Das Verhältnis zwischen Stadt und Land ist in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Anlass dafür sind immer wieder Wahlergebnisse, Statistiken über Landflucht oder Protestbewegungen. Im dérive-Schwerpunkt Stadt Land geht Ilse Helbrecht der Frage nach, was Stadt und Land bzw. Urbanität und Ruralität nun eigentlich unterscheidet. Maximilian Förtner, Bernd Belina und Matthias Naumann warnen vor vereinfachenden Darstellungen, im Speziellen bei der Interpretation von Wahlergebnissen der AfD. Mit dem Sozialforscher Günther Ogris haben wir über die Geographie des Wahlverhaltens in Österreich gesprochen. Theresia Oedl-Wieser hat sich für den Schwerpunkt mit der Frage der Abwanderung der jungen weiblichen Landbevölkerung in die Städte beschäftigt. Judith Eiblmayr schreibt in ihrem Beitrag über Hintergründe, Ursachen und Begleiterscheinungen von Suburbanisierung in den USA. Jeremy Harding portraitiert für dérive die Bewegung der Gelbwesten in Frankreich. Das Heft kann hier https://shop.derive.at/collections/einzelpublikationen/products/stadt-land-heft-76-3-2019 bestellt werden.
Editorial
Das Verhältnis zwischen Stadt und Land ist in den letzten Jahren
wieder verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt.
Auslöser dafür sind vor allem politischer Natur, der Anlass
immer wieder Wahlergebnisse, Statistiken über Landflucht und
manchmal auch Protestbewegungen. So klar viele der Phänomene
bei oberflächlicher Betrachtung scheinen, so unscharf werden
sie bei näherer Beschäftigung. In den USA haben die Tea-Party-
Bewegung oder die Wahl Donald Trumps dazu geführt, dass
sich WissenschaftlerInnen und AutorInnen vermehrt die Frage
gestellt haben, was mit diesen Menschen in den Flyover-Staaten
eigentlich los ist, die auf einmal Stunk machen und populistische
Maniacs in höchste Ämter wählen. Man muss nicht lange
suchen, um dann doch auf etliche nachvollziehbare Gründe zu
stoßen, die berechtigterweise Anlass dazu geben, unzufrieden zu
sein: Die baulichen Infrastrukturen in den USA sind in den
letzten Jahren sträflich vernachlässigt worden, für finanziell
ausgehungerte Kleinstädte und Landstriche im Nirgendwo
interessiert sich kein Mensch, das Wort Overtourism kennt hier
niemand. Die Einkommen vor allem der unteren Mittelschicht
sind seit den 1990er-Jahren gesunken, ebenso die Lebenserwartung,
besonders in der Arbeiterklasse. Gut bezahlte Jobs
verschwinden, Alkoholismus, Drogenkonsum, Selbstmorde und
psychische Krankheiten nehmen zu. Wie Angus Deaton,
Nobelpreisträger 2015 für Ökonomie, behauptet, passiert mit der
weißen Arbeiterklasse in den USA heute das, was mit der
schwarzen Arbeiterklasse schon in den 1970er-Jahren geschah.
Sie wird nicht mehr gebraucht.
Eine in den letzten Wochen in den US-Medien diskutierte
Studie der beiden Politikwissenschaftler Peter Ganong und
Daniel Shoag weist nach, dass eine der klassischen ökonomischen
Aufstiegsmöglichkeiten für die ländliche bzw. kleinstädtische
Arbeiterklasse, nämlich der Umzug in eine größere Stadt,
aufgrund sinkender Löhne und steigender Lebenshaltungskosten
in den Städten keinen Sinn mehr macht. Das Ergebnis: In den
USA verzeichnen fast alle der großen Städte Bevölkerungsrückgänge.
Die Lebenshaltungskosten sind für Menschen ohne
Uniabschluss im Vergleich zu den Verdienstmöglichkeiten
mittlerweile einfach zu hoch.
Ganz ähnlich sind die aktuellen Entwicklungen in
England. Der Guardian zitiert eine Studie, die besagt, dass die
Zahl der Menschen zwischen 25 und 34, die übersiedeln, um
einen neuen Beruf zu beginnen oder zu finden, heute im Vergleich
zu den 1990ern um 40 Prozent gesunken ist. Grund dafür sind
auch hier die hohen Lebenshaltungskosten in den urbanen
Zentren, im Speziellen natürlich die hohen Mieten, die sich immer
weniger Menschen leisten können. Pessimistisch zugespitzt könnte
man sagen: Das Leben am Land bietet keine Perspektive, das
Leben in der Stadt können sich nur mehr Reiche leisten.
Im vorliegenden Schwerpunkt geht Ilse Helbrecht der
Frage nach, was denn Stadt und Land bzw. Urbanität und
Ruralität nun eigentlich unterscheidet und was die Stadtforschung
dazu sagt. Ähnlich wie auch Maximilian Förtner, Bernd
Belina und Matthias Naumann in einem weiteren Beitrag in
diesem Heft wehrt sie sich, anhand von z. B. Wahlergebnissen
eine scharfe Grenze zwischen urban und rural zu ziehen und
beiden Seiten eindeutige Charakteristika zuzuordnen. Die drei
genannten Autoren zeigen am Beispiel von Wahlerfolgen der
AfD, dass auch hier ein genauerer Blick notwendig ist und
einfache Stadt-Land-Zuordnungen in die Irre führen können.
Mit dem bekannten österreichischen Sozialforscher Günther
Ogris haben wir über die Geographie des Wahlverhaltens in
Österreich gesprochen und mit Erstaunen gehört, wie stabil die
österreichische Wahlkarte ist. Theresia Oedl-Wieser beschäftigt
sich seit Jahren mit dem Thema der Abwanderung der weiblichen
Landbevölkerung in die Städte und hat darüber einen Artikel für
den Schwerpunkt verfasst. Auch hier wird klar, dass ohne
genauen Blick die Gefahr von vereinfachten, voreiligen Schlüssen
droht. Judith Eiblmayr schreibt in ihrem Beitrag über Hintergründe,
Ursachen und Begleiterscheinungen von Suburbanisierung
speziell in den USA und ihren britischen Anfängen. Die
oben angesprochenen ökonomischen Verwerfungen finden ihre
Berücksichtigung in einem von uns für dieses Heft übersetzten
Artikel aus der London Review of Books über die Gelbwesten von
Jeremy Harding.
