bestehen. Erstes Einsatzgebiet:
Matratzen.
Spiegel, Schirme, Vulkanausbrüche –
SRM-Maßnahmen im Überblick
A) SPIEGEL & SCHIRME
Der Klimawandel entsteht durch globale Erwärmung.
Deren Verursacher ist die Sonneneinstrahlung.
Beim Solar Radiation Management
(SRM) geht es daher darum, die Sonnenstrahlen zu
reflektieren. Hierbei setzt man auf Spiegel und Sonnenschirme.
Das ist auch nicht aus der Luft gegriffen: Bereits
jetzt werden etwa 25 Prozent der eintreffenden Sonnenstrahlen
von der Erdatmosphäre reflektiert (das Prinzip
Spiegel) oder wie bei einem Sonnenschirm in den oberen
Schichten der Atmosphäre absorbiert. SRM-Technologien
setzten daher auf die Veränderung der Zusammensetzung
der Atmosphäre. Dann kommen, so denken sich das die
Wissenschaftler, weniger Sonnenstrahlen an und die Erde
kühlt automatisch ab.
Die Idee klingt verrückt, aber praktisch passiert diese Art
von Atmosphärenbeeinflussung schon heute in großem
Stil. Die Abgase von Industrie und Verkehr reichern die Atmosphäre
mit winzigen Partikeln, sogenannten Aerosolen,
an. Wissenschaftler haben errechnet, dass seit Beginn der
Industrialisierung sich die Erde um rund ein Grad erhitzt
hat. Ohne den Effekt der Aerosole wären es 1,3 Grad. Makaber:
Dreckige Luft hemmt also die globale Erwärmung.
Reflexion geht aber auch weniger martialisch, etwa durch
bauliche Maßnahmen wie weiße Gebäude, Dächer und Flächen,
zusätzlicher Wasserflächen, die Licht spiegeln oder
das Weißen von Wüstenflächen. Astronauten wiederum haben
vorgeschlagen, einen riesigen Sonnenschirm im Weltall
zu spannen.
B) GEZIELTE VULKANAUSBRÜCHE
Ganz ähnlich wie Aerosole verhalten sich auch
die Auswirkungen von Vulkanausbrüchen. Jedes
Mal werden dann erhebliche Mengen von
Staub und Asche in die Atmosphäre geschleudert. Die beiden
Berkeley-Wissenschaftler Jonathan Proctor und Solomon
Hsiang werteten Daten zu weltweiten Vulkanausbrüche
zwischen 1979 und 2009 aus und korrelierten diese
mit den Ernteerträgen von Mais, Soja, Reis und Weizen
im gleichen Zeitraum. Die Ergebnisse veröffentlichten sie
jetzt in einer Ausgabe der Fachzeitschrift Nature. Demnach
reduzierte etwa der Ausbruch des Pinatubu-Vulkans 1991
auf den Philippinen die weltweite Sonneneinstrahlung um
2,5 Prozent. Die Temperaturen sanken dadurch weltweit
um ein halbes Grad. Zugleich sanken aber auch die Ernteerträge.
Der Spiegel zitiert Hsiang: „Das ist, als gleiche
man die Schulden einer Kreditkarte mit einer anderen aus.
Am Ende hat man das, womit man angefangen hat, ohne
das Problem zu lösen."
Dennoch sind vor allem explorative Konzerne mit ihrer
Bohrerfahrung an gesteuerten Vulkanausbrüchen als Klimaschutz-Maßnahme
äußerst interessiert. Vor allem auch,
weil solche Aufträge dauerhaft wären. Würde man sich
nämlich eines Tages entschließen, den künstlichen Vulkanismus
wieder zu beenden, dann droht der "Termination
Shock". Die Zeit schreibt: „Wenn das Geo-Engineering nach
50 Jahren aus welchen Gründen auch immer gestoppt würde,
stiegen die Temperaturen innerhalb von nur 20 Jahren
um zwei Grad an. Das wäre der Klimawandel in Zeitraffer.“
Gehören technische Klima-Eingriffe verboten?
Technisch betrachtet ist Geo-Engineering machbar. Aber
wollen wir es deshalb auch machen? Diese Frage beschäftigt
nicht nur Forscher, sondern auch Politiker und engagierte
Bürger. Jonathan Proctor von der University of
California in Berkeley warnt: „Das ist ein bisschen so wie
experimentelle Chirurgie, wenn man herausfindet, dass
die Nebeneffekte der Behandlung so schlimm sind wie die
Krankheit."
