Berliner Kurier 15.07.2019
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BERLINER KURIER, Montag, 15. Juli 2019<br />
Von<br />
PAUL LINKE<br />
Entschuldigung, suchen Sie auch ein<br />
Tier? Die Frau schaut mich an, als hätte<br />
ich bereits einen Vogel. Dabei hält<br />
sie wie ich ein Smartphone in den<br />
Händen, blickt abwechselnd aufs Display<br />
und in vier Himmelsrichtungen,<br />
sie scheint wie ich auf der Suche zu<br />
sein. „Nee“, sagt sie aber. „Hier soll irgendwo<br />
ein Burgerladen sein.“ Da<br />
vorne, sage ich. Sie bedankt sich, geht.<br />
Und wo ist jetzt mein Tier? Die App<br />
zeigt doch an, dass ich nur noch drei<br />
Meter entfernt bin vom einem E-<br />
Scooter des <strong>Berliner</strong> Start-ups Tier,<br />
dem mit der Nummer 115027. Aktuelle<br />
Akkuleistung: 100 Prozent. Mein<br />
Status: bedingt abfahrbereit.<br />
Seit einem Monat gilt ein deutsches<br />
Wort mit 33 Buchstaben: Elektrokleinstfahrzeugeverordnung.<br />
Seit einem<br />
Monat dürfen Verleiher wie Tier,<br />
Circ, Lime oder Voi ihre mit Elektromotoren<br />
betriebenen Tretroller in<br />
deutschen Städten aufstellen. In diesem<br />
Monat wurde auch in Berlin eine<br />
Verkehrsdiskussion losgetreten. Eine<br />
typisch deutsche Diskussion, der eine<br />
Eigenschaft abgeht: Gelassenheit im<br />
Umgang mit Minderheiten.<br />
Denn das sind bislang nur Zehntausende<br />
E-Scooter im Vergleich zu 75<br />
Millionen Fahrrädern und 47 Millionen<br />
Autos auf unseren Straßen –eine<br />
Minderheit. Eine allerdings, die offensiv<br />
Lobbyarbeit betreibt und auf<br />
das Momentum setzt. Aktuellen Studien<br />
zufolge machen sich drei Viertel<br />
der Deutschen Klimasorgen, ein Drittel<br />
will in Zukunft häufiger aufs Auto<br />
verzichten. Eine Verkehrswende soll<br />
es geben, aber noch hat die Regierung<br />
den Wendekreis eines Öltankers.<br />
Ich rolle in den Berufsverkehr, wo<br />
Fahrradpapas Bestzeiten zwischen<br />
Kita und Büro aufstellen wollen und<br />
rote Ampeln als Vorschlag verstehen.<br />
In Deutschland ist auch ein Wort mit<br />
22 Buchstaben gültig: Straßenverkehrsordnung.<br />
Zur Erinnerung die<br />
Grundregel: „Die Teilnahme am Straßenverkehr<br />
erfordert ständige Vorsicht<br />
und gegenseitige Rücksicht.“<br />
Seit Einführung der E-Scooter in<br />
Europa gab es einige tödliche Unfälle:<br />
Stockholm, Paris, Barcelona, London<br />
(siehe Kasten links). In Berlin blieb es<br />
bei Verletzungen. Siegfried Brockmann<br />
erklärt: „Die Unfallzahlen sagen<br />
noch nichts aus, das ist purer Zufall.“<br />
Der Leiter der Unfallforschung<br />
beim Gesamtverband der Deutschen<br />
Versicherungswirtschaft geht davon<br />
aus, dass es erst nach zwei bis drei<br />
Fotos: Imgao Images/Price, dpa<br />
Jahren belastbares Datenmaterial geben<br />
wird. Brockmann sagt trotzdem:<br />
„Ich vermisse, dass die Polizei deutlicher<br />
gegensteuert.“ Fußgänger müssen<br />
mehr geschützt werden.<br />
Vor dem Park Inn stehen Herr Weber<br />
und fünf Kollegen: Verkehrskontrolle.<br />
Die Kelle geht raus, als fünf<br />
Scooterfahrerinnen auf dem Bürgersteig<br />
anrollen. Ein Bußgeld von 15 bis<br />
30 Euro wäre denkbar, aber es bleibt<br />
bei einer Ermahnung, den Fahrradweg<br />
zu benutzen. „Berlin gilt als liberal“,<br />
sagt Herr Weber, „auch was die<br />
Verkehrspolitik angeht.“<br />
Vor allem Touristen hielten sich<br />
deshalb nicht an Regeln, würden sich<br />
überschätzen, zu zweit oder zu dritt<br />
fahren, was verboten sei. Es wäre für<br />
alle einfacher, sagt Herr Weber, wenn<br />
der Verkehr insgesamt zurückginge.<br />
„Aber wer will das wie durchsetzen?“<br />
Ich soll mir mal das Gedränge Unter<br />
den Linden anschauen. Mache ich.<br />
