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Berliner Zeitung 04.06.2019

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20 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 127 · D ienstag, 4. Juni 2019<br />

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Feuilleton<br />

„Geglaubt wird, was man glauben will“<br />

Die <strong>Berliner</strong> Künstlerin Ellen Kobe, die als Urenkelin von Walter Gropius in die Nachrichten kam, über die ästhetische Kraft und Wirkung von Fake Identities<br />

Im Fall der 31-jährigen Marie<br />

Sophie Hingst, die als Bloggerin<br />

und Historikerin jahrelang<br />

auf dem Ticket einer erfundenen<br />

jüdischen Familiengeschichte<br />

reiste (<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> vom 3.Juni)<br />

und der israelischen Gedenkstätte<br />

YadVashem eine gefälschte Liste von<br />

Holocaust-Opferneinreichte,vermischen<br />

sich die Motive gesellschaftlicher<br />

Hochstapelei und der Inanspruchnahme<br />

künstlerischer Freiheit.<br />

Ihren Blog nämlich erklärte<br />

Hingst, nachdem das Magazin Der<br />

Spiegel ihr Ende Maiauf die Schliche<br />

gekommen war, imnachhinein zu<br />

einem Kunstprojekt. Gerade Der<br />

Spiegel ist nach der Enttarnung des<br />

belletristischen Talentes seines Reporters<br />

Claas Relotius ja besonders<br />

sensibel geworden und auch politisch<br />

wird immer wieder über die<br />

Grenze zwischen Dichtung und<br />

Wahrheit und die Grenzen der<br />

Kunstfreiheit gestritten.<br />

Die <strong>Berliner</strong> Künstlerin Ellen<br />

Kobe experimentiert inihrer Arbeit<br />

nicht nur mit dem Abwesenden<br />

(wenn sie etwa detailgenau durch<br />

eine Ausstellung ohne Bilder führt,<br />

wie in „MOMA goes on“, 2004 in der<br />

leeren Neuen Nationalgalerie), sondern<br />

erfindet auch Fake Identities.<br />

Wir erreichen sie telefonisch im<br />

Oderbruch, wo sie ihre nächste Arbeit<br />

vorbereitet und fragen nach der<br />

spektakulär letzten Aktion.<br />

Ellen Kobe am 4.12.2016 in Dessau beim Festakt zur Grundsteinlegung des neuen Bauhaus-Baus.<br />