Ebenfalls mit dem Thema Stadt/Land hat sich eine
Veranstaltung beschäftigt, die wir Anfang Juni für das Kunst
Haus Wien kuratiert haben. Die Vorträge bildeten eine Begleitveranstaltung
zur sehenswerten Ausstellung Über Leben am
Land, die noch bis 25. August läuft.
Von 9. bis 13. Oktober veranstalten wir bereits zum
zehnten Mal das urbanize!-Festival, diesmal zur allerorten höchst
virulenten Wohnungsfrage. Im Jubiläumsjahr 100 Jahre Rotes
Wien begeben wir uns auf die Suche nach Fragestellungen und
Möglichkeiten einer gerechten Wohnraumversorgung für alle:
Alle Tage Wohnungsfrage fragt nach dem Menschenrecht auf
Wohnen und seiner Durchsetzbarkeit gegen das derzeit vorherrschende
Modell »Wohnen als Ware«, nach Wohnmodellen für
eine Gesellschaft im Wandel und dem Beitrag von Architektur
und Stadtplanung zur Lösung der Klimakrise. Dazu laden wir
nach Wien-Favoriten, dem mit rund 200.000 EinwohnerInnen
größten Wiener Gemeindebezirk, mit vielen unterschiedlichen
Veranstaltungsorten, Vorträgen und Diskussionen, Stadterkundungen
und Workshops, Filmen und Interventionen zwischen
dem traditionellen Favoriten und seinem neuen Stadtentwicklungsgebiet
Sonnwendviertel.
(Noch) keine Veranstaltung wird es im Hausprojekt
Bikes and Rails im Sonnwendviertel geben, an dem wir beteiligt
sind. »Ökologisch – Solidarisch – Unverkäuflich« lauten
die Säulen des Holzbau-Passivhauses, das im Sommer 2020
bezugsfertig sein wird. Nach wie vor freuen wir uns über
Menschen, die das erste Neubauprojekt im habiTAT –
Mietshäuser-Syndikat unterstützen, indem sie Erspartes zwischen
500 EUR und 50.000 EUR als Direktkredit auf Zeit zur
Verfügung stellen. 1,2 Mio. EUR befinden sich schon in diesem
Alternativ-Finanzierungstopf, rund 300.000 EUR werden noch
benötigt, um endgültig zu beweisen: Solidarität schafft Raum!
Mehr Informationen und die Direktkredit-Unterlagen gibt es auf
www.bikesandrails.org.
Einen schönen Sommer wünscht
Christoph Laimer
01
» Alle Tage
Wohnungsfrage«
9.—13.10.19
save
the
date
Wien
www.urbanize.at
Inhalt
01
Editorial
CHRISTOPH LAIMER
Schwerpunkt
04—05
Stadt – Land
CHRISTOPH LAIMER
06—13
Urbanität – RURALITÄT
ILSE HELBRECHT
14—29
Was ist dran am »Exodus« der
jungen FRAUEN vom LAND?
THERESIA OEDL-WIESER
20—24
Die Geographie des Wahlverhaltens
in ÖSTERREICH
GÜNTHER OGRIS
25—31
Unter GELBWESTEN
JEREMY HARDING
Kunstinsert
37—43
SINE_URBAN
JUDITH EIBLMAYR
44—53
STADT, LAND, AfD
MAXIMILIAN FÖRTNER
BERND BELINA
MATTHIAS NAUMANN
Besprechungen
54—62
S. 54
Wiens munizipaler Sozialismus
Die Karte als Werkzeug der Ermächtigung S.55
S. 56
ZukunftsproduzentInnen
S. 57
Es gibt ein richtiges Leben im falschen
S. 58
A perfect day – Kunst im Realitäts-Check
All we have is now. »Ich muss heute noch die
S. 60
Welt retten!«
S. 61
Neues zur territorialen Gerechtigkeit
Leserbrief
Betrifft: »Eloge für einen Nazi«
S. 62
von Rudi Gradnitzer
68
IMPRESSUM
32—36
Elena Anosova
Out-of-the-way
–
dérive – Radio für Stadtforschung
Jeden 1. Dienstag im Monat von
17.30 bis 18 Uhr in Wien auf ORANGE 94.0
oder als Webstream http://o94.at/live.
Sendungsarchiv: http://cba.fro.at/series/1235
03
CHRISTOPH LAIMER
Stadt – Land
Ein Vorwort
Die Residenzstadt Wien war zu Zeiten der Habsburger-Monarchie Hauptstadt eines
großen Reiches und galt als Wasserkopf. Sie war Sitz des Kaiserhauses, an das man
Steuern entrichten musste, das die eigene Volksgruppe, wenn es nicht die deutschsprachige
war, diskriminierte und ausbeutete. Nach dem Ersten Weltkrieg, als vom großen
Reich nur ein Rest übrig blieb, Wien eine hungernde Stadt war und die sozialdemokratische
SDAP bei den ersten freien Wahlen die absolute Mehrheit erreichte, bekam der
Hass auf Wien eine neue, antiproletarische Note. Das später so genannte Rote Wien
(1919–1934) war das ideale Feindbild des konservativen Österreichs, das vor allem
durch die von der Christlichsozialen Partei geführten Bundesländer repräsentiert wurde.
Eine Besonderheit Österreichs war, dass damals fast 30 Prozent der Bevölkerung in der
Hauptstadt lebten. Die Schärfe der ideologischen Gegensätze bekam dadurch noch
mehr Gewicht. 1920 wurde Wien ein selbständiges Bundesland und konnte sich damit
vom erzkonservativen, stark ländlich geprägten Niederösterreich abkoppeln. Seit diesem
Zeitpunkt, mit Ausnahme der Zeiten der Diktaturen, waren und sind in Niederösterreich
die ÖVP und in Wien die SPÖ (bzw. die jeweiligen Vorgängerparteien) die
stärksten Parteien – eine unglaubliche Stabilität.