Mein Eindruck: Inoffiziell gilt hier<br />
das Recht des PS-Stärkeren.<br />
Grob getrennt gibt es zwei Argumentationsseiten<br />
in der Scooterfrage.<br />
Auf der einen stehen die innovationsfreudigen<br />
E-Anhänger, die sich zwanzigminütige<br />
Fahrten für fünf Euro<br />
leisten können, und natürlich die Anbieter,<br />
die behaupten, ihr Angebot<br />
würde den Weg, „die letzte Meile“,<br />
zum Bahnhof oder zur Haltestelle<br />
verkürzen, also eine Mobilitätslücke<br />
in den Städten schließen.<br />
Auf der anderen Seite stehen die genervten<br />
Pendler, die Verkehr als<br />
Überlebenstraining empfinden; unterstützt<br />
werden sie von Verbänden<br />
wie dem ADAC, der bessere Gefahrenaufklärung<br />
fordert. Und dann sind<br />
da noch besorgte Lokalpolitiker, die<br />
Regulierung verlangen, wo Verleiher<br />
sich zu viele Freiheiten nehmen, aber<br />
wenig auf Pflichten geben. „Warum“,<br />
sagte Mittes Bezirksbürgermeister<br />
Für die<br />
letzte<br />
Meile bis<br />
ins Büro:<br />
E-Roller-<br />
Fahrer mit<br />
Anzug<br />
Stephan von Dassel der <strong>Berliner</strong> Morgenpost,<br />
„stellen wir unser Straßenland<br />
kostenlos zur Verfügung, um Gewinnstreben<br />
von Privatunternehmen<br />
zu ermöglichen?“<br />
In Mitte ist es besonders eng, sind<br />
die meisten Scooter unterwegs, nach<br />
Recherchen des rbb 2165. Auf Bürgersteigen<br />
abgestellt konkurrieren sie<br />
mit Kinderwagen oder Cafégästen um<br />
jeden Quadratzentimeter Lebensqualität.<br />
Der Bürgermeister hätte auch<br />
fragen können: Warum ist ein Fünftel<br />
der <strong>Berliner</strong> Gesamtfläche für parkende<br />
Autos reserviert?<br />
Die Zentrale von Tier Mobility befindet<br />
sich im Ullsteinhaus in Tempelhof.<br />
Südlicher soll man in Berlin<br />
nicht rollen, außerhalb der mit GPS<br />
getrackten Verleihzone erlaubt der<br />
Motor nur Schrittgeschwindigkeit.<br />
Scooter sind bislang ein Innenstadtphänomen.<br />
Philip Reinckens würde<br />
das gern im Grunde ändern.<br />
Reinckens, 34, ist der Deutschlandchef<br />
von Tier. Deutschlandweit plant<br />
das Start-up mit 10 000 Scootern. In<br />
Berlin ist das Start-up vor einem Monat<br />
mit etwa 1000 gestartet. Reinckens<br />
glaubt: „Der Verzicht auf das<br />
Auto wird durch ein erhöhtes Mobilitätsangebot<br />
vorangetrieben.“ Tier sei<br />
eine sinnvolle Ergänzung zu den öffentlichen<br />
Verkehrsmitteln.<br />
Seit April arbeitet Reinckens<br />
daran, aus den Fehlern der anderen<br />
zu lernen. In San Francisco<br />
stellten US-Anbieter Tausende<br />
Scooter auf, ohne die Stadt zu informieren.<br />
Es herrschte Chaos,<br />
es gab viele Unfälle. In einigen<br />
europäischen Innenstädten wurden<br />
bereits Sperrzonen errichtet. Der Widerstand<br />
wächst. Klimaschutz ist zu<br />
ernst, um ihn als Spaßveranstaltung<br />
zu vermarkten. „Das Schlimmste wäre“,<br />
sagt Reinckens, „dass wir aus den<br />
Städten ausgeschlossen werden.“<br />
Der deutsche Markt ist der wichtigste<br />
für die Scooteranbieter in Europa.<br />
Über die deutsche Politik, die sich viel<br />
Zeit genommen hat bei der Klärung<br />
aller Sicherheitsfragen, sagt Reinckens,<br />
sie sei einen sehr konservativen<br />
Weg gegangen. Es war nun mal<br />
ein demokratischer Weg. „Früher<br />
oder später“, das ahnt Reinckens,<br />
„wird Reglementierung ein Thema<br />
für uns werden.“ Etwa: Begrenzungen<br />
der Scooter und Anbieter, eine Verpflichtung,<br />
die Außenbezirke zu beliefern.<br />
Reinckens Lieblingssatz lautet:<br />
„Wir haben unterschiedliche<br />
Möglichkeiten.“ Und ist da auch die<br />
Möglichkeit dabei, in Fahrradwege zu<br />
investieren? „Die ist uns momentan<br />
natürlich nicht gegeben.“