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Berliner Zeitung 03.07.2019

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6* <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 151 · M ittwoch, 3. Juli 2019<br />

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Hauptstadt<br />

Nördl.<br />

Polarkreis<br />

Rovaniemi<br />

FINNLAND<br />

5,5<br />

Millionen<br />

Einwohner 2018<br />

In Finnland leben die glücklichsten Menschen der Welt. Trotz rauen Klimas<br />

und monatelanger Dunkelheit im Norden des Landes. Woher nehmen die<br />

Finnen ihre gute Laune? Ein paar Thesen<br />

3,2 Millionen Saunen gibt es in Finnland –<br />

das sind 0,58 Saunen für jeden Finnen.<br />

Wenn sich zwei eine Schwitzkammer<br />

teilen, ist sogar noch für Gäste Platz.<br />

Geteilte Freude ist doppelte Freude.<br />

Helsinki<br />

Estland<br />

Finnland<br />

Frankreich<br />

Glücklich ist nur,wer<br />

auch mal völlig aus sich<br />

herausgehen kann. In<br />

Finnland gibt es 53,2<br />

Heavy-Metal-Bands per<br />

100 000 Personen. Das<br />

sind pro Kopf die meisten<br />

weltweit. Bei den<br />

entsprechenden Konzerten<br />

lässt sich wunderbar<br />

der Frust von der<br />

Seele schütteln und die<br />

ganze Wutherausgrölen.<br />

Und wenn man<br />

möchte, schreit man<br />

einfach vor Glück.<br />

Zypern<br />

Belgien<br />

Bulgarien<br />

Dänemark<br />

Deutschland<br />

Glücks-Rat<br />

Griechenland<br />

Am 1. Juli hat Finnland den Vorsitz des<br />

Rates der EU übernommen. Wasbedeutet das<br />

für Europa? Und was ist das für ein Land, in dem die<br />

zufriedensten Menschen der Welt leben und<br />

Sozialdemokraten noch Wahlen gewinnen können?<br />

VonTanja Brandes und Isabella Galanty<br />

Irland<br />

Italien<br />

Kroatien<br />

Lettland<br />

Freiheit ist die Voraussetzung,umglücklich<br />

zu sein. Das gilt auch<br />

für die Freiheit der<br />

Medien. Auf der von<br />

Reporter ohne Grenzen<br />

herausgegebenen<br />

Rangliste der Pressefreiheit<br />

landet Finnland<br />

2019 auf Platz 2<br />

(Deutschland: 13).<br />

Zusätzlich sorgt es bei<br />

den Finnen angeblich<br />

für Begeisterung,wenn<br />

ihr Land in der ausländischen<br />

Presse eine Rolle<br />

spielt. „Suomi mainittu!“<br />

ist der Ausdruck,<br />

der dieses Gefühl<br />

bezeichnet. Heißt so<br />

viel wie „Finnland<br />

wurde erwähnt!“.<br />

PaavoNurmi,<br />

Kimi Räikkönen,<br />

Aki Kaurismäki... in<br />

Finnland gibt es viele<br />

Berühmtheiten. Keine<br />

aber hat es zu solchem<br />

Weltruhm gebracht wie<br />

der Weihnachtsmann:<br />

Pro Jahr bekommt er<br />

700 000 Briefe aus<br />

aller Welt. Sein Wohnsitz<br />

ist Korvatunturi in<br />

Lappland. Woanders<br />

wohnen wollte er zum<br />

Glück noch nie.<br />

Offizielle<br />

Landessprachen<br />

Finnisch<br />

88,9%<br />

Schwedisch<br />

5,3%<br />

1900 Einwohner<br />

haben<br />

Sámi<br />

als Muttersprache<br />

Vereinigtes<br />

Königreich<br />

Ungarn<br />

Tschechien<br />

Schweden<br />

Am 1.Juli hat Finnland planmäßig die EU-Ratspräsidentschaft<br />

übernommen, ohne großes Aufsehen oder<br />

Medienecho. Inder Schaltzentrale der Europäischen<br />

Union hatte man andere Sorgen: Brüssel rang um die<br />

Benennung eines Kommissionspräsidenten, und auch andere<br />

Spitzenposten wollten vergeben werden. Da kann ein verhältnismäßig<br />

geräuschlos verlaufender Amtswechsel schon mal zur Randnotiz<br />

werden. Dass für das nächste halbe Jahr nun die Finnen den<br />

Vorsitz über die Geschäfte im Ratder Europäischen Union führen,<br />

ist trotzdem Grund genug, einen genaueren Blick auf das Land im<br />

Norden zu werfen –und auf die Institution, die gemeinsam mit<br />

dem EU-Parlament der europäische Gesetzgeber ist.<br />

Es ist nicht ganz einfach, den Überblick über die verschiedenen<br />

EU-Einrichtungen zu behalten –zumal sich ihreNamen in verwirrender<br />