Frau Kobe, bei der Grundsteinlegung<br />

des Bauhauses Dessau im Dezember<br />

2016 sind Sie als Urenkelin vonWalter<br />

Gropius aufgetreten. Obwohl es<br />

keine leiblichen Nachkommen von<br />

Gropius gibt, hat der Ministerpräsident<br />

von Sachsen-Anhalt Reiner Haseloff<br />

damals offenbar an diese Rolle<br />

geglaubt –woran war das spürbar?<br />

Das Programm war als Protokollveranstaltung<br />

durchgeplant und geprobt.<br />

Und ich war eindeutig als<br />

Künstlerin mit einer Performance<br />

angekündigt. Dann aber gab es während<br />

des Festaktes plötzlich eine Situation<br />

außerhalb dieses Protokolles,<br />

als sich der Ministerpräsident<br />

vor die 500 Gäste stellte und mich<br />

nochmals ausdrücklich als Ehrengast<br />

begrüßte. Als dann auch noch<br />

der Oberbürgermeister von Dessau<br />

mit ähnlichen Worten einstieg, habe<br />

ich leichten Drehschwindel bekommen,<br />

aber beschlossen, in der Rolle<br />

zu bleiben. Am Ende kamen auch<br />

noch Gäste der Veranstaltung und<br />

wollten Autogramme haben. Ich<br />

habe mit meinem Namen unterschrieben,<br />

und sie dachten, die Urenkelin<br />

von Walter Gropius hieße<br />

eben Ellen Kobe.Später gab es sogar<br />

eine entsprechende Falsch-Meldung<br />

in den Nachrichten –und am nächsten<br />

Tagkam der MDR zu mir nach<br />

Hause,umdie Sache für sich und die<br />

Öffentlichkeit richtigzustellen.<br />

Washat Sie bewogen, sich für diesen<br />

Anlass eine Figur auszudenken?<br />

Als der Auftrag von der Stiftung<br />

Bauhaus Dessau kam, die Grundsteinlegung<br />

mit einer Performance<br />

zu begleiten, habe ich mich gefragt,<br />

was mich eigentlich berechtigt, bei<br />

diesem Ereignis anwesend zu sein.<br />

Dann habe ich die Lösung gefunden,<br />

mich in meinem Hier und Heute zu<br />

der historischen Figur Walter Gropius,<br />

dem Gründer des Bauhauses,<br />

ins Verhältnis zu setzen. Ichhabe die<br />

Lücke zwischen ihm und mir mit einer<br />

Erzählung gefüllt, die glaubwürdig<br />

war, weil ich die Figur nicht frei<br />

erfunden, sondern meine Biografie<br />

in die Geschichte implementiert<br />

habe. Ich habe mich gefragt: Was<br />

hätte werden können, wenn seine<br />

reale Tochter Manon, die er mit Alma<br />

Mahler-Werfel hatte und die mit 18<br />

Jahren starb,vorher ein Kind bekommen<br />

hätte. Ich habe Fotos gezeigt,<br />

aber vor allem hat es funktioniert,<br />

weil ich mich selber als Person darin<br />

habe vorkommen lassen.<br />

AufderWebsite des Trinity Colleges in<br />

Dublin kann man nachhören, wie<br />

die Historikerin Marie Sophie Hingst,<br />

KÜNSTLERIN UND NÄCHSTES WERK<br />

Ellen Kobe,1968 in Dresden geboren, studierte<br />

Kunst an der Kunsthochschule Berlin<br />

Weißensee. Sie lebt als Bildende Künstlerin,<br />

Performerin und Kuratorin in Berlin. Ihr Fokus<br />

liegt auf Interventionen im öffentlichen Raum<br />

zum Thema Geschichtsrezeption und Geschlechteridentitäten.<br />

Internetpräsenz:<br />

www.ellenkobe.de<br />

In Vorbereitung:„Klasse Damen! 100 Jahre<br />

Öffnung der <strong>Berliner</strong> Kunstakademie für<br />

Frauen“, historische und zeitgenössische Positionen“,<br />

co-kuratiert(mit Ines Doleschal)<br />

und mit einer Eröffnungsperformance begleitet<br />

vonEllen Kobe, Performance am 16.6.,<br />

18 Uhr,Laufzeit vom17.6. bis 13.10.,<br />

Schloss Biesdorf, Alt-Biesdorf 55.<br />

ein Mädchen aus Wittenberg, aus<br />

evangelischem Haus und mit starkem<br />

deutschen Akzent dort 2018 vor<br />

Akademikern aus Anlass einer Preisverleihung<br />

über sich als Enkelin einer<br />