Die Bundesregierung unterstützt derzeit hierzulande 18
Universitäten und Institute mit insgesamt zehn Millionen
Euro, um Geo-Engineering zu erforschen. „Diese Forschung
wird missbraucht werden", beklagt der Physiker David
Keith von der Harvard University in einem ZEIT-Beitrag.
„Ölkonzerne und Petro-Staaten werden versuchen, sich aus
der Verantwortung zu stehlen, indem sie uns das Wort im
Mund umdrehen." Deshalb regt sich immer mehr Widerstand:
„Die Zivilgesellschaft bekräftigt die Forderung nach
einem internationalen Verbot der technischen Eingriffe in
Naturkreisläufe“, sagt Lili Fuhr von der Heinrich-Böll-Stiftung.
Die Forderungen nach einer weltweiten Regulierung der
Geo-Engineering-Technologies sind zuletzt aber auf der
UN-Umweltkonferenz UNEA4 im März 2019 in Nairobi
gescheitert. Vor allem Investoren aus dem Silicon Valley
sowie Lobbyisten der fossilen Industrie und der Bergbauindustrie
stemmten sich gegen neue Regeln. Lili Fuhr
ist dennoch nicht unzufrieden: „Die gute Nachricht ist: Das
2010 in der UN-Biodiversitätskonvention (CBD) beschlossene
Moratorium auf Geo-Engineering hat unverändert
Bestand, ebenso wie die Regulierungsansätze für marines
Geo-Engineering zur Verhütung der Meeresverschmutzung
(LP/LC).“ >>
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
79
Klimawandel
Glossar
Wettlauf gegen die Zeit
„Keine der hier vorgeschlagenen
Klima-Geo-Engineering-Techniken
könnte realistisch innerhalb der
nächsten Jahrzehnte in globalem
Maßstab eingesetzt werden. Das
heißt, man kann nicht damit rechnen,
dass sie einen wesentlichen
Beitrag zum Erreichen des 2-Grad-
Ziels – geschweige denn des
1,5-Grad-Ziels – leisten könnten“,
sagt der Wissenschaftler Mark
Lawrence. Sollten Klima-Geo-Engineering-Technologien
je Anwendungsreife
erreichen, dann
mit hoher Wahrscheinlichkeit
erst in der zweiten Hälfte des
21. Jahrhunderts.
Geopolitische Risiken
Die Informationsstelle Militarisierung
e.V. (IMI) verweist in einer
aktuellen Studie auf die geopolitischen
Implikationen. Da jede
der bislang erwogenen und kurz
vorgestellten Technologien Gewinner
und Verlierer hervor brächte,
bestehe die Gefahr einer „Militarisierung
des Klimas“: „Es drohen
Wettkämpfe um Ressourcen,
Streite um negative Folgen oder
Konflikte um die Kontrolle des regionalen
Klimas“, so Jürgen Wagner,
Vorstand der IMI. Dies wecke
Hoffnungen und Begehrlichkeiten,
mit großtechnischen Scheinlösungen
in das Klima einzugreifen.
Dass bereits jetzt häufig das Militär
und militärnahe Institutionen
in die Entwicklung eingebunden
und diese auch prädestiniert für
die Bereitstellung und den Schutz
der benötigten Infrastrukturen
sind, erhöhe das Konfliktpotenzial
weiter. f
Was heißt eigentlich Mitigation? Was sind negative
Emissionen? Sind Wetter und Klima nicht das Gleiche?
Und was macht überhaupt der IPCC? Dieses Glossar
enthält Erklärungen für wichtige Begriffe zum Thema
Klima(wandel).
Anpassung an den Klimawandel
1992 einigte sich die Staatengemeinschaft
in der UN-Klimarahmenkonvention
darauf, Maßnahmen
zur Anpassung an den
Klimawandel zu ergreifen. Diese
sollen die (Folge-) Schäden durch
bereits eingetretene oder zu erwartende
Klimaveränderungen für die
Menschen verhindern oder zumindest
abmildern.
Anthropogen
Anthropogen (griech. anthropos
= Mensch; genese = Erzeugung/
Erschaffung) bedeutet menschengemacht.
Der anthropogene Klimawandel
bezeichnet also den vom
Menschen verursachten Klimawandel.