Trotz dieser eindeutigen Wahlergebnisse und der politischen
Grenze, die es zwischen Wien und Niederösterreich gibt, wäre
diese mit freiem Auge natürlich nicht erkennbar, gäbe es keine
Ortsschilder und natürlich spielt sie in ganz vielen Bereichen
keinerlei Rolle. So liegt Wiens größte Shopping Mall knapp
außerhalb der Stadtgrenze in der gerade einmal 7.000 EinwohnerInnen
zählenden niederösterreichischen Marktgemeinde
Vösendorf, zahlreiche WienerInnen haben ihre Wochenendhäuschen
im niederösterreichischen Waldviertel und noch
mehr verlassen ihre Stadt für Ausflüge, um z. B. in den in
Niederösterreich liegenden Wiener Alpen wandern zu gehen.
Eine Gegend, die den hitzegeplagten WienerInnen schon seit
Eröffnung der Südbahn Mitte des 19. Jahrhunderts wohlbekannt
ist. Sie diente ihnen – zumindest den GroßbürgerInnen
unter ihnen – ab dieser Zeit als Ort für die Sommerfrische.
Ungefähr seit dieser Zeit kommt das tatsächlich hervorragende
Wiener Wasser aus dieser Gegend. Dass WienerInnen gerne
Wein aus Niederösterreich trinken, Spargel aus dem Marchfeld
und Marillen aus der Wachau essen, sei nur nebenbei erwähnt.
Umgekehrt pendeln rund 190.000 NiederösterreicherInnen
täglich nach Wien (interessanterweise auch
90.000 WienerInnen aus Wien hinaus), gar nicht so wenige von
ihnen arbeiten bei der Stadt Wien. Polizisten wurden in Wien
früher gerne Mistelbacher genannt, was der Legende nach auf
ihren niederösterreichischen Herkunfts- bzw. Ausbildungsort
verweist. Der Sozialforscher Günter Ogris sagt im Interview
für diesen Schwerpunkt, dass die drei beliebtesten Kulturstätten
der NiederösterreicherInnen in Wien liegen.
Man sieht, selbst bei einer oberflächlichen Betrachtung
zeigen sich sofort mannigfaltige Verbindungen und Abhängigkeiten,
die die politische Grenze völlig ignorieren. »Die
komplexen gesellschaftlichen Konstruktionsprozesse von
Räumen verbieten es, räumliche Grenzen als scharfe Grenzen
für unterschiedliche soziale Verhältnisse zu vermuten«, schreibt
Ilse Helbrecht in ihrem Artikel, in dem sie sich mit den Begriffen
Stadt und Land sowie Urbanität und Ruralität auseinandersetzt.
Helbrecht wehrt sich heftig gegen vereinfachende Darstellungen,
um urbane und rurale Räume zu identifizieren und
kategorisieren, wie sie sich medial in den letzten Jahren großer
Beliebtheit erfreut haben. Sie sieht Begriffe wie Urbanität und
Ruralität als »Konstrukte der Wissenschaft, die spezifische
Antworten auf Probleme und Herausforderungen bieten«.
Maximilian Förtner, Bernd Belina und Matthias Naumann
treibt ebenso die Absicht, vor vereinfachenden Darstellungen
zu warnen, im Speziellen bei der Interpretation von
Wahlergebnissen der AfD. Mit Lefebvres Theorie der Urbani-
Urbanität, Ruralität, Wien, Niederösterreich,
Urbanisierung, Landflucht, Zentralität, Wahlverhalten, Raumproduktion,
Suburbanisierung, Gelbwesten, Geschlechterrollen
04
dérive N o 76 — STADT LAND
Foto — Frollein2007
sierung, die Stadt und Land erfasst, und Adornos Begriff
der Provinzialität, den er nicht exklusiv mit dem Ländlichen
verknüpft, zeigen sie, dass die Zentralität als Wesen der Urbanität
(Lefebvre) und der »individuelle Bildungsprozess« als
Möglichkeit, die Provinz hinter sich zu lassen, viel erfolgversprechendere
Ansätze bei der Analyse von Wahlverhalten sind
als die Stadt-Land-Dichotomie. Gemäß dieses Ansatzes beschreiben
die Autoren drei unterschiedliche Orte, die einen besonders
hohen AfD-WählerInnenanteil gemeinsam haben, aber
unterschiedlichen Raumtypen entsprechen. Förtner, Belina und
Naumann bezeichnen sie als Ort einer umfassenden Peripherisierung,
als peripheres Zentrum bzw. als zentrale Peripherie.
Mit dem schon erwähnten Günter Ogris vom Institut SORA,
das in Österreich durch seine Hochrechnungen bei Wahlen
bekannt ist, haben wir ein Gespräch geführt, um herauszufinden,
wie viel Gehalt in der plakativen These steckt, dass die
BewohnerInnen von Städten links oder liberal sind und die
Landbevölkerung rechts und konservativ ist. Das Ergebnis der
Stichwahl bei den letzten österreichischen Präsidentschaftswahlen
2016 zwischen Alexander Van der Bellen (Grün)
und Norbert Hofer (FPÖ) schien diese These besonders zu
unterstreichen. Ogris macht im Interview auf den interessanten
Umstand aufmerksam, dass die Geographie des Wahlverhaltens
in Österreich sehr beständig ist und nur wenige Ereignisse
in den letzten Jahrzehnten grundlegende Änderungen
verursachten. Aber auch er verweist darauf, dass es urbanes
Wahlverhalten eben nicht nur in den Städten gibt, sondern auch
in mit diesen in Verbindung stehenden Räumen wie z. B. dem
Burgenland, dessen Bevölkerung in einem hohen Ausmaß nach
Wien pendelt.
Die Migration zwischen Land und Stadt behandelt
Theresia Oedl-Wieser und geht damit einer anderen Geschichte
über das Verhältnis von Stadt und Land nach, die in den
letzten Jahren wieder öfter zu hören ist: Die Landflucht junger
Frauen. Auch in diesem Fall unterstützen die Statistiken diese
Erzählung und Oedl-Wieser zählt Gründe auf, die sie plausibel
machen: Geschlechterrollen, Bildungschancen, Arbeitsmarkt.
Für genauere Erkenntnisse über die »Wechselwirkungen
von Wanderungsmotiven, Lebensphasen, ökonomischem und
sozialem Status sowie den sozialen Kategorien Geschlecht,
Alter und Ethnizität« müsse allerdings »zielgerichteter untersucht
werden«.
