FOCUSSPEZIAL_2011-1_DieWelt2011_Vorschau
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6,90 Euro<br />
Die Welt <strong>2011</strong><br />
Die Welt<br />
<strong>2011</strong><br />
Karl-Theodor zu<br />
Guttenberg: Bundeswehr<br />
der Zukunft Hillary Clinton:<br />
Die neue Rolle der USA<br />
David Cameron: Was wir<br />
anpacken müssen Jamie<br />
Oliver: Essen mit Sinn<br />
Usain Bolt: Sprinterträume<br />
115<br />
118<br />
104<br />
109<br />
107<br />
4 191968 806905<br />
01<br />
8.1<br />
<br />
7.5<br />
<br />
7.0<br />
<br />
8.6<br />
<br />
6.1<br />
<br />
8.9<br />
<br />
1.3<br />
1.0 <br />
<br />
5.3<br />
<br />
1.7<br />
<br />
Weltbevölkerung<br />
<br />
1.8<br />
1.9<br />
4.4<br />
<br />
<br />
2.1<br />
<br />
3.7<br />
<br />
2.3<br />
<br />
2.5<br />
<br />
3.0<br />
<br />
Mit großem Sonderteil<br />
Deutschland
4 Inhalt DIE WELT <strong>2011</strong><br />
Die Welt<br />
<strong>2011</strong><br />
Ein Monster zähmen<br />
Wie viel Staat brauchen wir, fragt John<br />
Micklethwait in seinem Leitartikel auf<br />
Seite 10. Zanny Minton Beddoes prophe-<br />
zeit: Regierungen gefährden den Auf-<br />
schwung (S. 13). Die Bürger, nicht die<br />
Politiker werden die Probleme der USA<br />
lösen, glaubt Arianna Huffington (S. 69)<br />
Orientierungspunkte<br />
Amerika kann, muss und wird die Welt<br />
führen, schreibt US-Außenministerin<br />
Hillary Clinton auf Seite 73. Britanniens<br />
Staatschef David Cameron entwirft<br />
einen globalen Aktionsplan (S. 56)<br />
Der deutsche Verteidigungsminister<br />
Karl-Theodor zu Guttenberg skizziert<br />
die neue Rolle der Bundeswehr (S. 26)<br />
Grünes Licht<br />
Wir brauchen eine<br />
neue Klimapolitik,<br />
fordert der Leitartikel<br />
von Oliver Morton<br />
(S. 17).<br />
Shai Agassi,<br />
Vorstandschef von<br />
Better Place, sagt<br />
voraus, dass China<br />
und Israel Öko-<br />
auto-Pioniere sein<br />
werden (S. 117)<br />
Krallen<br />
ausfahren<br />
Die deutsche<br />
Kanzlerin Angela<br />
Merkel wird und<br />
muss <strong>2011</strong> angreifen:<br />
ihre<br />
Macht sichern,<br />
Reformen angehen<br />
(S. 22).<br />
Sechs Landtagswahlen<br />
sind ein<br />
wichtiger Test für<br />
sie (S. 24)<br />
6 Editorial FOCUS<br />
Gute Aussichten<br />
8 Editorial Economist Gespaltene Welt<br />
Leitartikel<br />
10 Weiche, Leviathan<br />
Wie viel Staat brauchen wir?<br />
11 Starke Nummer<br />
<strong>2011</strong> ist ein Jahr für Zahlen-Freaks<br />
12 Der Westen lahmt<br />
Schwellenländer preschen vor<br />
13 Kaputt-Sparer und Handelskrieger<br />
Politiker riskieren den Aufschwung<br />
14 So sehen Sieger aus<br />
Erfolgsfi rmen <strong>2011</strong>: groß und fl exibel<br />
16 Sieben Milliarden<br />
Überbevölkerung? Keine Panik!<br />
17 Die Erde abkühlen<br />
Es ist Zeit für eine neue Klimapolitik<br />
18 Arme Milliardäre<br />
Die Bescheidenheit der Superreichen<br />
19 Zukunft des Lesens<br />
Bücher verwandeln sich in „Apps“<br />
Deutschland<br />
Der große Sonderteil der<br />
FOCUS-Redaktion<br />
22 Merkels Metamorphose<br />
Von der Konsens- zur<br />
Kampf-Kanzlerin<br />
24 Die neue politische Farbenlehre<br />
Schicksalhafte Landtagswahlen<br />
26 Die Bundeswehr der Zukunft<br />
Essay von Karl-Theodor zu Guttenberg<br />
28 Entlasten oder belasten<br />