CO 2
-Budget
Das CO 2
-Budget ist die Menge an
CO 2
, die wir noch maximal freisetzen
dürfen, um das 1,5-Grad-Ziel
einhalten zu können. Laut dem
IPCC-Sonderbericht von Oktober
2018 liegt dieses nur noch bei etwa
420 Gigatonnen CO 2
. Da die Welt
jährlich knapp 42 Gigatonnen ausstößt,
ist das Budget wahrscheinlich
in weniger als neun Jahren
aufgebraucht. Für das 2-Grad-Ziel
reicht das CO 2
-Budget voraussichtlich
noch ca. 26 Jahre.
CO 2
-Senke
Als CO 2
-Senken bezeichnet man
Reservoirs und Ökosysteme, die
CO 2
aufnehmen und (zum Teil dauerhaft)
speichern können, wie etwa
Wälder, Böden und Meere.
Emissionshandel
Der Emissionshandel ist ein marktwirtschaftliches
Instrument zur Reduzierung
von Treibhausgas-Emissionen.
Der Gesetzgeber legt die
Gesamtmenge an Treibhausgasen
fest, die emissionshandelspflichtige
Unternehmen in einem bestimmten
Zeitraum ausstoßen dürfen („Cap“).
Diese bewilligte Menge wird in Form
von Emissionszertifikaten ausgegeben.
Stößt ein Unternehmen
weniger Treibhausgase aus, darf
es die nicht benötigten Zertifikate
verkaufen. Andersherum kann ein
Unternehmen Emissionszertifikate
nachkaufen, sofern es die erlaubte
Menge an Treibhausgasen überschreitet.
Wer die Abgabepflicht für
die Zertifikate nicht erfüllt, muss mit
Sanktionen rechnen.
Endenergie
Endenergie ist die Energie, die nach
Abzug von Wandlungs- und Übertragungsverlusten
beim Endverbraucher,
z.B. als Strom, ankommt
und genutzt werden kann.
80 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Klimawandel
Folgen des Meeresspiegelanstiegs
Der Anstieg des Meeresspiegels
bringt viele Probleme mit sich: Neben
der Erosion von Küstengebieten,
versalzt das eindringende Meerwasser
das Grundwasser und Sturmfluten
laufen höher auf. Wie groß die
Gefahr für einzelne Küsten ist, hängt
aber auch von ihrer Form ab. Vor allem
flache Küsten und Deltas, beides
beliebte Siedlungsgebiete, sind durch
Erosion besonders gefährdet.
IPCC
Der Intergovernmental Panel on
Climate Change (IPCC) oder auch
Weltklimarat wurde 1988 gegründet.
Er berichtet regelmäßig über die aktuelle
Forschung zum anthropogenen
Klimawandel, dessen Risiken und
Folgen sowie über Möglichkeiten zur
Anpassung und zur Vermeidung. Zusätzlich
zu den Sachstandsberichten
erscheinen immer wieder kurze
Sonderreports zu speziellen Themen.
Der fünfte Sachstandsbericht (AR5)
wurde 2013 / 14 veröffentlicht. Einige
Ergebnisse in Kürze: Zu 95 bis 100 Prozent
ist der Mensch Hauptverursacher
der globalen Erwärmung. Sowohl die
Durchschnittstemperatur an der Erdoberfläche
als auch die Meerestemperatur
steigen stetig an, die Gletscher
schmelzen bis auf wenige Ausnahmen.
Durch die Aufnahme von Kohlenstoffdioxyd
versauern die Ozeane
zunehmend, was die dortigen Lebenswelten
beeinträchtigt. Wahrscheinlich
steigen zudem weltweit die Meeresspiegel
bis Ende des 21. Jahrhunderts
um 25 bis 55 Zentimeter. Werden die
Emissionen nicht beschränkt, könnten
es sogar bis zu 82 Zentimeter
werden. Außerdem wird sich die Erde
vermutlich bis 2100 um 2,6 bis 4,8
Grad erwärmen, sofern wir weiterhin
so viele Treibhausgase ausstoßen wie
bisher. Der nächste Bericht des Weltklimarats
soll 2020 / 21 veröffentlicht
werden.
Klimamodelle
Mit Klimamodellen kann man das Klimasystem
und dessen Veränderungen
relativ passend (aber dennoch
vereinfacht) abbilden und berechnen.