Mit den sich speziell in den USA seit Jahrzehnten immer
weiter ausdehnenden räumlichen Schwellen zwischen Stadt
und Land und ihrer Besiedlung setzt sich Judith Eiblmayr in ihrem
Beitrag sowohl aus historischer als auch aus aktueller Perspektive
auseinander. Dabei dürfen die Themen Mobilität und
Spekulation nicht fehlen und das tun sie auch nicht. Darüber
hinaus geht es um psychische Phänomene wie suburban angst,
das Fehlen bzw. die Vermeidung von öffentlichen Räumen und
aufkeimende Gegenbewegungen.
Eine Gegenbewegung gibt es auch in Frankreich und
jede/r von uns kennt sie: die Gelbwesten. Gerade diese hohe
Bekanntheit scheint es schwer zu machen, einen sowohl
unvoreingenommenen als auch kenntnisreichen Blick auf das
Phänomen zu werfen. Viele BeobachterInnen scheitern dabei,
sich nicht von einzelnen Aspekten ablenken zu lassen. Dem
Autor und Journalisten Jeremy Harding gelingt das dafür umso
besser, weswegen wir seinen Text Unter Gelbwesten für diese
Ausgabe übersetzt haben. Er ist selbst bei Demonstrationen
der Gelbwesten mitgegangen, hat mit vielen von ihnen gesprochen
und sich trotzdem einen unabhängigen Blick bewahrt.
Auch hier stimmt es, von einer Folge der Disparität von Stadt
und Land zu sprechen und gleichzeitig stimmt es auch wieder
nicht. Viele ländlichen Regionen werden vernachlässigt, was
zur Folge hat, dass sich Menschen ihr Leben trotz Vollzeitarbeit
kaum mehr leisten können, aber das Gleiche trifft auf viele
städtische Banlieues in oft noch viel größerem Ausmaß zu. Den
Gelbwesten deswegen das Recht zu verwehren, für bessere Lebensverhältnisse
auf die Straße zu gehen, wäre absurd; toll und
politisch unglaublich interessant wäre es natürlich, sie würden
das solidarisch und gemeinsam mit den BewohnerInnen der
Banlieues machen.
Christoph Laimer — Stadt – Land
05
ILSE HELBRECHT
Urbanität –
RURALITÄT
Der Versuch einer prinzipiellen
Klärung und Erläuterung der Begriffe
Blick vom Central Park nach Midtown Manhattan, New York;
Alle Fotos — Ilse Helbrecht
Die Ergebnisse der letzten Präsidentschaftswahlen in den USA, die zu Donald Trump
geführt haben, scheinen räumlich eindeutig zu sein: Die ländlichen Regionen haben vielfach
begeistert für Trump und die Republikanische Partei gestimmt, während sich die
Demokraten auf eine hohe Wählergunst in den urbanen Zentren verlassen konnten.
Auch andere politische Wahlergebnisse der letzten Jahre beispielsweise in Frankreich
(Le Pen), Großbritannien (Brexit) oder Deutschland (AfD) werden in der Öffentlichkeit
oftmals als eine neue Spaltung der Gesellschaft in Stadt und ländliche Räume interpretiert.
So titelt der Spiegel Online: Auf dem Land regiert der Frust … Weltweit übernehmen
Rechtspopulisten den ländlichen Raum (Müller 2016). Aber stimmt das wirklich?
Lässt sich mit der Unterscheidung von Stadt und Land das aktuelle Wahlverhalten erklären?
Erleben wir eine neue Polarisierung westlicher Gesellschaften in ländliche und
urbane Gebiete bzw. Wählerschichten? Und noch grundsätzlicher gefragt: Was bedeuten
die beiden Begriffe Urbanität und Ruralität überhaupt? Wie trennscharf sind sie, und
welche gesellschaftlichen Phänomene kann man mit ihnen erklären?
Der folgende Text wurde als Lehrbuchartikel (Helbrecht 2014) für Studierende der
Geographie geschrieben. Er versucht eine prinzipielle Klärung und Erläuterung der
Begriffe Urbanität und Ruralität. Ich vermute, eine solche Begriffsklärung ist auch hilfreich
für aktuelle Debatten um neue kultur-räumliche Spaltungen der Gesellschaft.
Urbanität, Ruralität, Lebensstil, Sozialtypus, Raumproduktion,
Wahlverhalten, Öffentlichkeit, Privatheit, Postkolonialismus, Humangeographie
06
dérive N o 76 — STADT LAND
THERESIA OEDL-WIESER
Was ist dran am
»Exodus« der jungen
FRAUEN vom LAND?
Eine soziologische Annäherung
Alle Fotos — Frollein2007
In Österreich wächst die Bevölkerung kontinuierlich und regional differenzierte Bevölkerungsprognosen
bis 2030 sagen voraus, dass sich die Zuwächse nur auf die großen
Städte und deren Umland konzentrieren werden. Insbesondere periphere Regionen
mit schwächerer Wirtschaftsstruktur werden unter Geburtendefiziten und stärkerer
Abwanderung leiden (ÖROK 2015, S. 8 f.). »It matters where you live« – dies gilt nicht
nur für Österreich, sondern auch für die meisten Länder der EU. Auch hier konzentriert
sich das Bevölkerungswachstum auf städtische Regionen, während im peripheren
Raum die Bevölkerung schrumpft (eurostat 2017). Die damit einhergehenden großen
regionalen Entwicklungsunterschiede sind oft ausschlaggebend für die Abwanderung
junger, gut ausgebildeter Menschen. Die Wanderungsmotive sind jedoch nicht nur selektiv
in Hinblick auf Ausbildung und Fähigkeiten, sondern auch bezüglich des Geschlechts.
Migration, Bildung, Arbeitsplatz, Geschlechterordnung,
Lebensphasen, Landflucht, Geschlechtergerechtigkeit, Lebensführung
14
dérive N o 76 — STADT LAND
GÜNTHER OGRIS
Die Geographie
des Wahlverhaltens
in ÖSTERREICH
Kreisverkehr in Niederösterreich; aus der Serie
Scheibenwelten von Johannes Hloch.
