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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 194 · D onnerstag, 22. August 2019 – S eite 21<br />
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Feuilleton<br />
Der Debutfilm<br />
„Die Einzelteile<br />
der Liebe“ spielt im<br />
Hansaviertel<br />
Seite 23<br />
„Tanz hat ein unglaublich innovatives Potenzial.“<br />
Programmleiter Johannes Odenthal zur Ausstellung „Was der Körper erinnert“ in der Akademie der Künste Seite 22<br />
Nationalgalerie<br />
Der Chef nimmt<br />
seinen Hut<br />
Ingeborg Ruthe über Udo<br />
Kittelmann, der seinen Vertrag<br />
nicht verlängert<br />
Zwar sah ich den seit elf Jahren<br />
amtierenden Direktor der Nationalgalerie<br />
Udo Kittelmann, 61, nie<br />
mit Hut, aber das sagt man wohl so:<br />
„Er nimmt seinen Hut“, wenn einer<br />
aus freien Stücken geht, seinen doch<br />
so verlässlichen Vertragnicht verlängern<br />
mag. „Auf eigenen Wunsch.“<br />
Und ohne, dass die Welt den Grund<br />
oder die Alternativeerfährt.<br />
Die Erklärung des Warum und<br />
Wieso kommt aber wohl noch nach<br />
in dem verbleibenden Jahr bis zum<br />
31. Oktober 2020. Dann ist die hiesige<br />
und achtbareMuseums-Ärades<br />
2013 als „Europäischer Kulturmanager<br />
des Jahres“ Geehrten zu Ende.<br />
Dann ist der leidenschaftliche<br />
Kunstvermittler wohl anderweitig<br />
unterwegs auf den verlockenden,<br />
verschlungenen Wegen des internationalen<br />
Kunstbetriebes.<br />
Kittelmann kam 2008 aus FrankfurtamMain,<br />
gab dortden Chefposten<br />
des Museums für Moderne Kunst<br />
für die Staatlichen Museen Berlin<br />
auf. Insbesondere die fünf Häuser<br />
der Nationalgalerie: Neue und Alte,<br />
Hamburger Bahnhof, Museum Berggruen,<br />
Sammlung Scharf-Gerstenberg.<br />
In Berlin sorgte der Freigeist für<br />
ungewöhnliche Ausstellungen,<br />
zeigte eigenwillige, starke, dem<br />
Mainstream nicht verpflichtete Positionen.<br />
Das brachte zunehmend<br />
junges Publikum, sorgte für internationales<br />
Renommé. Zuletzt brachte<br />
Kittelmann das Jahrhundertprojekt<br />
„Galerie der Moderne“ mit auf den<br />
Weg. Wird er deren Entstehen dann<br />
nur aus der Distanz beobachten?<br />
Udo Kittelmann im virtuellen CDF-Raum<br />
der Alten Nationalgalerie.<br />
DPA<br />
Die wirklich wichtigen Dinge<br />
Nach dem Roman seiner Kindheit legt Matthias Brandt jetzt den Roman einer Jugend vor: „Blackbird“<br />
VonMartin Oehlen<br />
Matthias Brandt blickt<br />
zurück. Das hat er<br />
schon in seinem gefeierten<br />
Prosadebüt<br />
„Raumpatrouille“ (2016) getan,<br />
worin er durchaus autobiografisch<br />
geprägte Erzählungen aus einer<br />
Kindheit als Sohn eines deutschen<br />
Bundeskanzlers versammelt hatte.<br />
Nun geht es um die Jugendjahre, allerdings<br />
in einem Roman und durchaus<br />
freier in der personalen Anlage.<br />
Motte, der eigentlich Morten heißt,<br />
erzählt von Mädchen und Musik,<br />
vonder Scheidung der Eltern, die ihn<br />
ziemlich kalt lässt, und von der<br />
Schule, ander noch ein verkappter<br />
Altnazi als Sportlehrer seine Runden<br />
dreht. Vorallem aber erzählt er davon,<br />
wie er seinen besten Freund<br />
Bogi an den Krebs verliert.<br />