Solche Modelle sind daher wichtig für
klimapolitische Entscheidungen.
Klimasystem
Das komplexe Klimasystem besteht
aus Atmosphäre, Hydrosphäre (Ozeane,
Seen, Flüsse), Kryosphäre (Eis und
Schnee), Lithosphäre (festes Gestein
und Böden) und Biosphäre. Das gesamte
System verändert sich durch
innere und äußere Einflüsse stetig.
Kohlendioxid
Kohlendioxid (CO 2
) ist eines von vielen
langlebigen Treibhausgasen, die nach
ihrem Ausstoß mindestens ein Jahr in
der Atmosphäre verbleiben. CO 2
beeinflusst
den Strahlungshaushalt der
Atmosphäre und ist dadurch mitverantwortlich
für den Treibhauseffekt.
Andere Treibhausgase sind z.B. Methan
(CH4) und Distickstoffoxid bzw.
Lachgas (N2O).
Mitigation
Mit Mitigation bezeichnet man die
Maßnahmen zur Verringerung und
Vermeidung von Treibhausgasemissionen.
Der klimawissenschaftliche
Fachbegriff umfasst sowohl technische
Vorgehensweisen als auch die
Schaffung von CO 2
-Senken.
Negative Emissionen
CO 2
-Emissionen, die man der Erdatmosphäre
gezielt entzieht, heißen
Negative Emissionen. Das geht unter
anderem durch Aufforstungsprogramme,
da Bäume CO 2
speichern.
Eine wichtige Technik ist außerdem
BECCS (Bio Energy with Carbon Capture
and Storage). Dabei verbrennt
man Biomasse in Kraftwerken, es
entsteht Energie. Das CO 2
wird abgeschieden
und unterirdisch gespeichert.
Das ist allerdings mit hohen
Infrastrukturkosten verbunden und
benötigt viel Land. Dadurch entsteht
ein Konflikt mit der Nahrungsmittelproduktion.
Netto-Null-Emissionen
Als Netto-Null-Emissionen bezeichnet
man bereits freigesetzte bzw.
unvermeidbare CO 2
-Emissionen, die
man ausgleicht – also der Atmosphäre
(an anderer Stelle) wieder entzieht.
Treibhauseffekt
Der Treibhauseffekt ist der Wärmestau
in der unteren Atmosphäre.
Verursacher dieses Effekts sind
Treibhausgase (THG). Diese absorbieren
Infrarot-Wärmestrahlung (z.B.
von der Erdoberfläche) und geben sie
wieder ab. Dadurch steigt der Wärmegehalt
des Klimasystems. Treibhausgase
entstehen einerseits auf
natürliche Weise. Andererseits erhöht
der Mensch ihre Konzentration in der
Atmosphäre zusätzlich. Daher gibt es
den natürlichen und anthropogenen
Treibhauseffekt.
Wetter und Klima
Unter „Wetter“ versteht man den ständig
wechselnden Zustand der Atmosphäre,
z.B. aktuelle Temperaturen,
Wind, Regen, Wolkendichte und Luftfeuchtigkeit.
Es entsteht durch Wetterlagen
wie Tief- oder Hochdruckgebiete,
die sich schnell verändern.
Das „Klima“ hingegen bezeichnet das
durchschnittliche Wetter (inkl. Extremwerte),
das an einem bestimmten
Ort über einen längeren Zeitraum
hinweg herrscht. Während man das
„Wetter“ begrenzt vorhersagen kann,
lässt sich das „Klima“ nur mit Statistiken
anhand mehrerer Messungen
bestimmen.
Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
81
Klimawandel
guter
Letzt
Zu
Mein Feind,
der Baum?
Der Wald ist seit der deutschen
Romantik der Ort, an dem die
deutsche Seele ihre Ruhe findet.
Es gibt sogar schon den Wellness-Begriff
des „Waldbadens“,
früher bekannt als Waldspaziergang.
Der Wald ist aber nicht nur
Balsam für unsere Seele, sondern
auch fürs Klima. Wälder absorbieren
CO 2
. Wälder sind das natürliche
Bollwerk gegen den Klimawandel.
Dachten wir bisher.
Falsch gedacht, sagt Dominique Blain, wissenschaftliche
Direktorin bei der kanadischen Klimaschutzbehörde.