Österreich hat 8,9 Mio. EinwohnerInnen, Wien 1,9 Mio., 21 Prozent der Bevölkerung
leben in Wien. Zum Vergleich: In Berlin leben 4,4 Prozent der EinwohnerInnen
Deutschlands, ganz ähnlich ist der Anteil der Züricher Bevölkerung in der Schweiz.
Wie Wien wählt, ist also für bundesweite Wahlen in Österreich von hoher Bedeutung.
Seit 100 Jahren – mit Ausnahme der Zeit des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus
– war die sozialdemokratische SPÖ immer die – meist mit Abstand – stärkste
Partei in Wien, ebenso wie die konservative ÖVP im ländlich geprägten Bundesland
Niederösterreich rund um Wien. Günther Ogris vom Institut SORA ist einer von Österreichs
renommiertesten Sozialforschern. SORA führt seit vielen Jahren Hochrechnungen
und Wahlanalysen durch. Im Interview mit Christoph Laimer spricht Ogris über die
unterschiedlichen politischen Einstellungen in urban bzw. rural geprägten Räumen,
die Konstanz von räumlich-politischen Konstellationen, das Wienbashing von Sebastian
Kurz, die Präferenzen der weiblichen Wählerschaft und von ArbeiterInnen, die Auswirkung
von Bildung und das Wahlverhalten in vernachlässigten Regionen.
Wahlverhalten, Wahlforschung, Bildung, Arbeitsplätze,
Urbanisierung, Wahlrecht, Diskriminierung, Strukturschwäche
20
dérive N o 76 — STADT LAND
JEREMY HARDING
Unter
GELBWESTEN
Gelbwesten, Frankreich, Provinz, Armut, Aufstand,
Polizeigewalt, Antisemitismus, Globalisierung,
Marginalisierung, Einkommensungleichheit, Niedriglohnjobs
Akt II: Demonstration der Gelbwesten auf den Champs Elysées am 24.11.
Alle Fotos — Christophe Becker
Als sie sich Ende letzten Jahres an Straßen und Kreisverkehren
versammelten, zeigte sich die französische Regierung völlig
überrascht. Binnen einer Woche nach ihrer ersten landesweiten
Mobilisierung stellten sie sich regelmäßig an Kreuzungen im
ganzen Land auf, um den Verkehr zu blockieren, marschierten
durch Paris und die großen Provinzstädte. Eilig in Auftrag gegebene
Umfragen verlautbarten, dass 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung,
darunter viele in den größten französischen Ballungszentren,
diese massive Demonstration der Ungeduld
unterstützen. Allerdings trafen die Gelbwesten (Gilets Jaunes)
zu Beginn außerhalb der Großstädte zusammen, in ländlichen
Gebieten und Kleinstädten mit heruntergewirtschafteten Serviceeinrichtungen,
Niedriglohnökonomien und einem
schrumpfenden Handel. Sie waren misstrauisch gegenüber den
aufstrebenden Metropolen, die sich durch öffentliche Mittel,
private Investitionen, Tourismus und üppige Immobilienpreise
erfolgreich entwickelt haben. Zu ihnen zählen Menschen, die in
den Innenstädten aufgewachsen sind, es sich aber nicht mehr
leisten können, in ihnen zu leben: Diese BarbarInnen wissen,
wo sie sind, wenn sie an den Toren der Stadt ankommen. Sie
marschieren durch das Zentrum von Paris und die neuen, aufwendig
gestalteten Zentren des französischen Wohlstands – vor
allem Toulouse und Bordeaux – und beenden ihren Auftritt mit
einem gewalttätigen und zerstörerischen Akt. Nach 15 Wochen
kostspieliger Proteste hat die öffentliche Sympathie in den großen
Ballungsräumen erst vor Kurzem begonnen, nachzulassen.
Das ist eines von vielen Rätseln.
Ein weiteres ist das Tempo, mit dem sich ein Aufstand
der Provinzen über Benzinpreise und Geschwindigkeitsbegrenzungen
zu einer radikalen Ablehnung Präsident Emmanuel
Macrons, seines Amts, der Nationalversammlung und der politischen
Parteien ausweitete, darunter Marine Le Pens
Jeremy Harding — Unter GELBWESTEN
25
Kunstinsert
Elena Anosova
Out-of-the-way
Elena Anosova habe ich 2017 bei der 4 th Ural Industrial Biennial of Contemporary Art in Ekaterinburg
kennengelernt. Insbesondere das Projekt Sections hat mich nachhaltig beeindruckt. Die
Fotografien von Frauen, die lange Strafen in verschiedenen Gefängnissen in Sibirien verbüßen,
vermitteln in ihrer feinen und unspektakulären Art eine berührende Eindringlichkeit. Diese
schuf die Künstlerin durch eine mehrmonatige persönliche Auseinandersetzung mit den Insassinnen,
die allmählich eine Beziehung entstehen ließ und einen Prozess des Vertrauens aufbaute.
So gewährten die Frauen Elena Anosova zunehmend Einblick in ihr Leben im Gefängnis, die
Hintergründe ihrer Taten und was es bedeutet, lebenslang für eine Tat zu büßen, der z. B. die
nicht enden wollende Gewalt des Ehemanns vorausging.
Elena Anosova interessieren Grenzen – persönliche, geographische, gesellschaftliche,
sowie Fragen von Isolation. Ihr Projekt Out-of-the-way (2017) behandelt geographische Grenzen,
in die uns die Künstlerin über die Geschichte ihrer Familie Einblick gewährt. Im Zustand
emotionaler Erschöpfung nach der Arbeit an Sections reiste Elena Anosova in die Gegend ihrer
Vorfahren im hohen Norden, in den Rajon Katangski, Region Irkutsk, in der die Tungus Nation
vor 300 Jahren eine kleine Siedlung gegründet hatte. Ihre Familie lebt heute noch dort, mit
100 Menschen mit der DNA der indigenen Minderheit der Tungus, Blutsverwandte, Verwandte
aus der Ehe, aus nächster Nähe. Die moderne Zivilisation beeinflusst die Welt, aber diese isolierte
Gemeinschaft bewahrt ihre Identität aufgrund der Isolation und des strengen Klimas. Die
Siedlung kann nur mit einem Hubschrauber erreicht werden, der zweimal im Monat von einer
kleinen Stadt in 300 km Entfernung pendelt. Das Leben dieses Teils der Familie der Künstlerin
hat sich in dieser abgelegenen Gegend inmitten unberührter Wildnis seit Jahrhunderten kaum
verändert. Die moderne Zivilisation dringt dort langsam und fragmentarisch ein und ist eng mit
der lokalen Lebensweise verwoben. Diese Länder sind in den Fluss ihrer eigenen Lebensaktivität
eingetaucht, in der Vergangenheit und Gegenwart auf überraschende Weise ineinandergreifen.