Wie geht Mutmachen?<br />
Die Krankheit fordert und überfordert<br />
alle. Matthias Brandt schildert<br />
die Etappen vonVerwunderung über<br />
Ratlosigkeit und Hoffnung bis zur<br />
schlechtesten aller denkbaren Nachrichten<br />
mit hoher Glaubwürdigkeit<br />
und Nähe. Mottes Probleme, dem<br />
Freund Mut zumachen, weil er erst<br />
gar nicht weiß, wie das geht, ist erfrischend<br />
ungeschönt. Eigentlich<br />
wollte der 15-Jährige nur sein altes<br />
Leben mit dem Freund wiederhaben.<br />
Aber dass er da nichts ausrichten<br />
kann, begreift er sehr schnell.<br />
Es ist eine Jugend in der zweiten<br />
Hälfte der Siebzigerjahre, deren Kolorit<br />
vonBrandt fein getupft wird. Da<br />
gibt es noch Schornsteinfeger und<br />
keine FaceApp, dakann sich einer<br />
„gehackt legen“ und im Kino läuft<br />
„Bilitis“. Musik hat eine große Bedeutung.<br />
Zwar sind die beiden<br />
Freunde auf diesem Feld nicht immer<br />
einer Meinung. Aber „Blackbird“<br />
von den Beatles, eines von Bogis<br />
Lieblingsstücken, kann auch<br />
Motte ertragen: Sie möge auffliegen,<br />
ruft Paul McCartney der Amsel zu,<br />
und dadurch die Freiheit erlangen,<br />
auf die sie so lange gewartet habe.<br />
Schließlich die Mädchen. Erst<br />
einmal der Liebeskummer, als Jacqueline<br />
Schmiedebach im Kino<br />
doch einen anderen küsst. Dann<br />
aber fällt sein Blick auf Steffi. Geht da<br />
was mit der Frau, die sich einmal mit<br />
einer Heugabel verletzt hatte? Motte<br />
Der Schauspieler und Schriftsteller Matthias Brandt.<br />
DAS BUCH<br />
Matthias Brandt: Blackbird<br />
Kiepenheuer &Witsch, Köln 2019. 280 S.,22Euro<br />
IMAGO<br />
meint: „Wahrscheinlich gibt’s für die<br />
wirklich wichtigen Dinge, die man<br />
fühlt, keine Worte. Jedenfalls nicht<br />
die richtigen.“ Das gilt für die Liebe.<br />
Das gilt für den Schmerz –als Motte<br />
einmal Bogis Krankenzimmer verlässt,<br />
fühlt er „etwas, das bitter<br />
schmeckte und kurz und grell aufleuchtete,<br />
als hätte ich die zuckende<br />
Neonröhre, an der wir eben vorbeigegangen<br />
waren, verschluckt“.<br />
Die Ich-Perspektive sorgt dafür,<br />
dass in einem tendenziell flapsigen<br />
Ton geschrieben wird, „also echt,<br />
Leute“. Ein„oder so“ oder ein „keine<br />
Ahnung“ flutscht immer wieder in<br />
den Redestrom. Einmal hört Motte<br />
aus einer Pförtnerkabine die Lautfolge<br />
„Mpfmmpfmmpfmomommpf?“<br />
Die gefällt ihm so gut,<br />
dass er sie gleich noch einmal –in<br />
Versalien – wiederholt. Zu dieser<br />
Tonart passt, dass die Rechtschreibung<br />
vereinfacht wird, indem auf<br />
Apostrophe verzichtet wird. Daran<br />
muss sich der Leser erst einmal gewöhnen<br />
– an die „wies“, „gabs“,<br />
„wirs“, „dems“. Vielleicht hat das<br />
„Idiotenapostroph“ – exemplarisch<br />
wird der Sexshop „Dr. Müller's“ angeführt–zum<br />
Totalverzicht geführt.<br />
Wunderbar verdruckst<br />
Kurzweilig und geschmeidig<br />
schnurrtder Roman um den sympathischen<br />
Helden voran. Zwar<br />
schrammt Motte manchmal knapp<br />
am Kitsch vorbei, wenn er uns erzählt,<br />
dass sein verliebtes Herz lauter<br />
klopft als die Tennisbälle aufploppen<br />
oder wenn sich ein Abschiedsschmerz<br />