Weise ähneln. Unter der Einrichtung des Europäischen<br />

Parlamentes (hier sitzen die EU-Abgeordneten) können sich die<br />

meisten noch etwas vorstellen. Die EU-Kommission (gewissermaßen<br />

die Regierung der EU) wiederum ist durch den<br />

Posten-Poker der letzten Tage in den Fokusgerückt.<br />

Beim Rat der Europäischen Union besteht akute Verwechslungsgefahr<br />

mit dem Europäischen Rat. Letzterer<br />

ist das höchste EU-Organ. Hier treffensichdie Staatsund<br />

Regierungschefs pro Halbjahr zweimal zu den<br />

EU-Gipfeln. DerEuropäische Rattrifft grundsätzliche<br />

politische Entscheidungen, kann aber<br />

keine Gesetzebeschließen.<br />

Das ist –zusammen mit dem EU-<br />

Parlament –die Aufgabe des Rates<br />

der Europäischen Union.<br />

Dessen Zusammensetzung<br />

variiert,<br />

Spanien<br />

Slowenien<br />

Slowakei<br />

Rumänien<br />

Finnische Frauen erhielten 1906 das aktive und passive Wahlrecht –als erstes europäisches<br />

Land überhaupt. Das allein warschon ein großes Glück. Auch sonst ist Finnland Pionier,wenn es<br />

um Belangeder Gleichberechtigung geht: Das geschlechtsneutrale finnisches Pronomen<br />

„hän“, das „er“, „sie“ „es“ oder jemand anderes bedeuten kann, stand 1543 erstmals in<br />

einer gedruckten Schulfibel und hat sich bis heute gehalten. Inzwischen gilt hän als Symbol<br />

für die Gleichstellung aller Geschlechter.Mit demTitel „Hän Honour“ werden weltweit Personen<br />

oder Initiativen ausgezeichnet, die sich um die Gleichstellung verdient gemacht haben.<br />

je nach politischem Themenbereich treffen sich die zuständigen<br />

Minister der EU-Länder,weswegen das Gremium auch Ministerratgenannt<br />

wird. Entscheidungen fallen hier nach dem Prinzip der<br />

doppelten Mehrheit. Dasheißt, vonden 28 Mitgliedstaaten müssen<br />

mindestens 16 zustimmen (55 Prozent), die gleichzeitig mindestens<br />

65 Prozentder EU-Gesamtbevölkerung stellen. Beider Außen- und<br />

Steuerpolitik müssen Beschlüsse einstimmig gefasst werden.<br />

Beiden Tagungen des Ratesführt(außer beim Ratder Außenminister)<br />

die zuständige Ministerin oder der Minister des EU-Mitgliedstaats<br />

denVorsitz, der den Ratsvorsitz innehat.Womitwir wieder bei<br />

den Finnen wären, die den Staffelstab von Rumänien übernommen<br />

haben.<br />

In Finnland leben laut Weltglücksbericht die glücklichsten<br />

Menschen derWelt. Mankannnur hoffen, dass sich das mit dem<br />

Ratsvorsitz auf den Rest Europas überträgt – nach Brexit-<br />

Kampf und Rechtsruck könnte der Staatenbund ein bisschen<br />

Glück ganz gut vertragen. DieVoraussetzungen stehen unter<br />

den neuen Chefs nicht schlecht: Nicht nur im eigenen Land<br />

strebt die Regierung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten<br />

Antti Rinne eine ehrgeizige Klimapolitik an.<br />

Finnland hat angekündigt, den Klimaschutz auch zum<br />

Schwerpunkt der Ratspräsidentschaft machen. Derzeit<br />

blockieren Polen, Tschechien, Ungarn und<br />

Estland eine Erklärung, wonach die EU in gut 30<br />

Jahren klimaneutral sein soll. Finnland hat<br />

sich nun das Ziel gesetzt, die Blockade-<br />

Staaten davon zu überzeugen, ihren<br />

Widerstand aufzugeben. Wenn<br />

das gelänge, hätte Europa<br />

wirklich allen Grund<br />

zur Freude.<br />

Portugal<br />

Polen<br />

Österreich<br />

Niederlande<br />

Litauen<br />

Luxemburg<br />

Malta<br />

Den Zustand, sich allein zu Hause zu betrinken, ohne das Bedürfnis, öffentlichkeitstaugliche<br />

Kleidung anzulegenund ohne jegliche Absicht, die Wohnung noch<br />

zu verlassen, kennen wahrscheinlich viele Menschen in ganz Europa.<br />

Doch sind die Finnen wohl das einzigeVolk, das für diesen Zustand ein Extra-Wort<br />

erfunden hat: Kalsarikännit beschreibt das oben genannte Phänomen.<br />

Damit ist alles gesagt, und man muss nichts weiter erklären. Wasfür ein Glück!<br />