Elena Anosova führt aus: »Eine Landschaft, die seit Ewigkeiten unveränderlich ist, lässt
uns nachdenken: Woher kommen wir und – die wichtigste Frage für die nächsten Generationen
– wohin gehen wir? Wir wählen die Hoffnung. Die Hoffnung, dass der Weg gefunden wird,
dass es Nahrung gibt, dass alle Menschen nach Hause zurückkehren, dass die Familie wiedervereinigt
wird und der Winter zu Ende geht.«
Die Fotografien strahlen eine sehr eigenwillige Poesie aus, die uns das Aufeinanderprallen
von Lebenswelten zwischen Fortschritt und traditionellem Leben unspektakulär
nachfühlen lassen.
Im Insert zu sehen sind: Rechte Seite: Die Familienlandkarte des Jagdreviers, die vor
40 Jahren von Elenas Onkel Valera gezeichnet wurde, sowie ein Ausschnitt aus dem Notizbuch
mit dem Foto eines Hauses im Dorf. Doppelseite: Die Jäger kehren mit dem Schneemobil zurück
ins Dorf; sowie Fotos aus dem Familienarchiv: Jäger Alexander (Foto ca. 1970) posiert mit Gewehr
und spezieller Jäger-Parka; ein großes Transportfloß. Linke Seite: Die fünfjährige Irishka
posiert auf der Jäger-Parka. Ihre Mutter ist Tungus und ihr Vater Russe.
Elena Anosova lebt und arbeitet in Irkutsk und Moskau und war jüngst Artist-in-Residence von
KulturKontakt Austria. Sie lehrt u. a. an der Rodchenko Art School in Moskau, erhielt zahlreiche
Preise, u. a. von World Press Photo, sowie den Garage Grant for Emerging Artists. Eine neue
Arbeit zu Beyond the Boundaries war in Wien im April in der Ausstellung Urgent Perspectives #3
in Aa Collections zu sehen. Im Juni 2019 nimmt sie an der Ausstellung The Twelfth Time Zone: A
Contemporary Art Report from Russia im BOZAR / Centre for Fine Arts in Brüssel teil.
Barbara Holub / Paul Rajakovics
32
dérive N o 76 — STADT LAND
JUDITH EIBLMAYR
SINE_URBAN
Das schwere Erbe von Suburbia
Suburbanisierung, Angststörungen, USA, Mobilität, Automobil,
Fahrrad, Spekulation, Rendite, Geschlechterordnung
Coon Rapids, Minnesota, USA 1957,
Foto — Minnesota Historical Society
Es ist ein Phänomen, das einem in kleinen österreichischen
Gemeinden begegnet: Häuser mit heruntergelassenen Rollläden
am helllichten Tag trotz Normaltemperatur. Als Schallschutz
an der Hauptstraße, weil jemand ein Mittagsschläfchen hält,
oder aus Sicherheitsgründen am knallgelben Fertigteilhaus,
weil man nicht zu Hause ist, macht dies durchaus Sinn. Es gibt
aber auch andere Gründe, wie eine ortskundige Anrainerin
zu erzählen weiß: Bewohnerinnen verdunkeln untertags, selbst
wenn sie zu Hause sind, damit die Glasscheiben der Fenster
nicht verschmutzen. Nicht unlogisch, hat der kontinuierlich
stärker werdende Autoverkehr doch immer mehr unangenehme
Nebenwirkungen.
Der Rollladen bietet Schutz aus einem persönlichen
Sicherheitsbedürfnis heraus, schließlich kann man nie wissen,
wer womöglich vorbei und auf dumme Gedanken kommt.
Und, ach ja, es fällt auch auf, dass kaum Menschen auf der
Straße sind! Die Geschäfte im Zentrum haben zugesperrt, die
Post ist weg, der Wirt ist schlecht gelaunt, weil die Gäste ausbleiben.
Die Jungen und Familien mit Kindern fahren lieber
zum Mäkki (McDonalds) im Fachmarktzentrum am Kreisverkehr
bei der Ortseinfahrt, der kürzlich aufgesperrt hat. Viele
Hauptstraßen in Österreich geraten zusehends zu Durchzugsstraßen
und ziehen der Infrastruktur im Zentrum oft genug
den Lebensnerv, Sineurbanismus könnte man diese neue Form
der sinnentleerten Ortskerne nennen.
Außer am Sonntag, wenn sich die Gemeinde in der Kirche
trifft, oder bei speziellen Events wie Straßenfesten, gibt es
auf der Straße nur mehr wenig zu erleben, kaum mehr etwas
zu erledigen, wenig Grund sich dort aufzuhalten und zu Fuß zu
bewegen und dadurch im Austausch mit anderen automatisch
die Belebung zu erzeugen. Wenn der öffentliche Raum nicht
mehr funktioniert und die soziale Kontrolle durch Menschen,
Judith Eiblmayr — SINE_URBAN
37
MAXIMILIAN FÖRTNER, BERND BELINA, MATTHIAS NAUMANN
STADT, LAND,
AfD
Zur Produktion des Urbanen
und des Ruralen im Prozess der
Urbanisierung
Einleitung: Zur (Wahl-)Geographie der AfD
In einem Interview, überschrieben mit Die Rache der Dörfer, plädiert der Ethnologe
Wolfgang Kaschuba (2016) dafür, aktuelle Entwicklungen des Rechtspopulismus
auch als ein Veto ländlicher Regionen zu verstehen. Gegenüber der bisherigen
Situation, in der »Stadtgesellschaften den Weg in die Zukunft quasi vorgehen und
bestimmen« (ebd.), formulierten nun »ländliche Regionen, dass sie nicht einverstanden
sind mit dem Weg der Stadtgesellschaften« (ebd.). Rechtspopulistische Bewegungen
und die Krise politischer Eliten zeigten demnach eine Geographie, die ganz maßgeblich
von Stadt-Land-Gegensätzen geprägt sei. Diese sei Ergebnis einer Strukturpolitik,
die sterbende Kleinstädte und Dörfer jenseits der Metropolregionen zurückgelassen
habe. In diesem Beitrag diskutieren wir die Geographie der Erfolge der
Alternative für Deutschland (AfD) bei der Bundestagswahl 2017 vor dem Hintergrund
der Debatte um Stadt-Land-Gegensätze.
