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The Red Bulletin September 2019 (AT)

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K O L U M N E<br />

Thilo Mischke<br />

BEGEGNUNGEN<br />

ABSEITS DES ALLTÄGLICHEN<br />

Er ist 200 Tage im Jahr unterwegs,<br />

Jetlag ist bei Korrespondent und Reisereporter<br />

Thilo Mischke (TV-Dokureihe<br />

„Uncovered“) ein Dauerzustand. Auf<br />

seinen Expedi tionen trifft der 38-jährige<br />

Berliner immer wieder Menschen, die<br />

ihn faszi nieren. Dieses Mal: Whang-od,<br />

eine hundertjährige Tattoo-Stecherin<br />

im Urwald der Philippinen.<br />

Nun bin ich dort, im Hochland der Philippinen,<br />

und vergehe vor Schmerz. Die Nachmittagssonne<br />

scheint durch den Urwald, ich liege auf<br />

dem Lehmboden einer wackeligen Hütte und lasse mich<br />

tätowieren. Ein schmaler Strich, gestochen mit einem<br />

Dorn des Grapefruitbaumes. Einem Dorn, der erst in ein<br />

Näpfchen, gefüllt mit Ruß und Wasser als Tintenersatz,<br />

getunkt wird. Tinte, die unter meine<br />

Haut gestochen werden soll. So tief,<br />

so fest, dass es blutet.<br />

Der dünne, faltige Arm einer Frau<br />

klemmt meine Hand wie in einem<br />

Schraubstock fest. Ich kann mich<br />

nicht bewegen und stelle vor Schmerz<br />

das Atmen ein. Die Lippen zusammengepresst.<br />

Bis die Welt hinter meinen<br />

Augen kitzelt und ich langsam in Ohnmacht<br />

falle. Weil ich es nicht aushalte.<br />

Als ich wieder aufwache, sehe ich<br />

in Whang-ods lachendes Gesicht,<br />

zahnlos. Sie zeigt mit dem Finger auf<br />

mich. „Das passiert öfter“, sagt sie.<br />

Whang-od ist einhundert Jahre alt,<br />

gilt als die älteste Tätowiererin der<br />

Welt. Bevor sie mich in die Ohnmacht<br />

gestochen hat, habe ich eine Woche<br />

mit ihr verbracht. Sie wollte erst wissen,<br />

ob ich eines Tattoos würdig bin.<br />

Sie hat mich gelehrt, was es heißt,<br />

ein schwieriges Leben zu leben, sie<br />

hat mir gezeigt, dass der Glaube an<br />

eine Sache sich auszahlt, man muss nur ausdauernd<br />

und zäh sein. Sie war ausdauernd und zäh und wollte<br />

nun von mir wissen, wie zäh ich sein kann. Ich musste<br />

ihr ein Schwein kaufen (nicht anstrengend), im Reisfeld<br />

arbeiten (sehr anstrengend), mit ihr auf einem Dorffest<br />

(auf dem das Schwein verspeist wurde) tanzen. In<br />

dieser einen Woche, in der ich all die Frondienste für<br />

sie, für das Tattoo, erledigen musste, erzählte sie mir<br />

irgendwann auch von ihrem Leben. Einem Leben mit<br />

sehr wenig Besitz und Komfort, aber dafür einem Gefühl<br />

von großer Erfüllung.<br />

„Ich sollte keine Mambabatok<br />

werden – aber ich wollte<br />

diese Tattoos auf meiner<br />

Haut spüren.“<br />

Whang-od, heute 100 Jahre alt, lernte als<br />

15-jähriges Mädchen zu tätowieren<br />

Sie ist die Letzte der Mambabatok, der traditionellen<br />

Tattookünstler der Kalinga, eines Stamms im Norden<br />

der Phi lippinen. „Ich sollte das nicht werden, ich sollte<br />

keine Mambabatok werden“, erzählt sie mir. Sie sollte<br />

ein normales Leben führen, eines als Frau und Mutter,<br />

zu Hause. Aber sie wollte das nicht, sie wollte die Körper<br />

fremder Männer verschönern. Mit stilisierten Tausendfüßlern,<br />

mit Karos und Strichen, kleinen Punkten. „Und<br />

vor allem: Ich wollte diese Tattoos auf meiner Haut haben.“<br />

Sie öffnet sich mir erst, als wir zusammen tanzen. Ein<br />

Tanz, den ich völlig ernst meinte, ich habe die Schritte<br />

dieses traditionellen Tanzes einstudiert und vor dem<br />

gesamten Dorf diese kleine, dünne Frau umtanzt.<br />

Ich war verlegen, sie ebenso. Es spielte keine Rolle,<br />

dass uns gut 60 Lebensjahre trennen, ganze Welten zwischen<br />

uns liegen. Ich wollte diesen Tanz, weil ich zeigen<br />

wollte, was ich bereit war zu tun für ein Tattoo. Von ihr.<br />

„Die Männer haben irgendwann nur<br />

noch nach Tattoos von mir gefragt“,<br />

erzählt sie. Geübt habe sie erst an<br />

Orangen, dann an ihren Händen. Sie<br />

war die erste Mambabatok. Mit 15<br />

begann sie zu tätowieren, eine Zeit,<br />

in der noch Kopfgeldjäger durch die<br />

Urwälder der Philippinen streiften.<br />

„Ich bin die Letzte“, sagt sie, „die<br />

diese Kunst noch macht.“ Hunderte<br />

Touristen klettern den Weg in das<br />

Bergdorf hinauf. Whang-od ist ein<br />

Wirtschaftsfaktor der Re gion geworden.<br />

Ob es ihr gefällt, ist nicht sicher.<br />

Jedes Tattoo, das sie sticht, bringt<br />

Geld in die Gemeinschaftskasse. Aber<br />

Whang-od hat keine Kraft mehr. Sie<br />

will es nicht zugeben, aber man spürt<br />

es. Zumindest wenn man mit ihr<br />

spricht. Man spürt es nicht, wenn sie<br />

tätowiert. „Wollen wir noch mal?“,<br />

fragt sie mich, als ich wieder zu Kräften<br />

gekommen bin. Und ich schüttle<br />

den Kopf. „Es ist zu schmerzhaft“,<br />

sage ich. Und sie nickt mir anerkennend zu. Ich dachte,<br />

sie würde mich weiter verspotten. „Dann kann ich heute<br />

früher ins Bett“, sagt sie mir. Streicht mit ihren zarten<br />

Fingern über den blutigen Strich auf meinem Arm. „Es<br />

ist ein ungewöhnliches Tattoo, so was habe ich noch nie<br />

gestochen. Ein unvollendetes Whang-od-Tattoo“, sagt sie.<br />

Nach dem Treffen mit dieser Frau weiß ich, dieser<br />

Strich mag unvollendet sein, für mich ist das Tattoo aber<br />

perfekt. Es erzählt die Geschichte meines ersten Tattoos<br />

und gleichzeitig das Leben einer hundertjährigen Frau,<br />

die nicht den ihr vorbestimmten Weg gegangen ist.<br />

MICHAEL KOMAG<strong>AT</strong>A BLAGOVESTA BAKARDJIEVA THILO MISCHKE<br />

14 THE RED BULLETIN

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