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K O L U M N E<br />
Thilo Mischke<br />
BEGEGNUNGEN<br />
ABSEITS DES ALLTÄGLICHEN<br />
Er ist 200 Tage im Jahr unterwegs,<br />
Jetlag ist bei Korrespondent und Reisereporter<br />
Thilo Mischke (TV-Dokureihe<br />
„Uncovered“) ein Dauerzustand. Auf<br />
seinen Expedi tionen trifft der 38-jährige<br />
Berliner immer wieder Menschen, die<br />
ihn faszi nieren. Dieses Mal: Whang-od,<br />
eine hundertjährige Tattoo-Stecherin<br />
im Urwald der Philippinen.<br />
Nun bin ich dort, im Hochland der Philippinen,<br />
und vergehe vor Schmerz. Die Nachmittagssonne<br />
scheint durch den Urwald, ich liege auf<br />
dem Lehmboden einer wackeligen Hütte und lasse mich<br />
tätowieren. Ein schmaler Strich, gestochen mit einem<br />
Dorn des Grapefruitbaumes. Einem Dorn, der erst in ein<br />
Näpfchen, gefüllt mit Ruß und Wasser als Tintenersatz,<br />
getunkt wird. Tinte, die unter meine<br />
Haut gestochen werden soll. So tief,<br />
so fest, dass es blutet.<br />
Der dünne, faltige Arm einer Frau<br />
klemmt meine Hand wie in einem<br />
Schraubstock fest. Ich kann mich<br />
nicht bewegen und stelle vor Schmerz<br />
das Atmen ein. Die Lippen zusammengepresst.<br />
Bis die Welt hinter meinen<br />
Augen kitzelt und ich langsam in Ohnmacht<br />
falle. Weil ich es nicht aushalte.<br />
Als ich wieder aufwache, sehe ich<br />
in Whang-ods lachendes Gesicht,<br />
zahnlos. Sie zeigt mit dem Finger auf<br />
mich. „Das passiert öfter“, sagt sie.<br />
Whang-od ist einhundert Jahre alt,<br />
gilt als die älteste Tätowiererin der<br />
Welt. Bevor sie mich in die Ohnmacht<br />
gestochen hat, habe ich eine Woche<br />
mit ihr verbracht. Sie wollte erst wissen,<br />
ob ich eines Tattoos würdig bin.<br />
Sie hat mich gelehrt, was es heißt,<br />
ein schwieriges Leben zu leben, sie<br />
hat mir gezeigt, dass der Glaube an<br />
eine Sache sich auszahlt, man muss nur ausdauernd<br />
und zäh sein. Sie war ausdauernd und zäh und wollte<br />
nun von mir wissen, wie zäh ich sein kann. Ich musste<br />
ihr ein Schwein kaufen (nicht anstrengend), im Reisfeld<br />
arbeiten (sehr anstrengend), mit ihr auf einem Dorffest<br />
(auf dem das Schwein verspeist wurde) tanzen. In<br />
dieser einen Woche, in der ich all die Frondienste für<br />
sie, für das Tattoo, erledigen musste, erzählte sie mir<br />
irgendwann auch von ihrem Leben. Einem Leben mit<br />
sehr wenig Besitz und Komfort, aber dafür einem Gefühl<br />
von großer Erfüllung.<br />
„Ich sollte keine Mambabatok<br />
werden – aber ich wollte<br />
diese Tattoos auf meiner<br />
Haut spüren.“<br />
Whang-od, heute 100 Jahre alt, lernte als<br />
15-jähriges Mädchen zu tätowieren<br />
Sie ist die Letzte der Mambabatok, der traditionellen<br />
Tattookünstler der Kalinga, eines Stamms im Norden<br />
der Phi lippinen. „Ich sollte das nicht werden, ich sollte<br />
keine Mambabatok werden“, erzählt sie mir. Sie sollte<br />
ein normales Leben führen, eines als Frau und Mutter,<br />
zu Hause. Aber sie wollte das nicht, sie wollte die Körper<br />
fremder Männer verschönern. Mit stilisierten Tausendfüßlern,<br />
mit Karos und Strichen, kleinen Punkten. „Und<br />
vor allem: Ich wollte diese Tattoos auf meiner Haut haben.“<br />
Sie öffnet sich mir erst, als wir zusammen tanzen. Ein<br />
Tanz, den ich völlig ernst meinte, ich habe die Schritte<br />
dieses traditionellen Tanzes einstudiert und vor dem<br />
gesamten Dorf diese kleine, dünne Frau umtanzt.<br />
Ich war verlegen, sie ebenso. Es spielte keine Rolle,<br />
dass uns gut 60 Lebensjahre trennen, ganze Welten zwischen<br />
uns liegen. Ich wollte diesen Tanz, weil ich zeigen<br />
wollte, was ich bereit war zu tun für ein Tattoo. Von ihr.<br />
„Die Männer haben irgendwann nur<br />
noch nach Tattoos von mir gefragt“,<br />
erzählt sie. Geübt habe sie erst an<br />
Orangen, dann an ihren Händen. Sie<br />
war die erste Mambabatok. Mit 15<br />
begann sie zu tätowieren, eine Zeit,<br />
in der noch Kopfgeldjäger durch die<br />
Urwälder der Philippinen streiften.<br />
„Ich bin die Letzte“, sagt sie, „die<br />
diese Kunst noch macht.“ Hunderte<br />
Touristen klettern den Weg in das<br />
Bergdorf hinauf. Whang-od ist ein<br />
Wirtschaftsfaktor der Re gion geworden.<br />
Ob es ihr gefällt, ist nicht sicher.<br />
Jedes Tattoo, das sie sticht, bringt<br />
Geld in die Gemeinschaftskasse. Aber<br />
Whang-od hat keine Kraft mehr. Sie<br />
will es nicht zugeben, aber man spürt<br />
es. Zumindest wenn man mit ihr<br />
spricht. Man spürt es nicht, wenn sie<br />
tätowiert. „Wollen wir noch mal?“,<br />
fragt sie mich, als ich wieder zu Kräften<br />
gekommen bin. Und ich schüttle<br />
den Kopf. „Es ist zu schmerzhaft“,<br />
sage ich. Und sie nickt mir anerkennend zu. Ich dachte,<br />
sie würde mich weiter verspotten. „Dann kann ich heute<br />
früher ins Bett“, sagt sie mir. Streicht mit ihren zarten<br />
Fingern über den blutigen Strich auf meinem Arm. „Es<br />
ist ein ungewöhnliches Tattoo, so was habe ich noch nie<br />
gestochen. Ein unvollendetes Whang-od-Tattoo“, sagt sie.<br />
Nach dem Treffen mit dieser Frau weiß ich, dieser<br />
Strich mag unvollendet sein, für mich ist das Tattoo aber<br />
perfekt. Es erzählt die Geschichte meines ersten Tattoos<br />
und gleichzeitig das Leben einer hundertjährigen Frau,<br />
die nicht den ihr vorbestimmten Weg gegangen ist.<br />
MICHAEL KOMAG<strong>AT</strong>A BLAGOVESTA BAKARDJIEVA THILO MISCHKE<br />
14 THE RED BULLETIN