Werden <strong>2011</strong> Steuern gesenkt?<br />
29 Lohnrunde<br />
Ende der Zurückhaltung<br />
30 Scharia auf dem Lehrplan<br />
Deutschland bildet Imame aus<br />
31 Freizügiges Europa<br />
Arbeitsmarkt: offen für Osteuropäer<br />
32 Doppelter Abi-Jahrgang<br />
An den Unis wird es eng<br />
33 Deutschland zählt sich<br />
Zensus: Wie viele sind wir wirklich?<br />
34 Die Kirche wagt den Aufbruch<br />
Essay von Robert Zollitsch<br />
36 Durchstarter<br />
Menschen, die wichtig werden<br />
38 Große FOCUS-Umfrage<br />
Was erwarten die Deutschen <strong>2011</strong>?<br />
Was die Dax-30-Unternehmen?<br />
40 Firmen mit Potenzial<br />
Wer wird gute Geschäfte machen?<br />
42 Banken<br />
Der Rettungsschirm schließt sich<br />
43 Frauenquote<br />
Keine Zwangsverordnung<br />
44 Das große Surren<br />
Elektro-Autos gehen in Serie<br />
45 Super-Mobilfunk<br />
Das Ende der Funklöcher<br />
45 Das Gas kommt<br />
Die Ostsee-Pipeline in Betrieb<br />
46 Erbauliche Aussichten<br />
Architektur-Highlights <strong>2011</strong><br />
48 Frauenfußball-WM in Berlin<br />
Interview mit Trainerin Silvia Neid<br />
49 Prognosen<br />
Deutschland <strong>2011</strong> in Zahlen<br />
50 Termine, Termine<br />
Sport, Kultur, Jubiläen <strong>2011</strong><br />
Europa<br />
54 Der Honeymoon ist vorbei<br />
Britische Koalitions-Querelen<br />
55 Gemetzel im Haushalt<br />
Großbritanniens Kürzungspläne<br />
56 Mein Aktionsplan für die Welt<br />
Essay von David Cameron<br />
58 Knausern zum Geburtstag<br />
Zerreißproben in Italien<br />
59 Wer repariert Spanien?<br />
Ein Land sucht einen Retter<br />
59 Modetrends<br />
Burka nein, Schals ja<br />
60 Europa mischt mehr mit<br />
Essay von Herman Van Rompuy<br />
61 Sarkozys Kampf<br />
Ungeliebt: Frankreichs Präsident<br />
62 Sowjetunion 2.0<br />
Russland dreht die Zeit zurück<br />
63 Osmanien-Manie<br />
Die Türkei träumt von Macht<br />
64 Rechnet mit Polen!<br />
Essay von Radek Sikorski<br />
USA und Kanada<br />
66 An den Grenzen der Macht<br />
Barack Obamas Außenpolitik<br />
67 Patt im Kongress<br />
Die blockierten Staaten von Amerika<br />
68 Die Food-Trucks rücken an<br />
Essen auf Rädern amerikanisch<br />
69 Brich auf, Amerika!<br />
Ein Appell von<br />
Arianna Huffi ngton<br />
70 Das Rennen der Rechten<br />
Kandidaten-Parade der<br />
Republikaner<br />
71 Kopf hoch!<br />
Die US-Wirtschaft wird überraschen<br />
72 Probleme im Überfluss<br />
Kanalisation der Citys ist veraltet<br />
73 Amerika muss führen<br />
Essay von Hillary Clinton<br />
74 Patriarch oder Patrizier<br />
Kanada: Neuwahlen <strong>2011</strong>?<br />
Lateinamerika<br />
75 Triumph der Demokratie<br />
Südamerika übt sich im Fortschritt<br />
76 Castro gegen Castro<br />
Kuba probiert es mit Reformen
DIE WELT <strong>2011</strong> Inhalt 5<br />
Um die Wette<br />
wachsen<br />
Wer ist stärker? Indiens<br />
Tiger oder<br />
Chinas Drache?<br />
Eine Analyse<br />
von Simon Cox<br />
(S. 82). Der<br />
Präsident Chiles,<br />
Sebastián<br />
Piñera, meint:<br />
Wir stehen am<br />
Beginn eines<br />
„Jahrhunderts<br />
Lateinamerikas“<br />
(S. 77).<br />
Erleuchtungsmomente<br />
Chinas Wissenschaftler starten eine<br />
Großoffensive, schreibt Geoffrey Carr<br />
(S. 134). Wie wir Seuchen stoppen können,<br />
bevor sie ausbrechen, weiß Nathan<br />