Neben dem Ost-West- und dem Nord-Süd-Gefälle wird in vielen Teilen des Landes
zusätzlich ein Stadt-Land-Gefälle deutlich. Eine einfache Korrelation zwischen der
Zahl der EinwohnerInnen und den Zweitstimmenergebnissen der im Bundestag vertretenen
Parteien auf der scale der Gemeinden verdeutlicht dies. Nach der CDU/CSU ist
die AfD die Partei, die in Städten und Gemeinden mit geringer EinwohnerInnenzahl
besonders erfolgreich ist. Dieser Zusammenhang ist in den neuen Bundesländern stärker
ausgeprägt als in den alten. In Nordrhein-Westfalen hingegen ist sie auch in
bevölkerungsreichen Gemeinden erfolgreich, vor allem in Städten des Ruhrgebiets.
Dasselbe gilt in geringem Ausmaß auch für Niedersachsen und für das Saarland.
Insgesamt bestätigen diese Ergebnisse die These von Kaschuba: Tatsächlich hat die
AfD in weniger großen Städten und auf dem Land weit besser abgeschnitten als
in Großstädten.
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dérive N o 76 — STADT LAND
Besprechungen
Wiens munizipaler
Sozialismus
Christoph Laimer
Genau 100 Jahre ist es her, als die sozialdemokratische
SDAP die ersten freien Kommunalwahlen
in Wien mit absoluter Mehrheit
gewonnen hat und die Ära begann, die
später das Rote Wien genannt werden
sollte. Damals war vom Neuen Wien die
Rede, das erinnert an das Neue Frankfurt,
das in einigen Jahren ebenfalls sein
100-Jahr-Jubiläum feiern wird. (Im DAM
läuft übrigens noch bis 18. August unter
dem Titel Neuer Mensch, Neue Wohnung
eine Ausstellung über das Wohnbauprogramm
des Neuen Frankfurt, die einen interessanten
Vergleich mit dem Roten Wien
ermöglicht.) Das Rote Wien ist aus heutiger
– vielleicht noch mehr als aus damaliger
Sicht, das muss einfach gesagt werden, eine
unglaublich beeindruckende Leistung. Man
hält es kaum für möglich, dass dieses
»Projekt der radikalen Spätaufklärung«
(Wolfgang Maderthaner) unter den
elenden Bedingungen und schwierigsten
Voraussetzungen, die nach dem Ersten
Weltkrieg herrschten, umgesetzt werden
konnte. Ob dieser Tatsache ist man einigermaßen
verwundert, dass die Stadt Wien mit
dem Jubiläum überraschend zurückhaltend
umgeht. Eine Zurückhaltung, die für Wien
ungewöhnlich ist. Gerade heute, wo die
Idee des Munizipalismus als neue Hoffnung
der linken Stadtpolitik gilt, sollte ein großer
internationaler Kongress zum Roten Wien
und seiner Bedeutung für die Gegenwart
wohl das Mindeste sein, was man sich
erwarten können müsste. Umso erfreulicher,
dass das Wien Museum sich der Aufgabe
angenommen hat, eine Ausstellung über
das Rote Wien zu zeigen und das trotz der
räumlich beschränkten Möglichkeiten, die
das umbau-bedingte Ausweichquartier im
MUSA zu bieten hat.
Die erste Überraschung beim Betreten des
Ausstellungsraums ist die angenehm luftig-helle
Atmosphäre, die einen erwartet.
Viel helles Holz und eine maximale Ausnutzung
der Wandflächen haben es ermöglicht,
auf im Raum positionierte Stellwände
zu verzichten. Die Projektionsflächen und
die wenigen Ausstellungsobjekte, die im
Raum stehen oder hängen, schränken das
Blickfeld keineswegs ein, wodurch ein
angenehmes Raumgefühl erzeugt wird.
Möglich ist diese Zurückhaltung allerdings
natürlich nur, weil die Ausstellung über eine
Vielzahl von Außenstellen verfügt, ein
großes Begleitprogramm geboten wird und
ein umfangreicher Katalog vorliegt, auf den
an anderer Stelle noch eingegangen werden
wird.
Die Ausstellung beginnt mit Einblicken in
die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung
in den Jahrzehnten vor dem Roten Wien.
Neben amüsanten Ausstellungsstücken, wie
einer roten Rodel mit der Friedrich Adler,
sozialdemokratischer Politiker und Sohn des
Gründers und langjährigen Vorsitzenden
Siedlung Rosenhügel, Siedlerarbeit, 1921
Foto — Wien Museum
der SDAP Victor Adler, als Kind offenbar
Wiens verschneite Hänge hinabrutschte,
beeindruckt in seiner inhaltlichen Klarheit
vor allem eine Titelseite der Arbeiter-
Zeitung vom 2. Februar 1896. Die Überschrift
lautet klipp und klar: »Was die Sozialdemokraten
von der Kommune fordern!«
Dann wird ein Punkt nach dem anderen
aufgezählt und kurz erläutert und man
fragt sich, warum man sowas heute nicht zu
lesen bekommt. Es geht um das Wahlrecht,
um Bildung, Wohnen und vieles anderes;
schlicht und einfach und gerade deswegen
überzeugend.
