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Mülheimia Quarterly<br />
Stadt. Kultur. Soziales<br />
<strong>#3</strong> September <strong>2019</strong> 14<br />
Marktschwärmer Schäl Sick in Mülheim<br />
Emissionsarmer<br />
Genuss<br />
Die „Marktschwärmer<br />
Schäl Sick“ verteilen<br />
die im Internet<br />
vorbestellten Waren<br />
mittwochs von 17.30<br />
bis 19.30 Uhr im<br />
Lindgens Areal am<br />
Mülheimer Hafen.<br />
von Tom Laroche<br />
Foto: Eva Rusch<br />
Mittwoch Abend 17.45 Uhr. Der Weg zu den<br />
Marktschwärmern führt unten am Rhein<br />
entlang von der Brücke stadteinwärts<br />
Richtung Lokschuppen. Dort findet heute<br />
eine sogenannte Marktschwärmerei statt,<br />
ein fester Treffpunkt, an dem Liebhaber<br />
regionaler Spezialitäten aus Höfen und<br />
Manufakturen Waren unterschiedlicher<br />
Erzeuger abholen können, die sie ansonsten<br />
aufwendig von einer Vielzahl kleiner<br />
Hofmärkte abholen müssten.<br />
Gekauft und bezahlt wird hierzu im Internet<br />
über das Portal www.marktschwaermer.de.<br />
Der marktähnliche Aufbau vor Ort dient<br />
neben der Abholung der Bestellungen zusätzlich<br />
dem Direktkontakt zwischen Käufer<br />
und Hersteller. So sind regelmäßig Inhaber<br />
oder Mitarbeiter der verschiedenen Fertigungsstätten<br />
anwesend und informieren<br />
gern über ihre Angebote.<br />
Dem Besuch der seit Frühling diesen Jahres<br />
von Sonja und Finja betreuten Schwärmerei<br />
gingen eine Reihe unterschiedlicher Gespräche<br />
voraus: das zentrale Thema hierzu<br />
war: Was kann man konkret in Mülheim tun,<br />
um mit Hilfe eines bewussteren Konsums<br />
einen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten?<br />
Dieser Frage stellen sich bereits seit Jahren<br />
eine ganze Reihe Kölner Gastronomen und<br />
bemühen sich um verantwortungsbewusste<br />
Angebote. So ist nicht nur das Restaurant<br />
Vreiheit dafür bekannt, vorrangig saisonale<br />
und regionale Speisen aufzutischen,<br />
gerne in Bio-Qualität. Ähnlich sieht es<br />
im stylisch-legeren Café jakubowski aus<br />
und auch das edle Willomitzer und andere<br />
informieren gerne über die Herkunft ihrer<br />
Lebensmittel, die eben nicht, wie die meisten<br />
Supermarktwaren quer durch die Welt<br />
geflogen oder verschifft wurden, sondern<br />
mit deutlich geringerem Transportaufwand<br />
von nahegelegenen Höfen bezogen wurden.<br />
Hierdurch wird in großem Maß der Ausstoß<br />
von CO2 (und diversen Schadstoffen)<br />
verringert. Ein anderer wichtiger Faktor ist<br />
die Produktion selbst, so hat etwa billiges<br />
aus Massentierhaltung gewonnenes und im<br />
Übermaß verzehrtes Industriefleisch eine<br />
katastrophale CO2-Bilanz; neben gesundheitlichen<br />
und ethischen Erwägungen ein<br />
weiterer, klarer Grund, diesen Konsum<br />
einzuschränken.<br />
Diesen zentralen Aspekten haben sich seit<br />
einigen Jahren die Betreiber der französischen<br />
Muttergesellschaft des Marktschwärmer-Prinzips<br />
verschrieben, welches<br />
an Grundideen von Biomärkten und<br />
Solidarischer Landwirtschaft erinnert<br />
und doch anders ist: Alle Transportwege<br />
werden minimiert, an allen Produkten<br />
steht eine Kilometerzahl, die angibt, wie<br />