Holocaust-Überlebenden sprach, die<br />

erst mit 18 Jahren aus Israel nach<br />

Deutschland gekommen sei. Wieso<br />

wurde ihr geglaubt?<br />

MILA HACKE<br />

Geglaubt wird, was man glauben<br />

will. Menschen wollen berührt<br />

werden. Gerade Familiengeschichten<br />

sind ja unglaublich eingängig.<br />

Und auch in gewisser Weise tabu:<br />

Wer wagt schon, die Familiengeschichte<br />

eines anderen grundsätzlich<br />

anzuzweifeln. Wobei die Recherche<br />

sowieso oft sehr flüchtig<br />

ist. Im Fall der „Grundsteinlegung“<br />

haben die Medien nicht einmal das<br />

Programm gelesen, auf dem ganz<br />

deutlich stand, dass ich als Künstlerin<br />

eine Performance mache. Es<br />

braucht nur eine Kleinigkeit, um<br />

eine falsche Geschichte zu legitimieren.<br />

Mir ist der Ministerpräsident<br />

selbst zu Hilfe gekommen,<br />

aber sicherheitshalber hatte ich<br />

auch Zeugen vorgesehen: Eingeweihte,<br />

die an der richtigen Stelle<br />

nicken. Manipulation ist ein Spiel<br />

mit dem Feuer und in der Kunst ein<br />

ganz schmaler Grat zwischen Authentizität<br />

und Fiktion, auf dem<br />

man sich bewegt.<br />

Siesind Co-Kuratorin der demnächst<br />

eröffnenden Ausstellung „Klasse Damen!“,<br />

die aus Anlass der Öffnung der<br />

<strong>Berliner</strong> Kunstakademien für Frauen<br />

vor100 Jahren historische Positionen<br />

zeigt. Die Pressemotive sind eine<br />

Zeichnung von Lotte Laserstein aus<br />

den 40er-Jahren, die zwei Frauen<br />

zeigt, eine davon mit Zigarette in der<br />

Hand. DasandereBild zeigt Sieselbst<br />

als junge Frau, historisch zurechtgemacht<br />

und mit Zigarettenspitze. Ist<br />

das auch eine Implementierung in<br />

die Kunstgeschichte?<br />

Ja,das ist ein Foto vonmir,aufgenommen<br />

vonTom Wagner,als ich 25<br />

Jahre alt war, mein Kunststudium<br />

abgeschlossen hatte und in allem am<br />

Anfang stand. Undesist ein Foto der<br />

Figur, die ich derzeit für die Eröffnungsperformance<br />

der Ausstellung<br />

erfinde: Eine junge, bereits international<br />

erfolgreiche Künstlerin, die<br />

sich gerade wegen der Eröffnung ihrer<br />

Ausstellung in Schweden aufhält<br />

(wohin Lotte Laserstein emigrieren<br />

musste) und deshalb nicht zur Eröffnung<br />

kommen konnte.Ich in meiner<br />

heutigen Person trete vorOrt als ihre<br />

Projektassistentin und Sprecherin<br />

auf und kann mich auf diese Weise<br />

einerseits in Beziehung zur Zeit von<br />

Lotte Laserstein setzen, andererseits<br />

meine Biografie als Künstlerin temporär<br />

neu erfinden.<br />

Wasunterscheidet Kunst von Hochstapelei?<br />

Die Ehrlichkeit, den schöpferischen<br />

Akt als solchen zu kennzeichnen.<br />

Unddie Form. Ich komponiere<br />

ganz präzise auf einen bestimmten<br />

Rezeptionszeitraum und einen bestimmten<br />

Ort hin. Und am Ende<br />

muss die künstlerische Erzählung<br />

offengelegt werden. Ich habe das in<br />

Dessau getan, indem ich mich verbeugt<br />

habe wie eine Schauspielerin<br />

nach der Vorstellung. Aber weil das<br />

nicht ausgereicht hat, um die Situation<br />

zu klären, hat meine Auftraggeberin,<br />

die Direktorin der Stiftung<br />

Bauhaus Dessau, Claudia Perren,<br />

später noch vor den Medien Aufklärung<br />

geleistet.<br />

Auch Marie Sophie Hingst hat ihren<br />

Blog, auf dem sie die falsche Familiengeschichte<br />

kommuniziert hat,<br />

jetzt zum Kunstprojekt erklärt.<br />

In der Kunst muss die Rahmung<br />

in jeder einzelnen Situation ganz klar<br />

sein. Und esdarf auch niemand in<br />