Über den auf Augenhöhe zu sehenden
Objekten sind in der ganzen Ausstellung
Reproduktionen von fantastischen, großformatigen
Fotos aus dem 1924/25 von Otto
Neurath gegründeten Gesellschafts- und
Wirtschaftsmuseum zu sehen. Die meisten
wurden 1926 angefertigt und zeigen zahlreiche
Aufnahmen von Gemeindebauten,
aber auch von Siedlungen wie derjenigen in
der Hoffingergasse von Josef Frank oder
Adolf Loos’ Siedlung am Heuberg. Zum Teil
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dérive N o 76 — STADT LAND
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dérive Nr. 1 (01/2000)
Schwerpunkte: Gürtelsanierung: Sicherheitsdiskurs,
Konzept – und Umsetzungskritik, Transparenzbegriff;
Institutionalisierter Rassismus am Beispiel der
»Operation Spring«
dérive Nr. 2 (02/2000)
Schwerpunkte: Wohnsituation von MigrantInnen und
Kritik des Integrationsbegriffes; Reclaim the Streets/
Politik und Straße
dérive Nr. 3 (01/2001)
Schwerpunkt: Spektaktelgesellschaft
dérive Nr. 4 (02/2001)
Schwerpunkte: Gentrification, Stadtökologie
dérive Nr. 5 (03/2001)
Sampler: Salzburger Speckgürtel, Museumsquartier,
räumen und gendern, Kulturwissenschaften und
Stadtforschung, Virtual Landscapes, Petrzalka,
Juden/Jüdinnen in Bratislava
dérive Nr. 6 (04/2001)
Schwerpunkt: Argument Kultur
dérive Nr. 7 (01/2002)
Sampler: Ökonomie der Aufmerksamkeit,
Plattenbauten, Feministische Stadtplanung,
Manchester, Augarten/Hakoah
dérive Nr. 8 (02/2002)
Sampler: Trznica Arizona, Dresden, Ottakring,
Tokio, Antwerpen, Graffiti
dérive Nr. 9 (03/2002)
Schwerpunkt in Kooperation mit dem
Tanzquartier Wien: Wien umgehen
dérive Nr. 10 (04/2002)
Schwerpunkt: Produkt Wohnen
dérive Nr. 11 (01/2003)
Schwerpunkt: Adressierung
dérive Nr. 12 (02/2003)
Schwerpunkt: Angst
dérive Nr. 13 (03/2003)
Sampler: Nikepark, Mumbai,
Radfahren, Belfast
dérive Nr. 14 (04/2003)
Schwerpunkt: Temporäre Nutzungen
dérive Nr. 15 (01/2004)
Schwerpunkt: Frauenöffentlichkeiten
dérive Nr. 16 (02/2004)
Sampler: Frankfurt am Arsch, Ghetto Realness,
Hier entsteht, (Un)Sicherheit, Reverse Imagineering,
Ein Ort des Gegen
dérive Nr. 17 (03/2004)
Schwerpunkt: Stadterneuerung
dérive Nr. 18 (01/2005)
Sampler: Elektronische Stadt, Erdgeschoßzonen,
Kathmandu, Architektur in Bratislava
dérive Nr. 19 (02/2005)
Schwerpunkt: Wiederaufbau des Wiederaufbaus
dérive Nr. 20 (03/2005)
Schwerpunkt: Candidates and Hosts
dérive Nr. 21/22 (01-02/2006)
Schwerpunkt: Urbane Räume – öffentliche Kunst
dérive Nr. 23 (03/2006)
Schwerpunkt: Visuelle Identität
dérive Nr. 24 (04/2006)
Schwerpunkt: Sicherheit: Ideologie und Ware
dérive Nr. 25 (05/2006)
Schwerpunkt: Stadt mobil
dérive Nr. 26 (01/2007)
Sampler: Stadtaußenpolitik, Sofia, Frank Lloyd Wright,
Banlieus, Kreative Milieus, Reflexionen der
phantastischen Stadt, Spatial Practices as a Blueprint
for Human Rights Violations
dérive Nr. 27 (02/2007)
Schwerpunkt: Stadt hören
dérive Nr. 28 (03/2007)
Sampler: Total Living Industry Tokyo, Neoliberale
Technokratie und Stadtpolitik, Planung in der
Stadtlandschaft, Entzivilisierung und Dämonisierung,
Stadt-Beschreibung, Die Unversöhnten
dérive Nr. 29 (04/2007)
Schwerpunkt: Transformation der Produktion
dérive Nr. 30 (01/2008)
Schwerpunkt: Cinematic Cities – Stadt im Film
dérive Nr. 31 (02/2008)
Schwerpunkt: Gouvernementalität
dérive Nr. 32 (03/2008)
Schwerpunkt: Die Stadt als Stadion
dérive Nr. 33 (04/2008)
Sampler: Quito, Identität und Kultur des Neuen
Kapitalismus, Pavillonprojekte, Hochschullehre,
Altern, Pliensauvorstadt, Istanbul, privater Städtebau,
Keller, James Ballard
dérive Nr. 34 (01/2009)
Schwerpunkt: Arbeit Leben
dérive Nr. 35 (02/2009)
Schwerpunkt: Stadt und Comic
dérive Nr. 36 (03/2009)
Schwerpunkt: Aufwertung
dérive Nr. 37 (04/2009)
Schwerpunkt: Urbanität durch Migration
dérive Nr. 38 (01/2010)
Schwerpunkt: Rekonstruktion
und Dekonstruktion
dérive Nr. 39 (02/2010)
Schwerpunkt: Kunst und urbane Entwicklung
dérive Nr. 40/41 (03+04/2010)
Schwerpunkt: Understanding Stadtforschung
dérive Nr. 42 (01/2011) Sampler
dérive Nr. 43 (02/2011) Sampler
dérive Nr. 44 (03/2011)
Schwerpunkt: Urban Nightscapes
dérive Nr. 45 (04/2011)
Schwerpunkt: Urbane Vergnügungen
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Das Modell Wiener Wohnbau
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Ex-Zentrische Normalität:
Zwischenstädtische Lebensräume
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Impressum
dérive – Zeitschrift für Stadtforschung
Medieninhaber, Verleger und Herausgeber / Publisher:
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Mayergasse 5/12, 1020 Wien
Vorstand: Christoph Laimer, Elke Rauth
ISSN 1608-8131
Offenlegung nach § 25 Mediengesetz
Zweck des Vereines ist die Ermöglichung und Durchführung
von Forschungen und wissenschaftlichen Tätigkeiten zu den
Themen Stadt und Urbanität und allen damit zusammenhängenden
Fragen. Besondere Berücksichtigung finden dabei
inter- und transdisziplinäre Ansätze.
Grundlegende Richtung
dérive – Zeitschrift für Stadtforschung versteht sich als
interdisziplinäre Plattform zum Thema Stadtforschung.
Redaktion
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