meldet „auf der linken<br />
Seite,direkt unter den Rippen“. Aber<br />
als pubertierender Erzähler darf<br />
man ja mal emotional-stilistisch in<br />
die Vollen gehen. Überhaupt: Wunderbar<br />
beiläufig fängt Matthias<br />
Brandt die Verunsicherung der Pubertät<br />
ein. Die verdrucksten Annäherungsversuche,<br />
die neuen Welten,<br />
die vielen Fragen, Verlegenheit und<br />
Neugier. Das Abenteuer Jugend –<br />
hier wirdesbesichtigt mit einem Lächeln<br />
im Gesichtund einer Träne im<br />
Augenwinkel.<br />
Ja,das ist ein Roman voll der Sympathie<br />
fürs jugendliche Erwachen.<br />
Der Autor mag seine Figuren. So<br />
sehr,dass er am Ende doch noch ein<br />
Happy End für Morten kreiert. Da<br />
liegt Bogi zwar auf dem Friedhof,<br />
aber Steffi ist jetzt ganz nah.<br />
So<br />
viel<br />
Wut<br />
„Systemsprenger“ für den<br />
Auslands-Oscar nominiert<br />
VonSusanne Lenz<br />
Fick dich du Arschloch“, schreit<br />
Benni ihren Betreuer im Heim<br />
an. Dasneunjährige Mädchen ist gezeichnet<br />
von blauen Flecken, hat<br />
Schorf imGesicht –essind die Spurenihres<br />
letzten Ausrasters.Benni ist<br />
eine Systemsprengerin –das ist der<br />
umstrittene Begriff für diejenigen,<br />
an denen alle Maßnahmen der Kinder-<br />
und Jugendhilfe scheitern. Und<br />
„Systemsprenger“ heißt auch der<br />
Debütfilm der jungen Regisseurin<br />
Nora Fingscheidt, der im diesjährigen<br />
Berlinale-Wettbewerb der deutsche<br />
Beitrag war. Dort wurde er mit<br />
dem Alfred-Bauer-Preis ausgezeichnet.<br />
Seit Mittwoch steht fest, dass er<br />
für Deutschland in das Rennen um<br />
den Auslands-Oscar geht.<br />
Der Film wurde unter sieben Bewerbern,<br />
darunter die Hape-Kerkeling-Biografie<br />
„Der Junge muss an<br />
die frische Luft“ von Caroline Link,<br />
„Der Fall Collini“ von Marco Kreuzpaintner,<br />
„Deutschstunde“ von<br />
Christian Schwochow und „Heimat<br />
ist ein Raum aus Zeit“ von Thomas<br />
Heise, als Kandidat für die Kategorie<br />
bester nicht-englischsprachiger<br />
Film ausgewählt. Dies teilte German<br />
Films, die Auslandsvertretung des<br />
deutschen Films in München mit.<br />
Die neunköpfige Jury begründete<br />
ihre Entscheidung folgendermaßen:<br />
„Systemsprenger entwickelt Sogund<br />
Kraft mit einer seltenen emotionalen<br />
Intensität.“ In Deutschland ist „Systemsprenger“<br />
vom19. September an<br />
in den Kinos zu sehen. Die Oscars<br />
werden im Februar 2020 in Los Angeles<br />
verliehen.<br />
Regisseurin Nora Fingscheidt dieses Jahr<br />
bei der Berlinale.<br />
IMAGO<br />
UNTERM<br />
Strich<br />
Freizeitvergnügen<br />
Weltpolitik auf<br />
dem Bolzplatz<br />
VonPhilipp Löhle<br />
Fußball ist ja unpolitisch. Zum Glück. Da<br />
stehen einfach 22 Leute auf einem Platz –<br />
manchmal rennen sie auch – und wollen<br />
Tore schießen. Ein Spiel. Steckt ja schon im<br />
Namen. Fußball-Spiel! Bei unserer Bolztruppe<br />
sind wir sogar nur neun gegen neun.<br />
Wirspielen Kleinfeld. Konditionsbedingt.<br />
Jetzt hat der Verein, oder genauer gesagt<br />
der Vorstand, also der Lubi, der ist unser Präsident<br />
seit es den Verein gibt. Wird jedes Jahr<br />
wieder gewählt, und wir sind ihm auch sehr<br />