nahe der erzeugende Hof gelegen ist. Durch<br />
die genau geplante Bestellung wird das<br />
Transportvolumen klein gehalten. An die<br />
Stelle eines klassischen Zwischenhändlers<br />
tritt das Onlineportal selbst zusammen mit<br />
ortsansässigen Gastgebern wie der sympathischen<br />
und auskunftsfreudigen Finja, die<br />
die Warenausgabe organisieren. Für Finja<br />
ist dieser Job eine Herzensangelegenheit. Sie<br />
und Sonja, die für Mülheim zuständig sind,<br />
investieren pro Woche rund 20 Stunden<br />
ihrer Zeit in das Projekt. Hierfür werden<br />
sie mit einem einstelligen Umsatzanteil an<br />
den Verkäufen geringfügig entschädigt; die<br />
Portalsbetreiber selbst nehmen mit 10 %<br />
ebenfalls nur eine überschaubare Provision,<br />
die ihnen die weitere Ausbreitung des<br />
ungemein erfolgreichen Systems ermöglicht<br />
(bislang über 1000 Standorte in Europa).<br />
Dadurch, dass zu den festgesetzten Terminen<br />
nur abgeholt, aber keine Nebenverkäufe<br />
getätigt werden dürfen, entfällt der übliche<br />
Zwang einer örtlichen Verkaufslizenz, und<br />
so können Schwärmereien an nahezu jedem<br />
Ort durchgeführt werden, vornehmlich an<br />
Stellen, die wie in diesem Fall, unterstützt<br />
vom Inhaber des Lokschuppens, mietfrei<br />
zur Verfügung gestellt werden. All dies sind<br />
die Garanten dafür, dass der Löwenanteil<br />
der Umsätze wirklich bei den Erzeugern<br />
landet, so dass diese mit den Einnahmen<br />
ihren Betrieb stabilisieren und sukzessive<br />
auf ökologisch verantwortungsbewusste<br />
Produktion umstellen können.<br />
Was im ersten Moment angesichts der<br />
systemischen Nachhaltigkeit des Projekts<br />
euphorisch stimmen mag, ist allem bisherigen<br />
Erfolg zum Trotz, nur ein Anfang und<br />
leider auch in dieser Form so noch nicht<br />
massenkompatibel, auch wenn sich bereits<br />
jetzt dank attraktiver Waren die Umsätze<br />
schön entwickeln. Hohe Qualität muss man<br />
sich leisten können. Selbst für Finja wäre,<br />
so gern sie das täte, ein kompletter Umstieg<br />
auf Marktschwärmerwaren finanziell nicht<br />
möglich. Auch die unflexiblen Abläufe mit<br />
einer Festlegung auf ein enges Abholzeitfenster<br />
sind für einen Teil der Interessenten<br />
problematisch, deren berufliche Einbindung<br />
eine Teilnahme faktisch verhindert.<br />
So bleibt die Marktschwärmerei für viele<br />
vorerst ein „wilder Luxus“ (= Name einer<br />
teilnehmenden Erzeuger*innen), der für die<br />
kleinen Geldbeutel nur punktuell bezahlbar<br />
ist. Und so kann zwar im Kleinen vielen engagierten<br />
Erzeugern der Überlebenskampf<br />
erleichtert werden, dies ersetzt aber nicht<br />
die Notwendigkeit, gesetzliche neue Rahmenbedingungen<br />
zu erkämpfen: für eine<br />
aktive Förderung nachhaltiger Produktion<br />
und Reduktion schädlicher Massenproduktion<br />
auf der einen Seite, und andererseits<br />
für mehr soziale Gerechtigkeit, damit Gutes<br />
nicht nur qualitativ und ethisch attraktiver,<br />
sondern auch für diejenigen bezahlbar wird,<br />
die finanziell ebenso kämpfen müssen, wie<br />
viele der teilnehmenden Erzeuger*innen der<br />
Schwärmereien.»<br />
>www.muelheimia.koeln/<br />
emissionsarmergenuss