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Muelheimia_#3_2019_web

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Mülheimia Quarterly<br />

Stadt. Kultur. Soziales<br />

<strong>#3</strong> September <strong>2019</strong> 16<br />

Plattenbörse in der Mülheimer Stadthalle<br />

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit<br />

Von Francesco Aneto<br />

Fotos: Eva Rusch<br />

Dreimal im Jahr macht die Mülheimer Stadthalle der<br />

Frankfurter Börse Konkurrenz. In Sachen rastloser<br />

Aufmerksamkeit und fiebriger Erwartung kann sie<br />

es an diesen Tagen locker mit dem dortigen Parkett<br />

aufnehmen. Dann pilgern die Jünger des „Schwarzen<br />

Goldes“ teils von weit her in das in den 60er Jahren gebaute<br />

zentral am Mülheimer Stadtgarten gelegene Gebäude.<br />

Architekturpreise hat die 1400 Besucher*innen<br />

fassende Stadthalle nachvollziehbar nie errungen, aber<br />

der zweckmäßige Beton-Glas-Bau leistet zuverlässig seit<br />

seiner Errichtung treue Dienste. Seitdem sind hier auch<br />

viele, teils erst später populär gewordene Bands aufgetreten,<br />

darunter: Blue Öyster Cult, Whitesnake, Metallica,<br />

The Cure und die Dire Straits.<br />

Young-Tour“ als Hip-Hopper mit umgekehrt aufgesetzter<br />

Baseballmütze und bequemem Jogging-Anzug im 80er<br />

Jahre-Retrostyle. Nachdem ich meine drei Euro Eintritt<br />

an die in dieser Umgebung auffällig junge Frau an der<br />

Kasse gezahlt habe, umweht mich ein zart modriger Geruch<br />

– nicht unbedingt unangenehm. Direkt ruft er alte<br />

Erinnerungen wach. Mir geht es wohl in etwa so wie dem<br />

Protagonisten in Prousts Roman „Recherche de la temps<br />

perdu“ (Übersetzung vgl. Titel), wenn ihm der süßliches<br />

Duft des Madeleine-Gebäcks in die Nase steigt. Vergangenes<br />

taucht schemenhaft auf: Partys in feuchten Kellern mit<br />

duftenden Räucherstäbchen, verschwitztes Engtanzen zu<br />

langsamen und nie enden wollenden Stücken wie „Samba<br />

Pa Ti“ von Santana oder „I am saling“ von Rod Stewart in<br />

den frühen Achtzigern oder furchtsames erstmaliges Anhören<br />

von Dylans „Street Legal“ in den beichtstuhlgroßen<br />

Musikkabinen bei Radio Wilden in Ehrenfeld.<br />

„RETTET DAS VINYL“.<br />

Alexander Lauber,<br />

Organisator von<br />

Plattenbörsen in NRW<br />

und Luxemburg, so auch<br />

regelmäßig in Köln-<br />

Mülheim.<br />

Seit vielen Jahren beherbergt dieser heimliche Tempel<br />

der Rockmusik auch die „Schallplatten-Börse“. Streng<br />

genommen den selten Fall einer „fahrenden Börse“, denn<br />

unter diesem Label schlägt sie zweiwöchentlich wechselnd<br />

ihre Zelte in verschiedenen Städten im Land auf.<br />

Viele folgen der Börse in einem nie nachlassenden Strom<br />

nach Bonn, Oldenburg, Münster, Oberhausen, Dortmund<br />

und Lingen (wo immer das liegen mag) und sogar zu Auslandstrips<br />

ins nahe Luxemburg. Köln gilt aber unter den<br />

mobilen Platten-Börsianern*innen als eines der Highlights.<br />

Entsprechend erwartungsvoll trete ich an einem Sonntagvormittag<br />

am Tag der Arbeit <strong>2019</strong> in die Stadthalle ein,<br />

deren großes zweigeteiltes Foyer heute den Händlern*innen<br />

des „Schwarzen Goldes“ in Gestalt von zigtausenden<br />

Vinylscheiben vorbehalten ist, die daneben auch noch<br />

andere benachbarte Waren, wie CDs, DVDs, Bücher über<br />

Musiker, Poster, Fanartikel, kleine mobile Plattenspieler<br />

etc. feilbieten. Mit mir drängen andere „Early Birds“ in die<br />

Halle, viele dem Klischee-Bilderbuch über den Vinyl-Nerd<br />

entsprungen: Meist Männer in den – wie man beschönigend<br />

sagt – besten Jahren: einer mit zerschlissenem<br />

Metallica-T-Shirt, spärliche Haare halten mit Mühe seine<br />

Alt-Punk-Frisur zusammen, ein anderer auf „Forever<br />

Soweit sich an diesem Morgen die Ersten vor Ort einfinden,<br />

werden sie vielleicht auch getrieben von der Suche<br />

nach sinnlichen Erinnerungen, mehr noch aber von<br />

ihrem Jagdfieber. Nicht von ungefähr firmiert die Schallplatten-Börse<br />

auch als „Sammlerbörse“. An diesem Tag<br />

werden sich 600 bis 700 meist männliche Sammler und<br />

wenige, meist jüngere Sammlerinnen, an den ca. 50 Stände<br />

scharen und in hunderten prall gefüllten Platten-Boxen<br />

mit geübten Fingern und hoffnungsglimmenden<br />

Augen nach den begehrten Objekten krabbeln. Obwohl der<br />

junge Veranstalter der Plattenbörse, der in die Fußstapfen<br />

seines Vaters eingetreten ist, mir versichert, dass das Publikum<br />

seit etwa 2015 mit dem Siegeszug des „Streaming“<br />

immer jünger werde, teils sich ganze Familien mit ihren<br />

Kleinkindern hier vergnügten. Die CD sei ohnehin out, die<br />

Jüngeren wieder mehr an der Musik, weniger am stolzen<br />

„Besitz“ interessiert.<br />

Nicht nur professionelle Händler*innen tummeln sich<br />

dichtgedrängt im Foyer der Stadthalle, die bestpositioniert<br />

ihre Waren an den längsten und aufwendigst<br />

gestalteten Ständen präsentieren. Auch viele Privatleute<br />

entrichten den Obolus von 17,50 € pro Standmeter und<br />

verscherbeln mit verdruckst lächelnder Miene ihre über

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