Wolfe (S. 136). Ein Licht erlischt,<br />
das der Glühbirne. Nachruf auf S. 142<br />
Blick in<br />
die Zukunft<br />
Wird ein Mensch in<br />
25 Jahren die 100 Meter<br />
in neun Sekunden laufen,<br />
will Sprinterkönig Usain<br />
Bolt wissen. Star-Koch<br />
Jamie Oliver überlegt,<br />
wie die Welt sich ernähren<br />
wird. Zukunftsforscher<br />
Paul Saffo spekuliert:<br />
Wird die Zeit reif sein<br />
für eine neue Religion?<br />
(S. 137–140)<br />
77 Das Jahrhundert der Hoffnung<br />
Essay von Sebastián Piñera<br />
Asien und Australien<br />
80 Einstieg in den Ausstieg<br />
Chinas alte Garda tritt langsam ab<br />
81 Papas Liebling<br />
Nordkoreas neuer<br />
kleiner Kim<br />
82 Indien gegen China<br />
Wettlauf der Menschen-Milliardäre<br />
83 Holpriger Boom<br />
Indiens marode Infrastruktur<br />
84 Obamas Falle<br />
Kein Ausweg aus Afghanistan<br />
85 Wir gehen online<br />
Essay von Julia Gillard<br />
86 Land der zwei Geschwindigkeiten<br />
In Australien fl oriert das Outback<br />
87 Rugby-Krieger<br />
Neuseeland hofft auf einen WM-Titel<br />
Naher Osten und Afrika<br />
90 Das unbefriedete Land<br />
Irak: Wo geht es zur Normalität?<br />
91 Ahmadinedschad wankt<br />
Irans Regime steckt in Nöten<br />
92 Sie verhandeln wieder<br />
Fortschritte in Israel<br />
93 Hallo, Land Nummer 193!<br />
Geburt einer Nation: Südsudan<br />
94 Ein Kontinent holt auf<br />
Afrika brummt – teilweise<br />
Internationale Politik<br />
95 Jahr der Egoisten<br />
USA, China, EU – jeder gegen jeden<br />
96 Realitäts-Check<br />
Lag „The World in 2010“ richtig?<br />
97 Die Rocker gehen in Rente<br />
Dem Babyboom folgt der Altenboom<br />
98 Welcher Staat hat Power?<br />
Die große Nationen-Analyse<br />
Die Welt in Zahlen<br />
99 Prognosen für 79 Länder<br />
10 8 Prognosen für 15 Branchen<br />
Wirtschaft<br />
113 Aufsteiger aus der zweiten Liga<br />
Neue Länder überwinden Schwellen<br />
114 Ranglisten-Gerangel<br />
Staaten werben mit Rankings<br />
115 Gesundheit digital<br />
Die USA investieren Milliarden<br />
116 Gebremste Erwartungen<br />
Die Autoverkäufe sinken<br />
117 Von China und Israel lernen<br />
Essay von Shai Agassi<br />
118 Japan geht shoppen<br />
Nippon investiert im Ausland<br />
119 Journalismus kostet<br />
Paywalls im Internet<br />
1 2 0 Forsche und entwickle!<br />
Essay von Andrew Witty<br />
Finanzen<br />
1 21 Der ratlose Markt<br />
Politiker spielen Währungs-Roulette<br />
1 2 2 Überschuldungsalarm<br />
Staaten und Banken in Nöten<br />
1 2 3 Suche nach dem Super-Akronym<br />
Letzter Schrei: Abkürzungen<br />
1 2 4 Später Start<br />
US-Banken drängen ins Ausland<br />
1 2 5 Chinas ausgleichende Hand<br />
Essay von Guo Shuqing<br />
1 2 6 Drei Thronanwärter<br />
Wer wird Kaiser der Bankenwelt?<br />
1 2 7 Gezügelte Spekulationen<br />
Hedge-Fonds: Ende der Freiheit<br />
1 2 8 Nationalökonomen und die Krise<br />
Sorry, wir haben uns geirrt<br />
129 Fahren Sie bloß vorsichtig!<br />
Essay von Mohamed El-Erian<br />
Wissenschaft<br />
13 0 Tod der Malaria<br />
Eine Menschheitsgeißel besiegen<br />
131 Fahndung nach Geisterteilchen<br />
Neutrino-Jagd in der Antarktis<br />
13 2 Teilchen, wechsle dich!<br />
Das Fach Chemie kommt groß raus<br />
13 4 Forschungsriese China<br />
Eine neue Macht der Wissenschaft<br />
13 5 Auf zum Mars<br />