Im ARD-Radio erläutert sie: „Wenn die Bäume wachsen,
dann nehmen sie CO 2
aus der Atmosphäre auf. Sie werden
also zum Speicher. Aber wenn Bäume verfaulen,
durch Schädlinge absterben oder verbrennen durch
Waldbrände werden sie zur CO 2
-Quelle.“ In der Gesamtsumme
sind Wälder keineswegs CO 2
-Speicher.
Am Beispiel Kanadas haben Klima- und Treibhausgas-Statistiker
sogar eine negative Bilanz errechnet:
Demnach hat die bewirtschaftete Forstfäche Kanadas -
wir reden hier von einer gigantischen Fläche von 226
Millionen Hektar – in den letzten 15 Jahren mehr CO 2
produziert als aufgenommen. Vor allem Waldbrände
verhageln die Statistik. 2016 etwa haben Kanadas Bäume
rechnerisch 152 Megatonnen CO 2
gespeichert, aber
durch Waldbrände und Pilz- und Schädlingsbefall wurden
244 Megatonnen CO 2
freigesetzt. Macht ein Minus
von stolzen 92 Megatonnen CO 2
. Das verhagelt Kanadas
Klimabilanz – aktuell sind es 700 Megatonnen CO 2
/ Jahr
– ganz gewaltig. Und bis 2030 soll ja der Ausstoß um 30
Prozent reduziert werden. Was tun? Diese Emissionen
tauchen künftig einfach nicht mehr in Kanadas offizieller
Statistik auf. Begründung: Ziel ist die Reduktion des
„Menschen-gemachten Klimawandels“. Tony Lemprìere,
Klimapolitik-Manager der kanadischen Forstbehörde,
sagt in der ARD: „Es geht um das, was wir kontrollieren
können, Emissionen durch Holzernte, solche Dinge.
Aber wir können keine Waldbrände kontrollieren.“ f
IMPRESSUM
UmweltDialog ist ein unabhängiger Nachrichtendienst
rund um die Themen Nachhaltigkeit und Corporate
Social Responsibility. Die Redaktion von Umwelt-
Dialog berichtet unabhängig, auch von den Interessen
der eigenen Gesellschafter, über alle relevanten Themen
und Ereignisse aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
Herausgeber:
macondo publishing GmbH
Dahlweg 87
48153 Münster
Tel.: 0251 / 200782-0
Fax: 0251 / 200782-22
E-Mail: redaktion@umweltdialog.de
Redaktion dieser Ausgabe:
Dr. Elmer Lenzen (V.i.S.d.P.), Sonja Scheferling,
Julia Arendt, Elena Köhn
Bildredaktion:
Marion Lenzen
Gestaltung:
Gesa Weber
Lektorat:
Marion Lenzen, Bettina Althaus
klimaneutral
natureOffice.com | DE-220-583975
gedruckt
Klimaneutraler Druck, FSC-zertifiziertes
Papier, CO 2
-neutrale Server
© 2019 macondo publishing GmbH
© Titelbild: Von Liv Oeian / shutterstock.com
ISSN
Digital: 2199-1626
Print: 2367-4113
82 Ausgabe 11 | Mai 2019 | Umweltdialog.de
Bisherige Ausgaben
Das nächste
UmweltDialog-Magazin
erscheint am 15.11.2019.
GLOBAL GOALS FORUM 2019
OCTOBER 10, 2019, BERLIN
visitBerlin, Foto: Pierre Adenis
Anmeldung und weitere Informationen:
globalgoals-forum.org
Der Countdown läuft – 10 Jahre bleiben noch zur Umsetzung der Agenda 2030 und der globalen
Nachhaltigkeitsziele, den Sustainable Development Goals (SDGs). Aus diesem Anlass laden die
macondo foundation und das Deutsche Global Compact Netzwerk (DGCN) am 10. Oktober 2019 nach
Berlin zum Global Goals Forum / zur DGCN-Teilnehmerkonferenz ein. Im Fokus steht dabei die Frage,
welchen Beitrag Unternehmen zum Gelingen der Nachhaltigkeitsagenda beitragen können.
Das Global Goals Forum versteht sich als „Marktplatz der Ideen“: In einer Zeit, wo Unvorhersagbarkeit
die Signatur unserer Welt zu sein scheint, gibt die Konferenz führenden Persönlichkeiten aus Politik
und Wirtschaft ein Forum, um zentrale Fragen wie gerechte Globalisierung, Klimawandel und unternehmerische
Verantwortung zu diskutieren.