Lebenserwartung<br />

78<br />

Jahre<br />

84<br />

Jahre<br />

Kaltgemäßigt sei<br />

das finnische Klima,<br />

behauptet Wikipedia.<br />

Das mag eine Frageder<br />

Relationen sein, aber<br />

eine durchschnittliche<br />

Höchsttemperatur von<br />

17,2 Grad (im Juli) hat<br />

nicht viel gemäßigtes.<br />

Für Finnen ist das<br />

natürlich noch längst<br />

kein Grund, auf<br />

Sommerfreuden zu<br />

verzichten: Gegrillt wird<br />

einfach zu allen vier<br />

Jahreszeiten.<br />

PLATZ DER REPUBLIK<br />

Vollgas vor der<br />

Zwangspause<br />

Tanja Brandes<br />

überVersuche, sich in (und von) der Politik zu erholen<br />

Das deutsche Parlament macht<br />

derzeit Pause. Ganz korrekt ist<br />

diese Behauptung eigentlich nicht,<br />

schließlich wirdder Bundestag nicht<br />

zwei Monate lang dichtgemacht. Sitzungsfreie<br />

Zeit ist die korrekte Bezeichnung<br />

für die Parlamentarische<br />

Sommerpause im Juli und August.<br />

Natürlich hören die Abgeordneten<br />

mit dem letzten Junitag auch<br />

nicht auf zu arbeiten und fangen erst<br />

im September wieder an. Sie nutzen<br />

die vorübergehend aufgehobene Anwesenheitspflicht<br />

in Berlin stattdessen<br />

zum Beispiel, um ausgiebiger in<br />

ihren Wahlkreisen unterwegs zu<br />

sein. Und auch Parlamentarier fahrenmal<br />

in den Urlaub.Allzu weit weg<br />

sollten sie aber nicht reisen, schließlich<br />

können auch während der sitzungsfreien<br />

Zeit unter bestimmten<br />

Voraussetzungen Plenarsondersitzungen<br />

einberufen werden.<br />

Trotz alledem geht es im Regierungsviertel<br />

derzeit etwas entspannter<br />

zu. Das war vergangene Woche<br />

noch ganz anders.<br />

An den letzten Sitzungstagen vor<br />

der Sommerpause herrschte im Bundestag<br />

Hochbetrieb. 28Punkte standen<br />

allein am letzten Donnerstag auf<br />

der Tagesordnung, unter anderem<br />

ging es um die Grundsteuerreform,<br />

das Atomabkommen mit dem Iran,<br />

die Internationale Lage der Menschenrechte<br />

von Homo- und Transsexuellen<br />

und die Anpassung des Datenschutzrechts.<br />

Die Sitzung dauerte<br />

bis zwei Uhrnachts. AmFreitag ging<br />

es so weiter: Förderung von Unternehmensgründungen,<br />

Klimapolitik<br />

(begleitet von „Fridays-for-Future“-<br />

Protesten vordem Reichstag), Rehabilitierung<br />

von Opfern des SED-Unrechts,Wohngeldstärkungsgesetz.<br />

Offensichtlich gilt für den Parlamentsalltag<br />

das gleiche Phänomen,<br />

das die meisten Menschen aus persönlicher<br />

Erfahrung kennen: Dieletzten<br />

Arbeitstage vor dem Urlaub werden<br />

mit Terminen zugepackt, alle E-<br />

Mails, die sich angesammelt haben,<br />

müssen noch beantwortet werden.<br />

Wo es geht, arbeitet man vor, wo es<br />

nicht geht, sucht man händeringend<br />

nach einer Vertretung. Alles nur, damitman<br />

den Urlaub mit dem Gefühl<br />

antreten kann, die nächsten zweiWochen<br />

ohne Laptop und Diensthandy<br />

verbringen zu können. Ein Vorsatz,<br />

den Umfragen zufolge zwei Drittel<br />

der Deutschen ohnehin nicht durchhalten.<br />

Unter Politikern dürfte die<br />

Quote der Erholungsschummler<br />

nochhöher sein –dafür spricht schon<br />

die Aktivität etlicher Abgeordneter in<br />

den sozialen Netzwerken, die auch<br />

zur Urlaubszeit nicht abreißt. Werin<br />

der Politik arbeitet, hat es schwerer<br />

als andere, für ein paar Tage oder<br />

auch nur Stunden wirklich abzuschalten<br />

(für die Medienbranche gilt<br />

übrigens ähnliches). Zu groß ist das<br />

zwischen Gewohnheit und Zwang<br />

pendelnde Bedürfnis nach Informationsaufnahme<br />

und -wiedergabe.<br />

Natürlich gibtesauchPolitiker, die<br />

sich des Problems bewusst und bereit<br />

sind, zum Äußersten zu greifen, um<br />

der Lage Herr zu werden. VonKollegen<br />

hörte ich, sie seien zur Urlaubszeit<br />

am Strand schon völlig unbekleideten<br />

Politikernbegegnet. So ein Zusammentreffen<br />

macht auf den ersten<br />

Blick keinen seriösen Eindruck, ist<br />

aber eine vorausschauende Maßnahme.<br />

Einem nackten Mann kann<br />

man bekanntlich nicht in die Tasche<br />

greifen. Und ein Handy lässt sich<br />

auch nicht verstauen.

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