Wettstreit der Missionen<br />
13 6 Wie sich Seuchen stoppen lassen<br />
Essay von Nathan Wolfe<br />
Die Welt 2036<br />
13 7 Elf Autoren blicken 25 Jahre<br />
in die Zukunft<br />
Jim O’Neill: Wer treibt die Weltwirtschaft?<br />
Jamie Oliver:<br />
Was werden wir essen?<br />
Paul Saffo: An welchen Gott<br />
glauben wir? Don Tapscott:<br />
Beginnt die Ära der Kooperation?<br />
John Battelle: Was lehrt der Blick<br />
zurück? Paola Antonelli: Folgt das<br />
Sein dem Design? Doug Smith:<br />
Wie wild wird das Wetter?<br />
Nassim Taleb: Was wird bleiben?<br />
Mark Pincus: Wie wird Freundschaft<br />
aussehen?<br />
Vineet Nayar: Wer wird wen führen?<br />
Usain Bolt: Wie schnell wird der<br />
Mensch sein?<br />
141 Internationale Termine<br />
14 2 Nachruf<br />
Die Glühbirne – ein<br />
warmes Licht erlischt<br />
65 Impressum<br />
Mr. Change<br />
ernüchtert<br />
Innenpolitisch ist<br />
Präsident Barack<br />
Obama blockiert.<br />
Er wird sein Heil<br />
in der Außenpolitik<br />
suchen<br />
(S. 66). Doch Iran<br />
und Afghanistan<br />
bergen für ihn<br />
kaum wägbare<br />
Risiken (S. 84)
Editorial DIE WELT <strong>2011</strong><br />
Die Welt<br />
<strong>2011</strong><br />
Die Aussichten<br />
für <strong>2011</strong>?<br />
Nicht so schlecht!<br />
Alles, was ist, ist gut. Meint Augustinus. Meinen<br />
Sie das auch? Wohl kaum, denn Sie denken<br />
deutsch. Also kritisch, zweifelnd, faustisch.<br />
Uns Deutschen ist über die Jahrhunderte der Grundlagenoptimismus<br />
verloren gegangen wie Stock oder<br />
Hut. Selbst wenn sich der Optimismus im philosophischen<br />
Gewand zeigt wie bei Platon oder im religiösen<br />
wie bei Thomas von Aquin oder in beiden wie bei Leibniz,<br />
ob er sich in der Tatkraft Amerikas spiegelt oder<br />
in der Lebensfreude Indiens – wir wissen es besser,<br />
nämlich schlechter.<br />
In Deutschland gilt: Der Pessimist ist jemand, der<br />
vorzeitig die Wahrheit erzählt. Der lange düstere Schatten<br />
Schopenhauers („Alles Leben ist wesentlich Leiden“)<br />
liegt über uns und gibt die Sicherheit, dass Pessimisten<br />
selten enttäuscht werden.<br />
Zum Jahreswechsel 2010/<strong>2011</strong> sind wir wieder einmal<br />
besonders Schopenhauer: Der Terrorismus macht<br />
Angst, das Klima dampft, Griechenland ist pleite, Irland<br />
auch, Obama ist nur noch ein Schatten seiner<br />
selbst und Bayern München auch nicht mehr das, was<br />
es mal war. Dabei geht das Jahr 2010 – fair betrachtet<br />
– an die Optimisten. Die „schlimmste Krise aller<br />
Zeiten“ überfiel uns als Apokalypse. Heute hat sie sich<br />
als erträgliche Kurzrezession entpuppt. Ein neuer Aufschwung<br />
läuft auf so hohen Touren, dass er selbst die<br />
größten Optimisten-Prognosen noch überbietet. Die<br />
Pessimisten wirken deshalb heute eher wie Menschen,<br />
die nach dem Sarg Ausschau halten, wenn sie Blumen<br />
riechen.<br />
Auch die politische Stabilität, die vor Kurzem so bedroht<br />
schien wie die Marktwirtschaft, der Wohlstand,<br />
der Weltfrieden – alles wieder entspannt. Der von Alarmisten<br />
prophezeite „Aufstieg der Extreme“ ist ebenso<br />
ausgeblieben wie größere Kriege. Im Gegenteil: Russland<br />
nähert sich der Nato an, China nähert sich dem<br />
IWF an, Indien und Brasilien nähern sich dem Wohlstand<br />