seinen Gefühlen oder seinen Rechten<br />

verletzt werden. Wenn es einem<br />

um Kunst geht, braucht man niemanden<br />

in die Irre zu führen und<br />

kann trotzdem auf die Kraft der Imagination<br />

des Moments.<br />

DasGespräch führte PetraKohse<br />

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Pfingsten 2019<br />

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Am 10. Juni 2019<br />

erscheint die<br />

<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> nicht<br />

Ganz bei sich<br />

Das Deutsche Theater veröffentlicht seine Pläne für 2019/2020<br />

VonUlrich Seidler<br />

Ein Mann mit Tigerkopf und Tigertatzen<br />

fährt aus seinem aufgeklappten<br />

Sarg, macht Muskeln<br />

und steigt auf einem Strahlenbündel<br />

protzig in den Himmel auf. Hinten<br />

gucken zwei Menschen zu, die recht<br />

gemütlich aus ihren Schneckenhäusern<br />

lehnen. Aha. Vielleicht verstehen<br />

wir Christoph Feists Illustration,<br />

die das nächste Spielzeitheft des<br />

Deutschen Theaters schmücken<br />

wird, besser,wenn wir uns das Motto<br />

für 19/20 daneben legen: „Außer<br />

sich“, lautet es. Esscheint irgendwie<br />

aufbauend und motivierend gemeint<br />

zu sein, zu Selbstbefreiung aus<br />

scheinbar unwandelbaren Gegebenheiten<br />

aufzurufen, vielleicht einhergehend<br />

mit einer Abkehr von den<br />

Festlegungen der ohnehin immer<br />

weiter zerfasernden Identitäten. Wir<br />

Zuschauer dürfen vielleicht im<br />

Schneckenhaus bleiben und die<br />

Strahlentiger still bewundern.<br />

Es geht vermutlich eher dunkel<br />

los mit Sebastian Hartmanns nächster<br />

Großtextverknetung, diesmal<br />

kein Dostojewski, sondern Shakespeares<br />

„Lear“, wieder mit Wolfram-<br />

Lotz-Einschub. (Premiere: 30. August).<br />

Im Deutschen Theater folgen<br />

Inszenierungen vonJan Bosse („Don<br />

Quijote“, 12.10.), Daniela Löffner<br />

(„Franziska Linkerhand“, 2.11.), Stephan<br />

Kimmig („Hekabe −ImHerzen<br />

der Finsternis“, 22.11.), Ulrich Rasche<br />

(„4.48 Psychose“, 17.1.), Kirill<br />

Serebrennikow („Decamerone“,<br />

8.3.), Jette Steckel („Letzten Sommer<br />

in Tschulimsk“ vonAlexander Wampilow,<br />

27.3.) und mal wieder ein Andreas<br />

Kriegenburg („Michael Kohlhaas“,<br />

29.5.) −dazu kommen zwei<br />

neue René-Pollesch-Uraufführungen<br />

(15.12. und 24.4.).<br />

Zwei weitereUraufführungen finden<br />

in den Kammerspielen statt:<br />

„Ode“ von Thomas Melle (Regie:<br />

Lilja Rupprecht, 20.12.) und „Das<br />

Herz der Krake“ von Nis-Momme<br />

Stockmann (Regie: Nora Schlocker,<br />

28.4.). Außer den prominenten Regisseuren<br />

Serebrennikovund Rasche<br />

debütieren Amir Reza Koohestani,<br />

Charlotte Sprenger, Data Tavadze<br />

und Timofey Kuljabin am DT.<br />

Jürgen Kruse inszeniert Horváths<br />

„Glaube Liebe Hoffnung“, und von<br />

Martin Laberenz kommt die nächste<br />

Jelinekiade: „Wolken.Heim“. Wasdas<br />

Regie-Duo Jürgen Kuttner/Tom Kühnel<br />

und András Dömötör inszenieren<br />

werden, wirdnoch nicht verraten.<br />

Außer sich? Alles in allem eine typische<br />

Ulrich-Khuon-Spielzeit mit<br />

inszenierenden Weggefährten, Gegenwartsdramatik<br />

und dem Blick<br />

nach Osteuropa –sie wird traditionell<br />

mit der nächsten Ausgabe der<br />

Autorentheatertage enden, die gerade<br />

noch laufen. Und wenn es so<br />

weit ist, werden wir uns wieder wundern,<br />

wie schnell das ging. Über die<br />

Khuon-Nachfolge müssen wir uns<br />

heute nicht ereifern, sein Vertrag<br />

läuft noch bis 2022.

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