dankbar, dass er es immer wieder macht. So<br />
ganz alleine …Jedenfalls hat der Lubi beschlossen,<br />
oder eher autokratisch vorgeschlagen,<br />
oder halt festgelegt: Neun gegen<br />
neun ist okay, aber mehr nicht, sonst wird<br />
der Platz zu voll! Ganz unpolitisch hat er das<br />
gemeint. Eher sportlich.<br />
Es gab dann hitzige Diskussionen im Vereinsforum<br />
und auf dem Platz, wie das ist,<br />
wenn man mitspielen will, aber es haben<br />
sich schon 18 Leute angemeldet. Kann man<br />
dann trotzdem noch mitmachen oder ist das<br />
Boot dann schon voll? Schwierig. Gerade mit<br />
dieser Formulierung. Gerade in diesen Zeiten.<br />
Man will sich ja aufgeschlossen geben,<br />
(welt-)offen, gerade weil Fußball wirklich<br />
nicht politisch ist und es bitte auch nicht<br />
werden soll. Zumal Freizeitfußball, wo es<br />
nicht mal um was geht, außer um die Ehre<br />
und darum, die anderen nach allen Regeln<br />
der Kunst fertig zu machen. Richtig fertig.<br />
Also hat der Lubi, der Alleinherrscher,gesagt,<br />
so etwas wie eine Obergrenze kommt<br />
für unseren Verein nicht infrage.Wir machen<br />
das so: Wenn wir schon 18 Mann sind, und<br />
dann will noch jemand kommen und mitspielen,<br />
dann soll der kommen, wir sind<br />
CHRSTINA BRETSCHNEIDER<br />
schließlich flexibel, aber wenn wir 20 Leute<br />
sind, dann sind wir definitiv voll, dann muss<br />
der Deckel zu. Weshalb erinnertmich das an<br />
den einstigen Koalitionsstreit, wo doch Fußball<br />
völlig unpolitisch ist? Kann sich noch jemand<br />
an den atmenden Deckel erinnern?<br />
Rhetorisch ist das vonunserem demokratischen<br />
Diktator Lubi pfiffig: Deckel klingt<br />
nicht so nach Natodraht. Vielleicht ist genau<br />
das der Grund, warum die Idee dem Volk<br />
nicht schmeckt. Dasmerkt man hier im Kleinen,<br />
wie in der großen Politik, obwohl beides<br />
natürlich nicht vergleichbar ist, aber<br />
schwammige Aussagen,die versuchen, es allen<br />
recht zumachen, will der Mensch nicht<br />
und der Freizeitfußballer auch nicht. Beide<br />
wollen wissen, wo sie stehen. Also ganz wörtlich<br />
gemeint: Auf dem Platz oder davor, im<br />
Abschiebezentrum.<br />
Undeswirdjanicht einfacher,weil in unserem<br />
Verein spielen ein Haufen unterschiedlicher<br />
Leute mit. Das ist quasi ein<br />
Querschnitt der Bevölkerung, ohne hier irgendetwas<br />
vergleichen zu wollen. Aber wenn<br />
wir jetzt schon 18 Spieler sind oder sogar 20,<br />
und der 21., der kommt, ist ein Bruder von<br />
dem Israeli aus unserem Verein, wie soll man<br />
das dann machen? Soll dann einer von den<br />
Deutschen zu dem Israeli gehen und ihn<br />
wegschicken? Also,ich könnte das nicht. Ich<br />
wäredahistorisch blockiert.<br />
Und da darf man unseren Verein eben<br />
doch mit der großen Politik vergleichen. Die<br />
können sich da bei uns noch was abgucken,<br />
denn die Lösung ist ganz einfach: Auswechselspieler!<br />
Das ist kein Zeichen von Schwäche,<br />
das machen sogar die großen Vereine.<br />
Dann stehen zwar auch nur 18 Mann auf<br />
dem Platz, aber es können unendlich viele<br />
mitspielen. Theoretisch. Und wer gerade<br />
nicht auf den Platz passt, der sitzt auf der<br />
Bank, trinkt Sprudel, popelt und meckert.