an. Tatsächlich hat die Welt die große Krise mit<br />
souveräner Ruhe überwunden.<br />
Vielleicht sollten wir nach der Erfahrung von 2010<br />
dem Optimismus ein wenig mehr Raum in unseren<br />
Köpfen gönnen. Denn auch die historische Dimension<br />
von 20 Jahren Wiedervereinigung erinnert uns daran,<br />
dass Pessimisten in jeder Aufgabe ein Problem sehen,<br />
Optimisten dagegen in jedem Problem eine Aufgabe.<br />
Optimisten schreiten zur Tat, Pessimisten zur Ausrede.<br />
Die Pessimistenmär vom gespaltenen Volk und der gescheiterten<br />
inneren Einheit erweist sich jedenfalls als<br />
falsch. Deutschland hat es geschafft, seine glückliche<br />
Revolution erfolgreich zu vollenden.<br />
Bleiben die Kulturpessimisten, die seit Oswald Spengler<br />
den Untergang des Abendlandes herbeijammern.<br />
Bildungs- und Pisa-Schock, Medienkrise, Verflachung,<br />
Verdummung – wie ihre eigenen Großväter wälzen sie<br />
sich in Niedergangsschmerzen des Kulturellen, als ob<br />
früher alles besser gewesen wäre. Tatsächlich ist der Bildungsgrad<br />
in Deutschland so hoch wie nie, allenthalben<br />
kommen Rekordzahlen: von der Fremdsprachenfertigkeit<br />
bis zu den Museumsbesuchern, von musizierenden<br />
Kindern bis programmierenden Jugendlichen, von der<br />
Wissenschaftsleistung bis zur Zahl der Erfindungen.<br />
Wir sind Exportweltmeister, weil wir Intelligenz in Produkte<br />
übersetzen. Die kulturelle Regression ist schon<br />
deswegen eine glatte Fehldiagnose.<br />
Ein kleines Indiz, dass Deutschland nicht so spaßdumm<br />
und anspruchslos dahinstolpert, wie Kulturpessimisten<br />
gern schluchzen, ist auch dieses Magazin.<br />
Erstmals präsentiert FOCUS das Jahresausblick-Brevier<br />
des „Economist“, ergänzt um einen großen deutschen<br />
Sonderteil. Viele prominente und kluge Autoren haben<br />
daran mitgewirkt, und vielleicht werden Sie nach der<br />
Lektüre fundierter glauben, dass man sich auf das Jahr<br />
<strong>2011</strong> freuen darf – und für alle Abergläubischen wartet<br />
da noch ein Glück bringendes Datum: der 11.11.11.<br />
Uli Baur und Wolfram Weimer<br />
Chefredakteure FOCUS
Editorial DIE WELT <strong>2011</strong><br />
Die Welt<br />
<strong>2011</strong><br />
Das nächste Jahr, das zum Entzücken der Zahlenmystiker<br />
mit dem 11.11.11 aufwartet, wird<br />
wohl im Zeichen der Zahl zwei stehen. Sein<br />
Thema werden die wirtschaftlichen Antagonismen sein:<br />
hier die reiche Welt, geplagt von einer schwachen Erholung,<br />
die am Arbeitsmarkt vorbeigeht, dort die aufstrebende<br />
Welt, die sich viermal so schnell entwickelt. Genauso<br />
Europa, das in zwei Lager gespalten ist: hier das<br />
stabile Zentrum der Euro-Zone, dort die geschwächte<br />
Peripherie. Schließlich wird sich der Graben auch in<br />
einigen Ländern auftun: hier die Profiteure des China-<br />
Booms, dort die Nachzügler. Das beste Beispiel für eine<br />
Wirtschaft der zwei Geschwindigkeiten ist Australien.<br />
Auch in der Politik prallen die Kräfte aufeinander.<br />
Die Stimmung in Deutschland ist trotz einer relativ<br />
robusten Konjunktur mies. In Amerika werden sich das<br />
Weiße Haus und der Kongress gegenseitig blockieren.<br />
Der Sudan könnte nach einem Unabhängigkeitsreferendum<br />
zerfallen.<br />
Das Gefühl von Isolierung und Unzufriedenheit<br />
wird auch die Außenpolitik dominieren. Ungeachtet<br />
der Gespräche über globale Kooperationen und der Betriebsamkeit<br />
des französischen Präsidenten, G-8- und<br />
Das kommende Jahr wird uns<br />
mit technologischen Ideen<br />
überraschen, die uns der Lösung<br />
wesentlicher Probleme<br />
unserer Zeit näherbringen<br />
G-20-Vorsitzenden Nicolas Sarkozy wird sie oft ohne<br />
greifbare Ergebnisse bleiben. Die Währungs-, Handels-<br />
und Klimastreitigkeiten gleichen einem Tauziehen.<br />
Wenn die Weltbevölkerung gegen Jahresende die<br />
7-Milliarden-Marke überschreitet, werden die Zweifel<br />
wachsen, ob ein so dicht bevölkerter Planet bei steigendem<br />
Rohstoffbedarf überhaupt überlebensfähig ist.<br />
Aber der Pessimismus ist übertrieben. Das kommende<br />
Jahr wird uns mit technischen Ideen überraschen, die<br />
uns der Lösung wesentlicher Probleme näherbringen,<br />
etwa der Umstellung auf erdölfreie Fahrzeuge oder der<br />
Eindämmung von Epidemien. Der Weg zur Ausrottung<br />
der Malaria, einer Geißel der Menschheit, wird bereits<br />
<strong>2011</strong> sichtbar sein. Einige reiche Länder, nicht zuletzt<br />
Großbritannien, gehen radikale Reformen an. Und aufstrebende<br />
Märkte werden die wirtschaftlichen Erfolge<br />
Chinas, Indiens und Brasiliens fortschreiben, auch in<br />
Afrika, dort vor allem vom Wachstumsstar Ghana.<br />
Wirtschaft und Banken werden unter der Last der<br />
Regulierung stöhnen. Die Finanzwelt wird langweiliger<br />
werden, aber auch stabiler. Dynamische neue Firmen<br />
zeigen, dass Amerika immer noch Arbeitsplätze schaffen<br />
kann. Und die Multis werden erkennen, dass sie<br />
nicht nur multinational, sondern auch multiagil sein<br />
müssen – dass sie am besten gedeihen, wenn sie Größe<br />
mit Quirligkeit verbinden und sich schnell an ihre wandelnden<br />
Umgebungen anpassen.<br />
<strong>2011</strong> wird es auch Wendepunkte geben. China wird<br />
Amerika als den weltweit größten Produzenten ablösen.<br />
Und vielleicht wird China feststellen, dass der<br />
Rivale Indien erstmals schneller wächst. Zu den wichtigen<br />
Jahrestagen zählen: Barack Obama wird 50,<br />
Wikipedia zehn und Twitter fünf Jahre alt. Voller Trauer<br />
wird Amerika der Terroranschläge vom 11. September<br />
vor zehn Jahren gedenken. Mit gemischten Gefühlen<br />
verabschieden wir uns von der Glühbirne.<br />
Wie immer ist dieses Heft voller Prognosen. Gleichwohl<br />
gibt es zwei Neuheiten. Die Rubrik „Denkbar<br />
ist . . .“ enthält einige verwegene Voraussagen, deren<br />
Eintreffen nicht sehr wahrscheinlich ist. Aber wer<br />
weiß? Und um unser 25-jähriges Bestehen zu feiern,<br />
haben wir Gastautoren gebeten, für uns einen Blick in<br />
die Glaskugel zu werfen – die Welt in 25 Jahren. Das,<br />
was sie in der Zukunft gefunden haben, steht in einem<br />
Sonderteil am Ende dieses Heftes.<br />
Mit unseren Prognosen lagen wir mal richtig, mal<br />
daneben. Ein beständiges und unseres Erachtens meist<br />
zutreffendes Leitmotiv war aber unser auf der Globalisierung<br />
beruhender Fortschrittsoptimismus. Trotz der<br />
Nachwehen der großen Rezession werden wir mit unseren<br />
Fortschrittsahnungen <strong>2011</strong> wieder Recht behalten.<br />
Daniel Franklin<br />
Chefredakteur „The World in <strong>2011</strong>“